Der Weg des kleinen Glückssuchers
Roman
„Ein inspirierender Roman für alle Fans von Sergio Bambaren und Antoine de Saint-Exupéry.“ - Mitten:drin (A)
Der Weg des kleinen Glückssuchers — Inhalt
Ein kleiner Junge und ein Kater bringen den Menschen der Großstadt Hoffnung
Während seine Mutter arbeitet, verbringt ein kleiner Junge seine Zeit in der Bibliothek, immer in Begleitung des Bibliothekskaters Jupiter. Gemeinsam streifen sie an den Regalen entlang, lesen und schmieden Reisepläne. Ihr Ziel: Ägypten, das Land der heiligen Katzen! Eines Tages ist es soweit: Sie schleichen hinaus und tauchen ein in das Treiben der Großstadt. Auf ihrem Weg durch Paris begegnen sie vielen Menschen, und der Junge erkennt, dass die Erwachsenen oft einsam und traurig sind. Indem er an ihrem Alltag teilhat, hilft er ihnen, wieder zuversichtlich zu sein und die Schönheit des Lebens zu erkennen. Und als Jupiter und er schließlich die Pyramide des Louvre erreichen, spüren sie, dass auch ihr eigenes Glück viel näher liegt als gedacht.
Berührend, einfühlsam und voll kindlicher Weisheit – Ein inspirierender Roman über Mut, Hoffnung und Menschlichkeit für alle Fans von Sergio Bambaren und Antoine de Saint-Exupéry
Leseprobe zu „Der Weg des kleinen Glückssuchers“
Auf dem Hügel drehen wir ein paar Kurven, dann fahren wir auf die vierspurige Straße neben einem Industriegebiet. Gleich darauf folgen Felder in verschiedenen Grüntönen, die Traktoren sehen aus wie durchgestrichene Stellen in einem großen Malbuch.
Maman will mich beruhigen und sagt, dass wir bald da sind, dabei habe ich genau davor Angst. Ich traue mich nicht, es ihr zu sagen, aber ich sehne mich nach den Schultagen, an denen ich mich stundenlang mit dem Funkeln der Sonne auf dem Ziffernblatt einer Armbanduhr beschäftigen konnte.
Seit der ersten [...]
Auf dem Hügel drehen wir ein paar Kurven, dann fahren wir auf die vierspurige Straße neben einem Industriegebiet. Gleich darauf folgen Felder in verschiedenen Grüntönen, die Traktoren sehen aus wie durchgestrichene Stellen in einem großen Malbuch.
Maman will mich beruhigen und sagt, dass wir bald da sind, dabei habe ich genau davor Angst. Ich traue mich nicht, es ihr zu sagen, aber ich sehne mich nach den Schultagen, an denen ich mich stundenlang mit dem Funkeln der Sonne auf dem Ziffernblatt einer Armbanduhr beschäftigen konnte.
Seit der ersten Mautstelle hören wir dauernd dieses Lied von einem Mann namens Tracy Chapman. Er scheint von Autos und Reisen zu singen. Maman sagt, das passe genau. Vielleicht gibt es ja Reiselieder, so, wie es auch Weihnachtslieder gibt. Neben der Straße sind hin und wieder Kühe zu sehen oder Schafe und manchmal auch Verkehrsschilder. Meistens steht „Alle Richtungen“ darauf. Wo man wohl ankommt, wenn man in alle Richtungen fährt? Als ich Maman gefragt habe, wo wir hinwollen, hat sie nur gesagt: „An einen besseren Ort.“
Das klingt weit weg.
Ich gehe hier nur selten raus. Maman sagt, das liegt daran, dass es so oft regnet, aber ich weiß genau, dass sie Angst hat – die Tropfen da draußen sind nämlich so fein wie die aus den Sprühflaschen, die sie benutzt, wenn sie die Wohnung putzt. Vom Fenster aus sieht man auf die Straße, ich schaue auf die Autodächer und betrachte darin den Himmel. Ohne die Autos wäre der Regen manchmal gar nicht zu sehen. Man würde ihn nur ständig im Gesicht spüren wie feuchten Wind.
Unten brüllen nachts irgendwelche Leute. Sie schreien nicht vor Wut oder Angst, eher so, als ob sie sich freuen oder als wären sie einfach gern ein bisschen lauter als die Leute tagsüber.
Morgen vor einem Monat habe ich wieder mit der Schule angefangen. Um neun Uhr setzt Maman mich in einem großen Klassenraum ohne Lehrer ab, den sie Bibliothek nennt. Sie sagt, dass es in meiner alten Schule nichts gab, was man nicht auch in Büchern finden könne. Ich habe ihr versprochen, jeden Tag eins zu lesen, und manchmal lese ich sogar zwei.
Die Bibliothek gehört Madame Goulde. Ihre Haare sind oben weiß und an den Spitzen schwarz, wodurch sie alt aussieht, aber nicht sehr alt. Wenn ich ihr erzähle, was ich gelernt habe, sagt sie oft, ich sei „sehr intelligent“.
„Muss man nur wiederholen können, was man gelesen hat, um ›sehr intelligent‹ zu sein?“
„Wer wiederholen kann, was er aus Büchern gelernt hat, ist gebildet. Bildung ist das, was man im Gedächtnis hat. Intelligenz bedeutet, dass man die Bücher einordnen kann.“
Die Leute hier sind alle sehr brav. Nicht wie in meiner alten Klasse, wo ich immer jemanden zum Schwatzen gefunden habe. Hier unterhält sich niemand, jeder sitzt brav in seiner Ecke, und wenn überhaupt einer redet, dann höchstens Madame Goulde, und immer im Flüsterton, so, als vertraue sie einem etwas sehr Wichtiges an.
Wenn ich nicht weiß, für welches Buch ich mich entscheiden soll, empfiehlt sie mir eins und sagt, dass es mir gefallen wird – so, als hätte sie jedes einzelne selbst gelesen. Ich glaube, sie lügt, um mich zu beeindrucken, wie es besonders intelligente Erwachsene tun, denn neulich habe ich ihr etwas aus einem erfundenen Buch erzählt, und sie hat es überhaupt nicht gemerkt.
Man findet alles Mögliche in ihrer Bibliothek. Ich habe sogar einen neuen Freund gefunden. Morgens spielen wir, und abends bleibt er da, um mit mir zu lesen, bis Maman mich abholt. Er heißt Jupiter, und letzte Woche hat er gesagt, dass ich sein bester Freund sei. Gestern habe ich Madame Goulde gefragt, ob ich Jupiter zum Übernachten zu mir nach Hause einladen kann, aber sie hat geantwortet, dass er die Bibliothek nicht verlassen darf. Das fand ich sehr ungerecht, weil sie ihm etwas verbietet, das allen anderen Schülern erlaubt ist. Jupiter war damit auch nicht einverstanden, und wir haben uns fest vorgenommen, ein Buch zu finden, in dem steht, wie wir seine Flucht organisieren können.
Heute hat Maman mich ein bisschen früher als üblich abgeholt, und auf dem Rückweg kamen wir an einer alten Schule vorbei, in der Kinder spielten. Die Jungs sahen zwar nicht gebildet und auch nicht sehr intelligent aus, aber sie hatten viel Spaß. Maman hat mich am Arm gefasst und weitergezogen, als befürchtete sie, dass ich reingehen will. Dabei mache ich mir überhaupt nichts daraus, in einem Klassenraum mit Tischen, einem Lehrer und Mitschülern in meinem Alter zu sitzen … ich finde nur manchmal, dass in der Bibliothek ein Platz zum Fußballspielen fehlt.
Sind wir frei in unseren Entscheidungen? Ich fand die Frage irgendwie blöd, denn um zu beurteilen, ob man frei ist, müsste man erst mal wissen, was man unter Freiheit versteht, schließlich kann dieses Wort sehr unterschiedliche Bedeutungen haben, je nachdem, in welchem Buch es steht. Als ich Madame Goulde das erklärt habe, meinte sie, ich würde später mal Philosoph. Ich habe gesagt, dass ich nichts dagegen hätte, solange es gut bezahlt ist, und sie hat laut gelacht. Mir ist nicht ganz klar, warum.
Am Abend ist dann etwas sehr Merkwürdiges passiert. Ich habe Maman erzählt, dass ich arbeiten will, damit ich mir die Anmeldung im Fußballverein in unserem Stadtteil leisten kann, und da hat sie angefangen zu weinen, so heftig, als hätte sie gerade erfahren, dass ihr Hamster gestorben ist. Meiner hieß Hermès. Ich dachte, es läge daran, dass sie Fußballspieler nicht mag, aber gleich darauf fing sie an, lauter komisches Zeug zu reden. Dass sie viel gearbeitet hätte und so, und wenn es so weiterginge, müsste ich wieder zu meinem alkoholabhängigen Vater zurückgehen und mit ihm zusammenleben. Ich habe geantwortet, dass das nicht geht, weil ich noch nie mit ihm „zusammengelebt“ habe, dann habe ich ihr die Zunge rausgestreckt, und sie wollte mich packen, aber ich bin ins Badezimmer gelaufen, wo noch was zu lesen für mich lag, und habe mich eingeschlossen. Ich muss sehr lange dortgeblieben sein, denn als ich wieder herauskam, hatte Maman sich beruhigt und tat so, als schliefe sie. Das weiß ich, denn normalerweise schnarcht sie, aber diesmal war kein Laut zu hören.
Ich bin gerade mit der Bibel fertig. Die hat mir gut gefallen. Vor allem das Alte Testament mit der Arche Noah und dem Turmbau zu Babel. Ich fand das viel besser als Alice im Wunderland, aber ich glaube, Harry Potter war mir doch noch lieber. Ich habe auch Malcolm X. Die Autobiografie gelesen, und als ich mit Madame Goulde gesprochen habe, war ich sehr enttäuscht zu erfahren, dass er schon tot ist. Schade, dass er nicht auch wiederauferstanden ist, denn ich bin mir sicher, er wäre nicht nur vierzig Tage geblieben und dann wieder abgehauen wie ein alkoholabhängiger Vater.
Ich habe eine Entscheidung getroffen. Falls ich kein Fußballspieler oder Philosoph sein kann, werde ich eben Privatdetektiv. Ich glaube, das ist einfacher, und wenn ich es schaffe, vor unserem Aufbruch sämtliche Sherlock-Holmes-Bände zu lesen, bin ich fit genug, um ein paar Mörder zu entlarven.
In der zweiten Etage der Bibliothek, zwischen Hörbüchern und Architektur/Bildhauerei, habe ich meine wichtigste Entdeckung seit der Comicabteilung gemacht. Da steht auf einem Schild: „Unterhaltungsliteratur – entfliehen Sie dem Alltag“. Ich habe Jupiter schon öfter hier herumhängen sehen, aber weil man an der Medizinabteilung vorbeimuss und in dem Gang ein riesiges Skelett steht, hatte ich mich bislang noch nie so weit vorgewagt.
An diesem Morgen habe ich Jupiter gefragt, wohin wir gehen wollen, wenn wir fliehen, aber er war nicht sehr gesprächig. Immerhin haben wir beschlossen, an einem Freitag zu verschwinden. Maman verspätet sich häufig, und Madame Goulde sieht sich immer eine Kochshow an, die sie „um nichts auf der Welt“ verpassen will. Ich habe ihr nicht gesagt, dass es vermutlich viele Dinge auf dieser Welt gibt, wegen denen sie ihre Sendung verpassen könnte. Maman meint, Übertreiben ist nicht schlimm, solange man niemandem damit wehtut.
„Es liegt immer an irgendetwas, dass etwas passiert.“ Ich habe vergessen, von wem dieser Satz stammt, aber ich glaube, es ist der schlaueste, den ich je gelesen habe. Ich sage das, weil ich mich inzwischen mit Literatur zur Flucht aus dem Alltag beschäftige und zuerst sehr traurig war, dass es darin eher um das Leben in fremden Ländern als um richtiges Flüchten geht. Aber zufälligerweise habe ich dadurch herausgefunden, wohin wir gehen können, falls es uns an irgendeinem Freitag mal gelingt, von hier zu verschwinden. Jupiter hat mir nicht genau gesagt, woher er kommt, und ich musste mehrere Bücher lesen, bis ich endlich kapiert habe, warum er mich an diesen Ort geführt hat, aber jetzt weiß ich es: Ägypten. In diesem Land waren Katzen heilig, dort finden sich die Spuren der ersten Katzen überhaupt, die Leute gaben mehr Geld für die Beerdigung einer Katze als für die eines Menschen aus, die Götter hatten Katzenköpfe, auf das Töten einer Katze stand die Todesstrafe … Langer Rede kurzer Sinn: Ich habe herausgefunden, dass Katzen in Ägypten ganz schön wichtig waren, und ich glaube, Jupiter wollte mir etwas klarmachen, indem er mich hierhergeführt hat.
Ich habe überhaupt nicht geschlafen. Mein Bein hat gejuckt, und als ich mich gekratzt habe, fing es überall an zu jucken. Na ja, ein kleines bisschen habe ich schon geschlafen, aber ich bin trotzdem sehr müde. Auf einmal habe ich keine große Lust mehr zum Fliehen, obwohl Freitag ist. Ich habe es Jupiter gesagt, und er war wohl sehr enttäuscht, denn er ist danach auf sein leeres Regal ganz nach oben geklettert und hat für den Rest des Vormittags nicht mehr mit mir geredet. Erst später ist er wieder runtergekommen, zum Mittagessen, und während seines Nickerchens habe ich ihm ein Buch über Schlangen vorgelesen.
Zum Geburtstag hat Madame Goulde mir ein Trikot von Manchester United geschenkt, es hat mal ihrem Sohn gehört. Sie hat versprochen, mir auch die Schuhe zu geben, sobald sie mir passen. Hoffentlich wachse ich nicht so schnell, denn im Augenblick ist das Trikot gerade groß genug für Jupiter und mich.
An meinem Geburtstag hat es sogar geschneit, und ausnahmsweise durfte ich in der ersten Etage aus dem Fenster gucken. Weil der Boden gefroren war, rutschten viele Leute auf der Straße; ich habe sogar gesehen, wie sich vier hingelegt haben. Jupiter ist den ganzen Nachmittag unter meinem Trikot geblieben, und ich habe mir gesagt, dass wir am Tag unserer Flucht unbedingt daran denken müssen, gute Schuhe anzuziehen.
Abends habe ich geweint, weil ich dachte, Maman hätte meinen Geburtstag vergessen, aber am nächsten Tag hat sie mir einen Kuchen gebacken, so groß, dass ich nicht alle Kerzen auf einmal auspusten konnte.
Seit Wochen schon wollte ich eine wahre Fluchtgeschichte lesen, hatte bisher aber nicht gewagt, Madame Goulde danach zu fragen, aus Angst, sie könnte uns verdächtigen, dass wir ein krummes Ding drehen und sie austricksen wollen. Ich habe mit Jupiter darüber gesprochen, und er hat kein passendes Buch gefunden, ich habe ein bisschen gebetet, was aber auch nicht geholfen hat, und dann habe ich gelesen, dass man findet, wenn man zu suchen aufhört. Also habe ich beschlossen, erst mal etwas anderes zu machen. Aber später habe ich weitergesucht und bin endlich auf das richtige Buch gestoßen, darum weiß ich jetzt nicht, ob das Gebet vielleicht doch gewirkt hat, mit Verspätung.
In dem Buch geht es um die Geschichte eines Mannes, der aus dem Gefängnis ausbricht, um sich mit seiner Geliebten zu treffen, aber als er ihr begegnet, ist sie nicht mehr so verliebt in ihn wie früher, daher glaube ich, dass er sie am Ende umbringen wird. Das Buch scheint nicht schlecht zu sein, aber ich habe bisher nur die ersten fünfzehn Seiten gelesen, wo der Mann seinen Ausbruch vorbereitet. Dabei habe ich gelernt, dass es das Wichtigste ist, sich ein Täuschungsmanöver auszudenken, um die Wärter abzulenken, und wenn sich dann eine Gelegenheit bietet, muss man sie auch nutzen.
Ich bin mir nicht sicher, ob wir Ägypten erreichen werden, aber ich glaube, Jupiter gefällt die Vorstellung, nach Hause zu kommen, darum erzähle ich ihm gelegentlich immer noch etwas über das Land. Außerdem glaube ich, dass wir ein prima Abenteuer erleben werden, auch wenn wir es nicht bis nach Ägypten schaffen sollten.
Dank der Zahnfee, von der ich hin und wieder eine Münze für meine ausgefallenen Zähne bekomme, konnte ich etwas Geld zur Seite legen. Ich hatte neun Euro, aber diesen Monat musste ich eins fünfzig für drei Tetrapaks Apfelsaft ausgeben, und zehn Cent habe ich in die kleine Spardose in der Bibliothek gesteckt, darum sind jetzt auf einmal nur noch sieben Euro vierzig übrig …
Früher war ich reich. Maman hatte mir zehn Euro vom Weihnachtsmann gegeben, aber gleich dazugesagt, dass wir ein Bankkonto damit eröffnen, denn auf diese Weise werden aus meinen zehn Euro mindestens fünfhundert geworden sein, wenn ich groß bin. Ich habe Angst, dass die Banken das nur sagen, damit die Kinder ihre Konten vergessen und sie das Geld vom Weihnachtsmann behalten können, darum hat Maman mir ein Lesezeichen gemacht, auf dem „Bank“ steht. So kann ich sicher sein, dass ich mich zu gegebener Zeit an mein Geld erinnere.
Mir sind die Bösen lieber, denn die Bösen verlieren. Es ist nicht sehr spannend, für jemanden zu sein, wenn man von Anfang an weiß, dass er gewinnen wird.
„Ist es denn interessanter, wenn man von Anfang an weiß, dass er verlieren wird?“
Beim Bösewicht kann man sich wenigstens wünschen, dass er gewinnt, aber zu hoffen, dass der Gute verliert, das wäre gemein.
»Du weißt aber schon, dass es im richtigen Leben keine Guten und Bösen gibt, oder?
Ja, das weiß ich. Jesus sagt immer, dass Gott in jedem von uns ist, und ich sage immer, dass ein Buch gut ist, wenn der Bösewicht auch ein bisschen gut und der Gute manches Mal ein bisschen böse ist.
„Es heißt ›manchmal‹.“
Das weiß ich. Aber manchmal sage ich eben lieber manches Mal.
Zusätzlich zu meinen sieben Euro vierzig hat Jupiter eine Fünfzigcentmünze gefunden, sie lag unter seinem Sessel, und Madame Claire, mit der ich mich manchmal zwischen den Comicregalen unterhalte, hat mir einen Fünfeuroschein gegeben und gesagt, ich soll mir Schokolade davon kaufen. Ich schäme mich ein bisschen, weil ich sie angelogen habe, aber ich habe das Geld lieber zu unserem Ersparten getan. Elf Euro vierzig, zwölf Euro vierzig, dreizehn Euro vierzig, plus die fünfzig Cent … macht dreizehn Euro achtzig. Fast genug, um sich einen Säbel oder ein Heft zu kaufen.
„Maman …“
„Maman?“
„Ja, mein Herz, eine Sekunde.“
„Maman? Die Sekunde ist schon vorbei.“
„Ich rede mit dem Herrn hier, das siehst du doch.“
„Maman …“
„Maman!“
„Was ist denn?!!“
„Wärst du sauer auf mich, wenn ich in den Urlaub fahren würde?“
„Diesen Sommer, mein Junge, so Gott will.“
„Und wenn Gott will, aber ich nicht mehr?“
„Sei jetzt mal ruhig. Ich rede mit dem Herrn hier.“
Ich habe Maman nicht wirklich gesagt, dass ich Jupiters Flucht organisieren werde. Ich habe Angst, dass sie es mir verbietet. Falls sich die Gelegenheit ergibt, flüchten wir nächsten Freitag, und am Donnerstagabend hinterlasse ich ihr eine Nachricht in meinem Zimmer, damit sie sich keine Sorgen machen muss. Und wenn sich doch nichts ergibt, stecke ich den Zettel beim Nachhausekommen wieder ein, dann muss sie sich auch keine Sorgen machen.
Heute haben Jupiter und ich mit den Vorbereitungen begonnen. Um unser Hab und Gut zu verstauen, habe ich eine Tasche mitgenommen, die ihm bisher als Kissen gedient hat. Anfangs schien er damit nicht einverstanden zu sein, aber inzwischen habe ich ihm ein paar Bücher zurechtgelegt, und eigentlich hat er es jetzt sogar bequemer als vorher. Ich habe auch meine Mütze mitgenommen, Buntstifte, eine Zeitschrift, die ein Mann vergessen hat, meinen Kompass, eine Schüssel für Jupiters Futter und ein Seil. So ein Seil kann man immer gebrauchen.
Mittwochs sind die Leute oft lauter. Manche kommen sogar in Gruppen, um zu diskutieren. Es gibt auch einen alten Herrn, der fast jeden Morgen da ist und den ich noch nie lesen gesehen habe. Er dreht eine Runde durch die Bibliothek, nimmt irgendwo Platz, bleibt lange sitzen und macht ein brummiges Gesicht wie Jupiter, wenn er müde ist, weil er die ganze Zeit hinter seinem Schwanz hergelaufen ist, ohne ihn zu kriegen. Ich weiß, eigentlich hätte ich dem Mann nichts von unserer Flucht erzählen dürfen, wo ich doch vorher noch nie mit ihm gesprochen hatte … Aber mir kam es so vor, als hätte ich Jupiter angeschwindelt mit diesem Versprechen, ihn nach Ägypten zurückzubringen, und der Gedanke, dass ich vielleicht meinen besten Freund belogen hatte, machte mich traurig … Plötzlich musste ich fast weinen, aber der alte Herr hat etwas zu mir gesagt, was ich noch nie irgendwo gelesen habe, und ich habe es mir sofort in mein neues Heft geschrieben: Eine Lüge, die heilt, ist Medizin. Und dann ist er weggegangen.
Draußen wird es allmählich kalt. Ich habe keine guten Schuhe für Jupiter gefunden, aber er ist trotzdem total gut ausgerüstet. Schlafen wird er unter meinem Trikot, und für tagsüber habe ich ihm einen Pulli aufgeschnitten, den ich ihm über den Rücken legen kann. Er ist blau, weil das meine Lieblingsfarbe ist, aber weil Rot meine zweite, genauso liebste Lieblingsfarbe ist, habe ich ihm aus meinem Spiderman-Schal auch noch eine Mütze gemacht. Alles liegt in unserer Tasche, und er bewacht sie Tag und Nacht.
Liebe Mama,
ich weiß, du bist jetzt vielleicht ein bisschen sauer, aber ich habe in den letzten zwei Wochen (sogar sonntags) drei Bücher gelesen, und drei habe ich mitgenommen, darum werde ich nicht allzu viel verpasst haben, wenn ich zurückkomme.
Sag Madame Goulde nicht, dass ich es bin, der Jupiter bei der Flucht geholfen hat. Ich habe Angst, dass sie die Polizei ruft, und dann muss ich ins Gefängnis.
Ich möchte dir noch sagen, dass du ganz beruhigt sein kannst, falls du dir mal Sorgen machst. Ich habe nämlich einen Plan. Und ich habe auch die Umschläge, die du in die Schublade im Wohnzimmertisch geräumt hast, so kann ich dir sogar eine Postkarte schicken, wenn ich durch Ägypten reise.
Ich hab dich lieb.
Maman wartete vor meiner Zimmertür auf mich und nörgelte rum, weil sie zu spät kommen würde. Aber ich habe den Brief noch schnell in einen Umschlag gesteckt und ihn auf mein blaues Kopfkissen gelegt.
Es ist dreizehn Minuten nach zwölf, und ich bin um 9:43 Uhr hier angekommen. Ich habe versucht zu lesen, aber ich schaffe keine einzige Seite. Ich glaube, heute ist der längste Tag meines Lebens.
Die Tasche ist zwar ziemlich schwer, aber ich bin bereit. Ich habe mein Trikot, meinen Anorak und mein Pausenbrot, das ich mir als Proviant aufbewahrt habe, und ich habe Jupiter, der brav auf das Zeichen wartet. Hin und wieder steckt er in der ersten Etage den Kopf zum Fenster hinaus, so, als wollte er nachsehen, ob der Weg auch frei ist. Ich wage zwar nicht, mich so weit hinauszulehnen wie er, aber manchmal gucke ich auch aus dem Fenster. Ich hoffe, dass es schneit.
In zehn Minuten beginnt Madame Gouldes Kochshow. Maman ist die Einzige, die uns noch aufhalten könnte. Falls ich ihr über den Weg laufe, habe ich es nicht nur vermasselt, sondern sie wird mich außerdem ausschimpfen, weil ich die Briefumschläge mitgenommen habe … Ich glaube, ich verstecke mich im Park gegenüber und warte, bis sie wieder weg ist. Danach können wir endgültig aufbrechen.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das hier eine gute Idee ist. Wie durch Zufall habe ich nämlich zu lange gewartet, plötzlich läuft schon die Werbung, und Madame Goulde hat sich wieder zu uns umgedreht. Maman kann jeden Augenblick kommen, und Jupiter ist bestimmt sauer auf mich, wenn ich noch einen Freitag vergehen lasse, nur, weil ich Bammel gekriegt habe.
Jetzt. Ich bin mir fast sicher. Das ist die Gelegenheit: Madame Goulde muss zur Toilette. Gleich geht sie los, und wenn Maman dann nicht auftaucht, ist es gut. Alles wird gut.
Es hat nur wenige Sekunden gedauert. Als ich gesehen habe, dass sie aufsteht, habe ich unsere Tasche geholt, meinen Mantel und die Schuhe. Ich war ein bisschen nervös, weil ich Jupiter nicht finden konnte, aber er wartete schon am Eingang auf mich.
Die Tasche war schwer und die Nacht kalt. Der Park gegenüber war geschlossen, und Jupiter glaubte, Maman in der Ferne zu sehen, also haben wir beschlossen, mit dem Bus zu fliehen.
Lärm und Umarmungen. Wenn man die Augen zumacht, glaubt man, auf einer Party zu sein. Wie in der Mittelstufe, als die Mädchen verschämt tanzten, um die Jungs anzulocken, die nach dem ersten Bier bereits in gehobener Stimmung waren. Menschen fotografieren Menschen, die sich selbst fotografieren. Karen brüllt rum wie ein kleines Kind, das gesehen werden will, aber keine Beachtung findet. Vor zwei Stunden sah sie noch aus wie eine Depressive auf Urlaub, gekommen, um an Nichtdepressiven ein offenes, unverstelltes Lächeln zu üben. Ich denke, in zehn Jahren wird sie die Frau eines homosexuellen Promis sein.
Je mehr Zeit vergeht, desto hungriger werde ich. Der Gastgeber sammelt die Flaschen ein und bringt volle Gläser, als wollte er dafür sorgen, dass niemand sich noch einmal nachschenken kann. Die Glühbirne in der Deckenlampe brennt durch, was einige Leute zu freuen scheint, weil sie offenbar denken: „Wenn ich dich kaum noch erkennen kann, fällt es mir viel leichter, dich zu küssen.“ Ein Mann. Schattenhafte Umrisse. Eine Frau. Pobacken. Als ich von der Toilette komme, ist Karen verstummt. Die Tanzenden haben sich wieder hingesetzt, und jemand hat die Glühbirne ausgewechselt. Man könnte sagen, es ist die Pause nach der Pause. Bald ist es an der Zeit aufzuräumen. Aber vorher ist es Zeit zu gehen.
Ich glaube, die Leute kriegen vor allem deshalb Kinder, um sich das Altern erträglicher zu machen. Nichts ist furchterregender als das Verrinnen der Zeit, das Welken des Körpers, das Annehmen des Todes als endgültiges Verfallsdatum. Also erschafft man eine Miniaturausgabe seiner selbst, um ihr beim Leben zuzuschauen, solange sie noch schön ist. Solange sie größer wird, aber nicht altert. Es ist bewundernswert und lächerlich zugleich, so, wie an Gott zu glauben oder einen leeren Stimmzettel abzugeben.
„Welches Rezept?“
„Welches Brot?“
„Wie groß sollen die Scheiben sein?“
„Mit oder ohne Käse?“
„Gerieben oder in Scheiben?“
Es ist schrecklich. Ich habe ihn beschimpft und bin zur Tankstelle gegangen, Dreiecksandwiches kaufen.
Ich gehe gern schlafen, nachdem ich ein bisschen getrunken habe. Nüchtern zu Bett zu gehen bedeutet, dass ich nachdenken werde, und Nachdenken führt zu Schlaflosigkeit. Ich beneide die schlichten Gemüter, die dieses Problem nicht kennen.
Ich schlafe nicht. Ich habe Angst, arm, dick und als Junggeselle zu enden und von Selbstachtung und Leitungswasser leben zu müssen.
Meine Matratze ist eine Salzwüste. Ich weiß nicht, warum man sich darauf versteift, die Sachen des anderen aufzubewahren wie Reliquien. Ich hebe die Haarspange auf, die noch am Fußende des Betts liegt, und sie wiegt so viel wie ein Kanapee. Vorsichtig lege ich sie auf den Nachttisch und bin überzeugt davon, dass sie mir beim Einschlafen helfen wird.
Heute Abend werde ich zu ihr gehen. Ich habe es mir gut überlegt – lieber lasse ich mich von Zurückweisung vernichten als von Sehnsucht zermürben.
Unten vor dem Haus kommt mir der Gedanke, dass dies mit Sicherheit das letzte Mal ist. Als ich den Fahrstuhl betrete, habe ich absolut keine Ahnung, was ich ihr sagen will.
Sie ist so schön, dass ich bereits bedaure, hergekommen zu sein. Ich ertrage diesen weiblichen Stolz nicht, diese Art, im Augenblick der Trennung so begehrenswert wie möglich zu sein, als könnte dieses letzte Bild die Erinnerung bestimmen oder als hätten ein Lippenstift und eine enge Hose mehr Macht als ein Satz.
Sosehr ich mich auch bemühe, ich kann mich nicht erinnern, was mich zu diesem Besuch getrieben hat. Seit ungefähr einer halben Stunde erklärt sie mir, dass ihre Entscheidung gefallen ist und dass „du mich respektieren musst, wenn du mich liebst“. Es hat überhaupt keinen Sinn. Wie bescheuert muss man sein, um sich so was anzutun?
Ich möchte sterben, damit sie sich schuldig fühlt. Sterben als Beweis. Dafür, dass du unrecht hattest. Mir war warm, aber in meinem Inneren regnete es.
Unter einem Gerüst warten in der Hoffnung, dass es einstürzt. Eine schmale Straße, ein offenes Restaurant, der Schatten von Kletterpflanzen, der hinter einer Milchglasscheibe zu erkennen ist. Kinder fahren Ski ohne Schnee. Der Gedanke lässt ihn lächeln, bis eins davon ihn mit „Monsieur“ anspricht. Gebäude. Hof. Gebäude. Boulevard. Ja, genau. Gefangen von der Stadt, den Flics, den anderen. Er stellt sich ein Attentat auf diese ausgedehnte, von Autos und statischen Menschen bevölkerte Wüste vor. Was er ihr nach einigen Tagen des Schweigens schreiben würde. Eine Träne, die im Wind trocknet.
Himmel ohne Mond und Sterne. Er wankt wie ein Schiffbrüchiger, keine Chance, sich zu verlaufen, weder Anfang noch Ende, ein Korridor in einem Traum, in dem man sich von oben sieht, nur die Kälte wird ihn aufhalten … diese Kälte … Er biegt rechts ab.
Ein paar Autos in der Ferne, ähnlich dem Geräusch von Wellen.
Ich träume.
Ich träume, dass es schneit.
Ich träume, dass es schneit und ein Kind an meinem Arm zieht.
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