Die Verlorenen
Roman
„Sie entwirft eine faszinierende Geschichte, die sie flüssig-leicht erzählt und mit Charakteren umgarnt, die auf ganzer Linie überzeugen. Und: Der Titel passt perfekt, denn tatsächlich stehen gleich mehrere Figuren im Abseits. Fazit: Klasse!“ - Vaihinger Kreiszeitung
Die Verlorenen — Inhalt
London 1754: Die junge Bess Bright, die in bitterer Armut, im Schlamm und Dreck des Londoner Hafens aufgewachsen ist, findet sich von einem Moment zum anderen in einem Alptraum wieder. Vor sechs Jahren musste sie ihre gerade zur Welt gekommene Tochter Clara ins Waisenhaus geben, außerstande, sie zu ernähren. Jetzt, da sie Clara endlich zu sich holen kann, sagt man Bess, dass ihre Tochter schon längst abgeholt wurde. Aber von wem? Im Kampf um Clara muss Bess die gesellschaftlichen Schranken ihrer Zeit überwinden ... um durch Stärke und Liebe schließlich zu sich selbst zu finden.
Leseprobe zu „Die Verlorenen“
Teil I
Bess
Ende November 1747
Kapitel eins
Die Babys waren eingepackt wie Geschenke. Manche trugen hübsche Kleidung – ganz im Gegensatz zu ihren Müttern –, winzige, bestickte Hemdchen und dicke Schals, denn es war Winter geworden und der Abend schneidend kalt. Ich hatte Clara in eine alte Decke gewickelt, die schon seit Jahren hätte geflickt werden müssen, was aber nun niemals geschehen würde. Eng aneinandergedrängt standen wir um den Säuleneingang herum, wie Motten unter den Fackeln, die in ihren Halterungen brannten. Etwa dreißig von uns hatten sich hier [...]
Teil I
Bess
Ende November 1747
Kapitel eins
Die Babys waren eingepackt wie Geschenke. Manche trugen hübsche Kleidung – ganz im Gegensatz zu ihren Müttern –, winzige, bestickte Hemdchen und dicke Schals, denn es war Winter geworden und der Abend schneidend kalt. Ich hatte Clara in eine alte Decke gewickelt, die schon seit Jahren hätte geflickt werden müssen, was aber nun niemals geschehen würde. Eng aneinandergedrängt standen wir um den Säuleneingang herum, wie Motten unter den Fackeln, die in ihren Halterungen brannten. Etwa dreißig von uns hatten sich hier versammelt, und unsere Herzen flatterten wie papierzarte Flügel. Ich hatte nicht erwartet, dass ein Heim für ausgesetzte Kinder so ein Palast sein würde, mit Hunderten in der Dunkelheit leuchtenden Fenstern und einem Wendeplatz für Kutschen. Der Innenhof wurde von zwei lang gestreckten, beeindruckenden Gebäuden sowie einer Kapelle an der Kopfseite eingerahmt. Am nördlichen Ende des Westflügels fiel Licht aus der offenen Tür auf die Pflastersteine. Die Eingangstore schienen weit hinter uns zu liegen. Einige von uns würden diesen Ort mit leeren Armen verlassen, andere ihre Kinder wieder in die Kälte hinaustragen. Aus diesem Grund konnten wir einander nicht in die Augen schauen und hielten unsere Blicke zu Boden gesenkt.
Clara umklammerte meinen Finger, der perfekt in ihre winzige Faust passte, wie ein Schlüssel ins Schloss. Ich dachte daran, wie sie später ins Leere greifen würde, und drückte sie fester an mich. Mein Vater, den Ned und ich Abe nannten, weil auch unsere Mutter das früher getan hatte, stand schräg hinter mir, das Gesicht im Schatten. Er hatte das Baby nicht einmal auf den Arm genommen. Die Hebamme – eine ausladende Frau aus der Nachbarschaft, die so günstig wie verschwiegen war – hatte ihm Clara hingehalten, als ich nach der Geburt erschöpft im Bett lag, mein ganzer Körper ein einziger Schmerz, und Abe hatte den Kopf geschüttelt, als wäre sie eine Straßenverkäuferin, die ihm einen Pfirsich feilbot.
Ein schmächtiger Mann mit Perücke und dürren Beinen brachte uns hinein. Wir gingen durch eine Eingangshalle, wie ich sie noch nie gesehen hatte, mit glänzend polierten Treppengeländern aus Walnussholz und einer großen Standuhr. Nur das Rascheln unserer Röcke war zu hören, das Geräusch unserer Schritte auf dem Steinboden. Eine kleine Herde von Frauen, die vor Milch geradezu barsten, mit ihren Kälbchen im Arm. Ein Ort für sanfte, gedämpfte Stimmen, nicht für ein Marktschreierorgan wie meines.
Unsere kleine Prozession marschierte die mit weinrotem Teppich ausgelegte Treppe hinauf und dann in einen Raum mit hoher Decke. Nur ein Rock und ein Säuglingsbündel passten auf einmal durch die Tür, weshalb wir uns wie vornehme Damen auf einem Ball in einer Reihe hintereinanderstellten. Die Frau vor mir hatte braune Haut, und ihr schwarzes Haar kräuselte sich unter der Haube. Eine Mulattin. Ihr Baby war unruhiger als die anderen und weinte, und sie wiegte es unbeholfen im Arm, ungeübt wie wir alle. Ich fragte mich, wie vielen wohl die eigene Mutter zur Seite stand, um ihnen zu zeigen, wie man wickelte, wie man fütterte? An diesem Tag hatte ich schon fünfzigmal an meine Mutter gedacht, öfter als im ganzen letzten Jahr. Früher hatte ich sie im Knarren der Bodendielen gespürt, in der Wärme des Bettes, doch das war schon lange her.
Die Wände waren mit grüner Tapete verkleidet, die Decke mit weißem Stuck verziert. Es brannte kein Feuer im Kamin, doch der Raum war warm und wurde von zahlreichen Lampen erhellt. Goldgerahmte Gemälde schmückten die Wände, ein Kronleuchter hing über uns. Einen so vornehmen Raum hatte ich noch nie gesehen. Er war voller Menschen. Ich hatte gedacht, wir würden unter uns sein, vielleicht noch ein paar Kinderschwestern, welche die Babys wegbrachten, die hierbleiben durften. Doch ein erwartungsvoll lächelndes Gesicht reihte sich an das nächste – hauptsächlich edel gekleidete Frauen, die sich Luft zufächelten und ganz bestimmt nicht an diesem Ort arbeiteten. Sie sahen aus, als wären sie den Gemälden an den Wänden entstiegen, und boten einen ungewohnten Anblick, als sie uns interessiert musterten. Teurer Schmuck blitzte an ihren Hälsen auf, die Reifröcke strahlten in leuchtenden Farben wie Tulpen. Ihr Haar trugen die Frauen hoch aufgetürmt und dick gepudert. Ein halbes Dutzend Männer mit silbernen Gürtelschnallen über den Schmerbäuchen war ebenfalls anwesend. Dagegen sah Abe mit seinem schmutzigbraunen Mantel noch schäbiger aus als sonst. Die Männer gaben sich ernster, und viele beäugten die Mulattin, als stünde sie zum Verkauf. Sie hielten kleine Gläser in ihren behandschuhten Händen, und mir wurde klar, dass dieser Abend für sie eine Feier darstellte.
Ich blutete immer noch. Clara war heute Morgen vor Sonnenaufgang zur Welt gekommen, und mein ganzer Körper fühlte sich wie zerrissen an. Noch keinen ganzen Tag lang war ich ihre Mutter, und doch kannte ich sie schon so gut wie mich selbst: ihren Geruch, das schnelle Galoppieren ihres Herzens, das in meinem Leib geschlagen hatte. Schon bevor man sie rot und schreiend aus mir herauszog, hatte ich gewusst, wie sie sich anfühlen und wie schwer sie in meinem Arm liegen würde. Ich hoffte, man würde sie aufnehmen, und gleichzeitig fürchtete ich es. Ich dachte an Abes von Falten durchzogenes Gesicht, den gesenkten Blick, seine schwieligen Hände, die mir die Tür aufhielten. Er war der einzige männliche Begleiter im Raum. Die meisten anderen waren allein gekommen, manche hatten offensichtlich Freundinnen, Schwestern oder ihre Mütter mitgebracht, die angespannt das Geschehen verfolgten. Abe mied meinen Blick. Auf dem langsamen, traurigen Marsch von unserer armseligen Unterkunft in der Stadt hatte er kaum ein Wort gesprochen, doch seine Anwesenheit war so tröstlich wie eine warme Hand auf meiner Schulter. Als er zu Hause nach seinem Mantel gegriffen und gesagt hatte, wir müssten jetzt gehen, hatte ich vor Erleichterung fast geweint. Ich hatte nicht erwartet, dass er mitkommen würde.
Stille senkte sich über den Raum, als ein Mann vor dem großen Kamin zu sprechen begann. Seine Stimme war kraftvoll und so weich wie die Teppiche unter uns. Ich starrte auf den Kronleuchter, während der Mann uns erklärte, wie die Lotterie ablaufen würde. Eine weiße Kugel bedeutete, dass das Kind aufgenommen wurde, eine schwarze, dass man es abwies. Bei einer roten musste man warten, ob ein Kind mit einer weißen Kugel nach der ärztlichen Untersuchung doch nicht bleiben durfte. Es erforderte meine ganze Kraft, ihm zuzuhören.
„Es gibt zwanzig weiße Kugeln“, sagte der Mann. „Fünf rote und zehn schwarze.“
Ich schob Clara in meinem Arm zurecht. Die Gäste an den Wänden musterten uns nun offener, fragten sich wohl, wer von uns Glück haben und wer vielleicht sein Baby auf der Straße aussetzen und dem Tod überantworten würde. Wer von uns unverheiratet war. Wer eine Hure. Eine Kinderschwester ging von Frau zu Frau, mit einem Stoffbeutel in der Hand, aus dem wir eine Kugel ziehen sollten. Als sie vor mir stand, klopfte mein Herz wild in meiner Brust, und ich sah ihr in die ausdruckslosen Augen, während ich in den Beutel griff. Die Kugeln waren glatt und kühl wie Eier, und ich hielt eine davon fest in der Faust, als könne ich so ihre Farbe erspüren. Die Schwester schüttelte ungeduldig den Beutel, und irgendetwas sagte mir, ich solle die Kugel fallen lassen und eine andere nehmen.
„Wer sind die Leute, die uns zuschauen?“, fragte ich.
„Sie wurden eingeladen“, antwortete die Frau gelangweilt. Ich packte eine andere Kugel, ließ auch diese fallen, und die Schwester schüttelte den Beutel erneut.
„Weshalb?“, fragte ich leise und war mir der vielen Blicke bewusst, die auf mir ruhten. Ich dachte an die Söhne und Töchter der Reichen in ihren Villen in Belgravia und Fitzrovia und Mayfair, die unter warmen Decken lagen, gebürstet und gewaschen, die Bäuchlein voller Milch. Vielleicht würden einige der Zuschauer später dem Kinderzimmer einen Besuch abstatten und einen Kuss auf schlafende Wangen drücken, sentimental geworden angesichts unserer Not, bevor sie heute zu Bett gingen. Eine Frau starrte mich an, als wolle sie mich zwingen, eine bestimmte Farbe zu wählen. Sie war füllig und hielt einen Fächer in der einen, ein kleines Glas in der anderen Hand. Eine blaue Feder steckte in ihrem Haar.
„Das sind unsere Wohltäter“, erklärte die Schwester ungeduldig. Ich merkte, dass ich nun meine Wahl treffen musste, also wog ich eine weitere Kugel in meiner Handfläche. Ich zog sie heraus, und es wurde still im Raum.
Rot. Ich würde mich noch gedulden müssen.
Die Schwester setzte ihre Runde unter den Augen der Wartenden fort, die mit besorgtem Blick zu erkennen versuchten, welche Farben bereits gezogen worden und welche noch übrig waren. Am Eingang hatte man uns gesagt, dass die Babys höchstens zwei Monate alt sein durften und bei guter Gesundheit sein mussten. Doch viele Säuglinge waren kränkliche, ausgehungerte Dinger, deren Mütter mit wenig Erfolg versucht hatten, sie zu stillen. Manche waren mindestens sechs Monate alt und um kleiner auszusehen so fest eingewickelt, dass sie vor Unbehagen weinten. Clara war die Kleinste und sicher auch die Jüngste von allen. Seit unserer Ankunft hier hatte sie ihre Augen nicht geöffnet. Wenn das ihre letzten Momente mit mir waren, würde sie es nicht merken. Ich sehnte mich danach, mit ihr im Bett zu liegen, mich wie eine Katze an sie zu schmiegen, zu schlafen und erst im nächsten Monat wiederzukommen. Ich dachte an Abes stumme Scham, die undurchdringlich in den zwei Zimmern unseres Zuhauses stand und alles wie Kohlenrauch verschmutzte und verfaulen ließ.
Ich dachte daran, sie nach Billingsgate mitzunehmen und sie auf Abes Marktstand zu setzen wie eine winzige Galionsfigur. Eine Meerjungfrau aus den Tiefen des Ozeans, die an Abraham Brights Krabbenstand zur Schau gestellt wurde. Kurz überlegte ich, wie es wäre, sie einfach mitzunehmen, wenn ich unsere Waren auf der Straße feilbot, sie mir vor die Brust zu binden, damit ich die Hände frei hatte, um Krabben aus meinem Hut zu schöpfen.
Ich hatte schon Marktschreierinnen gesehen, die ihre Babys mit sich herumtrugen. Doch was passierte, wenn diese Kinder nicht mehr so klein waren wie ein Laib Brot? Wenn sie größer wurden, mit Fäusten und strampelnden Füßen und hungrigen, leeren Mäulern?
Eine Frau heulte auf. Sie hielt eine schwarze Kugel in ihrer Hand. Ihr Gesicht zeigte abgrundtiefe Verzweiflung. „Ich kann ihn nicht behalten“, weinte sie. „Sie müssen ihn nehmen. Bitte.“ Die Bediensteten beruhigten sie, während wir diskret unsere Blicke abwandten. Ich war schrecklich erschöpft und gähnte so herzhaft, dass mein Gesicht schmerzte. In den letzten zwei Nächten hatte ich kaum geschlafen, seit Clara sich angekündigt hatte. Heute Morgen hatte sich Ned mit dem Baby ans Feuer gesetzt, damit ich mich ausruhen konnte, doch vor lauter Schmerzen hatte ich erneut nicht schlafen können. Jetzt tat mir immer noch alles weh, und morgen früh würde ich arbeiten müssen. Ich konnte Clara heute Abend nicht wieder mit nach Hause nehmen, unmöglich. Aber ich konnte sie auch nicht vor irgendeiner Haustür aussetzen. Sie dem Hunger und den Ratten überlassen. Als junges Mädchen hatte ich einmal ein totes Baby in einem Misthaufen neben der Straße gesehen und danach monatelang davon geträumt.
Es war sehr hell im Raum, und ich war so müde, und plötzlich führte man mich in ein kleines Nebenzimmer und befahl mir, mich hinzusetzen und zu warten. Abe folgte mir und schloss die Tür hinter uns, sperrte das herzzerreißende Schluchzen und das Klirren der Sherrygläser aus. Ich sehnte mich nach einem Becher warmer Milch oder einem Schluck starkem Bier; ich konnte kaum die Augen offen halten.
Eine Kinderschwester erschien wie aus dem Nichts und nahm mir Clara ab, doch ich war noch nicht bereit. Es kam zu früh, zu plötzlich. Sie sagte mir, sie hätten einen Platz für mein Baby. Eine andere Frau hatte einen mindestens sechs Monate alten Säugling mitgebracht. Die Schwester war sehr wütend. Ob die Mutter wirklich glaubte, man könne hier nicht den Unterschied zwischen einem sechs Monate und einem zwei Monate alten Baby erkennen? Ich erinnerte mich an die Frau und ihr Kind und fragte mich, was wohl aus ihnen werden würde. Dann schob ich den Gedanken beiseite. Die Schwester verschwand mit meiner Tochter durch die Tür, und mir wurde schwindelig. Ohne Clara auf dem Arm fühlte ich mich viel zu leicht. Als könnte mich jetzt eine Feder zu Fall bringen.
„Sie ist noch keinen Tag alt!“, rief ich der Frau nach, doch sie war schon verschwunden. Hinter mir verlagerte Abe sein Gewicht auf dem knarzenden Boden.
Auf einmal saß ein Mann vor mir und schrieb mit einer dicken Feder etwas auf ein Blatt Papier. Ich zwang mich, die Augen offen zu halten und zuzuhören, denn er sprach mit mir. „Der Arzt untersucht sie gerade auf Krankheiten.“
Mühsam öffnete ich den Mund. „Sie ist heute Morgen um Viertel nach vier auf die Welt gekommen.“
„Wenn sie nicht bei bester Gesundheit ist, wird ihr die Aufnahme verweigert. Man wird sie auf Geschlechtskrankheiten, Skrofeln, Aussatz und Infektionen untersuchen.“
Ich konnte nichts erwidern.
„Möchten Sie der Akte ein Andenken beilegen?“ Der Sekretär sah mich endlich an. Seine Augen waren dunkel und ernst und bildeten einen seltsamen Gegensatz zu seinen buschigen Brauen, die fast schon komisch aussahen.
Ich hatte tatsächlich etwas vorbereitet, denn ich wusste, dass die Säuglinge hier anhand von Gegenständen identifiziert wurden, welche die Mütter mitbringen konnten. Ich holte es aus der Tasche und legte es auf den glänzenden Tisch zwischen uns. Mein Bruder Ned hatte mir vom Foundling Hospital erzählt – dem Findelhaus, einem Heim für ungewollte Kinder am Stadtrand. Er kannte ein Mädchen, das sein Baby hierher gebracht und ihm ein Stück Stoff aus seinem Kleid mitgegeben hatte. „Und wenn man nichts mitgibt und später zurückkommt und sein Kind zurückholen will?“, hatte ich ihn gefragt. „Bekommt man dann vielleicht das falsche?“ Er hatte gelächelt und gesagt, ja, vielleicht, und die Vorstellung hatte mir Angst eingejagt. Ich malte mir aus, wie man mein Erinnerungsstück einfach auf einen Berg voll weiterer Andenken werfen würde.
Der Mann hielt den Gegenstand zwischen Daumen und Zeigefinger und musterte ihn aufmerksam.
„Das ist ein Herz aus Walknochen. Nun, ein halbes Herz. Ihr Vater hat die andere Hälfte.“ Ich errötete stark, meine Ohren glühten. Abe stand immer noch stumm hinter mir; er hatte sich nicht auf den Stuhl neben meinem gesetzt. Bis jetzt hatte er nichts von dem Andenken gewusst. Das Herz hatte die Größe einer Crown-Münze; ich besaß die rechte Hälfte, mit einem glatten und einem gezackten Rand. Ein „B“ war hineingeritzt, darunter ein ungelenkeres „C“. Bess und Clara.
„Was werden Sie damit machen?“, fragte ich.
„Wir legen eine Akte an, für den Fall, dass Sie Ihre Tochter zurückholen wollen. Sie bekommt die Nummer 627. Außerdem wird das Datum eingetragen sowie eine Beschreibung des Erinnerungsstücks.“ Er tauchte die Feder ins Tintenfass und begann zu schreiben.
„Sie notieren doch, dass es ein halbes Herz ist, ja?“, sagte ich und beobachtete, wie Worte aus der Feder flossen, die für mich unverständlich blieben. „Falls jemand ein ganzes Herz abgibt und die beiden vertauscht werden.“
„Ich werde vermerken, dass es sich um ein halbes Herz handelt“, antwortete er nicht unfreundlich. Ich wusste immer noch nicht, wo mein Baby war oder ob ich es noch einmal sehen würde, bevor ich diesen Ort verließ. Ich wagte es nicht, zu fragen.
„Ich werde sie zurückholen, wenn sie älter ist“, verkündete ich. So als ob es schon dadurch wahr würde, dass ich es laut aussprach. Abe schnaubte hinter mir, und die Bodendielen knarzten. Wir hatten über dieses Thema noch nicht gesprochen, aber ich war mir sicher. Ich strich meinen Rock glatt, der mit Schlamm und Regenwasser bespritzt war. Am Waschtag hatte er immer die milchige Zinnfarbe einer Auster, für den restlichen Monat das schmutzige Grau von Kopfsteinpflaster.
Die Schwester erschien mit leeren Armen in der Tür und nickte. „Sie kann aufgenommen werden.“
„Ihr Name ist Clara“, sagte ich, ganz schwach vor Erleichterung.
Ein paar Monate zuvor, als mein Bauch noch sehr klein gewesen war, hatte ich auf einer der vornehmeren Straßen bei St. Paul’s, wo die Stadthäuser in den Himmel ragten und mit den Druckereien und Bücherstuben um Platz kämpften, eine elegante Dame in einem tiefblauen Kleid gesehen, das wie ein Edelstein leuchtete. Ihr Haar war goldblond und glänzte, und in ihrer rundlichen rosafarbenen Hand hielt sie die kleinen Finger eines Kindes mit ähnlich goldenen Locken. Ich sah, wie die Kleine am Kleid ihrer Mutter zupfte. Die Frau blieb stehen und beugte sich hinunter. Es war ihr egal, dass ihre Röcke über den Boden streiften. Sie legte ihr Ohr an die Lippen des kleinen Mädchens, und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Wie lustig, Clara“, hatte sie gesagt und wieder nach der Hand ihrer Tochter gegriffen. Sie waren an mir vorbeigegangen, und ich hatte meinen wachsenden Bauch gerieben und beschlossen, das Baby Clara zu nennen, sollte es ein Mädchen werden. Denn dann wäre ich wie diese Frau, ein kleines bisschen zumindest.
Der Mann blieb ungerührt. „Sie wird zu gegebener Zeit auf einen anderen Namen getauft werden.“
Sie würde also nur für mich Clara heißen und für niemanden sonst. Nicht einmal für sich selbst. Stocksteif saß ich da und ballte die Hände immer wieder zu Fäusten.
„Und woher werde ich wissen, wer sie ist, wenn man ihr einen anderen Namen gegeben hat?“
„Jedem Kind wird bei seiner Ankunft eine Bleiplakette umgehängt, auf der die Nummer seiner Akte mit den Angaben zu seiner Herkunft vermerkt ist.“
„627. Das werde ich mir merken.“
Er musterte mich und furchte streng die Brauen. „Wenn sich Ihre Umstände ändern und Sie Ihr Kind zurückholen möchten, müssen Sie die Gebühr für seine Unterbringung entrichten.“
Ich schluckte. „Was heißt das?“
„Die Ausgaben, die dem Heim für die Fürsorge Ihrer Tochter entstanden sind.“
Ich nickte. Ich hatte keine Ahnung, wie hoch die Summe sein würde, traute mich aber nicht zu fragen. Ich wartete. Die Feder bewegte sich kratzend weiter, und irgendwo im Raum tickte geduldig eine Uhr. Die Tinte hatte dieselbe Farbe wie der Abendhimmel, der durch das Fenster hinter dem Mann zu sehen war. Die Vorhänge waren nicht zugezogen. Die Schreibfeder tanzte wie ein fremdartiges, exotisches Wesen übers Papier. Mir fiel die füllige Frau mit der blauen Feder im Haar ein und die Art, wie sie mich angestarrt hatte.
„Die Menschen nebenan“, fragte ich. „Wer sind die?“
Ohne aufzusehen, antwortete der Sekretär: „Die Ehefrauen und Bekannten der Direktoren. Die Lotterieabende bringen Spenden für das Heim ein.“
„Aber müssen sie dabei zusehen, wie die Babys übergeben werden?“ Ich wusste, dass mein Tonfall unangemessen war. Er seufzte.
„Es rührt die Frauen. Und je gerührter sie sind, desto mehr Spenden fließen.“ Er hatte das Ende der Seite erreicht und unterschrieb mit einem ausladenden Schnörkel. Dann lehnte er sich zurück und ließ die Tinte trocknen.
„Was passiert mit ihr, nachdem ich gegangen bin?“
„Alle Neuzugänge werden in Unterkünfte auf dem Land gebracht, wo Ammen sich um sie kümmern. Wenn sie etwa fünf Jahre alt sind, kehren sie in die Stadt zurück und leben dann hier im Findelhaus, bis sie selbst Geld verdienen können.“
Ich schluckte. „Und welche Arbeit werden sie verrichten?“
„Nun, die Mädchen bereiten wir auf Dienstbotentätigkeiten vor und bringen ihnen Stricken, Spinnen und Nähen bei – häusliche Fähigkeiten, welche die Suche nach einer Stelle erleichtern. Die Jungen lernen in den Seilereien, Fischernetze und Seile zu fertigen, um sie für das Leben auf See zu schulen.“
„Und wo auf dem Land wird man Clara unterbringen?“
„Das kommt darauf an, wo Platz für sie ist. Sie könnte ganz in der Nähe landen, in Hackney zum Beispiel, aber auch weit weg in Berkshire. Es ist uns nicht erlaubt, Ihnen zu sagen, wo man sie aufziehen wird.“
„Darf ich mich von ihr verabschieden?“
Der Sekretär faltete das Blatt Papier über dem Walknochenherz zusammen, versiegelte es jedoch nicht. „Ich würde von Sentimentalitäten abraten. Guten Abend, Miss. Für Sie auch, Sir.“
Abe trat neben mich und half mir aufzustehen.
Das Foundling Hospital lag am äußersten Rand von London, wo offene Straßen und Felder, die sich weit in die Dunkelheit erstreckten, die idyllischen Plätze und hohen Häuser der Stadt ablösten. Es war nur eine oder zwei Meilen vom Black and White Court entfernt, unserem bescheidenen Wohnblock im Schatten des Fleet-Gefängnisses. Doch es hätten genauso gut zweihundert sein können, denn es war umgeben von zahlreichen Bauernhöfen im Norden sowie breiten Straßen und Stadthäusern im Süden. Die Wohnblöcke und Gassen, an die ich gewöhnt war, wurden von Kohlenrauch erstickt. Doch hier konnte man die Sterne sehen, und der Himmel hüllte alles wie eine samtige Decke in Stille.
Das bleiche Mondlicht beschien die wenigen verbliebenen Kutschen der wohlhabenden Gäste, die zugesehen hatten, wie wir unsere Kinder weggaben. Gesättigt von den Vergnügungen des Abends, waren sie nun auf dem Weg nach Hause.
„Du wirst sicher Hunger haben, Bessie“, sagte Abe, während wir langsam auf die Eingangstore zuliefen. Zum ersten Mal seit unserer Ankunft sprach er. Als ich nicht antwortete, fuhr er fort: „Bill Farrow hat vielleicht ein paar Fleischpasteten übrig.“
Er stapfte neben mir her, und ich bemerkte die ergebene Rundung seiner Schultern und seine steifen Bewegungen. Die Haare, die unter seiner Kappe hervorragten, waren nicht mehr rostbraun, sondern eisengrau. Wenn er am Kai stand, kniff er mittlerweile die Augen zusammen, und die jüngeren Männer mussten ihm unter den Hunderten Booten auf dem Wasser diejenigen aus Leigh zeigen, welche die Krabben brachten. Seit dreißig Jahren handelte mein Vater auf dem Londoner Fischmarkt mit Krabben. Wie zweihundert andere Krabbenhändler auch verkaufte er sie körbeweise an Straßenhändler und andere Fischverkäufer auf dem Billingsgate-Markt, von fünf Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags, an sechs Tagen die Woche. Jeden Morgen ging ich mit einem Korb zum Siedehaus am Ende der Oyster Row, trug den Inhalt danach in einem Hut auf dem Kopf durch die Straßen und pries meine Ware an. Wir verkauften weder Kabeljau noch Makrelen, Hering, Weißfisch, Sardinen oder Sprotten. Wir verkauften auch keine Rotaugen, Schollen, Flundern oder Aale, keinen Lachs, Blaubarsch, Gründling oder Häsling. Bei uns bekam man Krabben. Hunderte, Tausende pro Tag, ohne Unterlass. Viele andere Tiere waren hübscher anzusehen, angenehmer zu verkaufen: Silberlachs, Winkerkrabben, Steinbutt. Doch wir verdienten unseren Lebensunterhalt mit den hässlichsten aller Meeresfrüchte. Mit ihren blicklosen schwarzen Augen und gekrümmten kleinen Beinchen sahen sie aus, als hätte man sie aus dem Bauch eines riesigen Insekts gerissen. Wir verkauften sie, aßen sie aber nicht. Zu oft schon hatte ich es gerochen, wenn sie verdorben waren, hatte kleine, spinnenartige Beinchen und wie Laich zusammengeklebte Augen von meinem Hut gekratzt. Wie sehr ich mir wünschte, mein Vater wäre ein Händler auf dem Leadenhall Market und ich eine Erdbeerverkäuferin, die wie eine Sommerwiese duftete und an deren Armen Saft statt Salzwasser hinunterlief.
Wir hatten die hohen Eingangstore fast erreicht, als ich das Miauen einer Katze hörte. Mein ganzer Körper fühlte sich leer an und schmerzte, und alles, woran ich noch denken konnte, waren eine Pastete und mein Bett. Ich dachte nicht einmal mehr daran, ob mein Kind vielleicht aufgewacht und niemand da gewesen war, um es zu trösten. Wenn ich darüber nachgrübelte, würde ich einfach zusammenbrechen und nicht wieder aufstehen. Die Katze jammerte erneut.
„Das ist ein Baby“, sagte ich überrascht. Doch wo? Es war dunkel, und das Weinen schien von rechts zu kommen. Niemand war zu sehen bis auf zwei Frauen, die das Gebäude hinter uns verließen. Die Tore vor uns waren geschlossen. Im Torhaus brannte Licht.
Abe blieb stehen und sah mich an. „Das ist ein Baby“, wiederholte ich, als das Weinen von Neuem begann. Bevor Clara in mir herangewachsen und ich sie auf die Welt gebracht hatte, waren mir die Schreie der Säuglinge auf der Straße oder in unserem Haus nie aufgefallen. Jetzt konnte ich jedes noch so leise Maunzen so unmöglich ignorieren, als riefe jemand meinen Namen. Ich verließ den Weg und ging zu der dunklen Mauer, die das Gelände umgab.
„Bess, wohin gehst du?“
Nach ein paar Schritten sah ich es: ein kleines Bündel im Gras, das sich gegen die feuchte Ziegelmauer drückte, als suche es Schutz. Es war wie Clara in Decken gehüllt, und ich sah nur ein winziges, uraltes Gesicht, mit dunkler Haut und feinen schwarzen Härchen an den Schläfen. Ich erinnerte mich an die Mulattin; das war sicher ihr Kind. Sie musste eine schwarze Kugel gezogen haben. Ich nahm das Baby auf den Arm und wiegte es sanft. Meine Milch war noch nicht eingeschossen, doch meine Brüste waren wund, und ich fragte mich, ob das Kind Hunger hatte und ich es stillen sollte. Ich könnte es dem Wärter im Torhaus geben, aber würde er es nehmen? Abe sah mit offenem Mund auf das Bündel in meinen Armen.
„Was soll ich nur tun?“
„Das ist nicht dein Problem, Bessie.“
Tumult erhob sich auf der anderen Seite der Mauer. Menschen rannten laut rufend herum, ein Pferd wieherte. Hier am Rand der Stadt fühlte sich alles dunkler und lauter an, als wären wir in ein fremdes Land am Ende der Welt gereist. Ich war zuvor noch nie auf dem Land gewesen, hatte nicht einmal London verlassen.
Das Kind hatte sich in meinen Armen beruhigt und runzelte schläfrig die winzige Stirn. Abe und ich gingen zu den Toren. Auf der Straße dahinter liefen Menschen zusammen, Männer mit Laternen rannten zu einem Vierspänner und versuchten die schwitzenden, steigenden Pferde zu beruhigen, die einander immer panischer machten. Vor Schock bleiche Gesichter starrten zu Boden, und ich schlüpfte mit dem Baby auf die Straße. Zwei Füße ragten unter den Achsen hervor. Ich erkannte einen schlammbespritzten Rock und elegante braune Hände. Man konnte ein tiefes, kehliges Stöhnen hören, wie von einem verwundeten Tier. Ihre Finger bewegten sich, und instinktiv drehte ich mich weg, um das Baby vor dem Anblick zu schützen.
„Sie war ganz plötzlich da“, sagte der Kutscher. „Wir fuhren nur sehr langsam, und da sprang sie uns in den Weg.“
Ich ging die paar Schritte zum Torhaus, das unverschlossen und verlassen dalag. Der Wärter hielt sich wahrscheinlich am Unglücksort auf. Im Inneren war es warm, ein niedriges Feuer brannte in einem Rost, und eine Kerze flackerte auf einem kleinen Tisch, der zum Abendessen gedeckt war. Ich nahm einen Uniformrock von einem Haken, wickelte das Kind darin ein und legte es auf den Stuhl, in der Hoffnung, der Wärter würde verstehen, wer die Mutter gewesen war, und Mitleid haben.
Hinter uns waren einige Fenster des Findelhauses erleuchtet, die meisten jedoch schwarz. Das Heim beherbergte hundert oder mehr Kinder, die jetzt gerade bestimmt in ihren Betten lagen. Wussten sie, dass ihre Eltern irgendwo hier draußen an sie dachten? Hofften sie, von ihnen geholt zu werden, oder fühlten sie sich wohl in ihren Uniformen, mit ihren warmen Mahlzeiten, den Unterrichtsstunden und Instrumenten? Konnte man jemanden vermissen, den man gar nicht kannte? Meine eigene Tochter befand sich ebenfalls dort, und ihre Finger griffen ins Leere. Mein Herz war in Papier eingeschlagen. Nur für wenige Stunden hatte ich sie gekannt und doch mein ganzes Leben lang. Die Hebamme hatte sie mir heute Morgen erst gegeben, glitschig und blutig, doch die Erde hatte sich weitergedreht, und nun würde nichts mehr so sein wie bisher.
Kapitel zwei
Am nächsten Morgen wurde ich nicht davon geweckt, dass mein Bruder in einen Eimer pinkelte. Sein Bett war leer, und ich beugte mich darüber, um nachzusehen, ob er vielleicht auf den Boden gefallen war, was manchmal vorkam. Doch sein Bett war gemacht, der Boden leer. Er war gar nicht nach Hause gekommen. Ich rollte mich zurück und zuckte zusammen. In meinem Inneren fühlte ich eine tiefe Wunde, mein Fleisch war sicher ganz blau und lila. Im Nebenraum auf den knarzenden Dielen hörte ich Abes Schritte. Draußen herrschte noch Dunkelheit; erst in einigen Stunden würde es hell werden.
Flüssigkeit war über Nacht aus meinen Brüsten ausgetreten, das Nachthemd war nass. Als ob mein Körper weinen würde. Die Hebamme hatte mich darauf vorbereitet und gesagt, es würde bald wieder aufhören. Meine Brüste waren immer das Erste, was anderen Menschen an mir auffiel. Oft auch das Einzige. Die Hebamme hatte mir gesagt, ich solle sie mit Lumpen abbinden, damit die Milch nicht meine Kleidung durchnässte, doch bisher hatte sich nur eine klare, wässrige Flüssigkeit gebildet.
Mir tat alles weh, und die Pumpe im Hof schien unendlich weit entfernt zu sein, doch ich war an der Reihe, Wasser zu holen. Seufzend griff ich nach dem Notdurfteimer. Da hörte ich, wie Ned polternd nach Hause kam. Unsere Zimmer in der Nummer 3 des Black and White Court lagen im obersten Geschoss eines dreistöckigen Gebäudes, und von hier aus konnten wir in den düsteren, gepflasterten Hof hinunterschauen. Hier war ich zur Welt gekommen, hier hatte ich meine ganzen achtzehn Lebensjahre verbracht. Auf dem schiefen Boden hatte ich krabbeln und laufen gelernt, unter der Dachschräge, die knarzte und seufzte wie ein altes Schiff. Über uns gab es nur noch die Vögel, die im Dach nisteten und auf die Kamine und Kirchturmspitzen schissen, welche in den Himmel aufragten. Unsere Mutter hatte die ersten acht Jahre meines Lebens auch hier gewohnt, bevor sie uns verließ. Ich hatte geweint, als Abe das Fenster öffnete, um ihre Seele hinauszulassen. Ich wollte, dass sie blieb, und rannte hinüber, um zu sehen, wie sie in den Himmel aufstieg. Mittlerweile glaubte ich nicht mehr an so etwas. Man holte ihre Leiche ab, und Abe verkaufte ihre Sachen. Er behielt nur ihr Nachthemd, das er mir gab, damit ich es nachts im Arm halten konnte. Irgendwann roch es nicht mehr nach ihr – nach ihrem dichten, dunklen Haar und der milchigen Haut. Ich vermisste sie nicht, denn es war schon zu lange her. Ich hatte erwartet, sie immer weniger zu brauchen, je älter ich wurde, doch als mein Bauch wuchs und die Geburt schließlich begann, wollte ich ihre Hand halten. Gestern Abend hatte ich die Mädchen beneidet, die mit ihren liebevollen Müttern gekommen waren.
Ned stieß die Tür zu unserem gemeinsamen Zimmer auf, sodass sie gegen die Wand prallte, und stolperte über den Notdurfteimer. Meine Pisse verteilte sich auf den Holzdielen.
„Du blöder Trampel!“, rief ich. „Pass doch auf.“
„Verdammt.“ Er bückte sich und hob den Eimer auf, der davongerollt war. In den beiden Zimmern, die Ned, Abe und ich unser Zuhause nannten, gab es keine einzige gerade Wand. Das Dach fiel ab, die Fußböden waren uneben. Ned schwankte nicht, als er den Eimer wieder aufstellte, er war also nicht völlig betrunken. Wenn ich später mit wunden Füßen und schmerzendem Nacken vom Markt zurückkam, würde ich ihn also nicht bleich, stöhnend und nach Erbrochenem stinkend im Bett vorfinden.
Er ließ sich auf sein Bett fallen und begann, seine Jacke auszuziehen. Mein Bruder war drei Jahre älter als ich und hatte blasse Haut, rotes Haar und genug Sommersprossen für uns beide. Das wenige Geld, das er als Straßenkehrer für die feinen Leute verdiente, gab er für Glücksspiel und Gin aus.
„Gehst du heute zur Arbeit?“, fragte ich und wusste die Antwort bereits.
„Gehst du?“, erwiderte er. „Du hast erst gestern ein Kind bekommen. Der alte Mann lässt dich doch heute nicht schuften, oder?“
„Machst du Witze? Glaubst du etwa, ich könnte mich mit einer Kanne Tee ins Bett legen?“
Ich ging nach nebenan. Abe hatte zum Glück bereits Wasser geholt, während ich noch schlief, und setzte gerade den Kessel aufs Feuer. Der Hauptraum war spärlich möbliert, aber heimelig. Abes schmale Liege stand an einer Wand, Mutters Schaukelstuhl vor dem Feuer. Gegenüber gab es einen weiteren Sessel sowie zwei Hocker. Unsere Töpfe und Schüsseln stapelten sich auf Regalbrettern bei dem kleinen Fenster. Als Kind hatte ich Bilder an der Wand befestigt, Drucke von hübschen Bauernmädchen und Gebäuden, die wir kannten, von St. Paul’s und dem Tower of London. Es gab keine Rahmen dafür, also rollten sich die Kanten nach und nach ein. Mit der Zeit verblassten die Bilder. Ich lebte gern unter dem Dach. Wir wohnten hier ruhig und abgeschieden, weit weg von dem Kreischen der Kinder, die unten im Hof spielten.
Ich holte einen nassen Lumpen und wischte den Boden in unserem Zimmer. Der Geruch war widerlich, doch mir wurde nicht mehr schlecht davon. Während ich Clara in mir getragen hatte, brachten mich alle Gerüche auf dem Markt zum Würgen. Vielleicht war das jetzt vorbei.
Nachdem ich fertig war und den Eimer an die Tür gestellt hatte, um ihn später mit nach unten zu nehmen, gab mir Abe einen Becher Dünnbier. Immer noch im Nachthemd setzte ich mich ihm gegenüber. Wir sprachen nicht über die Ereignisse des gestrigen Tages. Ich wusste, dass wir irgendwann darüber reden würden, doch fürs Erste würden diese Dinge zwischen uns stehen.
„Dann haben Sie das Baby also aufgenommen, Bess?“, ertönte Neds Stimme aus dem Schlafzimmer.
„Nein, ich habe es unters Bett gelegt.“
Nach kurzem Schweigen sagte er: „Und du willst uns nicht erzählen, wer der Vater ist?“
Ich warf einen Blick zu Abe, der in seinen Becher starrte und ihn dann in einem Zug austrank.
Ich begann mein Haar hochzustecken. „Sie ist mein Kind“, antwortete ich.
Ned tauchte in Hemdsärmeln in der Tür auf. „Ich weiß, dass sie deins ist, du dumme Gans.“
„Hey“, sagte Abe zu Ned. „Warum ziehst du dich aus? Gehst du nicht zur Arbeit?“
Ned sah ihn mit einem überlegenen Blick an. „Ich fange heute später an.“
„Die Gäule scheißen heute Morgen also nicht?“
„Doch, aber ich muss vorher noch meinen Besen irgendwo hinschieben. Fällt dir da was ein?“
„Ich ziehe mich an“, verkündete ich.
„Du lässt sie arbeiten? Nach dem, was gestern passiert ist?“, fuhr Ned fort. „Bist du ihr Vater oder ihr Herr?“
„Sie scheut sich nicht vor der Arbeit, im Gegensatz zu anderen, die unter diesem Dach leben.“
„Du bist ein verdammter Sklaventreiber. Lass das Mädchen eine Woche ausruhen.“
„Halt die Klappe, Ned“, schimpfte ich.
„Wenn ich schreibe, habe ich immer alles vor Augen: die Charaktere, die Gebäude, die Atmosphäre.“
FRAU HALLS, WENN SIE DIE WAHL HÄTTEN: WELCHES LONDON WÜRDEN SIE VORZIEHEN: DAS GEORGIANISCHE LONDON VON 1747 ODER DAS LONDON IM HIER UND JETZT?
Definitiv das gegenwärtige London! Vieles aus vergangenen Zeiten wird in historischen Filmen und Büchern romantisiert, aber in Wirklichkeit war das Leben im London des ausgehenden 18. Jahrhunderts für die meisten Menschen extrem entbehrungsreich und unerfreulich. Der Sklavenhandel florierte, 75% der Kinder erlebten nicht einmal den zweiten Geburtstag, eine von fünf Frauen war gezwungen, ihren Lebensunterhalt als Prostituierte zu bestreiten. London war zu dieser Zeit ganz sicher kein angenehmer Ort, vor allem nicht für Frauen.
WENN MAN DIE VERLORENEN LIEST, KANN MAN DAS HISTORISCHE LONDON FÖRMLICH FÜHLEN, SCHMECKEN UND SEHEN. WIE HABEN SIE RECHERCHIERT, UM EIN SO AUTHENTISCHES BILD DER VERGANGENHEIT VOR UNS ENTSTEHEN ZU LASSEN?
Zunächst entwickle ich den Plot und skizziere wesentliche Handlungselemente. Bevor ich mit den Recherchen beginne, muss ich wissen, in welche Richtung meine Geschichte geht, wer die Protagonisten sind.
Für Die Verlorenen habe ich viel über das Londoner Findelhaus recherchiert, auch über Billingsgate, den Fischmarkt, auf dem Bess Bright im Roman arbeitet. Vor allem wollte ich wissen, wie die Unterprivilegierten damals gelebt haben: die Armen, die Farbigen, die Tagelöhner. Ich wollte wissen, wie die Menschen in den Kneipen und auf den Straßen geredet haben. Ich wollte wissen, welche Vergehen wie bestraft wurden.
Aber auch, wie etwa das Leben der Dienerschaft in den Stadtwohnungen der Mittelschicht aussah. Und wie die Reichen in London lebten. Das Schöne an der Recherche ist, dass sich meine Geschichten dadurch immer wieder ändern, dass ich neue Ideen bekomme. Für mich ist es sehr befriedigend, so lebendig schreiben zu können, in dem Wissen, dass meine Handlung nicht festgefügt ist, sondern sich vielmehr fließend entwickelt.
DIE HANDLUNG VON DIE VERLORENEN KREIST UM DIE ZWEI FRAUEN BESS UND ALEXANDRA, DIE DURCH IHR SCHICKSAL VERBUNDEN, ABER DURCH DIE KRASSEN GESELLSCHAFTSREGELN VONEINANDER GETRENNT SIND. BEIDE FRAUEN ZEICHNEN SICH DADURCH AUS, DASS SIE NICHT AUFGEBEN. KÖNNTE MAN SAGEN, DASS SIE IHRER ZEIT VORAUS SIND?
Ich schreibe über willensstarke Frauen, die ihre Kraft aus sich selbst heraus schöpfen und damit in gewissem Sinn unabhängig werden – obwohl sie wie alle anderen den gesellschaftlichen Zwängen unterworfen sind. Natürlich weiß ich nicht, ob Frauen wie meine Bess Bright im späten 18. Jahrhundert wirklich so gelebt und gedacht haben, wie ich es schreibe. Aber ich halte es für möglich.
Generell bin ich nicht an Stereotypen interessiert. Mir geht es darum, meinen Charakteren Tiefe zu geben, sie realistisch erscheinen zu lassen. Die Gefühle und Beweggründe meiner Figuren müssen für die Leserinnen und Leser nachvollziehbar sein, sonst kann die Geschichte ihre Kraft nicht entfalten. Ich wünsche mir, dass meine Leser mit den Charakteren mitgehen, mit den liebenswürdigen genauso wie mit denen, die wir eher als unsympathisch empfinden.
WIE KAMEN SIE AUF DAS LONDONER FINDELHAUS?
Als ich das Findelhaus in London besuchte, hatte ich gerade die Rohfassung meines ersten Romans beendet. Bei diesem Besuch kam mir plötzlich die Idee zu einer neuen Geschichte über eine Frau, die ihre Tochter abgeben muss. Jahre später, als sie ihre Tochter wieder zurückholen möchte, erfährt sie, dass sie schon längst abgeholt wurde – von jemand anderem. Ich überlegte, ob so etwas möglich gewesen sein könnte.
Dann bin ich darauf gestoßen, dass die unglücklichen Mütter ihren Kindern immer etwas mitgaben, einen symbolischen Gegenstand. In den Akten des Findelhauses habe ich Zeichnungen davon gefunden. Billige Broschen, kleine Puppen, Muscheln, Talismane. Dinge, die einem auf den ersten Blick vielleicht wertlos erscheinen. Aber jeder Gegenstand schien eine Geschichte zu erzählen. So formte sich langsam die Handlung von „Die Verlorenen“.
WENN DIE VERLORENEN VERFILMT WÜRDE – WER WÄRE IHRE TRAUMBESETZUNG FÜR DIE HAUPTROLLE?
Es wäre großartig, wenn Die Verlorenen als Serie verfilmt würde. Ich kann nicht sagen, wer meine Figuren spielen sollte, dafür stecke ich zu tief drin. Wichtig wäre mir, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler ihre eigene Interpretation, ihre eigenen Gefühle einbringen.
Wenn ich schreibe, habe ich immer alles vor Augen: die Charaktere, die Gebäude, die Atmosphäre. In einer Verfilmung würde vieles ganz anders aussehen, als ich es mir vorstelle – und genau das finde ich sehr reizvoll!
MÖCHTEN SIE IHREN DEUTSCHEN LESERN NOCH ETWAS SAGEN?
Es freut mich sehr, dass meine Bücher jetzt endlich auch in Deutschland erscheinen! Deutschland ist eines meiner Lieblingsländer, und es ist sehr aufregend für mich, dass nun auch deutsche Leserinnen und Leser meine Geschichten entdecken können – und sie hoffentlich mögen! Und am schönsten wäre es, wenn ich bald einmal zu Besuch kommen könnte!
„Eine unglaublich berührende und spannende Geschichte, ganz nach dem Motto ›Immer wenn Du meinst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her‹.“
„Wir tauchen in eine überraschende, originelle, berührende und stimmige Geschichte ein, die nie kitschig, aber letztlich trotzdem was fürs Herz ist.“
„Sie entwirft eine faszinierende Geschichte, die sie flüssig-leicht erzählt und mit Charakteren umgarnt, die auf ganzer Linie überzeugen. Und: Der Titel passt perfekt, denn tatsächlich stehen gleich mehrere Figuren im Abseits. Fazit: Klasse!“
„Stacey Halls hat mit ›Die Verlorenen‹ einen ergreifenden Roman über ein Frauenschicksal, gesellschaftliche Grenzen sowie Recht und Schuld geschrieben.“
„Schriftstellerin Stacey Halls hat ein eindringliches Sittengemälde verfasst, spannend erzählt. Da lohnt der Kauf des Buches auf alle Fälle.“
„Eine fesselnde und kenntnisreiche Zeitreise ins 18. Jahrhundert: Geschickt erzählt die Autorin vom Aufeinanderprallen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten, vom Kampf zweier willensstarker Frauen um ein kleines Mädchen und von einem Geheimnis, das sie alle verbindet.“
„Autorin Stacey Halls ist ein recht atmosphärischer Roman mit einer ungewöhnlichen Handlung gelungen, in der sie das bitterarme und das aristokratische London des 18. Jahrhunderts gegenüberstellt.“
„Viel Spannung, düstere Geheimnisse – und eine Heldin, die über sich hinauswächst“
„Spannung auf hohem Niveau“
„Mit viel Gespür für Zeitkolorit und noch mehr Empathie für ihre Figuren zeichnet Hall realistisch das Leben im Georgianischen Zeitalter – und schafft dennoch Frauenfiguren, die sich sehr modern anfühlen.“
„Fesselnd bis zur letzten Seite!“
„Sehr berührender historischer Krimi“
„Historisch stimmiges Frauenschicksal.“
„Die herzerwärmende Geschichte ist flüssig erzählt und hält die Spannung bis zum Schluss.“
„Stacey Halls hat eine ergreifende Geschichte im historischen London zu Papier gebracht, die wirklich sehr unterhaltsam und auch ergreifend ist. Die Seiten fliegen nur so dahin. Sie versteht es, das historische London lebendig und bildgewaltig vor dem inneren Auge ihrer Leser entstehen zu lassen.“
„Unglaublich authentisch und atmosphärisch.“
„Stacey Halls schreibt sehr atmosphärisch, bildhaft und anschaulich über das Leben im 18. Jahrhundert in London.“
„Flott, ungeschönt und locker geschrieben, besticht dieser historische Roman (...) durch seine authentisch und bis ins kleinste Detail skizzierten Charaktere, die allesamt herrlich lebendig und zeitgemäß wirken.“
London 1747: Die neunzehnjährige Bess Bright, die ihren Lebensunterhalt mit dem Krabbenhandel bestreitet, wird ungewollt schwanger und sieht sich gezwungen, ihre gerade zur Welt gekommene Tochter Clara im Waisenhaus abzugebegen. Als sie sechs Jahre später ihr Kind im Foundling Hospital wieder abholen möchte, da sie sich nun in der Lage sieht, für sie zu sorgen, erfährt sie, dass Clara bereits einen Tag nach der Einlieferung wieder abgeholt wurde. Nur von wem? Verzweifelt macht sich Bess auf die Suche nach ihrem Kind und wird wie durch ein Wunder bereits nach kurzer Zeit fündig, doch damit ist der Kampf um Clara noch lange nicht zu Ende… Stacey Halls hatte eine schöne und sehr gute Idee für ihren zweiten Roman. Es steckt auch viel Recherchearbeit hinter „Die Verlorenen“. Wie die Autorin in einem Interview erzählt, hat sie viel über das Londoner Findelhaus und über Billingsgate, den Fischmarkt, auf dem Bess Bright arbeitet, recherchiert. Sie hat sich über die Lebensverhältnisse der Unter-, Mittel- und Oberschicht der Londoner Gesellschaft informiert und auch darüber, welche Vergehen wie bestraft wurden. Am Grundgerüst der Geschichte und der Umsetzung ist auch nicht viel zu beanstanden: Das von Stacey Hall gezeichnete London wirkt authentisch, die Figuren und ihre Hintergrundgeschichte sind glaubwürdig. Leider wirken die Figuren aber auch etwas hölzern auf mich. Ihre Gedanken, Reaktionen und Handlungen sind nicht authentisch genug. Während des Lesens habe ich keinen Augenblick lang vergessen, dass es sich bei den Figuren lediglich um Charaktere handelt, die der Phantasie der Autorin entsprungen sind. Auch die in dem Roman geführten Dialoge wirken oftmals schablonenhaft und manchmal etwas sinnentleert. Die etwas unglücklich gewählte Vorgehensweise der Autorin, während dramatischer Höhe- und Wendepunkte Beschreibungen der Umgebung miteinzubauen, trägt auch nicht gerade dazu bei, sich in der Handlung zu verlieren. Zu guter Letzt ist auch die Tatsache, dass sich die gesamte Dramatik der 377-seitigen Handlung auf den letzten zwanzig Seiten in völligem Wohlgefallen auflöst, nicht gerade vorteilhaft zu nennen. Mein Fazit ist somit folgendes: „Die Verlorenen“ ist ein wohlrecherchierter Roman mit einer sehr guten Geschichte. Für die volle Überzeugungskraft hätte es allerdings lebendiger wirkender Figuren und authentischerer Gesprächs- und Handlungsverläufe bedurft. Nichtsdestotrotz ist „Die Verlorenen“ ein lesenswerter Roman und es bleibt abzuwarten, wie sich die Autorin weiterentwickelt.
Die Geschichte verbreitet eine Atmosphäre, der man sich nur schwer entziehen kann. Wunderbar einfühlsam und mit vielen Emotionen erzählt die Autorin aus dem Leben der Protagonisten. Man fühlt sich in eine längst vergangene Zeit zurückversetzt, in das London des 18. Jahrhunderts. Die bildliche Sprache lässt es vor dem geistigen Auge auferstehen und lebendig werden. Über kleine Schwächen in der Geschichte kann man getrost hinwegsehen. Das Gesamtpaket entschädigt dafür. Bess, die ungewollt schwanger wurde und nicht alleine für ihre Tochter sorgen kann, gab sie in ein Findelheim. Sie tat es in dem Glauben, dass es für die Kleine das Beste wäre. Jahre später möchte sie ihr Kind wiederhaben. Aber Clara lebt jetzt in einer anderen Familie... Wer erfahren möchte, ob und wie sich ihre Wege kreuzen, sollte das Buch unbedingt lesen!
Meinung: Das Buch ist schon einmal optisch ein richtiger Hingucker mit dem wunderbaren Schutzumschlag, welcher eine Frau mit Baby umringt von einem Pflanzengewirr zeigt. Die kleine Marke mit der Zahl „627“ hat eine ganz besondere Bedeutung in der Geschichte. Die junge Krabbenverkäuferin Elisabeth „Bess“ Bright – durch eine kurze Liaison mit einem Kaufmann schwanger geworden – muss ihr neugeborenes Baby Clara in einem Findelhaus abgeben, damit dessen Überleben gesichert ist. Nach 6 Jahren hat sie endlich ein wenig Geld gespart, um ihr Kind abzuholen um mit diesem ein gemeinsames Leben beginnen zu können. Was sie vor Ort erfahren muss verschlägt ihr die Sprache. Ihr Kind wurde bereits einen Tag nachdem sie es dort abgegeben hatte von „ihr“ abgeholt! Wer hat ihren Namen benutzt? Eine spannende und berührende Suche nach ihrem Kind beginnt, bei der Bess Unterstützung durch die Kleiderverkäuferin Kaleiza und deren Familie sowie dem Fackelträger Lyle bekommt. Im krassen Gegensatz hierzu steht die Geschichte von Alexandra, einer Witwe aus der Oberschicht, welche allen Luxus hat den man sich wünscht erfährt. Durch ein Erlebnis in ihrer Kindheit ist sie schwer traumatisiert und psychisch angeschlagen und lebt mit ihrer Tochter Charlotte in völliger Isolation von der Außenwelt. Einzig den Besuch des Gottesdienstes am Sonntag gestattet sie sich und ihrem Kind, welches mit Strenge und ohne jedwede Liebe aufwächst. Durch die Einstellung des Kindermädchens Eliza gerät die kleine sichere Welt von Alexandra aus den Fugen. Ich möchte diese spannende und besondere Geschichte allen empfehlen, die mich von Anfang an mitgerissen hat. Welches Geheimnis der beiden Frauen gibt es herauszufinden? Von mir eine absolute Leseempfehlung. Fazit: Die Autorin schildert durch ihre bildgewaltige und atmosphärische Darstellung in authentischer Weise die Lebenssituation des niederen Volkes mit all seiner Armut und Entbehrung. Wie verzweifelt muss man sein, um sein geliebtes eigenes Fleisch und Blut in ein Findelhaus bringen zu müssen. Auch das Schicksal von Alexandra, welche zwar in einem goldenen Käfig lebt aber dennoch kein Leben hat wurde behutsam mit all dem Schrecken der Kindheitserlebnisse und dessen Folgen dem Leser vermittelt. Das Ende fand ich für alle Beteiligten sehr gut nachvollziehbar gewählt. Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass es das erwähnte Findelhaus „Foundling House“ in London wirklich gab.
Zum Inhalt: Aufgrund ihrer wirtschaftlich prekären Lebensumstände entschließt sich die junge Bess dazu, ihr Kind in einem Findelhaus abzugeben. Dort, so hofft sie, wird das Kind so lange in einem warmen Bett schlafen können und nicht hungern müssen, bis sie ihre geliebte Tochter wieder zu sich holen kann. Doch als es Bess endlich möglich ist, sich diesen Wunsch zu erfüllen, ist die Kleine nicht mehr im Findelhaus, längst abgeholt, angeblich von Bess selbst. Aber die junge Frau will nicht aufgeben und macht sich auf die Suche nach ihrer kleinen Tochter. Meine Meinung: Interessant sind zum einen die Lebensumstände im London des 18. Jahrhunderts, die einem in diesem Roman deutlich dargestellt werden. Ich konnte mir das Gedränge und die Gerüche auf dem Markt, auf dem Bess arbeitet, plastisch vorstellen. Auch die Lebensumstände, die dafür verantwortlich sind, dass Bess ihre kleine Tochter zunächst nicht bei sich behalten kann und die Verzweiflung, die sie erfasst, als sie feststellen muss, dass Clara schon sehr lange nicht mehr dort war, wo sie sie die ganze Zeit vermutet hatte, sind sehr eindringlich und greifbar dargestellt. Die Geschichte besteht aus mehreren Abschnitten, die zum einen aus der Sicht von Bess, zum anderen aus der Sicht der Frau erzählt werden, die Clara damals abgeholt hat. Wo und wie die beiden Fäden der Geschichte zusammenlaufen werden und wie die Suche von Bess ausgehen wird, möchte ich hier nicht vorweg nehmen. Aber die Geschichte ist mir definitiv ans Herz gegangen und ich war bis zum Ende hin gefesselt und emotional involviert. Von mir erhält der Roman "Die Verlorenen" vier von fünf Sternen.
In dem Buch "Die Verlorenen" von Stacey Halls geht es um eine Mutter (Bess), die in Armut lebt. Aus der Not heraus muss sie ihre, erst ein paar Stunden alte, Tochter Clara in ein Waisenhaus abgeben muss. Nicht nur das sie Clara zu deren Wohl abgeben muss, sie muss auch noch bangen ob Clara einen Platz kriegt. Bess ist fest entschlossen ihrer Tochter wieder aus dem Waisenhaus zurück zu holen. Als es soweit ist, muss Bess feststellen, dass jemand ihre Tochter bereits abgeholt hat. Der Stil in dem das Buch geschrieben wurde gefällt mir gut. Dadurch das ein Teil des Buches aus Sicht von Bess geschrieben wurde, kann man sich in Bess hineinversetzen. Man kann erahnen wie ihr zumute ist und fiebert mit ihr mit. Klasse finde ich das Cover mit den einzelnen Details, die man nachdem das Buch gelesen ist besser deuten kann. Mir gefällt das Buch sehr gut. Die Charaktere sind authentisch und man fühlt sich ein wenig in die Zeit zurück versetzt.
London 1754: Die junge Bess Bright, die in bitterer Armut lebt, findet sich von einem Moment zum anderen in einem Alptraum wieder. Vor sechs Jahren musste sie ihre gerade zur Welt gekommene Tochter Clara ins Waisenhaus geben, außerstande sie zu ernähren. Jetzt, da sie Clara endlich zurückholen kann, sagt man Bess, dass ihr Kind schon längst abgeholt wurde. Aber von wem? Im verzweifelten Kampf um Clara muss Bess die gesellschaftlichen Schranken ihrer Zeit überwinden... Atmosphärisch und authentisch, ungeschönt und ergreifend, so beschreibt der Verlag diesen Roman von Stacey Halls, die 1989 geboren, in Lancashire aufwuchs und ein Studium im Journalismus beendet hat. Das sehr schön gestaltete Buch mit dem aufwendigen Cover fängt mit der jungen Bess an, die ihr neugeborenes Baby Clara im Foundling Hospital abgeben muss, weil sie nicht in der Lage ist, sich und das Kind zu ernähren. Bess wohnt zusammen mit Vater und Bruder in einer kleinen Wohnung in einem der ärmsten Teile Londons und verdient sich ihr Geld mit dem Verkauf von Krabben. Als sie ihr Kind im Waisenhaus abgibt, hinterlässt sie ein Pfand, das es ihr ermöglicht, nach sechs Jahren ihre Tochter an diesem zu erkennen und wieder zu sich zu holen. Jedoch ist Clara nach Ablauf der sechs Jahre nicht mehr im Waisenhaus und Bess begibt sich auf die Suche nach ihrer Tochter. Teil zwei des Buches bringt uns die Geschichte von Alexandrea und ihrer Tochter näher. Bei der Tochter handelt es sich um Clara, welche wohl behütet in einem reichen Haushalt aufwächst. Wie Bess ihre Tochter aufspürt und wie die Geschichte ausgeht, dass müsst Ihr selber lesen. Allerdings war ich vom Ende des Romans doch etwas enttäuscht. Es gab zwar ein guter Abschluss, jedoch sehr schnell und oberflächlich erzählt. Bei der spannenden und ausführlichen Erzählung von Teil 1 und 2 hatte ich mir da mehr erhofft. Alles in allem aber ein angenehm zu lesendes Buch mit wechselnden Erzählperspektiven, welches einem die Unterschiede der sozialen Schichten im 18. Jahrhundert anschaulich beschreibt.
Bei diesem Buch hat mich als erstes das Cover fasziniert. Ich mag die Farben und auch die Gestaltung sehr. Wunderschön. Aber ein schönes Cover ist natürlich nicht alles. Ein gutes Buch muss fesseln und eine gute Geschichte erzählen. Auch das tut dieser Roman. Es geht um ein junges Mädchen das in sehr ärmlichen Verhältnissen aufwächst und keine andere Möglichkeit sieht, als ihr Kind wenige Stunden nach der Geburt in ein Heim zu geben. Fortan spart sie all ihr Geld,um eines Tages ihr Kind auszulösen... Und es geht um eine junge Frau die finanziell gut darsteht, aber Angst vor dem Leben hat. Sie sperrt sich selbst in ihren golden Käfig und lässt auch ihr Kind nicht aus dem Haus.... Diese beiden Frauen vereint mehr als man auf den ersten Blick erkennt und ihre Geschichten eint untrennbar miteinander verbunden. In ihrem emotionalen Roman erzählt die Autorin ihre Geschichte die einen in ihren Bann zieht und nicht mehr loslässt. In sehr lebendigen Bildern wird von Armut und dem täglichen Kampf ums Überleben, von Liebe und Familie, von Verrat und Neid erzählt.
London, November, 1747 Durch ihre Armut kann Bess Bright ihr Kind nicht behalten und muss es ins Kinderheim bringen. Nach 6 langen Jahren möchte sie ihr Kind wieder aus dem Kinderheim abholen. Jedoch wird ihr gesagt, dass ihr Kind schon längst unter ihrem Namen abgeholt wurde. Bess macht sich auf die Suche nach ihrer Tochter und versucht sie zu sich zurückzuholen. Die Liebe einer Mutter zur Tochter. Herzerwärmend und so traurig! Cover: Wunderschön und mit so vielen schönen Details ausgestattet. Auch im Inneren des Buches werden die Kapitel mit kleinen Details verziert. Es war direkt das Erste, was mich angesprochen hat und gleich dazu animiert hat, mir den Inhalt des Buches genauer anzuschauen. Schreibstil: Zunächst hat es paar Kapitel gebraucht, bevor ich in die Geschichte eintauchen konnte. Jedoch verging das durch den umschreibenden Schreibstil schnell, und ich konnte mir alles vor Auge halten. Die schmutzigen und auch noblen Straßen in London, die Atmosphäre und die Gefühle von Bess konnten mich einnehmen, berühren und in eine andere Zeit bringen. Gerade die Emotionen von Bess konnten mich besonders ergreifen und hallten lange noch in mir nach. Charaktere: Bess ist eine besonders starke Frau. Als sie ihr Kind weggeben hat, war sie selbst noch sehr jung. Auch mit den gesellschaftlichen Problemen, mit denen sie damals zu kämpfen hatten, konnte sie gut verkraften und sich aber auch gegen sie aussprechen. Sie kämpft für ihre Liebe zu ihrer Tochter und ich denke jede Mutter kann verstehen, was sie für harte Zeiten durchmachen muss. Ich bin erstaunt, wie taff sie in ihrem ganzen Leben war und ist. Für alle Mütter ist sie ein Vorbild, das uns zeigt was man mit Liebe alles erreichen kann. Zudem hat man im Buch ihren Vater, ihren Bruder, ihre Freundin Keziah, der Fackelträger Lyle, Dr.Mead und natürlich noch die mysteriöse Unbekannte, die das Kind zu sich geholt hat (aus ihrer Perspektive wird auch geschrieben) kennengelernt. Einige Charaktere im Buch haben Bess unterstützt, ihr Mut gemacht und ihr geholfen. Andere wiederum waren für sie ein harter Stein im Weg zu ihrer Tochter. Alle haben ihren Anteil an dieser Geschichte und vollenden sie mit ihrer positiven, wie auch leider negativen Energie und machen das Buch noch lebendiger und nahbarer. Handlungen: Das Buch ist in insgesamt 4. Teilen gegliedert. Abwechselnd wird aus der Ich- Perspektive von Bess und der Unbekannten erzählt. Somit lernen wir beide Sichtweisen der Geschichte und deren Meinungen kennen. Das Hauptthema ist größtenteils die Suche nach ihrer Tochter und das Zurückholen. Dennoch bleibt für Romantiker die Liebe auch nicht zu kurz. Von Anfang bis fast zum Ende konnte mich das Buch packen und emotional mitreißen. Leider fand ich jedoch das Ende zu schnell, und zu einfach gelöst. Die Emotionen konnten mich am Ende nicht mehr packen und einigen Protagonisten konnte ich auch nicht so schnell verzeihen, wie es dargestellt wurde. Ich hätte mir gewünscht, dass es in einer angenehmen Länge sich noch gezogen hätte. Dennoch konnte mich die Handlungen ansprechen und definitiv emotional mitreißen. Die Historik war zudem genau richtig. Dadurch das sich die eher im Hintergrund abgespielt hat, konnte man sich alles genau vorstellen, war aber dennoch nicht immer präsent und hat einen erdrückt. Fazit: Herzerwärmend und traurig. Ein Buch, das uns zeigt, was man mit Liebe und Mut erreichen kann. Mit einer Portion Historik und großartigen ausgearbeiteten Protagonisten, konnte mich das Buch emotional packen.
Die Verlorenen von Stacy Halls vom Piper Verlag hat 384 Seiten. Die gebundene Ausgabe ist wunderhübsch, sie fühlt sich sehr wertig an. Das Cover ist farbenfroh und geheimnisvoll, die wichtigsten Inhalte der Geschichte sind darin wiederzufinden. Dieser historische Roman handelt von der blutjungen Krabbenverkäuferin Bess Bright und spielt 1754 im Armenviertel des Londoner Hafens. Bess hat mit 18 Jahren ihre Tochter geboren und muss sie im Findelhaus zurücklassen. Nach 6 Jahren sieht sie sich im Stande Clara zu sich zu holen, allerdings wurde das Kind bereits abgeholt. Bess setzt alles daran dieses schreckliche Rätsel zu lösen. Dabei zeigt der Roman sehr anschaulich die gesellschaftlichen Schranken ihrer Zeit überwinden auf. Das Buch ist sehr einfühlsam geschrieben, es ist wahnsinnig fesselnd. Ich habe eine neue Lieblingsautorin entdeckt.
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