Der freundliche Mr Crippen
Roman
„John Boyne erzählt meisterlich die spannende Jagd nach einem mutmaßlichen Mörder, die sich 1910 in London und auf einem kanadischen Passagierschiff so wirklich zugetragen hat.“ - Ruhr Nachrichten
Der freundliche Mr Crippen — Inhalt
„Unglaublich fesselnd!“ The Irish Times
Im Sommer 1910 steht Scotland Yard vor einem unlösbaren Fall: Im Haus des allseits beliebten Mr Hawley Crippen wird die grausam zerstückelte Leiche seiner Frau gefunden. Von Crippen selbst fehlt jede Spur ... John Boyne erzählt meisterlich die spannende Jagd nach einem mutmaßlichen Mörder, die sich 1910 in London und auf einem kanadischen Passagierschiff so wirklich zugetragen hat.
Ein hochspannender Kriminalroman und atmosphärisches Gesellschaftsporträt zur Zeit der Passierschifffahrt und der großen technischen Erfindungen
Am 20. Juli 1910 verlässt das Passagierschiff SS Montrose den Hafen von Antwerpen und bricht mit rund 1400 Fahrgästen in Richtung Quebec auf. In London sucht Scotland Yard unterdessen nach einem brutalen Mörder, denn im Keller des Hauses des allseits beliebten Dr Hawley Crippen wurde die zerstückelte Leiche seiner Ehefrau Cora Crippen gefunden – und der freundliche Arzt ist plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Die Jagd nach dem Mörder, die sich 1910 so wirklich zugetragen hat, beginnt und führt in Vor- und Rückblenden von den Straßen Londons auf eine spannende Seereise über den Atlantik. Mit an Bord: Mrs Antoinette Drake, eine redselige Dame der britischen Upperclass, ihre 17-jährige Tochter Victoria, die nichts als Männer im Kopf hat, sowie der liebenswürdige Amerikaner Mr John Robinson ...
„John Boyne wirft einen völlig neuen Blick auf die großen Ereignisse der Geschichte.“ Colum McCann
Leseprobe zu „Der freundliche Mr Crippen“
1
Die Montrose
Antwerpen: Mittwoch, 20. Juli 1910
Sie war über einhundertfünfundsiebzig Meter lang und fast ein Achtel so breit. Sie wog etwa sechzehntausendfünfhundert Tonnen und hatte Platz für über achtzehnhundert Passagiere, auch wenn sie heute nur zu drei Vierteln belegt war. Sie bot einen prächtigen, imposanten Anblick, der Rumpf, die Farben strahlten in der Julisonne, und sie schien ungeduldig darauf zu warten, endlich ablegen zu können. Aus ihren Schornsteinen stieg leichter Rauch, und das Wasser der Schelde schlug geräuschvoll gegen ihre Flanke. [...]
1
Die Montrose
Antwerpen: Mittwoch, 20. Juli 1910
Sie war über einhundertfünfundsiebzig Meter lang und fast ein Achtel so breit. Sie wog etwa sechzehntausendfünfhundert Tonnen und hatte Platz für über achtzehnhundert Passagiere, auch wenn sie heute nur zu drei Vierteln belegt war. Sie bot einen prächtigen, imposanten Anblick, der Rumpf, die Farben strahlten in der Julisonne, und sie schien ungeduldig darauf zu warten, endlich ablegen zu können. Aus ihren Schornsteinen stieg leichter Rauch, und das Wasser der Schelde schlug geräuschvoll gegen ihre Flanke. Die SS Montrose war ein Schiff der Canadian Pacific und sollte vom belgischen Antwerpen ins kanadische Quebec fahren, was einer Entfernung von rund dreitausend Meilen oder fünftausend Kilometern entsprach.
Über zwei Wochen hatte die Montrose in der Schleuse von Berendrecht gelegen, während die Mannschaft aus Seeleuten und Ingenieuren sich auf die nächste Reise vorbereitete. Die Bewohner der kleinen belgischen Stadt waren stolz darauf, dass noch nie ein Schiff von ihren Ufern zu einer verhängnisvollen Fahrt aufgebrochen war. Fast zweihundert Angestellte der Canadian Pacific Company würden auf dem Schiff sein, wenn es den Hafen verließ, vom Steuermann am Ruder über die kohlenhäutigen muskulösen Einsiedler, die unten in den Maschinen das Feuer schürten, bis zu den Waisenjungen, die, nachdem die abendlichen Unterhaltungen beendet waren, den großen Bankettsaal ausfegten. Nur wenige von ihnen waren länger im Hafen geblieben. Die Montrose hatte Anfang Juli dort festgemacht, und sie wollten ihren Landurlaub lieber im geschäftigen Antwerpen verbringen, wo es genug Wirtshäuser und Huren gab, um alle zufriedenzustellen.
Ein Taxi hielt neben einer Reihe großer Stahlcontainer, Mrs Antoinette Drake öffnete die Tür und stellte vorsichtig einen ihrer Filzpantoffeln aufs glitschige Pflaster. Voller Abscheu verzog sie den Mund, so schmutzig waren die Steine. Der Pantoffel war dunkellila, genau wie ihr Hut und wie der extravagante Reisemantel, der ihren mächtigen Körper umhüllte wie eine Plane ein Rettungsboot. „Fahrer“, sagte sie ungeduldig, beugte sich vor und klopfte dem Mann mit ihrem behandschuhten Finger auf die Schulter. Sie rollte das „r“ in „Fahrer“ mit hoheitsvollem Ton. „Fahrer, Sie können doch sicher ein wenig näher ans Schiff heranfahren? Niemand kann von mir erwarten, dass ich da durchlaufe. Da ruiniere ich mir ja die Schuhe. Sie sind neu, wissen Sie. Sie vertragen das Wasser nicht.“
„Nicht weiter“, antwortete er, ohne ihr eigens das Gesicht zuzuwenden. Sein Englisch war schlecht, aber er machte sich nicht die Mühe, es zu verbessern. Über die Jahre hatte er festgestellt, dass er bei Ausländern nur ein paar feste Ausdrücke brauchte, und bei denen blieb er. „Nicht weiter“ gehörte dazu, und schon folgte der nächste: „Drei Shilling, bitte.“
„Nicht weiter? Was für ein Unsinn! Was redet er da, Victoria? “ Mrs Drake sah ihre Tochter an, die in ihrer Geldbörse nach dem Fahrpreis suchte. „Der Mann ist ein Narr. Warum kann er uns nicht näher hinbringen? Das Schiff liegt da drüben. Meinst du, er ist schwer von Begriff? Versteht er mich nicht?“
„Er darf nicht weiter, Mutter“, sagte Victoria, fischte das Geld aus ihrer Börse und gab es dem Fahrer, bevor auch sie ihre Tür öffnete und ausstieg. „Warte“, fügte sie hinzu, „ich helfe dir. Es ist völlig sicher.“
„Ach wirklich, das ist doch zu arg“, murmelte Mrs Drake verärgert, während sie darauf wartete, dass ihre siebzehnjährige Tochter um das Taxi herumkam. Victoria war für eine Reise weitaus zweckmäßiger gekleidet und schien sich wegen des nassen Pflasters nicht zu sorgen. „Hören Sie mich, Fahrer? Es geht nicht, dass Sie unser Geld nehmen, ohne Ihre Aufgabe zu erfüllen. Um die Wahrheit zu sagen, das ist eine Schande. Wenn wir in England wären, würden Sie aus dem Auto geholt und ausgepeitscht. Eine Dame meines Alters und Standes hier so ihrem Schicksal zu überlassen!“
„Aussteigen, bitte“, antwortete der Fahrer in einem angenehmen Singsang. Das war ein weiterer seiner nützlichen Ausdrücke.
„Wie bitte?“
„Aussteigen, bitte“, wiederholte er. Er fuhr jeden Tag Touristen zum Hafen und hatte wenig Zeit für ihre Beschwerden, insbesondere wenn es Engländer waren, vor allem Upperclass-Engländer, die zu glauben schienen, sie sollten nicht nur bis ganz ans Schiff herangefahren, sondern auch noch in einer Sänfte an Bord getragen werden.
„Das ist doch unglaublich!“, sagte Mrs Drake und konnte über die Unverschämtheit des Mannes nur staunen. „Jetzt hören Sie mir mal zu, Sie …“ Sie machte Anstalten, ihr Körpergewicht weiter vorzuwuchten, um ihren Protest zu unterstreichen, vielleicht sogar ein wenig Gewalt anzuwenden, aber da hatte Victoria die Seitentür schon geöffnet. Sie griff hinein, fasste ihre Mutter am Arm und zerrte sie, den Fuß gegen den Reifen gestemmt, aus dem Wagen. So fand sich die massige Antoinette Drake auf dem Pflaster des Antwerpener Hafens wieder, bevor sie sich weiterhin beschweren konnte, dafür war aus dem Inneren des Wagens ein Geräusch wie von einem sich füllenden Vakuum zu hören. „Victoria, ich …“, keuchte Mrs Drake mit eingezogenem Kopf und vorgerecktem Busen, doch der Rest des Satzes wurde ihr aus dem Mund gerissen. Gnädigerweise stieg er ungehört zum Himmel auf. „Victoria, vorsichtig! Kannst du nicht …“
„Vielen Dank, Fahrer“, sagte Victoria, als ihre Mutter sicher aus dem Wagen war. Mrs Drake versuchte, ihre Würde wiederherzustellen, indem sie sich mit dem Wildlederhandschuh die Falten aus dem Kleid strich.
„Schau mich bloß an“, murmelte sie. „Sich in so einem Zustand sehen lassen zu müssen!“
„Es ist alles in Ordnung“, sagte ihre Tochter, ohne ganz bei der Sache zu sein. Sie ließ den Blick über die anderen Passagiere gleiten, die auf das Schiff zustrebten, und schlug die Tür zu. Der Wagen setzte sich sofort wieder in Bewegung.
„Victoria, ich wünschte, du würdest diese Leute nicht mit solcher Ehrerbietung behandeln“, sagte Mrs Drake und schüttelte mürrisch den Kopf. „Dem Mann auch noch zu danken, nachdem er so mit mir geredet hat. Begreif doch, dass viele von diesen Ausländern Menschen wie dich und mich ausnutzen, sobald wir ihnen gegenüber auch nur die kleinste Schwäche zeigen. ›Schone die Rute nicht‹, das ist mein Wahlspruch, Liebes, und er hat mir immer gute Dienste erwiesen.“
„Ich weiß“, antwortete Victoria.
„Diese Menschen verstehen es nicht anders. Tatsächlich respektieren sie dich dann.“
„Wir sind hier die Ausländer, Mutter“, stellte Victoria fest und studierte die Umgebung. „Nicht die anderen. Wir befinden uns in Belgien, erinnerst du dich? Der Mann wollte nicht unfreundlich sein. Es lohnt sich nicht, sich wegen so unwichtiger Dinge aufzuregen.“
„Es lohnt sich nicht? Drei Shilling haben wir ausgegeben für ein Taxi zum Schiff, und wo sind wir jetzt? Noch eine Meile müssen wir über nasses Pflaster gehen, und wer wird an Bord den Saum meines Kleides reinigen? Ich wollte es zu einer Abendgesellschaft tragen, draußen auf See. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Und meine Beine sind auch nicht mehr die eines jungen Mädchens. Du weißt, wie sehr ich es hasse, zu Fuß zu gehen.“
Victoria lächelte, hakte sich bei ihrer Mutter unter und führte sie in Richtung Schiff. „Es ist längst keine Meile“, sagte sie gedul dig, „es sind vielleicht zweihundert Meter, mehr nicht.“ Sie überlegte, ob sie die ältere Frau darauf hinweisen sollte, dass es tatsächlich vier Shilling waren, die sie ausgegeben hatten, und nicht drei, denn sie hatte dem Mann noch ein Trinkgeld gegeben, aber sie entschied sich dagegen. „Wenn wir erst an Bord sind, musst du elf Tage lang keinen Schritt tun, wenn dir nicht danach ist, und ich bin sicher, es gibt ein Zimmermädchen, das dir mit deiner Garderobe helfen wird. Unser Gepäck sollte längst in der Kabine und ausgepackt sein. Wer, denkst du, hat das getan? Ein Mäuschen?“
Mrs Drake schniefte, weigerte sich aber, ihrer Tochter recht zu geben. Stumm näherten sie sich der Gangway. „Sei nicht so vorlaut “, sagte sie schließlich. „Ich meine nur, dass es eine korrekte und eine inkorrekte Art gibt, etwas zu erledigen, und wenn man es mit einem Untergebenen zu tun hat, sollte man das nicht aus dem Blick verlieren.“
„Ja, Mutter“, sagte Victoria und hörte sich an wie jemand, der an die Klagen eines kleinen Kindes gewöhnt war. „Aber jetzt sind wir da, also wollen wir uns nicht länger den Kopf darüber zerbrechen.“
„Und du darfst auch nicht vergessen, wir sind Engländerinnen, noch dazu aus einer bestimmten Gesellschaftsklasse. Wir dürfen uns nicht schikanieren oder ausnutzen lassen, von so einem … Europäer. “ Sie spuckte das Wort aus wie eine Fliege, die ihr in den Mund geraten war. „Daran müssen wir während unserer Reise immer denken. Schau mal, da möchte ein Junge unsere Fahrkarten. Oh, sieh dir nur sein Gesicht an. Der hat sich ja seit Wochen nicht gewaschen. Was für ein Dreckspatz!“ Sie hob ihren Stock und wedelte damit in Richtung des jungen Mannes, als wollte sie einen vorbeifahrenden Kraftfahrer stoppen. „Halte die Karten bereit, Victoria. Keine unnötigen Höflichkeiten, und komm ihm um Himmels willen nicht zu nahe, er könnte ansteckend sein. Oh, was ist das nur für ein Lärm? Himmel noch mal, bring mich hier weg!“
Der „Lärm“ kam von Bernard Leejik, dem Taxifahrer der Drakes, der heftig auf die Hupe seines Wagens drückte und beinahe einige der Montrose zustrebende Reisende auf die Haube genommen hätte. Mr John Robinson musste zur Seite springen, als das Fahrzeug an ihm vorbeischoss, wobei seine Beine um einiges beweglicher schienen als die eines durchschnittlichen siebenundvierzigjährigen Gentlemans. Als ein Mann ruhigen Feingefühls, der jede Art von Aufruhr und Ärger verabscheute, starrte er dem Fahrzeug hinterher. „Diese neuen Automobile werden uns noch alle den Tod bringen“, sagte er, fand sein Gleichgewicht wieder und wandte sich seinem jugendlichen Begleiter zu. „Ich denke, jemand sollte etwas gegen sie unternehmen, bevor wir alle überfahren und getötet werden. Meinst du nicht auch?“
„Ich bin noch nie in so etwas gefahren … Vater“, kam die Antwort des Jungen so vorsichtig, als probierte er das Wort zum ersten Mal aus.
Mr Robinson lächelte und schien sich gleichzeitig unwohl zu fühlen. „Na also“, sagte er leise und legte dem Jungen einen Moment lang die Hand auf die Schulter. „Gut gemacht. Du hast doch die Fahrkarten?“ Gedankenverloren fuhr er mit der Hand über seine glatt rasierte Oberlippe, wo fast dreißig Jahre lang ein Schnauzbart gewachsen war. Dafür ließ er sich jetzt auf Wangen und Kinn einen Bart stehen, der sich nach vier Tagen bereits bestens entwickelte. Das Gefühl war allerdings noch ungewohnt, und so musste er immer wieder sein Gesicht befühlen. „Nicht wahr, Edmund?“, sagte er genauso merkwürdig formell, wie der Junge gerade „Vater“ gesagt hatte.
„Sie sind in meiner Tasche“, antwortete sein Sohn.
„Ausgezeichnet. Wenn wir an Bord sind, sollten wir gleich in unsere Kabine gehen. Uns eingewöhnen und ein wenig ausruhen. Ohne großes Aufheben. Auf See können wir dann vielleicht etwas frische Luft schnappen.“
„Ach nein“, sagte Edmund enttäuscht. „Können wir nicht den Leuten auf dem Kai zuwinken, wenn wir ablegen? Als wir England verlassen haben, hast du es mir schon nicht erlaubt. Können wir es nicht diesmal tun? Bitte!“
Mr Robinson legte die Stirn in Falten. In den letzten Tagen war er auf fast schon übertriebene Weise darauf bedacht gewesen, keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich und Edmund zu lenken. „Das sind doch nur Leute“, sagte er und hoffte, die Begeisterung des Jungen etwas zu dämpfen. „Leute, die langsam kleiner werden. So aufregend ist das nicht.“
„Nun, wenn du lieber nicht …“, murmelte Edmund und sah verzagt zu Boden. „Aber es würde mir viel bedeuten. Ich verspreche auch, mit niemandem zu reden. Ich würde nur gerne etwas von der Atmosphäre miterleben. Mehr nicht.“
„Also gut.“ Mr Robinson gab mit einem Seufzen nach. „Wenn es dir so viel bedeutet, weiß ich nicht, wie ich es dir verweigern sollte.“
Edmund lächelte seinen Vater an und drückte ihm den Arm. „Danke“, sagte er, fügte gleich noch ein „Schau doch nur!“ hinzu und deutete nach vorn, wo sich zwei Frauen bei einem uniformierten Besatzungsmitglied zu beschweren schienen. „Da geht der Trubel schon los.“
„Achte nicht weiter auf die beiden“, sagte Mr Robinson. „Wir zeigen unsere Fahrkarten und gehen an Bord. Es besteht kein Grund, sich in irgendwelche Querelen hineinziehen zu lassen.“
„Da ist noch eine zweite Schlange“, sagte Edmund, griff in die Tasche und hielt einem anderen Mitglied der Besatzung ihre Tickets hin. Der Mann studierte sie sorgfältig, sah Vater und Sohn eingehend ins Gesicht und hakte ihre Namen auf einer Liste ab.
„Sie haben Kabine A4 auf dem Erste-Klasse-Deck“, erklärte er und ahmte ohne großen Erfolg die mühsam eingeübten affektierten Vokale der Oberschicht nach. Mr Robinson hörte gleich, dass der Mann aus dem Londoner East End kam und sich in der Canadian Pacific Company hochgearbeitet hatte. Nun wollte er vorgeben, aus einem besseren Stall zu stammen, als das tatsächlich der Fall war. Das kam davon, wenn man sich der Laufbahn halber unter die Reichen mischte und zu ihnen aufsteigen wollte. „Sind hübsche Räumlichkeiten, Sir“, fügte der Mann mit einem freundlichen Lächeln hinzu. „Ich denke, Sie werden sich bei uns wohlfühlen. Wir haben jede Menge Stewards, falls es ein Problem geben sollte.“
„Danke“, sagte Mr Robinson und schob Edmund vor sich her. Er wollte nicht in ein längeres Gespräch verwickelt werden.
„Soll Ihnen einer der Jungs den Weg zeigen, Sir?“, fragte der Mann noch, aber Mr Robinson schüttelte den Kopf, ohne sich noch einmal umzudrehen.
„Wir kommen schon zurecht“, rief er. „Ich bin sicher, wir finden es.“
„Ich habe ausdrücklich ein Zimmer auf der Steuerbordseite bestellt “, sagte Mrs Drake, schlug mit den Armen wie eine Möwe im Seewind und verdrehte den Hals, um auf die Blätter zu spähen, die der junge Seemann auf einem Klemmbrett vor sich hatte. Als sich Mr Robinson und Edmund an ihr vorbeischoben, sah sie sich so verärgert um, als könnte sie nicht verstehen, dass andere an Bord durften, während sie mit dieser kümmerlichen Person hier reden musste. „Ich finde das einfach ungeheuerlich. Victoria, sag dem Jungen, dass wir ein Steuerbordzimmer bestellt haben.“
„Eine Kabine, Ma’am.“
„Was?“
„Ma’am, Sie haben eine Erste-Klasse-Kabine gebucht. Wir vermerken nicht extra, auf welcher Schiffsseite sie liegen soll. So einen Service bieten wir nicht an.“
„Ist schon gut“, sagte Victoria und griff nach dem Schlüssel, den der junge Mann in der Hand hielt.
„Gar nichts ist gut“, sagte Mrs Drake mit fester Stimme. „Wo ist der Kapitän? Es muss doch einen Erwachsenen geben, der für diesen Jungen verantwortlich ist? Man wird ihm doch kaum erlauben, sich allein um solche Dinge zu kümmern, mit einem so schmutzigen Gesicht. Und dabei wohnt er auf dem Meer. Hat er denn noch nie etwas von Wasser gehört?“
„Der Kapitän ist im Moment beschäftigt“, antwortete der Seemann mit zusammengebissenen Zähnen und überhörte die Kommentare. Tatsächlich arbeitete er seit dem frühen Morgen, und die Drakes gehörten zu den letzten Passagieren, die an Bord kamen. Stundenlang auf dem Kai des Antwerpener Hafens zu stehen, bedeutete, dass einem einiges an Staub und Schmutz entgegenschlug. Er wollte verdammt sein, wenn er sich jetzt auch noch dafür entschuldigte, kein Tuch in der Tasche zu haben, um sich für jeden einzelnen der an Bord kommenden Passagiere erneut das Gesicht zu säubern. „Glauben Sie mir, Mrs Drake, sobald wir auf See sind, unterscheidet sich der Ausblick nicht mehr sonderlich, ganz egal, ob Sie nun auf der Backbord- oder der Steuerbordseite sind. Dann gibt es überall nur Wasser – und keinen Tropfen zu trinken“, fügte er mit falscher Heiterkeit noch an, als ließe sich die Situation damit lösen. Wenn diese beiden Frauen doch nur endlich an Bord gehen würden! Er selbst machte die Reise nicht mit, und je früher die Montrose ablegte, desto eher kam er zurück nach Hause. Etwa ein halbes Dutzend Leute standen jetzt hinter ihnen an, und Mrs Drake wurde sich ihrer Anwesenheit bewusst; allerdings war Verlegenheit ein Gefühl, das sie nicht kannte. Stirnrunzelnd wandte sie sich den beiden Ersten zu, einem gut gekleideten Ehepaar in den Sechzigern, das starr nach vorn schaute und so tat, als gäbe es diesen kleinen Zwischenfall gar nicht. Mrs Drake schob die Lippen vor und nickte den beiden so diskret zu, als würden sie schon verstehen, wie ärgerlich es war, sich als Angehöriger der Oberklasse mit diesen kleinen Leuten auseinandersetzen zu müssen.
„Tut mir leid, dass wir Sie aufhalten“, sagte sie unterwürfig und verzog das Gesicht zu einem breiten Lächeln. „Es gibt ein kleines Durcheinander wegen unseres Zimmers. Mrs Antoinette Drake, freut mich sehr, Sie kennenzulernen“, erklärte sie und sprach jedes Wort perfekt aus.
Bevor ihre neuen Bekannten jedoch etwas erwidern und sich ebenfalls vorstellen konnten, hatte Victoria schon den Schlüssel genommen. „A7“, sagte sie, die Gravur lesend. „Ist das eine schöne Kabine?“, fragte sie, hob den Saum ihres Rockes an, damit er nicht über den Boden strich, und ging die Gangway hinauf.
„Eine der schönsten, Miss“, kam die Antwort. „Ich garantiere Ihnen, sie ist bequem und bietet Ihnen jeden Komfort. Alle Kabinen im Bereich A und B sind für unsere vornehmsten Ladys und Gentlemen reserviert.“
„Damit ist das noch nicht ausgestanden, das versichere ich Ihnen“, sagte Mrs Drake, gab endlich nach und machte sich bereit, ihrer Tochter an Bord zu folgen. Vorher klopfte sie dem jungen Mann aber noch zweimal mit dem Stock auf die Schultern, so kräftig, als wollte sie ihn zum Ritter schlagen. „Es tut mir leid, Sie aufgehalten zu haben“, sagte sie zu den Leuten hinter sich, den Ton ein weiteres Mal wechselnd, um eine Art Gemeinsamkeit mit ihnen herzustellen. „Ich nehme doch an, wir sehen uns an Bord wieder.“
„Sehr erfreut“, sagte der alte Mann trocken, und es war klar, dass er sie möglichst schnell loswerden wollte.
„Wirklich, Mutter“, sagte Victoria.
„Wirklich, Victoria“, sagte Mrs Drake im selben Moment. „Ich glaube einfach, dass man bekommen sollte, wofür man bezahlt. Nicht mehr und nicht weniger. Ist das so falsch? Wenn man für eine Steuerbordkabine bezahlt, sollte man auch eine Steuerbordkabine bekommen. Und jetzt ist es gut.“ Sie kletterten an Bord und sahen ein Schild mit der Aufschrift „Erste-Klasse-Kabinen A1-A8“, das in Richtung eines Niedergangs zeigte.
„Dort entlang, Mutter“, sagte Victoria. Sie gingen einen schmalen Gang hinunter und musterten die Türen, an denen sie vorbeikamen. Mrs Drake seufzte verdrossen und wusste nicht recht, ob sie nun den Zustand ihrer Knie oder die mangelnde Sauberkeit des Teppichs beklagen sollte.
Vor einer der Türen stand ein älterer Mann mit seinem heranwachsenden Sohn und schien Schwierigkeiten mit der Tür zu haben.
„Lass es mich versuchen“, sagte Edmund, nahm Mr Robinson den Schlüssel aus der Hand und schob ihn vorsichtig ins Schloss. Er drehte ihn mehrmals hin und her, rüttelte und wäre fast hineingefallen, so abrupt gab die Tür nach. Die Kabine war angenehm groß, enthielt ein Etagenbett, ein Sofa und einen Ankleidetisch, dazu ein kleines Bad. Ein Bullauge bot einen schönen Blick auf das Meer.
„Ein Etagenbett“, sagte Mr Robinson und sackte ein wenig in sich zusammen.
„Macht nichts“, sagte Edmund.
„Ich bitte um Entschuldigung“, sagte Mrs Drake und beugte sich durch die Tür. Ihr massiger Körper überraschte die beiden. Mr Robinson schob den Kneifer etwas höher, um dieses mächtige lilafarbene Wesen ganz in den Blick zu nehmen. „Ich habe mich gerade gefragt, ob die Kabinen auf der Steuerbordseite so schön sind wie die auf der Backbordseite. Ich habe eine Steuerbordkabine bestellt und eine Backbordkabine bekommen. Was sagen Sie dazu? Haben Sie so etwas je gehört?“
„Ich war mir nicht bewusst, dass man eine Präferenz angeben konnte“, sagte Mr Robinson. „Oder dass jemand das überhaupt will.“
„Offenbar kann man es nicht“, sagte Mrs Drake und antwortete damit auf seinen ersten Satz, nicht aber auf den zweiten. „Mrs Antoinette Drake“, fügte sie hinzu. „Freut mich sehr, Sie kennenzulernen.“
„John Robinson“, sagte er leise. So schnell hatte er mit niemandem Bekanntschaft machen wollen, er bedauerte, die Tür nicht gleich hinter sich geschlossen zu haben. Er verbeugte sich höflich. „Mein Sohn Edmund.“
„Wie schön, Sie beide kennenzulernen“, sagte sie und musterte Vater und Sohn von Kopf bis Fuß, verengte die Augen dabei etwas und schien bestimmen zu wollen, ob es sich um ihresgleichen handelte oder nicht. Schließlich entschied sie nach dem Buchstaben auf der Kabinentür. „Edmund, was für einen entzückenden Anzug Sie tragen“, sagte sie, beugte sich vor und strich wie beiläufig über den Rockaufschlag, worauf der junge Mann überrascht zurückwich. „Oh, ich beiße Sie schon nicht“, sagte Mrs Drake mit einem Lachen. „Keine Angst. Das ist ein neuer Anzug, ohne Frage.“
„Wir haben ihn gestern gekauft“, bestätigte Edmund ihr, wurde etwas rot und sah auf seine Schuhe.
„Nun, er ist entzückend, und ich lobe Ihren Geschmack. Wie alt sind Sie? Siebzehn, achtzehn? Wie schön für Sie. Und so zarte Züge. Sie müssen meine Tochter Victoria kennenlernen. Wir sehen uns nach angemessener Begleitung für die Reise um.“
„Wir wollten uns gerade auf die Abfahrt vorbereiten“, sagte Mr Robinson nach einer kurzen Pause, trat vor und schob sie auf den Gang hinaus.
„Jetzt muss ich aber weiter“, sagte sie sofort. „Meine Tochter und ich haben die Kabine A7. Backbord, wie ich zu meinem Bedauern sagen muss. Ich bin sicher, wir freunden uns im Laufe der Reise schnell an.“
„Ohne Zweifel“, sagte Mr Robinson.
Sie verschwand aus ihrem Blick, und Mr Robinson und Edmund sahen sich nervös an. „Mach nicht so ein Gesicht“, sagte Edmund. „Das Schiff ist voller Passagiere. Wir werden uns darauf einstellen müssen, mit ihnen zu reden. Hier kennt uns niemand.“
„Vielleicht“, sagte Mr Robinson mit zweifelnder Stimme.
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