Der Ozean unserer Erinnerung
Roman
„Ein fesselnder Roman“ - Westfälische Nachrichten
Der Ozean unserer Erinnerung — Inhalt
Exotisch, geheimnisvoll, mitreißend – der neue Roman von Spiegel-Bestsellerautorin Lucy Clarke
Eine kleine Insel im Südwestpazifik, Sonne, Palmen und wunderschöne Korallenriffe – für die Schwestern Erin und Lori sollte es ein Traumurlaub werden. Doch auf dem Hinflug kommt es zwischen den beiden zum Streit, und Erin lässt ihre Schwester nach einem Zwischenstopp alleine weiterfliegen. Eine Entscheidung, die sie bitter bereut. Denn die Maschine verschwindet spurlos, Lori kommt nie an ihrem Ziel an. Erins Welt gerät ins Wanken. Fieberhaft sucht sie nach einem Lebenszeichen ihrer Schwester, ohne Erfolg. Bis zwei Jahre später der Pilot des Flugzeugs überraschend wieder auftaucht. Ist auch Lori noch am Leben? Aber warum meldet sie sich dann nicht? Noch einmal begibt sich Erin an den Ort, an dem das Schicksal seinen Lauf nahm.
Heiß erseht und in Engalnd bereits ein Sunday-Times-Bestseller: Nach „Die Landkarte der Liebe“ und kommt endlich ein neuer hochemotionaler Schwestern-Roman von Lucy Clarke! Niemand schreibt so gefühlvoll und spannungsgeladen über das Schicksal zweier Schwestern wie Lucy Clarke.
„Wunderschön geschrieben und unser Kandidat für eines der besten Bücher des Jahres 2021.“ Marie Claire
„ Zutiefst emotional und spannend ... Eine Geschichte mit genau dem richtigen Tempo und unglaublich authentischen Charakteren. Sie werden dieses Buch verschlingen. Es ist einfach perfekt!“ Julie Clark
„Voller Atmosphäre und Spannung sowie brillant gezeichneter Charaktere, die mir ans Herz gewachsen sind. Ich habe es geliebt!“ Claire Douglas
„Eine perfekte Flucht aus dem Alltag und ein Buch mit großer emotionaler Wucht.“ BEST
„Ein echter Pageturner, eine dichte, absolut fesselnde Geschichte.“ T M Logan
„Eine wahre Achterbahnfahrt! ›Der Ozean unserer Erinnerung‹ entführt Sie auf eine abgelegene Insel und lässt Sie nicht mehr los.“ Bella Magazine
„Dieser Roman hat uns von der ersten Seite an gefesselt.“ Closer
Leseprobe zu „Der Ozean unserer Erinnerung“
1 Damals|Lori
Lori zog ihren Rollkoffer den schwülwarmen Korridor im Flughafen entlang. Lose Haarsträhnen klebten ihr im Nacken. Als sie die Nummer ihres Gates entdeckte, blieb sie stehen und sah sich um.
Von ihrer Schwester noch immer keine Spur.
Sie förderte ihr Telefon zutage, doch das Display glotzte sie nur mit leerem Blick an. Keine Nachrichten. Keine verpassten Anrufe. Das Herz hämmerte ihr im Brustkorb. Nur noch wenige Minuten bis zum Einsteigen.
Ein Satzfetzen aus ihrem Streit schoss ihr durch den Kopf. Ich erkenne dich gar nicht wieder …
Lori fuhr [...]
1 Damals|Lori
Lori zog ihren Rollkoffer den schwülwarmen Korridor im Flughafen entlang. Lose Haarsträhnen klebten ihr im Nacken. Als sie die Nummer ihres Gates entdeckte, blieb sie stehen und sah sich um.
Von ihrer Schwester noch immer keine Spur.
Sie förderte ihr Telefon zutage, doch das Display glotzte sie nur mit leerem Blick an. Keine Nachrichten. Keine verpassten Anrufe. Das Herz hämmerte ihr im Brustkorb. Nur noch wenige Minuten bis zum Einsteigen.
Ein Satzfetzen aus ihrem Streit schoss ihr durch den Kopf. Ich erkenne dich gar nicht wieder …
Lori fuhr sich mit den Zähnen über die glatte Haut an der Innenseite der Wangen und biss zu, bis sie Blut schmeckte.
Sie versuchte sich auszumalen, wie sie ohne Erin startete. Wie sie allein den Flug bis zum weit entfernten südöstlichen Rand der Inselgruppe antrat. Dabei hielt sie sich vor Augen, dass sie die schwierigste Etappe der Reise bereits gestern hinter sich gebracht hatte, den Langstreckenflug von London nach Fidschi. Sogar ohne Diazepam. Doch da hatte sie Erin neben sich gehabt, die mit Knabbersachen, Musik-CDs und Büchern bewaffnet erschienen war und nur so übersprudelte von Vorschlägen, welche Drinks sie an Bord bestellen sollten, sodass Lori den Start kaum mitgekriegt hatte. Nach der Ankunft gestern Abend hatten sie in ein Hotel am Strand eingecheckt und eigentlich vorgehabt, rasch etwas zu essen und ein paar Stunden zu schlafen, bevor sie am Morgen weiter zu ihrem Resort flogen.
Nur, dass sie jetzt ohne Erin hier stand.
Sie schleppte ihren Koffer zu den Toiletten, wo sie sich über das Waschbecken hinweg zum Spiegel beugte, um sich zu betrachten. Mit den Fingerspitzen betastete sie ihre geschwollenen Lider und fuhr die dunklen Augenringe nach.
Letzte Nacht war sie wach geblieben, immer in der Hoffnung, vielleicht doch noch unsichere Schritte draußen auf dem Hotelflur zu hören. Ein Klopfen an der Tür und die Stimme ihrer Schwester, die in einem Bühnenflüstern um Einlass bat. Sie hatte sich Erin vorgestellt, wie sie sie, mit Gin abgefüllt, mit gelallten Entschuldigungen flutete. Vielleicht hätte sie ihr aufgemacht und wäre in dem breiten Hotelbett zur Seite gerutscht, damit sie Platz hatte. Hätte Erin aufgefordert, in die andere Richtung zu atmen, und sie ermahnt, sie solle bloß nicht schnarchen. Ja, vielleicht hätte sie das getan. Aber möglicherweise hätte sie die Tür auch nur einen Spalt geöffnet, gerade eben weit genug, um ihr zu sagen, sie solle sich zum Teufel scheren.
Allerdings konnte Lori sich die Frage, wie sie sich dabei gefühlt hätte, nicht beantworten. Denn Erin war nicht zurückgekehrt.
Sie kramte ihr Schminktäschchen heraus, weil ihre Hände eine Beschäftigung brauchten. Ihr Teint war von einer winterlichen Blässe, die auf zu viele Stunden in geschlossenen Räumen hinwies. Seit Monaten hatte sie schon keinen Sonnenstrahl mehr auf der Haut gespürt. Mein Gott, blauer Himmel. Schwimmen im warmen Meer. Frische Luft. Ein gutes Buch. Sie hatte sich diesen Urlaub verdient. Sie brauchte ihn.
Aber was, wenn das alles ein Fehler gewesen war? Sie hatte die Reise ganz spontan gebucht. Um drei Uhr morgens. Das Bett zerwühlt nach einer weiteren schlaflosen Nacht. Eigentlich hatte sie den Laptop herausgeholt, um sich einen Film anzuschauen – etwas, um sich gedanklich abzulenken –, doch dann war plötzlich die Werbung auf dem Bildschirm erschienen. Zehn Übernachtungen auf einer weit entfernten Fidschi-Insel, wo man barfuß herumlaufen konnte. Die Reisezeit schloss ihren achtundzwanzigsten Geburtstag ein. Also hatte sie ein neues Fenster geöffnet und den Stand ihres Ehegattenkontos gecheckt. Und, siehe da, es waren noch zweitausend Pfund drauf. Fick dich, Pete, dachte sie, als sie auf „Buchung bestätigen“ klickte.
Beim ersten Morgengrauen hatte sie sich in Erins Zimmer geschlichen, ihr eine Tasse dampfenden Tee hingestellt und ihre langen Beine unter die Daunendecke geschoben.
„Ich schlafe noch“, nuschelte Erin.
„Ich habe Neuigkeiten“, verkündete Lori. „Es werde Licht!“ Sie streckte die Hand aus, um die Nachttischlampe anzuknipsen. „Ich habe eine Reise für uns gebucht. Nach Fidschi. In der zweiten Januarwoche. Du hast doch gesagt, du müsstest noch deinen Resturlaub nehmen. Ich lade dich ein.“
Erin hob den Kopf ein winziges Stück und schlug ein Auge auf.
Lori konnte sich denken, was jetzt in ihrer Schwester vorging: Aber Lori hat doch Flugangst. Sie reist nie. Ein Urlaub ist, als würde man ein Pflaster auf eine tiefe Wunde kleben. Und so sprach Lori leise und im Brustton der Überzeugung weiter, bevor Erin Gelegenheit zu einer Antwort hatte. „Ich muss raus hier. Und du bist der einzige Mensch, mit dem ich mir das vorstellen kann.“ Eine bedeutungsschwere Pause. „Du und ich.“
Du und ich. Schwer mit Vorgeschichte beladen, flirrten die Worte zwischen ihnen in der Luft.
Eine winzige Pause entstand, nur der Hauch eines Zögerns. „Also gut.“
Und trotzdem stand jetzt nur Lori auf dem Flughafen herum. Allein.
Sie schloss ihr Schminktäschchen, schnappte sich den Koffer und verließ die Toilette.
Der Korridor war noch immer menschenleer. Wieder griff sie nach ihrem Telefon und drehte es unschlüssig in den Händen hin und her. Eigentlich wäre es Erins Sache gewesen, sich zu melden … aber Lori musste einfach ihre Stimme hören und sich vergewissern, dass alles in Ordnung war.
Sie wählte.
Während sie dem Freizeichen lauschte, beobachtete sie, wie sich ein Pilot in weiß gestärktem Hemd auf dem Korridor näherte. Er trug eine marineblaue Schirmmütze und hatte dicke Tränensäcke und blutunterlaufene Augen. Etwa der Pilot meiner Maschine? Er ging in die Hocke und suchte etwas in seinem Bordgepäck. Verwirrung malte sich auf seinem Gesicht. Dann fuhr er sich mit der Hand über die Wangen und strich die schlaffe Haut hinunter bis zum Kiefer. Nach einer Weile gab er das Herumgekrame auf, holte tief Luft und setzte seinen Weg mit gesenktem Kopf fort.
Als mit einem Klicken die Mailbox ansprang, riss Lori sich von seinem Anblick los. „Erin hier. Fass dich kurz.“ Der Signalton folgte so unmittelbar darauf, dass man richtiggehend zusammenschrak.
Lori zögerte. Die lastende Pause zog sich hin, ihr Schweigen wurde aufgezeichnet.
Ihre Gedanken wanderten gut zwei Jahrzehnte zurück in die Vergangenheit. Sie lagen unter einer mit Sternen gemusterten Bettdecke, ihr Atem warm in der dunklen Baumwollhöhle. Ihre Mutter war erst seit einer Woche tot. Lori drückte die Hand ihrer Schwester. Du brauchst keine Angst zu haben, Erin. Ich bin deine große Schwester. Ab jetzt passe ich auf dich auf.
Doch was war, wenn Lori zur Abwechslung einmal sie brauchte? So wie jetzt zum Beispiel? Was dann?
„Ich bin am Flughafen“, zischte Lori, die Lippen dicht am Telefon. „Wo, zum Teufel, steckst du?“
2 Jetzt|Erin
Auf dem Treppenabsatz vor meiner Wohnung ist es stockdunkel. Letzten Monat ist die Glühbirne durchgebrannt, und ich habe es noch nicht geschafft, sie zu ersetzen.
Auf der Suche nach dem Schloss lasse ich die Hand tastend die Tür hinaufgleiten. Meine Lederjacke riecht feucht vom Regen. Hinter mir steht der Mann, den ich in der Kneipe abgeschleppt habe. Ein Rest von Rasierwasser, eine ordentliche Bierfahne. Mark? Matt?
„Mein Telefon hat eine Taschenlampenfunktion“, sagt er, als ich es gerade geschafft habe, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und die Tür mit einem Schubs aufzustoßen.
Ich mache einen großen Schritt über die Post von heute, lege den Schlüssel weg und ziehe die Stiefel aus.
Er folgt mir ins Wohnzimmer, wo sein Blick die Wohnung erkundet. Plötzlich sehe ich sie mit seinen Augen: zusammengewürfelte Unterwäscheteile, steif getrocknet auf dem Heizkörper. Der Geruch nach verkochtem Essen, der sich hartnäckig im Teppichboden hält. Die abgebrannten Kerzenstummel in Nestern aus gehärtetem Wachs. Kaffeetasse und Müslischale auf dem Fensterbrett, wo ich jeden Morgen sitze, das Fenster einen Spalt weit geöffnet und mit gerecktem Hals, um einen Blick auf den Himmel über den Hausdächern zu erhaschen.
Ich schlüpfe aus der Jacke. Werfe sie über die Lehne eines Stuhls, auf dem sich Bücher türmen.
Der Alkoholnebel lichtet sich viel zu rasch. Ich hätte die Stehlampe einschalten sollen, nicht die helle Deckenbeleuchtung, die uns beide in einen grellweißen Schein taucht. Herrje. Ich frage mich, ob er es inzwischen genauso bereut wie ich. Eine neue Galerie wurde eröffnet, und da sie irgendeinen Schreiberling hinschicken mussten, habe ich das große Los gezogen. Zum Essen reichte die Zeit nicht mehr. Getränke waren gratis. Nach der Galerie sind wir in eine Kneipe und dann noch in eine andere weitergezogen. Meine Kollegen habe ich vor ein paar Stunden aus den Augen verloren, und irgendwann stand ich mit diesem Typen in der dunklen Ecke eines Clubs. Jetzt ist er irgendwie in meine Wohnung geraten und mustert mich, ein wölfisches Grinsen auf den Lippen. Mir wird bewusst, dass wir uns nicht mehr im Schutz einer Horde fröhlich feiernder Mittzwanziger befinden. Die Wohnungstür ist zu. Wir sind allein.
Ich habe die Stimme meiner Schwester im Ohr. Erin, benutz deinen Verstand.
Kurz schließe ich die Augen und lasse mich tiefer in ihren Klang fallen.
Wenn du ihn loswerden willst, bitte ihn einfach zu gehen.
„Willst du was trinken?“, frage ich, streiche mir mit der Hand über das kurze Haar im Nacken und spüre, wie es meinen Daumen streift. Er kommt mir nach in die Kochnische. Eine Schachtel Frühstücksflocken. Die Spur aus Cornflakes führt zu einer offenen Packung Schmerztabletten und einer Wodkaflasche. Hänsel und Gretel für Erwachsene.
Ich öffne einen Schrank und weise auf die Flaschen mit Wein, Spirituosen und angebrochenen Mixgetränken. „Such dir was aus.“
Er entscheidet sich für Rum und gießt ihn pur in zwei Gläser, die er auf dem Abtropfbrett findet. „Hast du Cola da? Limetten?“
„Keins von beidem.“
„Du bist mir eine Gastgeberin.“
Ich zucke die Achseln.
Er reicht mir mein Glas. Wir stoßen an und trinken auf ex.
Er schenkt nach. Wir gehen mit den Gläsern ins Wohnzimmer und nehmen die Flasche mit. Ich schiebe eine Decke weg und setze mich aufs Sofa. Er bleibt stehen. „Gehört dir die Wohnung?“
„Nur gemietet.“
„Mitbewohner?“
„Momentan nicht“, antworte ich. Mein Blick trifft auf das Bild über dem Sofa, das einzige, das meine ansonsten kahlen Wände ziert. Es ist mit Acrylfarben gemalt und stellt den Fluss dar, der am Rand des Gartens unserer Kindheit in Bath verlief. Lori ist die Künstlerin, und sie hat mit ihrer üblichen Farbpalette aus kräftigen Blautönen und lebhaftem, üppigem Grün gespielt. Sie hat es geliebt, die Farbe in breiten Schwüngen aufzutragen. Das Bild war ein Geschenk für mich, als ich meinen ersten Job in London antrat. Damit du auch in der Stadt ein Stück Heimat hast, hat sie auf die Rückseite geschrieben.
Mit den Augen folge ich den erhabenen Wirbeln in der Acrylfarbe, den dicken Schichten, die sie mit dem Spachtelmesser eingekerbt hat, um den Bäumen am Flussufer Struktur zu verleihen. Ich habe Lori vor mir, das blonde Haar zurückgebunden und in einem weiten Hemd voller Farbkleckse aus Petes Bestand. Sie war nie eine ausgeflippte Künstlerin, sondern stand für brave Jeans und ordentlich frisierte Haare, Organisation und Tüchtigkeit, lackierte Nägel und gezupfte Augenbrauen. Ihre Kreativität war für sie keine Qual. Sie sonnte sich in ihrem Licht.
Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder dem Mann zu. Er ist älter, als ich gedacht habe, und hat einen Bart, der nach viel Arbeit aussieht. Zu gerade Linien und stumpf gestutzte Koteletten. Die Haut unter seinem Kinn ist so eigenartig glatt, als käme sie nie an die Luft. Er zieht mich überhaupt nicht an. Ich hätte ihn nicht abschleppen sollen.
Warum hast du es dann getan, Erin?, höre ich wieder die Stimme meiner Schwester.
Weil es Mittwoch Nacht ist? Weil ich was getrunken habe? Weil ich keine Lust hatte, allein diese Wohnung zu betreten? Sonst noch was?
Er schlendert durch das Wohnzimmer und begutachtet die Bücherregale. Am Kamin bleibt er stehen. Es ist einer der Kamine, wie man sie in London häufig antrifft – aus der edwardianischen Ära und zugemauert, sodass er nun eine Glasvase mit einer Lichterkette darin beherbergt. Loris Idee.
„Dein Geburtstag?“
Die Frage bringt mich aus dem Konzept. Ich folge seinem Blick zum Kaminsims, wo, zwischen zwei windschiefen Kerzen, eine einsame Geburtstagskarte steht. Die Zahl auf der Vorderseite glitzert.
„Ja“, erwidere ich nach einer Weile. Es ist einfacher zu lügen, als es ihm zu erklären.
„Ich hätte dich nicht auf dreißig geschätzt.“
Nein, weil ich erst siebenundzwanzig bin, verdammte Scheiße, denke ich, darf es aber nicht aussprechen.
Ich trinke meinen Rum aus und spüre, wie sich Wärme in meiner Brust ausbreitet. Dann wähle ich auf meinem Telefon Spotify aus und klicke eine Chill-Hop-Playlist an. Im nächsten Moment fällt mir die Mutter an, die unter mir wohnt, und ich stelle die Musik leiser. Gestern habe ich ihr geholfen, den Kinderwagen zwei Treppen hinunterzuschleppen, weil der Aufzug schon wieder kaputt ist. Das Baby beobachtete mich argwöhnisch und zerkrümelte dabei eine bröckelige Reiswaffel in der Faust. Als die Mutter sich bei mir bedankte, klang sie, als sei sie den Tränen nah. Kurz habe ich überlegt, ob ich sie hereinbitten und sie fragen sollte, ob alles in Ordnung ist. Aber dann war es mir zu viel.
Inzwischen mustert mich der Mann mit hochgezogenen Augenbrauen, als habe er etwas auf dem Herzen. „Erklär mir deine Frisur.“
„Meine Frisur?“ Nun ziehe ich die Augenbrauen hoch. Echt jetzt? „Man nennt so was einen Undercut“, erwidere ich und weise auf den ausrasierten Bogen über meinem rechten Ohr. Die nicht vorhandene Symmetrie wirkt auf viele Menschen verwirrend. Mein Haar ist schwarz und kurz. „Pixie Cut“ lautet die Bezeichnung, mit einem Touch von Undercut an der einen Seite. Es ist kein bewusstes modisches Statement. Ich war am Azubi-Abend beim Friseur, und die Azubine, ein Teenie mit einem frischen Tattoo am Handgelenk, die Haut noch gerötet und geschwollen, hat mir den Schnitt vorgeschlagen. „Warum nicht?“, lautete meine achselzuckende Antwort.
Scheint meine Reaktion auf die meisten Dinge zu sein.
Soll ich mit zu dir kommen?
Warum nicht?
Wahrscheinlich sollte ich mir die Augen mit Kajal umranden und irgendetwas Aufregendes mit meinen Brauen anstellen, aber ich kann mich nicht richtig dazu aufraffen.
„Mir gefällt es“, verkündet er. Er bewegt sich. Einen Moment lang glaube ich, dass er sich neben mich aufs Sofa setzen wird, und zucke zusammen. Doch stattdessen durchquert er das Wohnzimmer. „Ich muss mal austreten.“
Austreten. Das klingt, als hätte ich einen Opa abgeschleppt.
Zu spät bemerke ich, dass er auf die falsche Tür zusteuert. Ich springe auf und haste zu ihm, als er schon die Hand nach der Klinke ausstreckt.
„Nein …“, rufe ich, aber da geht die Tür zum Gästezimmer schon auf, und der Lichtschalter wird betätigt.
Er erstarrt.
Er kehrt mir zwar den Rücken zu, aber ich weiß genau, wie der Anblick auf ihn wirken muss. Sicher hat er die Augen weit aufgerissen und starrt entsetzt auf die Wände.
Obwohl ich das Zimmer schon seit Wochen nicht betreten habe, sehe ich es deutlich vor mir.
Seine Stimme steigt um eine Oktave. „Was, zum Teufel …?“
Eine Pause zwischen zwei Liedern sorgt dafür, dass plötzlich Stille herrscht. Der Moment zieht sich wie Gummi, seine Frage bohrt sich in die Luft.
„Das Bad ist nebenan“, sage ich schließlich.
„Was ist das für Kram?“
Die Wände des Gästezimmers sind mit Zeitungsausschnitten, Landkarten und Fotos gepflastert. Dazwischen verlaufen bunte Fäden, und das Ganze ist mit Post-it-Zetteln und handgeschriebenen Fragen garniert. Gesichter mit toten Augen sehen uns an, und Schlagzeilen brüllen: „Verschwunden!“, „Vom Flugzeug fehlt jede Spur“.
Ich weiß, welches Licht das auf mich wirft.
Ich weiß es einfach, okay?
In der Mitte befindet sich ein Zeitungsausschnitt, auf dem ein kleines weißes Flugzeug abgebildet ist. Ein roter Streifen verläuft mitten durch den Rumpf. Darunter sind die Fotos von zwei Besatzungsmitgliedern und sieben Passagieren angeordnet.
Als ich nicht antworte, dreht er sich zu mir um. „Es geht doch um dieses Flugzeug, oder? Das, das verschollen ist.“
Ich nicke widerstrebend.
„Ist… das… für deinen Job?“ Ich erkenne einen Funken Hoffnung.
„Ja“, lüge ich.
Die Erleichterung steht ihm ins Gesicht geschrieben. „Du bist Journalistin, richtig? Ich habe etwas über diesen Flug gelesen. Er ging nach Fidschi, oder? Die Maschine war einfach weg. Vom Radar verschwunden. Spurlos. Niemand hat etwas gesehen. Keine Funksprüche. Kein Wrack. Echt schräg, wenn du mich fragst.“
Mein Mund verweigert den Dienst.
„Das ist schon eine Weile her, richtig? Letztes Jahr?“
„Zwei Jahre.“ Zwei Jahre und sechs Tage.
„Es waren die verschiedensten Theorien in Umlauf. Ob vielleicht ein Terrorist an Bord war oder ob der Pilot Selbstmord begehen wollte. Recherchierst du in dieser Sache?“
„Hmmm“, murmle ich ausweichend.
Inzwischen ist sein Blick wieder argwöhnisch. „Nimmst du oft Arbeit mit nach Hause? Ist das hier dein Büro oder so?“
Wieder eine lange Pause. „Oder so.“
Seine Miene verändert sich. Offenbar ahnt er, dass da etwas faul ist. Er betrachtet die Wand, die Fotos, die Zeitungsausschnitte, manche davon bräunlich an den Rändern, und das vergilbte Klebeband. Dann sieht er mich an. Ich merke ihm an, dass er sich das Hirn zermartert und versucht, sein Unbehagen einzuordnen.
Vielleicht liegt es am Alkohol. Vielleicht fehlt es ihm auch nur an Durchhaltevermögen. Jedenfalls gibt er nahezu kampflos auf. „Klo“, sagt er, schlüpft in den Raum, und ich höre, wie er die Tür verriegelt.
Ich stehe im Flur und schaue durch die offene Tür ins Gästezimmer. Loris früheres Zimmer. Ich habe schon seit Monaten keinen Blick auf diese Wände geworfen. In London kann sich niemand ein leeres Zimmer leisten. Ich auch nicht. Aber ich darf diese Sachen nicht abhängen, denn das hieße, dass es vorbei ist. Dass ich mich geschlagen gebe. Dass ich mich mit ihrem Verschwinden abfinde.
Allerdings weiß ich, dass ich auf lange Sicht nicht darum herumkommen werde.
Ich hole Luft. Dieses Wochenende. Ich hänge alles ab. Wirklich alles. Es reicht.
Oder vielleicht könnte ich ja auch erst mal nur einen Teil davon wegräumen. Schrittweise sozusagen. Ich könnte damit anfangen, dass ich Loris Bett freilege, das unter einer Schicht aus Büchern, Artikeln und aufgeschlagenen Akten begraben ist. Ich hätte dieses Zimmer schon vor Monaten untervermieten sollen. Mein Bankkonto würde erleichtert aufatmen. Nur, dass mir beim Gedanken an eine Mitbewohnerin graut. Ein anderer Mensch, der mich hört, wenn ich um vier Uhr morgens durch die Wohnung geistere. Oder der meine skurrilen Essenszeiten mitbekommt. Oder den Freundeskreis beurteilt, den ich nicht habe.
Ich höre, wie die Toilettenspülung rauscht und der Spülkasten vollläuft. Also warte ich auf das Geräusch von fließendem Wasser, wenn es das Waschbecken hinuntergurgelt. Doch stattdessen öffnet sich die Tür. Ungewaschene Hände, tief in den Hosentaschen. Augen, die meinem Blick ausweichen. „Ich muss morgen früh aufstehen. Also …“
„Klar.“
Er schnappt sich seinen Mantel und nimmt sich nicht einmal die Zeit, ihn anzuziehen. „Tschüss“, nuschelt er, als er schon in der Tür steht.
Ich folge ihm, halte ihm die Tür auf und warte, bis er im Treppenhaus ist. Wenn ich jetzt die Tür zumache, schneide ich ihn von der einzigen Lichtquelle ab und lasse ihn im Stockfinstern stehen. Ich sollte wenigstens warten, bis er die Treppe hinunter und an der Haustür ist.
Ach, scheiß drauf.
Ich knalle die Tür zu. Verriegle sie.
Dann hole ich mir die Flasche aus dem Wohnzimmer. Am Flaschenhals klimpern silbrige Ringe vom Drehverschluss. Ich gehe in Loris Zimmer, schiebe ein Buch über die Geschichte des Flugzeugabsturzes beiseite und sinke auf die Bettkante. Die Luft riecht muffig und abgestanden, und es ist kühler als in der restlichen Wohnung.
„Alles Gute zum Dreißigsten“, sage ich und proste dem Foto meiner Schwester an der Wand mit der Flasche zu.
Nimm ein Glas, höre ich Loris Stimme und male mir aus, wie sie in gespielter Verzweiflung die Augen verdreht.
Ich trinke einen kräftigen Schluck direkt aus der Flasche. Und grinse.
Während der Rum mir brennend die Kehle hinunterrinnt, mustere ich das Foto von Lori, das zwischen denen der übrigen Passagiere an Bord von Flug FJ209 hängt. Passagierin drei, hat die Presse sie genannt. Das Foto haben sie von ihrem Instagram-Account, das letzte von ihr, ehe sie an Bord der Unglücksmaschine ging. Sie hatte sich kurz zuvor Strähnchen in warmen Honig- und Karamelltönen färben lassen, das Lächeln mit glänzend geschminkten Lippen erreicht ihre Augen nicht.
Als das Foto entstand, saß ich neben ihr. Natürlich haben sie mich rausgeschnitten. Nun sieht man nur noch meine Finger um ihre Taille. Es wurde am Abend vor dem Flug gemacht – vor all den Fehlern, die ich bald begehen würde. Doch es ist, als wäre in diesem Foto bereits alles enthalten. Lori mit leerem, starrem Blick und allein, und ich, wie ich die Hand nach ihr ausstrecke. Wie ich sie festhalten will.
Woher kam die Inspiration für Ihren Roman Der Ozean unserer Erinnerung?
Die Idee hat sich über mehrere Jahre entwickelt. Wie viele andere war auch ich schockiert über das Verschwinden des Malaysia Airlines Fluges 370 im Jahr 2014. Ich habe viel an die Angehörigen der Passagiere gedacht und versucht nachzuempfinden, wie qualvoll die Ungewissheit für sie sein muss. Als ich dann einige Jahre später mit einer Handvoll Buchideen spielte, kam mir wieder der Gedanke an ein verschwundenes Flugzeug.
Ich begann mich zu fragen, was passieren würde, wenn der Pilot eines spurlos verschwundenen Flugzeugs plötzlich gefunden würde, sich aber weigerte, zu reden. Was dann? Das war mein Ausgangspunkt.
Wie auch in Ihrem Debütroman Die Landkarte der Liebe sind die Protagonistinnen in Der Ozean unserer Erinnerung zwei Schwestern. Warum haben Sie diese Figurenkonstellation gewählt? Was interessiert Sie besonders an der Dynamik zwischen Schwestern?
Ich habe selbst keine Schwester, daher fasziniert mich die Intensität der Verbindung, in der Liebe und Hass manchmal so nah beieinanderliegen. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, die Beziehung von Erin und Lori zu erforschen. Erin kann temperamentvoll und verbissen unabhängig sein, aber sie ist dennoch loyal. Lori ist großzügig, warmherzig, optimistisch und verspürt den tiefen Wunsch, Mutter zu sein. Während sich beide Frauen im Laufe der Geschichte verändern, entdecken sie Eigenschaften der jeweils anderen in sich selbst.
Exotische Schauplätze sind ein Schlüsselelement Ihrer Romane. In Der Ozean unserer Erinnerung nehmen Sie Ihre LeserInnen mit auf die wunderschönen Fidschi-Inseln. Haben Sie selbst schon die Orte bereist, die Sie als Schauplätze für Ihre Bücher gewählt haben?
Ich habe Der Ozean unserer Erinnerung auf einer unbewohnten Fidschi-Insel angesiedelt, nachdem wir unsere Flitterwochen auf Fidschi verbracht hatten. Als mein Mann und ich dort waren, fuhren wir mit dem Kajak zu einer abgelegenen Insel und erkundeten die Mangroven, den Dschungel und die flachen Riffe, die die Strände säumen. Das beflügelte meine Fantasie. Ich fand es schon immer interessant, wie sich Charaktere verändern, wenn sie aus ihrer vertrauten Umgebung herausgenommen werden und sich an einem ihnen unbekannten Ort wiederfinden. Es macht mir Freude zu sehen, wie sie reagieren – ob sie in dieser neuen Umgebung aufblühen oder untergehen – und wie die Erfahrung sie letztendlich verändert.
Was brauchen Sie zum Schreiben? Haben Sie spezielle Rituale oder Routinen für den Schreibprozess?
Ich bin gerne morgens um kurz nach sechs Uhr an meinem Schreibtisch. Meine ersten Entwürfe entstehen handschriftlich – die Einfachheit eines Bleistifts und eines leeren Blatts hat etwas an sich, das meine Kreativität auf eine Weise freisetzt, die ein Laptop nicht immer hervorrufen kann. Ich liebe es auch, zu Musik zu schreiben. Es gibt bestimmte Alben, die ich gerne höre, um mich in die Gedankenwelt einer Figur hineinzuversetzen oder um die Atmosphäre einer Szene zu erschaffen. Mein Lieblingsort zum Schreiben ist die Strandhütte unserer Familie. Dort bin ich offline, werde still und ruhig und betrachte den Horizont, bis die Worte zu mir kommen.
Der Ozean unserer Erinnerung ist Ihr sechster Roman. Wird das Schreiben mit jedem Buch einfacher? Oder gab es neue Herausforderungen?
Ich würde gerne sagen, dass es mit jedem Buch leichter wird, aber Der Ozean unserer Erinnerung war mein bisher herausforderndstes Buch. Die fertige Version umfasst 97.000 Wörter – aber ich würde schätzen, dass ich fast eine Million Wörter geschrieben habe! Ich bin so viele Irrwege gegangen, bis ich den Kern der Geschichte gefunden hatte, aber als ich ihn gefunden hatte, ging es dann Schlag auf Schlag! Dagegen fügte sich das neue Manuskript, das ich gerade fertig geschrieben habe, unglaublich schnell zusammen. Der erste Entwurf schrieb sich wie von selbst und dauerte nur siebzehn Tage. Ich liebe es, dass das Schreiben die Kraft hat, mich mit jedem neuen Buch zu überraschen, weshalb ich immer wieder weiterschreibe!
„Wunderschön geschrieben und unser Kandidat für eines der besten Bücher des Jahres 2021.“
„Ich habe definitiv eine Autorin entdeckt, die mir viel zu lange verborgen geblieben ist. Der Schreib- & Erzählstil ist unglaublich gut.“
„Lucy Clarke hat mit ›Der Ozean unserer Erinnerungen‹ einen hochspannenden und emotional aufwühlenden Roman (…) geschrieben.“
„Die Geschichte ist unglaublich spannend, weil man nicht nur Erins Erzählungen aus der Gegenwart hat, sondern auch Loris aus der Zeit des Absturzes. Die Charaktere sind sehr authentisch beschrieben und besonders Loris Erzählungen sind einfach wahnsinnig gut und detailreich, wodurch man einen extrem guten Einblick erhält. Und obwohl mich das Buch während dem Lesen durchgängig gefangen hielt, war das Ende für mich nicht ganz befriedigend. Aber wahrscheinlich war genau dieses Ende notwendig, um dieses Buch zu einem solch genialen zu machen.“
„Ein fesselnder Roman“
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