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Die vergessenen Mädchen (Louise-Rick-Reihe )

Die vergessenen Mädchen (Louise-Rick-Reihe )

Sara Blædel
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Kriminalroman

„Sara Blædel, eine in Dänemark sehr erfolgreiche und beliebte Krimiautorin, hat ein brisantes Thema aufgegriffen. (...) Eine spannende Geschichte mit sehr ausdrucksstarken Figuren.“ - Ludwigsburger Kreiszeitung

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Die vergessenen Mädchen (Louise-Rick-Reihe ) — Inhalt

In einem abgelegenen Waldstück wird die Leiche einer Frau gefunden. Eine lange Narbe in ihrem Gesicht sollte es einfach machen, sie zu identifizieren, doch niemand meldet sie als vermisst. Tage später tappt Louise Rick, die seit Kurzem eine Sondereinheit der Vermisstenstelle in Kopenhagen leitet, noch immer im Dunkeln. Mithilfe der Öffentlichkeit findet sie schließlich heraus, um wen es sich bei der Toten handelt, aber sie soll bereits vor Jahren gestorben sein. Ist ihre Todesurkunde eine Fälschung? Und was ist mit ihrer Zwillingsschwester, die am selbenTag gestorben sein soll? Louises Nachforschungen führen sie tiefer in die eigene Vergangenheit, als ihr lieb ist, und so manches Geheimnis, das lange im Wald verborgen lag, kommt endlich zutage …

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 13.10.2014
Übersetzt von: Marieke Heimburger
352 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-96755-6
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Leseprobe zu „Die vergessenen Mädchen (Louise-Rick-Reihe )“

Schwarzer Mann, Schwarzer Mann, dröhnte es in ihren Ohren, während die Zweige ihr die Schienbeine zerkratzten und die Steine ihr in die Füße schnitten. In ihrem Kopf rauschte es, und ihr Herz krampfte vor Angst.

Sie steuerte auf das einzige sichtbare Licht zu. Dieses helle Licht in der Dunkelheit lockte sie immer weiter­ in den Wald hinein. Verwirrt und verängstigt taumelte sie zwischen den Bäumen herum, keuchend.

Sie hatte Angst im Dunklen. Die Angst schnürte ihr den Hals zu. So war es immer gewesen, seit sie als k­leines Kind Anweisung erhalten hatte, [...]

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Schwarzer Mann, Schwarzer Mann, dröhnte es in ihren Ohren, während die Zweige ihr die Schienbeine zerkratzten und die Steine ihr in die Füße schnitten. In ihrem Kopf rauschte es, und ihr Herz krampfte vor Angst.

Sie steuerte auf das einzige sichtbare Licht zu. Dieses helle Licht in der Dunkelheit lockte sie immer weiter­ in den Wald hinein. Verwirrt und verängstigt taumelte sie zwischen den Bäumen herum, keuchend.

Sie hatte Angst im Dunklen. Die Angst schnürte ihr den Hals zu. So war es immer gewesen, seit sie als k­leines Kind Anweisung erhalten hatte, das Licht auszumachen und sich schlafen zu legen. Weil sonst der Schwarze Mann kommen und sie holen würde.

Schwar-zer Mann, Schwar-zer Mann, tönte es weiter im Takt, bis ihr plötzlich ein Zweig ins Gesicht peitschte.

Sie blieb stehen und hielt die Luft an. Stocksteif stand sie da, umgeben von nichts als hohen Bäumen und Dunkelheit. Ihre Knie zitterten vor Erschöpfung. Sie erschrak von ihrem eigenen lauten Weinen und ging langsam weiter, den Blick fest auf das Licht in ­einiger Entfernung gerichtet. Es war so hell, dass es sie blendete, wenn sie direkt hineinsah.

Sie hatte keine Ahnung, was passiert war, weshalb sie abhandengekommen war. Die Tür war angelehnt gewesen. Keiner hatte bemerkt, wie sie sie geöffnet hatte und im Türrahmen stehen geblieben war, überwältigt von der Freude darüber, die Sonne auf der Haut zu spüren. Die Sonne, die sie so angenehm gewärmt und gelockt hatte. Doch das war viele Stunden her, und inzwischen war es kühl und klamm geworden.

Mittendrin hatte der Hunger sie gezwungen aufzugeben. Sie hatte sich gesetzt, wie lange, wusste sie nicht. Es war langsam dunkler geworden, verwirrende Bildfetzen waren ihr durch den Kopf gejagt, und als sie die innere Unruhe nicht mehr ausgehalten hatte, war sie wieder aufgestanden. Sie war es nicht gewöhnt, dass ihre Routinen gestört wurden, und Alleinsein war auch nicht gut. Schon gar nicht für den, der zurückblieb.

Sie ging wieder etwas schneller, näherte sich dem hellen Licht. Es zog sie unwiderstehlich an, sie konnte sogar den Schmerz und die Geräusche ausblenden. Das konnte sie jetzt schon gut. Aber mit Angst hatte sie nie umzugehen gelernt. Sie musste hier raus, raus aus dem Dunklen, denn sonst kam Borte und nahm sie mit.

Jetzt war sie ganz nah dran. Nur wenige Schritte noch, an den letzten Bäumen vorbei. Ihr Herzschlag beruhigte sich, als sie einen im Mondlicht schimmernden See erspähte. Gerade, als sie wieder langsamer gehen wollte, verschwand auf einmal der Boden unter ihren Füßen.

______


Vier Tage war es her, seit die Frauenleiche im Wald gefunden worden war, aber die Polizei tappte in Sachen Identifizierung immer noch vollkommen im Dunklen. Entsprechend frustriert war Louise Rick, als sie Montagvormittag vor dem Institut der Rechtsmedizin parkte.

Die Obduktion war um zehn angesetzt worden. Um kurz nach zehn war der Leiter der Vermisstenstelle, Ragner Rønholt, in ihrem Büro erschienen und hatte sie gebeten, ihrem Kollegen Eik Nordstrøm bei der Obduktion zu assistieren. Die Rechtsmedizin hatte kurz zuvor mitgeteilt, man habe beschlossen, spurentechnische Zusatzuntersuchungen durchzuführen, die klären sollten, ob womöglich ein Verbrechen vorliege.

Vor genau einer Woche hatte Louise die fachliche Leitung der neu eingerichteten Sondereinheit der Vermisstenstelle übernommen. In Dänemark wurden jedes Jahr 1600 bis 1700 Personen als vermisst gemeldet. Die meisten tauchten lebend wieder auf, einige wurden tot aufgefunden. Die Reichspolizei schätzte, dass etwa fünf der unaufgeklärten Vermisstenfälle einen kriminellen Hintergrund hatten, und um diese Fälle kümmerte sich nun die neue Sondereinheit.

Louise stieg aus und schloss den Wagen ab. Sie hatte nicht ganz verstanden, weshalb sie der Obduktion beiwohnen sollte, wenn Eik Nordstrøm doch bereits da war. Er war die letzten vier Wochen im Urlaub gewesen und der einzige Mitarbeiter der Vermisstenstelle, den sie noch nicht kennengelernt hatte.

Am Freitagnachmittag war sie es gewesen, die die Liste der vermissten Personen gesichtet hatte und hatte feststellen müssen, dass die Personenbeschreibung der im Wald gefundenen Leiche auf keine der vermissten Frauen passte. Vielleicht sollte sie deshalb Rønholts Meinung nach bei der Obduktion dabei sein, überlegte sie. Oder weil sie vorher bei der Mordkommission gewesen war und darum mehr Erfahrung mit Obduktionen hatte als ihre neuen Kollegen.

Nach einer Woche Neuland war es eigentlich ganz angenehm, sich mal wieder einer vertrauten Aufgabe zu widmen. Louise hatte ganz vergessen, wie anstrengend es war, eine neue Stelle anzutreten. Es war einfach mühsam, noch nicht alle Kollegen beim Namen zu kennen und nicht zu wissen, wo der Kopierer stand. Sie hatte die ganze erste Woche darauf verwendet, das „ Rattenloch  “ in Ordnung zu bringen. Toller Name, dachte sie und hoffte inständig, er werde möglichst bald in Vergessenheit geraten. Sie war nämlich schon leicht genervt von den ach so witzigen Kommentaren der Kollegen bezüglich der ungenutzten Räumlichkeiten am Ende des Gangs. Das große Büro lag direkt über der Küche und hatte leer gestanden, seit Kammerjäger im Frühjahr einer ganzen Rattenfamilienkolonie den Garaus gemacht hatten. Die Ratten seien ganz bestimmt weg, versicherte ihr neuer Vorgesetzter Louise, keiner habe seither noch eine gesehen.

Ragner Rønholt hatte getan, was er konnte, um die neue Sondereinheit einzurichten. Nagelneue Büro­stühle standen herum, jungfräuliche Pinnwände und Grünpflanzen. Der Polizeidirektor hatte eine Schwäche für Orchideen und deshalb offenbar gedacht, ein bisschen Grün werde Leben in das ungenutzte Büro bringen. Das fand Louise natürlich nett von ihm. Aber viel wichtiger war ihr sein Engagement. Ragner Rønholt war sehr viel daran gelegen, aus seiner neuen Einheit etwas zu machen. Ein Jahr lang hatten sie Zeit, allen zu beweisen, dass die neue Sondereinheit tatsächlich gebraucht wurde, und für Louise stand so ziemlich alles auf dem Spiel. Sie hatte sich ohne Hintertürchen vom Morddezernat verabschiedet. Wenn aus dem neuen Job keine permanente Anstellung wurde, riskierte sie, als Feld-Wald-und-Wiesen-Ermittlerin sonst wo zu landen.

„ Ich überlasse es ganz Ihnen, wen Sie mit im Team haben möchten “, hatte Rønholt gesagt und sie damit gelockt, die Leitung der neuen Vermisstensondereinheit zu übernehmen.

Sie hatte sich seither viele Gedanken gemacht, wer sich für das Team eignen würde, und auf ihrer Liste standen schließlich lauter Kollegen, mit denen sie ­bereits zusammengearbeitet hatte. Kompetente, erfahrene Kollegen.

Da war zum einen Søren Velin von der mobilen Ermittlungseinheit. Er war es gewöhnt, im ganzen Land zu arbeiten, und hatte gute Kontakte zu den örtlichen Polizeidienststellen. Allerdings war er ganz zufrieden mit seinem Job, von daher wusste Louise nicht, wie leicht er sich zu einem Wechsel überreden lassen würde. Zumal nicht sicher war, ob Rønholt ihm sein jetziges Gehalt oder mehr würde bieten können.

Dann war da Sejr Gylling aus dem Betrugsdezernat, ein kreativer Denker, der sie hervorragend ergänzen würde. Leider vertrug der Albino kein Sonnenlicht, und sie war nicht sicher, ob sie es aushalten würde, tagaus, tagein in verdunkelten Räumen zu arbeiten. Sejr wäre aber mit Abstand der Beste, um internationale Datenbanken über nach vermissten und gesuchten Personen zu durchforsten und abzugleichen.

Und schließlich Lars Jørgensen, ihr Partner bei der Mordkommission. Die beiden kannten sich in- und auswendig. Louise arbeitete sehr gut mit ihm zusammen, sie konnte sich hundert Prozent auf ihn verlassen. Sie war sicher, dass die Arbeit bei der neuen Sondereinheit richtig gut zu seiner Person und seiner familiären Situation als alleinerziehender Vater von zwei Jungen aus Bolivien passen würde.

An geeigneten Kandidaten mangelte es also nicht, Louise hatte sich nur noch nicht entschlossen, wen von ihnen sie als Erstes fragen sollte.

Vor der Tür zur Forensischen Pathologie sah sie Åse von der KTU. Die zierliche Frau hockte neben ihrer ­Tasche und erhob sich lächelnd, als Louise sich ihr ­näherte.

» Bevor es richtig losging, haben wir ein paar ­Fotos von ihrem Gesicht für euch gemacht «, erklärte Åse nach der Begrüßung. „ Nur für den Fall, dass ihr die Öffentlichkeit bei der Identifizierung um Mithilfe bitten wollt. “

„ Ja, sieht fast so aus, als kämen wir nicht drum herum. “ Bilder von Toten zu veröffentlichen führte ­jedes Mal zu Unruhe in der Bevölkerung. Viele Menschen fanden das geschmacklos.

Der Blick aus den grünen Augen der Kriminaltechnikerin war ernst, als sie Richtung Obduktionssaal nickte.

„ Die Frau da drin wird nicht schwer wiederzuerkennen sein “, sagte sie. » Die ganze rechte Gesichtshälfte ist eine einzige große Narbe, wahrscheinlich von einer­ Brandverletzung. Die Narbe zieht sich bis über ihre Schulter hinunter. Wenn sie also nicht ohnehin bereits vermisst wird, dann ist ein Foto von ihr sicher eure beste Chance, ihre Identität zu klären. «

Bevor Louise antworten konnte, tauchte Flemming Larsen mit zwei Labortechnikern auf. Der hochgewachsene Rechtsmediziner strahlte, als er ­sie sah.

„ Mensch, mit dir hätte ich hier ja gar nicht mehr gerechnet ! “, rief er und umarmte Louise freudig. „ Und ich hatte schon Angst, du hättest den Job gewechselt, um mich loszuwerden ! “

„ So ein Quatsch “, entgegnete sie und schüttelte lächelnd den Kopf.

Louise kannte Flemming Larsen von ihren acht Jahren bei der Mordkommission. Eigentlich war sie mit ihrem Job dort ja sehr zufrieden gewesen und davon ausgegangen, ihn bis zum bitteren Ende zu machen. Aber jetzt, wo Willumsen nicht mehr da war und Michael Stig der neue Gruppenleiter werden sollte, hatte sie, ohne lange nachzudenken, Rønholts Angebot angenommen.

„ Ist Eik Nordstrøm da drin ? “, fragte Louise und nickte Richtung Obduktionssäle.

„ Eik wer ? “ Verwirrt sah Flemming sie an.

„ Eik Nordstrøm von der Vermisstenstelle. “

„ Nie gehört “, sagte Flemming. » Komm, lass uns reingehen. Mit der äußeren Leichenschau sind wir ­fertig, ich fasse eben alles für dich zusammen. «

Louise hielt Åse die Tür zum Schleusenraum auf, wo Gummistiefel und Kittel in Reih und Glied bereitstanden und -hingen, und wunderte sich, dass ihr Kollege nicht da war.

„ Was wissen wir über die Frau ? “, fragte sie und zog sich Kittel und Haarnetz über.

„ Bisher noch nicht besonders viel. Nur, dass ein Waldarbeiter sie Donnerstagvormittag beim Avnsee in der Gegend zwischen Roskilde, Ringsted und Holbæk gefunden hat “, berichtete Flemming und reichte ihr einen grünen Mundschutz. „ Soweit wir bisher wissen, ist sie irgendwann am Mittwoch oder in der Nacht zum Donnerstag gestorben. Die Polizei meint, sie sei einen mehrere Meter hohen Abhang hinuntergestürzt und unglücklich gelandet “, fuhr er fort. „ Nach der Leichenschau am Freitag in Holbæk hat der Amtsarzt gemeinsam mit der örtlichen Polizei eine Obduktion angeordnet. Zum einen natürlich, weil sie bei Todeseintritt mutmaßlich alleine war, zum anderen aber auch, weil es keinerlei Hinweise auf die Identität der Toten gibt. Was wiederum der Grund war, weshalb ich spurentechnische Untersuchungen angeordnet habe. Wir brauchen dringend ihre DNA. “

Louise nickte zustimmend. DNA- und Gebissanalyse waren immer die ersten Schritte auf dem Weg zur ­Klärung einer Identität. Wenn Kollege Nordstrøm jetzt da gewesen wäre, hätte einer von ihnen sich direkt mit dem Zahnarzt der Forensik in Verbindung setzen können, dachte sie leicht verärgert.

„ Was ich jetzt auch schon meine sagen zu können, ist, dass es sich bei der Toten um keine ganz normale Frau handelt “, erklärte Flemming weiter. Das habe er sowohl an der Kleidung sehen können als auch am körperlichen Zustand, soweit der von außen zu ­beurteilen war. „ Oder besser gesagt, hat diese Frau kein ganz normales Leben geführt “, korrigierte er sich.

„ Wir haben ihre Fingerabdrücke überprüft, das hat nichts ergeben “, meldete Åse sich zu Wort. „ Vielleicht haben wir es mit einer Ausländerin zu tun ? “

Flemming Larsen nickte. Diese Möglichkeit sei nicht auszuschließen, meinte er.

„ Jedenfalls liegt auf der Hand, dass diese Frau seit vielen Jahren an keinerlei sozialem Leben mehr teilgenommen hat “, fügte er hinzu. „ Komm, ich zeig dir, was ich meine. “

Er schritt voran durch den weiß gefliesten Gang, von dem nach rechts die einzelnen Obduktionsbereiche abgingen. Weitere Rechtsmediziner beugten sich über die Stahltische mit seelenlosen Körpern darauf. Louise wandte den Blick ab, als sie aus dem Augenwinkel die Leiche eines Säuglings bemerkte.

„ Als Allererstes haben wir eine MRT vom Gehirn der Toten gemacht, und die hat tiefe Furchen gezeigt “, ­erläuterte Flemming. „ Das Hohlraumsystem ihres Gehirns ist sehr stark ausgeprägt. So stark, dass im Rest des Gewebes vermutlich nicht viel los gewesen ist. “

„ Willst du damit sagen, dass sie geistig behindert war ? “, hakte Louise nach.

„ Ein weiblicher Einstein war sie jedenfalls nicht. “

Am Ende des Korridors befand sich der Obduktionssaal für Mordfälle. Er war doppelt so groß wie die anderen Räume, damit neben der üblichen Einrichtung mit Stahltisch, Waschbecken und OP-Leuchten auch Polizeibeamte und Kriminaltechniker Platz hatten.

Die Frau, die da in der Mitte des Raumes lag, war zu Lebzeiten nicht besonders gepflegt gewesen, das sah Louise sofort. Ihr langes Haar war verfilzt, und ihre Fuß- und Fingernägel waren eine Weile nicht geschnitten worden. Am auffälligsten aber war die Narbe, die ihre gesamte rechte Wange bedeckte und ihr rechtes Auge so verzog, dass sie irgendwie traurig aussah.

„ Der Zahnarzt war, gelinde gesagt, verblüfft “, berichtete Åse und holte ihre Kamera hervor. „ Er sagte, ihm sei nur selten ein derart vernachlässigtes Gebiss untergekommen. Die Zähne sind von Karies zerfressen und unglaublich schief. “

Flemming nickte.

„ Sieht ganz so aus, als sei hier nie eine Zahnregulierung vorgenommen worden. Und im Oberkiefer hat der Kollege eine heftige Parodontose gefunden “, führte er aus. „ Außerdem hatte sie bereits mehrere Zähne verloren. “

Louise zog einen hohen Hocker heran, als Flemming sich an die innere Leichenschau machte. Die Organe waren bereits entnommen und lagen in einem Stahlbehälter beim Waschbecken.

» Wir haben es hier mit einer erwachsenen Frau zu tun, jedoch fällt es mir schwer, ihr genaues Alter zu ­bestimmen «, sagte Flemming über die Leiche gebeugt. „ Was die Narbe im Gesicht und an der Schulter angeht, bin ich mir ziemlich sicher, dass diese nie behandelt wurde. Und dass sie älteren Datums ist. Muss eine ziemlich schwere Verletzung gewesen sein. Vielleicht eine Verätzung. “

Die letzte Vermutung sprach er sehr nachdenklich aus.

„ Es wurde keine Transplantation vorgenommen. Das müssen unmenschliche Schmerzen gewesen sein, egal, was genau passiert ist. “

Louise nickte. Das war auch ihr erster Gedanke gewesen.

„ Außerdem hat sie eine alte Narbe am Bauchnabel, möglicherweise aus der Kindheit, und irgendwann hatte sie sich mal den linken Unterarm gebrochen. Wurde auch nicht behandelt. “

Der Rechtsmediziner sah zu Louise und Åse auf, als er seine erste Schlussfolgerung formulierte.

„ Nach allem, was ich bisher gesehen habe, wurde diese Frau Zeit ihres Lebens extrem vernachlässigt und hat vermutlich ein sehr isoliertes Dasein geführt. “

Louise betrachtete die Füße der Toten. Ihnen war deutlich anzusehen, dass die Frau ohne Schuhe unterwegs gewesen war. Und zwar ziemlich lange. Ihre kaputten Fußsohlen und die Verletzungen rund um die Knöchel sprachen eine eindeutige Sprache.

Flemming wandte sich wieder der Leiche zu und arbeitete­ schweigend weiter. Dann stellte er fest, dass sich die Verstorbene bei ihrem Sturz links sieben Rippen gebrochen hatte.

„ Sie hat zweieinhalb Liter Blut in der linken Pleurahöhle “, verkündete er, ohne aufzublicken, „ und die Lunge ist zusammengeklappt. “

Louise hatte ihr Aufnahmegerät herausgeholt und auf die Stahltischkante gelegt, um Flemmings Äußerungen aufzuzeichnen. Åse fotografierte alles für die Spurensicherung. Die Proben, die Flemming entnahm, wurden an die Rechtsgenetiker im oberen Stockwerk weitergeleitet.

Nachdem er sämtliche inneren Organe gewaschen und untersucht hatte, richtete er sich auf und teilte Åse mit, er sei fertig.

„ Abgesehen von den gebrochenen Rippen und dem Blut in der Pleurahöhle kann ich keine Anzeichen von Gewalteinwirkung feststellen “, sagte er, zog sich die engen Handschuhe aus und warf sie in den Abfall­eimer, bevor er fortfuhr.

„ Nach meiner unmittelbaren Einschätzung ist sie an den inneren Blutungen gestorben. “

Er stand einen Moment wie gedankenverloren da, dann sprach er weiter: » Es gibt da aber noch ein recht interessantes Detail. Ich bin mir nämlich ziemlich ­sicher, dass die Frau kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr hatte. «

Überrascht sah Louise ihn an.

„ Ich meine, in ihrer Scheide und an den Innenseiten ihrer Oberschenkel Spermareste gefunden zu haben “, erklärte er. „ Aber ich muss natürlich erst noch abwarten, zu welchem Ergebnis das Labor mit den Proben kommt, und das kann schon mal eine Woche dauern. “

Sie nickte. So lange konnte das in der Tat dauern, wenn es sich bei einem Todesfall nicht um ein Verbrechen handelte. Louise stand auf und betrachtete das entstellte Gesicht der Toten.

„ Wenn ich recht habe, würde das bedeuten, dass sie vielleicht doch nicht so einsam war “, sagte Flemming. Dann rief er die Techniker der Spurensicherung an und gab Bescheid, dass er fertig war.

„ Aber doch einsam genug, dass niemand sich veranlasst sah, sie als vermisst zu melden. Und sie ist schon bald eine Woche tot “, gab Louise zu bedenken.

Sie wartete, bis Åse ihre Ausrüstung wieder eingepackt hatte, dann verabschiedeten sie sich von Flemming, der bereits in seine Computerecke verschwunden war, um die Details der Obduktion zu diktieren:

Gewicht der Frau, Größe der Organe und die Verletzungen, die er festgestellt hatte.

Auf ihrem Weg aus dem Obduktionssaal nickten Louise und Åse den Mitarbeitern zu, deren Aufgabe es nun war, die Leiche wieder zu schließen und in den Kühlraum im Keller zurückzubringen.

______


„ Eik Nordstrøm war nicht da, als ich in die Rechtsmedizin kam “, war das Erste, was Louise sagte, als Ragner Rønholt ans Telefon ging. „ Ich weiß ja nicht, was bei Ihnen so üblich ist, aber für den Rechtsmediziner ist es die reinste Zeitverschwendung, wenn die Polizei nicht von Anfang an mit dabei ist. Er hat sämtliche Ergebnisse der äußeren Leichenschau für mich wiederholen müssen. “

„ Verdammt noch mal “, brummte Rønholt. „ Ist er denn später noch aufgetaucht ? “

„ Also, ich habe ihn nicht gesehen “, antwortete Louise und fügte hinzu, sie werde nun zur Dienststelle zurückfahren.

„ Warten Sie “, bat Rønholt sie, » bleiben Sie bitte ­einen Moment, wo Sie sind, ich ruf Sie gleich noch mal an. «

Sie legten auf, Louise ging die Treppe in den Eingangsbereich hinunter, stand dann eine Weile dort herum und wartete auf Rønholts Anruf. Irgendwann reichte es ihr, und sie steuerte ihren Dienstwagen an.

Sie hatte sich gerade hinters Lenkrad gesetzt, als ihr Handy klingelte und Rønholts Name auf dem Display erschien.

„ Sind Sie schon losgefahren ? “

„ So gut wie “, entgegnete sie in einem Ton, der durchblicken ließ, dass sie ziemlich genervt davon war, blöd rumgestanden und gewartet zu haben.

„ Tun Sie mir bitte einen Gefallen und holen Eik bei Ulla im Südhafen ab ? Sieht so aus, als hätte er Startschwierigkeiten nach seinem Urlaub. “

Louise seufzte, ließ sich die Adresse geben und tippte sie in das Navi ein. Rønholts „ Danke “ ignorierte sie verärgert.

Nummer 67. Da war kein Hauseingang mit der Nummer 67. Es gab nur 65 und 69. Zwischen den beiden Nummern befand sich eine heruntergekommene, mit einem verrosteten Gitter verrammelte Kneipe.

Louise war schon wieder auf dem Weg zurück zum Auto, als ein mit Bier beladener Lkw vor der Kneipe hielt und hupte. Der Fahrer sprang aus der Kabine und machte sich daran, die breite Ladeklappe zu öffnen.

Louise hätte schwören mögen, dass in der Kneipe mit der abgeblätterten Carlsberg-Reklame am Fenster schon seit Jahren nichts mehr los war, aber da erschien eine kleine, kräftige, schwarzhaarige Frau in der Tür und schloss die beiden Vorhängeschlösser an dem rostigen Gitter auf.

„ Entschuldigen Sie “, sprach Louise sie an, nachdem die Frau die Schlösser entfernt hatte. „ Können Sie mir sagen, wo der Eingang zur Nummer 67 ist ? “

Die Frau schleppte das Gitter hinein und machte ­einen Schritt zur Seite, um die Männer mit den Bierkästen vorbeizulassen.

„ Nummer 67 ist hier “, antwortete sie. Hinter ihr roch es nach kaltem Zigarettenrauch und Bier.

» Ich soll einen Eik Nordstrøm bei einer Ulla ab­holen. Kennen Sie sie ? «

Die in die Jahre gekommene Schwarzhaarige sah Louise einen Augenblick an, dann nickte sie in Richtung Kneipeninneres.

„ Ich bin Ulla. Das hier ist meine Kneipe, und die heißt › Bei Ulla  ‹. Und Eik ist da drin. “

Am Tresen waren die zwei Biermänner jetzt damit beschäftigt, Zapfhähne auszuwechseln. Louise ging bis ganz nach hinten durch, wo zwei Spielautomaten an der Wand hingen. Der Boden unter ihren Füßen klebte, und überall standen überquellende Aschenbecher herum. Ulla hatte noch nicht aufgeräumt, seit sie in den frühen Morgenstunden geschlossen hatte.

Mit offenem Mund lag er auf vier vor der Wand aufgereihten Stühlen unter einer zu kleinen Fleecedecke und schnarchte leise. Sein ungewaschenes, halblanges Haar hing ihm über Stirn und Nase.

„ He, Alter, dein Typ wird verlangt. “ Ulla legte eine Hand auf die schwarze Lederjacke und rüttelte ihn.

Louise wich ein paar Schritte zurück und verfluchte Rønholt.

„ Vergessen Sie’s “, sagte sie und wollte schon gehen, doch Ulla hielt sie auf.

„ Geben Sie ihm zwei Minuten, dann ist er so weit. “

Louise blieb stehen und beobachtete Ulla dabei, wie sie hinter den Tresen ging und ein Schnapsglas und eine Flasche Gammel Dansk holte. Die stellte sie neben Nordstrøm auf den Tisch, bevor sie ihn abermals rüttelte.

Grunzend setzte er sich auf und nahm das gefüllte Glas entgegen, das Ulla ihm reichte. Er schloss die ­Augen, kippte sich den Magenbitter hinter die Binde und ließ sich sofort neu einschenken.

Dann öffnete er blinzelnd die Augen, richtete den Blick auf Louise und hatte offenbar noch Schwierigkeiten, scharf zu sehen.

„ Wer sind Sie denn, verdammte Hacke  ? “ Der Klang seiner Stimme hatte was von einem alten Eisenrohr.

„ Rønholt hat mich gebeten, Sie hier abzuholen “, antwortete sie. „ Ihr Urlaub ist vorbei. “

„ Der kann mich mal “, brummte er, zog eine Zigarette aus einer platt gedrückten Schachtel und zündete sie sich an.

Louise stand eine Weile da und beobachtete ihn, dann drehte sie sich um und ging. Draußen waren die Biermänner bereits dabei, die Heckklappe zu schließen, und Ulla wollte das rostige Gitter wieder vor die Tür stellen.

„ Halt ! “, schnarrte es aus der Kneipe.

Taumelnd erschien er auf dem Bürgersteig, blinzelte gegen die Sonne und fuhr sich mit beiden Händen durchs halblange Haar. Einen Moment sah es so aus, als würde er das Gleichgewicht verlieren, aber dann fing er sich und folgte Louise zum Auto.

„ Kennen wir uns ? “, fragte er und warf die Kippe weg.

Louise schüttelte den Kopf und stellte sich vor.

» Sie hätten eigentlich vor drei Stunden in der Patho­logie sein sollen. Ich hab das für Sie übernommen. «

Sie öffnete die Beifahrertür und half ihm, auf dem Sitz zu landen. Sie war kaum selbst eingestiegen, da schlief er schon wieder.

Ein sanftes Schnarchen begleitete sie den ganzen Weg zurück zur Vermisstenstelle. Louise blendete das aus und konzentrierte sich auf die nicht identifizierte Frau, die jetzt wieder im Keller der Forensischen Pathologie­ lag. In ihrem Gesicht hatte etwas Verletzliches, ja fast Kindliches gelegen, das von der großen Narbe unberührt geblieben war. Sie musste mal sehr hübsch gewesen sein. Die Frage war nur, wann dieses „ mal “ gewesen war.

Auf dem Parkplatz vor der Vermisstenstelle angekommen, stieg Louise aus, warf die Autotür zu und überließ den immer noch schlafenden Eik Nordstrøm sich selbst. Auf dem Weg in ihr Büro richtete sie den Blick fest auf den grauen Linoleumboden und atmete stoßweise, damit die Wut nicht aus ihr herausplatzte.

Sie pfefferte ihre Tasche in eine Ecke und schloss die Tür hinter sich. Die Wände waren immer noch kahl, aber immerhin war während ihrer Abwesenheit eine Jalousie angebracht worden, stellte Louise fest.

Die konnte sie gerade jetzt gut gebrauchen, die Sonne knallte nämlich in ihr Büro. Louise ließ die Jalousie­ herunter, setzte sich an den Schreibtisch und schaltete den Computer ein. Sie holte die Unterlagen mit den Lebensläufen und ihren Notizen zu den drei in ihren Augen geeigneten Mitarbeitern für diese Sondereinheit hervor und überlegte, ob Henny Heilmann vielleicht auch infrage käme.

Ihre ehemalige Gruppenleiterin, die nach der Poli­zeireform ganz oben in der Leitstelle gelandet war, hatte eine lange Laufbahn bei der Mordkommission hinter sich. Sie war eine der erfahrensten Ermittlerinnen, die Louise kannte, aber ob das alte Zirkuspferd wohl Lust hätte, in die Manege zurückzukehren ? Vermutlich würde sie entweder genauso wahnsinnig ­engagiert und effizient arbeiten wie früher – oder aber enorme Startschwierigkeiten haben.

Das Geräusch an der Tür war eher ein Rumpeln als ein Klopfen, und dann schwang sie auch schon auf. Eik Nordstrøm schob einen Bürostuhl vor sich her, auf dem sich ein paar Kartons stapelten.

„ Ach ! Da ist ja schon ein Stuhl ! “, stellte er fest und blieb in der offenen Tür stehen.

„ Was machen Sie hier ? “, fragte Louise und schob hastig ihre Unterlagen zusammen. Gleichzeitig stellte sie fest, dass er seine Haare mit Wasser in Berührung gebracht und sie zurückgekämmt hatte. Auch sein ­T-Shirt sah frisch aus. Vermutlich hatte er immer eins in Reserve in seinem Büro.

„ Na, ich zieh hier ein “, informierte er sie und nickte zu dem freien Platz am Fenster. „ Ich wollte schon immer mal mit einer Frau zusammenarbeiten. “

Louise erhob sich verblüfft.

„ Na ja, davon kann nun so direkt keine Rede sein “, hielt sie schnell dagegen. „ Die Sondereinheit und die Vermisstenstelle arbeiten ja eher parallel als zusammen. “

„ Stimmt. “ Er nickte zustimmend und stellte die Kartons auf seinen Schreibtisch. „ Und die Sondereinheit sind wir zwei. Ich habe gerade eben Order bekommen, meine Sachen zu packen und mit Ihnen das Büro zu teilen. “

„ Das muss ein Missverständnis sein. Von wem haben Sie die Order bekommen ? “

Er warf seine Lederjacke auf den Boden und machte sich daran, die Kartons auszupacken.

„ Rønholt. Der hat mich auf die Sache mit der toten Frau im Wald angesetzt. “

Ungläubig starrte Louise ihn an.

„ Aber dafür müssen Sie ja nicht das Büro mit mir teilen “, unternahm sie einen weiteren Versuch.

» Doch, ich soll nämlich mit Ihnen zusammenarbei­ten «, sagte er und hustete, als wären seine Lungen noch nicht ganz wach.

Reglos stand sie da, während sie begriff, was er da gerade gesagt hatte. Dann schnappte sie sich ihre Unterlagen und drückte sich an dem überflüssigen Büro­stuhl vorbei zur Tür hinaus, bevor Nordstrøm ihn ­wieder hinausschob.

„ Ist Rønholt da drin ? “, fragte sie und schaute die Sekretärin herausfordernd an. Hanne Munk war vor ­einigen Jahren auch mal in der Mordkommission angestellt gewesen, allerdings nur kurz. Ihre wilden roten Haare, ihr Hippiestil und ihre spirituellen Neigungen waren so gar nichts für Kommissar Willumsen gewesen, und er hatte sie binnen weniger Monate rausgeekelt.

„ Ja, aber Sie können da jetzt nicht reingehen ! “, antwortete sie. „ Ragner bereitet sich auf ein Gespräch mit dem Reichspolizeichef vor. “

„ Ich muss mit ihm reden. Dauert zwei Minuten “, beharrte Louise und durchschritt das Vorzimmer. Hanne Munk war an der Tür, bevor Louise überhaupt die Hand zum Anklopfen erhoben hatte.

„ Sie können da jetzt nicht einfach reingehen und ihn stören. “ Sie stellte sich Louise in den Weg und funkelte sie wütend an.

„ Heute ist er komplett ausgebucht. Aber Sie können selbstverständlich für einen der nächsten Tage einen Termin mit ihm vereinbaren. “

„ Jetzt hören Sie schon auf ! “, sagte Louise auf­gebracht. Stur blieb sie ganz dicht vor Hanne Munk stehen und hatte nicht vor, nachzugeben.

In dem Augenblick ging die Tür auf, und Ragner Rønholt wäre fast mit seiner Sekretärin zusammen­gestoßen, die nach wie vor den Durchgang blockierte.

„ Hoppla “, sagte er und packte Hanne Munk bei den Schultern, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Er lächelte Louise an.

„ Gut, dass Sie Nordstrøm mal ein bisschen aufgerüttelt haben. Ist ein echt netter Kerl, wenn er nicht nur körperlich, sondern auch geistig aus dem Urlaub zurück ist. “

„ Genau darüber wollte ich mit Ihnen reden “, hakte Louise sofort ein, drückte sich an Hanne Munk vorbei, zog Rønholt mit sich zurück in sein Büro und schloss die Tür.

„ Wir hatten eine ganz klare Absprache. Ich sollte mir meinen Partner selbst aussuchen. “ Sie reichte ihm ihre Papiere.

„ Das hier ist eine Liste mit Leuten, die ich für qualifiziert halte. “

Er hatte die Unterlagen bereits in der Hand, als ­Louise die Notizen einfielen, die nicht für fremde ­Augen bestimmt waren. Schnell nahm sie ihm die Papiere wieder ab.

„ Es war nicht eine Sekunde die Rede davon, dass Sie mir ungefragt einen Trunkenbold aufs Auge drücken würden. “

„ Was heißt denn hier › aufs Auge drücken ‹ ? “, ver-
teidigte sich Rønholt und legte die Stirn in tiefe Falten.

„ Nordstrøm ist der beste Mann, den ich habe, und ich bin mir sicher, dass Sie beide zusammen ein Weltklasseteam sind. “

Weltklasse ? Louise war sprachlos. Sowohl angesichts dieser Wortwahl als auch, weil er ihr den werten Kollegen einfach so unterschob.

„ Er hat sich heute Vormittag in einer Kneipe den Rausch ausgeschlafen. Als die Wirtin ihn wach gerüttelt hatte, musste er erst mal zwei Magenbitter trinken, um überhaupt in die Gänge zu kommen. Was hat das denn bitte mit Weltklasse zu tun ? Vergessen Sie es. Ich will mit Lars Jørgensen arbeiten. Der kann ganz sicher ziemlich schnell hier rüberwechseln. “

Rønholt war hinter seinen Schreibtisch getreten. Er sah sie an.

„ Sie haben recht. Nordstrøm kämpft da mit ein paar Dämonen, die hin und wieder stärker sind als er. Aber manchmal kann die Schwäche eines Menschen gleichzeitig seine Stärke sein. “ Er stimmte ihr zu, dass Lars Jørgensen ganz gewiss auch ein geeigneter Kandidat sei. „ Aber nun geben Sie Nordstrøm doch erst mal eine Chance. Ich schlage vor, Sie beiden kümmern sich jetzt um die Identität der Frau und finden heraus, ob sie Verwandte hatte, die informiert werden müssen. Dann machen wir das, und damit ist der Fall abgeschlossen. “

Er sah auf die Uhr und nahm seine Jacke vom ­Haken.

„ Ich bin etwas spät dran. Wir spielen heute Abend Bridge, und ich muss mich um die Käseplatte kümmern, von daher komme ich zwischendurch nicht mehr ins Büro. “

Louise ging mit ihm hinaus, blieb aber in der Tür stehen. Im Vorzimmer stand Eik Nordstrøm und betrieb Small Talk mit der Sekretärin, die bei jedem seiner Worte nickte und lächelte.

„ Na, dann wollen wir mal sehen, ob wir herausfinden, wer unsere namenlose Frauenleiche ist “, sagte Louise an ihn gerichtet. „ Das heißt, natürlich nur, wenn Sie Zeit haben ? “

Sie marschierte aus dem Vorzimmer und wusste genau, dass sie gerade ziemlich zickig geklungen hatte. Sie hörte noch, wie Nordstrøm der Sekretärin etwas zuflüsterte, was diese kichern ließ, bevor er sich losriss.

Er holte Louise ein. » Möchten Sie auch einen Kaffee ­? «, fragte er und bog schon Richtung Küche ab.

„ Nein danke, ich trinke Tee “, sagte Louise und blieb überrascht vor der Tür zum Rattenloch stehen. Das Büro sah so anders aus. So wohnlich. Als wäre jemand eingezogen. Musikposter in Wechselrahmen waren zwar nicht ganz ihr Geschmack, aber immerhin besser als gar nichts.

„ Aber hallo “, sagte sie nur.

„ Ich kann das gerne alles wieder wegbringen, wenn es Ihnen nicht gefällt. “ Plötzlich stand Nordstrøm hinter ihr, einen Kaffee und zwei Käsebrote in der Hand, und betrachtete sie.

„ Nein, nein, ist gut “, beeilte sie sich zu sagen. Sie überließ es nämlich gerne anderen, sich um die Einrichtung zu kümmern. Sie fand es schön, Dinge um sich herum zu haben, aber sie selbst hatte keine Lust, sich um solche Details zu kümmern.

Sie ging zu ihrem Schreibtisch, holte ihren kleinen Wasserkocher aus dem Schrank und einen Teebeutel aus der Tasche.

Sara Blædel

Über Sara Blædel

Biografie

Sara Blædel, geboren 1964 in Kopenhagen, wuchs als Tochter eines bekannten Journalisten und einer Schauspielerin in Hvalsø auf. Sie hat unter anderem als Grafikerin, Journalistin und Redakteurin gearbeitet, ehe sie 2004 ihren ersten Kriminalroman veröffentlichte. Sie wurde in ihrem Heimatland...

INTERVIEW mit Sara Blædel

Piper Verlag: Sara, bitte erzählen Sie uns etwas über Ihre Protagonistin – wer ist Louise Rick?

Sara Blædel: In vielerlei Hinsicht haben Louise und ich denselben Antrieb – sie geht in ihrer Arbeit völlig auf und taucht in jeden Fall ganz und gar ein. Die menschlichen Schicksale, denen sie begegnet, nimmt sie sich sehr zu Herzen. Außerdem wird Louise von einem starken Gerechtigkeitssinn angetrieben. Aber im Grunde ist sie nur eine gewöhnliche Frau mit einem sehr ungewöhnlichen Job.

PV: „Die vergessenen Mädchen“ markiert ein neues Kapitel in Louises Leben, denn sie tritt einen neuen Job in der Vermisstenstelle an – welche Auswirkungen hat diese Veränderung auf Louises Leben?

SB: Der Wechsel von der Mordkommission zur Vermisstenstelle ist für Louise ein großer Schritt, doch glücklicherweise arbeitet sie dort auch mit vielen ihrer alten Kollegen zusammen. Aber als ihr neuer Kollege Eik Nordström auftaucht, verändert sich doch so einiges. Eik ist Louises exaktes Gegenteil – er ist locker, einfühlsam und ziemlich unorganisiert. Louise kann nicht verbergen, dass er sie in den Wahnsinn treibt, doch Eik stört sich nicht daran, dass sie mit harten Bandagen kämpft. Am Anfang jedenfalls … :) Doch es gibt auch noch einige Konstanten in Louises Leben. Die Journalistin Camilla zählt wie Louises Nachbar Marvin zu ihrer selbsterwählten Familie. Gerade Camilla ist von großer Bedeutung für Louises Karriere und ihr Privatleben.

PV:Können Sie uns etwas über den Fall verraten, an dem Louise in „Die vergessenen Mädchen“ arbeitet?

SB:  Dieser Fall ist etwas Besonderes, weil er auf Dingen basiert, die in Dänemark tatsächlich passiert sind. In den Sechziger-  und Siebzigerjahren kam es immer wieder vor, dass Menschen von ihren Familien oder den Behörden in Psychiatrien abgeschoben und dort geradezu versteckt wurden. Nach und nach begreifen Louise Rick und ihr Team, dass diese entsetzlichen Taten auch heute noch relevant sein könnten.

PV:Würden Sie uns noch einen kleinen Ausblick auf Louises nächsten Fall geben? Was erwartet sie nach „Die vergessenen Mädchen“?

SB: Am Ende von „Die vergessenen Mädchen“ bleibt Louise mit einer Frage zurück, die ihr ganzes Leben verändern kann: Hat ihr Freund sich vor einigen Jahren gar nicht selbst das Leben genommen? War er es nicht selbst, der sich damals, am Tag nach dem Einzug in das gemeinsame Haus, die Schlinge um den Hals gelegt hat? Diese Frage ist nun alles, woran Louise denken kann, und sie ist fest entschlossen, die Wahrheit herauszufinden. Das nächste Buch  beginnt damit, dass Louise nach einer persönlichen Auszeit in ihr Büro in der Vermisstenstelle zurückkehrt. Dort wird sie bereits von ihrem neuen Bürokollegen erwartet: einem verwundeten, gutmütigen Deutschen Schäferhund, den Eik unter seine Fittiche genommen hat. Auch ein neuer Fall lässt nicht lange auf sich warten: Ein fünfzehnjähriger Junge wird vermisst. Er stammt auch Louises Heimatstadt Hvalsø, und so wittert sie die Gelegenheit, den Fall mit ihren eigenen Ermittlungen zum Tod ihres Freundes zu verbinden – doch es wird sich herausstellen, dass das keine kluge Entscheidung ist. Zurück in der Gegend, in der Louise den Großteil ihres Lebens verbracht hat, begegnen wir vielen Charakteren aus ihrer Vergangenheit, zum Beispiel der Familie ihres verstorbenen Freundes und Kim, dem Hauptkommissar des Holbæker Polizeipräsidiums. Und natürlich spielt auch die Journalistin Camilla Lind, Louises langjährige Seelenverwandte, wieder eine große Rolle. In einem Geflecht aus Ungesagtem, gefährlichen Machenschaften und Geheimnissen versucht Louise der Wahrheit auf die Spur zu kommen und deckt ein Netzwerk auf, in dem Bruderschaft mehr zählt als Blutsverwandtschaft.

PV:Wie sind Sie Schriftstellerin geworden? Wollten Sie schon immer mit Schreiben Ihr Geld verdienen?

SB: Ich habe schon als Kind gerne Gruselgeschichten erzählt und bin einfach ein sehr neugieriger Mensch, der im Kopf ständig verschiedene Szenarien durchspielt. Da ist immer diese kleine Stimme, die flüstert: „Was wäre, wenn …?“ Die ersten Krimis, die ich gelesen habe, waren Enid Blytons „Fünf Freunde“. Und da an war ich von der Kriminalliteratur gefangen. In den Neunzigerjahren habe ich einen kleinen Verlag gegründet, der auf Spannungsromane spezialisiert war, doch damals war dieses Genre noch weniger „in Mode“ als heute. Es vergingen noch einige Jahre, ehe ich selbst zu schreiben begann. Aber im Grunde gab es schon damals kein Zurück mehr – ich liebe gute Krimis einfach.

PV:Hätten Sie manchmal Lust, etwas ganz anderes zu schreiben, eine romantische Komödie zum Beispiel?

SB: Nein :) Aber als Journalistin habe ich natürlich viele völlig unterschiedliche Artikel und Berichte geschrieben, und auch ein Buch über Prinzessin Anne-Marie.

PV:Woher nehmen Sie die Ideen für Ihre Bücher? Was inspiriert Sie?

SB: Eine Idee kann überall und jederzeit auftauchen  – beim Zeitunglesen, unter der Dusche, wenn ich mit meinem Hund spazieren gehe. Die Idee zu „Die vergessenen Mädchen“ kam mir durch eine Artikelreihe in einer Zeitung zu den Zuständen und Gepflogenheiten in den dänischen Psychiatrien in den Sechziger- und Siebzigerjahren. Ich war total geschockt, und sofort begannen sich in meinem Kopf Geschichten zu entwickeln. Ich wollte mehr darüber erfahren. In den Artikeln fand ich auch einige Interviews mit ehemaligen Patienten, Angehörigen und Sozialarbeitern. Was ich las, war wirklich verstörend. Es ist noch nicht so lange her, dass geistig Behinderte in unserem Land als anstößig betrachtet wurden. Und noch immer gibt es viele Menschen, deren Leben durch dieses grauenhaften Fehlverhalten in der Vergangenheit gezeichnet ist. Wir können sehr froh darüber sein, dass sich die Lage in unserem Land so sehr zum Besseren gewendet hat. Es darf nie wieder soweit kommen, dass Menschen so herabwürdigend behandelt werden.

PV:Wie lange brauchen Sie, um ein Buch zu schreiben – von der ersten Idee zum fertigen Manuskript?

SB: Das ist unterschiedlich. Die allererste Idee kann schon Jahre lang in meinem Kopf herumgeschwirrt sein, bevor ich sie tatsächlich aufschreibe. Mit einigen macht es Spaß, sie nebenher immer weiterzuentwickeln. Andere kommen einfach so aus dem Nichts und sind schon fertig. Die echte Arbeit beginnt, wenn ich entscheiden muss, auf welcher Idee ich den nächsten Roman aufbauen will. Und ich verbringe SEHR viel Zeit mit thematischer Recherche. Erst danach fange ich an, die Handlung zu entwickeln, und erst wenn alles fest steht und perfekt stimmt, beginnt das Schreiben. Dabei fühle ich mich oft wie im Rausch, und  manchmal geht der eigentliche Schreibprozess sogar am schnellsten. Es kann viel Spaß machen, aber es gibt auch Tage, an denen ich mürrisch und schlecht gelaunt bin – meistens dann, wenn ich in der Geschichte gerade jemanden umgebracht habe :) Aber um es einmal auf den Punkt zu bringen: Nach der Recherche und Konzeptentwicklung brauche ich für das Schreiben eines Buchs etwa sechs Monate.

PV:Skandinavien ist ein Traumreiseziel vieler Deutscher – wohin würden Sie gerne einmal in den Urlaub fahren?

SB: Ich LIEBE Reisen und reise sehr viel. Wenn man in einem Land lebt, dass fast sechs Monate des Jahres kalt, dunkel und wolkenverhangen ist, dann sehnt man sich automatisch nach wärmeren Gefilden. Im Frühling und Sommer ist Dänemark wunderschön, aber sobald es Oktober wird, träume ich von sonnigeren Plätzen. Ich bin auch schon viel herumgekommen in der Welt. Letztes Weihnachten habe ich zum Beispiel in Mexiko gefeiert.

PV:Waren Sie schon mal in Deutschland, und sprechen Sie vielleicht sogar ein paar Wörter Deutsch?

SB: Ja, ich war schon einige Male in Deutschland. Leider habe ich noch längst nicht alles gesehen, was ich gerne sehen würde, aber ich war schon in Berlin, Hamburg, Köln und Bonn. Ich kenne viele Wörter auf Deutsch und verstehe meist auch ein bisschen was, aber wirklich sprechen kann ich es leider nicht. Ich bin auf einer Insel namens Sjælland aufgewachsen, auf der auch Kopenhagen liegt, und die Verbindung zu Deutschland ist dort nicht so stark wie etwa in Jütland. Im Süden Jütlands schauen die Leute deutsches Fernsehen, bei mir hingegen liefen schwedische Sender. Aber vielleicht werde ich Deutsch noch irgendwann lernen … es ist nie zu spät :)

Weitere Titel der Serie „Louise-Rick-Reihe “

In der von der dänischen Autorin Sara Blædel verfassten Serie bilden Kommissarin Louise Rick und Journalistin Camilla Lind das Ermittlerteam.

Pressestimmen
Ludwigsburger Kreiszeitung

„Sara Blædel, eine in Dänemark sehr erfolgreiche und beliebte Krimiautorin, hat ein brisantes Thema aufgegriffen. (...) Eine spannende Geschichte mit sehr ausdrucksstarken Figuren.“

Hessische/Niedersächsische Allgemeine

„Eine spannende, aber auch tragische Geschichte mit sehr ausdrucksstarken Figuren.“

dpa

„Eine spannende, aber auch tragische Geschichte mit sehr ausdrucksstarken Figuren.“

HEMPELS

„Gekonnt und spannungsreich verwebt Sara Blaedel die Fäden miteinander: die Geschichte der Kommissarin auf der neuen Stelle; die Geschichte des Ortes, in dem die Tote gefunden wurde, an dem immer mehr Fragen auftauchen und indem auch Louise Rick früher schon war.“

Kommentare zum Buch
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