Der Freiwillige
Roman
„Wie schlüssig er die Biographie des Freiwilligen auf dessen Kriegseinsatz hin erzählt und sie dann auch wieder herauslöst, das ist grandios.“ - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Der Freiwillige — Inhalt
„Scibona hat ein Meisterwerk erschaffen.“ The New York Times Book Review
Der Junge weint zum Steinerweichen. Er ist mit ein paar Dollar in der Tasche am Flughafen Hamburg ausgesetzt worden. Niemand versteht, was der verzweifelte Kleine sagt, also verstummt er, und dieser Roman muss seine Geschichte für ihn erzählen. Sie beginnt zwei Generationen vorher, als sich ein Mann aus einer Laune heraus freiwillig für den Vietnamkrieg meldet ...
Eine moderne Odyssee, die sich über ein halbes Jahrhundert erstreckt. Über den Krieg und seine Folgen im Frieden – emotional und klug lotet Scibona aus, wie wir unsere wahren Familien gleichermaßen erfinden und entdecken.
Leseprobe zu „Der Freiwillige“
HAMBURG
2010
Der Junge trug einen wattierten schwarzen Anorak, eine dazu passende Skimütze, Bluejeans und Sneakers; er war etwa fünf Jahre alt; und er weinte.
Er stand am Gate C3 des Hamburger Flughafens Fuhlsbüttel, seine Arme hingen wie ausgestopft herunter. Schluchzend redete er – schrie nicht, flehte nicht, sondern redete – auf einen Flughafenmitarbeiter nach dem anderen ein, doch niemand konnte entschlüsseln in welcher Sprache. Irgendwie klang es nach Polnisch. Nach dem Mischmaschdialekt einer Stadt, die von zehn verschiedenen durchziehenden Imperien [...]
HAMBURG
2010
Der Junge trug einen wattierten schwarzen Anorak, eine dazu passende Skimütze, Bluejeans und Sneakers; er war etwa fünf Jahre alt; und er weinte.
Er stand am Gate C3 des Hamburger Flughafens Fuhlsbüttel, seine Arme hingen wie ausgestopft herunter. Schluchzend redete er – schrie nicht, flehte nicht, sondern redete – auf einen Flughafenmitarbeiter nach dem anderen ein, doch niemand konnte entschlüsseln in welcher Sprache. Irgendwie klang es nach Polnisch. Nach dem Mischmaschdialekt einer Stadt, die von zehn verschiedenen durchziehenden Imperien eingenommen worden war.
Knapp eine Stunde zuvor hatten sich die Passagiere eines airBaltic-Fluges in ein nicht weit entferntes Gate ergossen. Da der Flug aus Riga kam, war es vielleicht Lettisch, was der Junge sprach. Doch als er vor dem Counter von C3 auftauchte, hatte die Maschine aus Riga den Terminal schon wieder verlassen, und es war kein airBaltic-Mitarbeiter mehr da, weder am Gate noch irgendwo sonst im Flughafengebäude. Er sah zu den Leuten hinter dem Counter hoch, erklärte sich auf unverständliche Weise, wobei ihm zweihundert Reisende, die auf Lufthansa 531 nach Amsterdam warteten, gebannt zusahen.
Vielleicht war es Litauisch.
Bald verzichtete der Junge ganz auf das Artikulieren erkennbarer Wörter; er zeigte lediglich in die Richtung von Gate C1 und C2. Doch seine Begleitperson, nach der bereits ein halbes Dutzend Lufthansa-Mitarbeiter und Passagiere im Raucherbereich und in den Toiletten suchten, während sie auf Deutsch über die Lautsprecheranlage ausgerufen wurde, war im hinteren Bereich der Flughafenhalle nirgends aufzutreiben.
„Je m’appelle Laurence. Comment t’appelles-tu?“
„Ich heiße Elisabeth. Wie heißt du?“
Doch niemand brachte ihn dazu, etwas verlauten zu lassen, das wie ein Name klang. Einige der Erwachsenen um ihn herum begannen zu befürchten, dass ihre Anteilnahme seine Verzweiflung nur vergrößerte. Jede weitere Frage verringerte seine Antwortbereitschaft.
Eine Krankenschwester aus Kasachstan kniete sich neben den Jungen und tätschelte ihm die Haare, doch er hörte nicht auf zu weinen. Der Anorak war dem Jungen zu klein: Die Ärmel endeten weit über den Handgelenken. Aus mehreren Rissen im Stoff, die jemand mit Isolierband zu flicken versucht hatte, quoll die Wattierung. Eine Lufthansa-Mitarbeiterin – deren Alter (etwa sechzig) und imposante, blond gesträhnte Frisur auf eine verantwortliche Position schließen ließen – versuchte auf Englisch, Russisch und Holländisch, einen Namen herauszubekommen. Doch wenn man der kasachischen Krankenschwester glaubte, schien der Junge zu wissen, dass er nach seinem Namen gefragt wurde, und ihn in seiner gegenwärtigen albtraumhaften Lage lediglich zu verschweigen, weil es ihm half, sich an der Kante des Abgrunds, in den er gerutscht war, festzuklammern. Er deutete mit einem gekrümmten Finger in das Flughafenlabyrinth hinein wie auf der Suche nach der Stelle, wo er falsch abgebogen war. Er ließ sich von der Krankenschwester an der rotzverschmierten Hand nehmen. Er führte sie und die Lufthansa-Mitarbeiterin durch die wuselige Ankunftshalle.
Ein junger Amerikaner, der sich als Unfallsanitäter vorstellte, fragte: „Will der Junge vielleicht in diese Tüte pusten? Quieres hablar conmigo, hermano?“
Die Lufthansa-Mitarbeiterin sagte mit Nachdruck: „Nein, er ist Este.“ Aber das war nur eine Vermutung.
Über Lautsprecher wurde der Aufruf auf Englisch wiederholt, „Terminal 1, a child in Lost-and-found“, während der Junge mit unkoordinierten Bewegungen weitereilte: ein von Entschlossenheit vorangetriebener Automatismus, fast so, als könnte man ihn ticken hören, wenn man ihm nur nahe genug käme, und andererseits war das Gesicht unter der schief sitzenden Mütze entstellt von krampfhaftem Blinzeln und Schniefen. Unter dem kleinen Anorak hob und senkte sich seine Brust. Die Krankenschwester versuchte, ihm den Reißverschluss aufzuziehen. Sie meinte, dem Jungen müsste fürchterlich heiß sein. Aber er entwand sich ihr, als sie ihn berührte. Es war unglaublich, wie viel Flüssigkeit in dem Kopf Platz hatte; er weinte schon so lange, ohne etwas getrunken zu haben. Die Krankenschwester und die Lufthansa-Frau brachten ihn auf die Damentoilette, um ihm ein paar Papierhandtücher zu holen.
Als sie wieder herauskamen, erlaubte er keiner der Frauen, ihn bei der Hand zu nehmen. Er zog sie zurück, als sie es versuchten, und zeigte hierhin und dorthin, bis sie begriffen, dass er gar nicht wusste, wohin. Er tappte im Dunkeln. Auf der Suche nach einem Elternteil. Und er wollte nicht, dass eine dieser beiden fremden Frauen ihm half. Aber er hoffte, dass sie in seiner Nähe blieben.
Bei der Snack-Bar saß eine Frau aus Holland auf ihrem Rucksack am Boden – die Stühle waren alle von anderen Reisenden besetzt – und beobachtete, wie der Junge die Frauen im Zickzack durch die Halle führte. Sie trug einen blauen Mantel aus Polyester, eine Seidenbluse und Laufschuhe.
Sie war gefesselt wie die anderen, folgte dem Jungen mit weit aufgerissenen Augen und andächtigen Blicken überallhin. Doch anders als die anderen klammerte sie sich an dem Teil fest, auf dem sie saß, als wolle sie ihren Körper daran hindern aufzuspringen. Hinsehen. Hinsehen.
Ihr Haar war auf einer Seite abrasiert. Der Rest war weiß.
ELROY HEFLINS SKELETT hatte seine letzten paar Zentimeter erst zugelegt, als er einundzwanzigjährig aus dem Gefängnis in Los Lunas kam. Es folgten zwei Jahre Rechen von heißem Asphalt in Kansas, Nebraska, Maine; Regale in Lebensmittelgeschäften mit Frühstücksflocken auffüllen; Handel mit Heroin, Amphetaminen; Drogenkonsum; Schlafen in Obdachlosenunterkünften oder auf der Straße; scharfer Wind von der nassen Sorte, der einem in die Knochen fährt wie der Leibhaftige; kalter Entzug, kein Methadon, kein Ausstiegsprogramm; diverse antibiotikaresistente Infektionen nach Hirnkontusionen; Taumeln durch tiefen Schnee in den Schutz einer Kirche, wo im dunklen Eingang ein stämmiges Wesen die Arme wie zur Segnung erhob, das in Elroys alkoholverquirltem Kopf die Gestalt seines Vaters annahm – sogar Hoffnung schien im Gesicht des alten Mannes auf –, bis sich das Wesen als rotgesichtiger privater Sicherheitsmann entpuppte, der blaffte, „Raus hier, bis du nüchtern bist“, und ihn rückwärts in die Dunkelheit stieß; dann Elroys rechter Schwinger mitten ins Gesicht, ein Wumms aufs Auge des Wichsers, einer auf die Nase, Blut auf dem Eis wie Hohn, der ihn trieb, den Bullen, nachdem der schon zu Boden gegangen war, mit Tritten zu traktieren, sodass er kreischte und flehte, und ihn noch anzuschreien, „Ich komm rein, wann ich will, daran hindert mich niemand“; es folgte sein zweiter längerer Gefängnisaufenthalt, bevor er in die Armee eintrat, einen verlässlichen Platz zum Schlafen hatte und endlich anfing, seinen Scheiß ernsthaft in den Griff zu kriegen.
Bald darauf wurde er in ein Office of Defense Cooperation versetzt, das Teil der amerikanischen Botschaft im lettischen Riga war, als sich das Land auf seinen Beitritt zur NATO vorbereitete. Das waren großartige Zeiten. Alle Männer waren in einem Dreisternehotel untergebracht – einem jüngst mit schwedischem Geld renovierten Palast aus dem achtzehnten Jahrhundert, den die Rote Armee fünfzig Jahre lang als Kaserne genutzt hatte.
Sein Commanding Officer aß im Speisesaal des Hotels geräucherte Forelle auf Roggenbrot. „Ich will Ihnen eine Perspektive geben“, sagte er. „Woher kommen Sie, Heflin?“
„Sir, New Mexico“, sagte Elroy.
„Setzen Sie sich. Wo dort, Albuquerque?“
„Sir, Las Cruces, ein Ort namens Ramah, eins von diesen unbedeutenden Käffern westlich von Vado in Doña Ana County.“ Der Tisch war für ein Essen gedeckt, wie Leute es zu sich nahmen, die nie das Geschirr abwaschen mussten. Sieben Besteckteile, fünf Teller, eine Leinenserviette, vier unterschiedlich geformte Gläser, nebeneinander aufgereiht, glänzend, leer, bläulich getönt.
Der CO goss sich Kaffee ein. „Stellen Sie sich eine russische Militärbasis mitten in Albuquerque vor. Farmersjungen in sowjetischen Uniformen essen bei Lotaburger zu Mittag. Sie sind einer von ihnen. Ihre Seite hat den Kalten Krieg gewonnen, ohne einen einzigen Schuss abzugeben. Wie fühlen Sie sich?“
„Wie der Größte, Sir.“
„Und zu Recht. Aber Sie sollten es nicht zeigen.“
Die Mädchen hier zögen sich nuttig an, erklärte der CO. Elroy sollte dafür sorgen, dass die anderen, jüngeren Soldaten sich keine falschen Vorstellungen machten. Aufgrund seines Alters würden die jüngeren Gefreiten wahrscheinlich seinem Beispiel folgen. Für die Männer besagten die Outfits, Los, machen wir eine Spritztour. Für die Mädchen besagten sie, So zieht sich eine echte Europäerin an, klar? Also, Finger weg. Die Männer seien nur für acht Monate hier stationiert. Die lettischen Mädchen wollten heiraten, wie alle anderen auch.
Für Elroy klang das plausibel. Er gehörte inzwischen wohl selbst zu den Heiratswilligen. Und nach ein paar Monaten hatte er heimlich eine feste Freundin. Der Blick, die Erwiderung des Blicks, die Kontaktaufnahme war so einfach. Nicht wie zu Hause. Er war mit ein paar von den Männern auf einen Drink in der Altstadt, in einem Café an einer kopfsteingepflasterten Straße, gerade breit genug für ein fettes Pferd. Und die Kellnerin brachte ihnen Erdbeeren und belegte Brötchen, die sie nicht bestellt hatten. Sie wollte ihr Englisch üben.
Im Bett fragte sie ihn: „Wieso bist du so scharf auf mein Ohr?“
Es schmeckte komisch. Sie betrieb keinen großen Aufwand, es zu waschen. Er hatte ein bisschen UdSSR im Mund. Es schmeckte nach Schweiß, Ohrenschmalz und Zitronenparfum.
„Noch vor zwanzig Jahren“, sagte er, „hätten sie mich hergeschickt, um dich zu vergewaltigen und dein Haus niederzubrennen.“
„Dummerchen“, sagte sie, während sie in einem Reisemagazin blätterte. „Wir hatten kein Haus.“
Er erwachte in ihrer Einzimmerwohnung, als sie dabei war, mit Spucke und einer alten Socke seine Schuhe zu polieren. Immer wieder bot sie an, ihm die Wäsche zu waschen. Nein danke, sagte er. Es behagte ihm nicht, dass eine Frau seine schmutzige Unterwäsche anfasste, seine Scheiße und seine Ausflüsse roch.
Nasskalter Wind, dann Schneeregen. Sonntag. Er kaufte ihnen zwei Regenschirme. Sie gingen im Jugendstilviertel spazieren, und sie zeigte ihm die gequälten Gesichter am Gesims der juristischen Fakultät. Zufällig gerieten sie in die Messe einer katholischen Kirche und nahmen beide, nach ihrem Treiben der vergangenen Nacht ein schlechter Witz, das Abendmahl. Er verstand nicht, was der Pater sagte, obwohl er das meiste sehr wohl verstand. Messe war gleich Messe, überall. Er sah hinauf zu den Fledermäusen, die an den Deckenbalken hingen, und sprach mit dem örtlichen Gott. Er fragte sie, ob er ihre Eltern kennenlernen könnte, aber sie waren tot.
Ihr Name war Evija.
Er hätte ihr gerne vorgeschlagen, beim Make-up etwas zurückhaltender zu sein; aber er respektierte fremde Kulturen. Vor dem Ende seiner Stationierung hatte er sie geschwängert. Er wollte sie heiraten, aber sie war noch nicht bereit. Und infolge einer Aneinanderreihung taktischer Entscheidungen, die alle für sich genommen vernünftig, aber frei von jeglicher strategischer Vision waren, überwies er fünf Jahre später, stationiert im Norden Afghanistans, ein Drittel seines Solds an eine Bank in der ehemaligen Sowjetunion als Unterhalt für einen Jungen, den er ungefähr zweimal im Jahr zu Gesicht bekam. Und derweil zog Evija mit einer russischen Schauspielerschwuchtel um die Häuser und schickte Elroy E-Mails, in denen sie fragte, ob sie seine Kreditkartennummer haben könnte. Sie wolle mit dem Jungen eine Kreuzfahrt nach Norwegen machen. Er bat seinen neuen Zugführer um Rat – endlich mal einer, der älter war, der über Urteilskraft und Erfahrung verfügte –, ob das klug sei, denn was, wenn jemand die Nachricht abfing und an seine Kreditkartennummer gelangte?
Sein Zugführer sagte: „Corporal Heflin, eine beschissene Kreuzfahrt?“
Er ließ sie per E-Mail wissen, dass er die Kreuzfahrt nicht bezahlen würde. Darauf hörte er ein paar Monate nichts von ihr. Um sie zu einer Reaktion zu zwingen, stellte er seine Zahlungen ein. Dann, er war gerade auf Heimaturlaub in New Mexico, kam eine E-Mail des Inhalts, dass Evija aus persönlichen Gründen nach Spanien ziehen würde; den Jungen würde sie nicht mitnehmen; auch ihre Familie würde sich nicht um ihn kümmern; also blieb nur Elroy; wann würde er bitte kommen, um das Kind, Janis, zu holen; und es täte ihr leid, aber es eilte, innerhalb der nächsten vier Wochen?
Die Armee hatte ihn gerade zum Sergeant befördert. Er war brutaler geworden, härter. Er saß in der Eigentumswohnung seines pensionierten Vaters außerhalb von Los Alamos vor dem Computer und biss in eine Pflaume. Die Pflaume war zwischen seinen Zähnen explodiert und sein Hemd mit Saft bespritzt. Er bemerkte davon nichts. Ihm liefen Tränen herunter – was für Tränen? Der Dankbarkeit? Er wünschte, es wären Tränen der Dankbarkeit, ja. Und er lachte, frei heraus und laut. Zu dem leuchtenden Bildschirm sagte er: „Ich fass es nicht.“
ZWEI TAGE SPÄTER – ohne festen Plan, wer sich um Janis kümmern würde, wenn Elroy wieder im Einsatz wäre, und ohne Klarheit über den Immigrationsstatus des Jungen, ja ohne auch nur eine Luftmatratze, auf der er schlafen konnte – saß Elroy in Evijas und seiner alten Lieblingskneipe, einem Café auf der Stabu iela, und wartete. Mit seinem blonden Haar und den kleinen Augen sah er aus wie die Einheimischen, und die Kellnerin warf ihm die Speisekarten hin und ließ einen Schwall Lettisch auf ihn los. Er antwortete mit einem Satz, dessen klare und deutliche Artikulation ihm Evija beigebracht hatte: „Ich brauche einen Augenblick, um zu überlegen, wenn Sie erlauben.“
Evija würde mit dem Jungen hereinkommen. Dann was? Elroy wusste es nicht.
Sein Platz im Nebenraum des Cafés gewährte ihm einerseits die Sicht in den verglasten Windfang, durch den die Gäste das Lokal betraten, und beschützte ihn zugleich vor den neugierigen Blicken aus dem Hauptraum. Wenn sich seine Gefühle jetzt Bahn brechen würden, sollten sie. Aber es musste ja nicht auf großer Bühne sein. Er saß ruhig da, die Hände unter dem Tisch gefaltet, und wartete. Er hatte auf dem Weg von New Mexico nach Osten weder in einem der Flugzeuge noch auf einem der Flughäfen ein Auge zugetan. Sein Gesicht war von kleinen roten Flecken übersät. Die Augen waren trocken von der Flugzeugluft. Seine Gefühle mussten nicht auf großer Bühne zum Ausbruch kommen. Aber sollten sie aus dem Stammhirn nach oben schießen und als Querschläger von seiner Schädeldecke abprallen, machte es ihn dann zu einem dummen kleinen Kind, wenn er sich eine Frau an seiner Seite wünschte, die nicht wegschaute?
Er sah auf die Uhr. Er hatte überlegt, ob er Evija mit Blumen bestechen sollte, aber was immer er von ihr wollte, es ließ sich nicht kaufen. Wenn sie es ihm nicht aus freien Stücken anbot, dann wollte er es auch nicht. Er zeigte auf die Speisekarte und bestellte ein Glas Selter, und als es gebracht wurde, kauerte er sich hinter einen eingetopften Ficus, goss sich ein bisschen Wasser in die hohle Hand und platschte es sich auf die Augen und hinter die Ohren. Er setzte sich wieder auf, gefasst, voller Hoffnung.
Jedes Mal, wenn er Evija und den Jungen besucht hatte, war Riga ein Stück sauberer, reicher gewesen, mit immer neueren Autos. Der Russe ließ sich nicht blicken, wenn Elroy zu Besuch war. Evija bestand darauf, dass der Russe ein ganz normaler Homosexueller sei, der ein Mädchen brauchte, um den Schein zu wahren, und dass sie ihn noch nie auf den Mund geküsst habe.
Sie machte Kartoffelpuffer für Elroy und den Jungen, der saure Sahne verabscheute, Apfelkompott, alles, was ihm als Beilage angeboten wurde. Das sind die Gewohnheitsmacken, die Teil unseres bleibenden Wesens werden. Elroy hatte als Kind immer am liebsten unter Laken geschlafen, die so fest gespannt waren, dass sie seine Zehen verbogen. Diese Vorliebe hatte dazu geführt, dass er die Entbehrungen der Grundausbildung als tröstlich empfand – sie brechen dich, sie bauen dich wieder auf, schneller, zäher –, und er stellte fest, dass er ein Talent für das Gebrochenwerden hatte, ein Talent fürs Vergessen. Und dann ein Talent, dem Impuls zum Töten zu folgen.
Die drei aßen für gewöhnlich auf dem Balkon ihrer Wohnung. Evija sprach von „unserer Wohnung“, was sowohl Elroy wie Janis mit einschloss. Sie hatte dem Jungen Englisch beigebracht, und wenn sein Vater zu Besuch war, sprach sie es ausschließlich, damit der Junge Übung bekam. Er war zu zögerlich, was das Englischsprechen anging, da waren sich beide Eltern einig. Er hatte es sich zur Regel gemacht, nur mit ihnen beiden Englisch zu sprechen, und das immer mit hochrotem Gesicht.
Im Café bestellte Elroy gerade einen Teller mit Entenleber, als ein altes Weib durch den Windfang hereinkam und in strengem Ton auf einen Hund einzureden schien, der allerdings von dem Wust niedriger Tische verdeckt war.
Die Kellnerin entfernte sich. Die Alte studierte eine Fotografie und sah sich im Raum um. Und Elroy ging in Deckung.
Mit dem Hintern blieb er auf dem Stuhl, aber die Hände presste er auf den Boden, den Kopf beugte er unter den Tisch. Auf dem Holzboden glänzte der Lack. Er konnte kaum atmen. Er schien etwas gesehen zu haben, ohne schon zu wissen, was. So wie man die Hand von der heißen Pfanne zurückzieht, bevor man spürt, dass man sich verbrannt hat. Er hatte vier bis sieben feindliche Rebellen erschossen, ohne je die gedankenlose Angst dieses Augenblicks erlebt zu haben.
Schließlich zwang er sich aufzustehen. Die Frau zog ihr zerfranstes Schultertuch zurecht und sah sich um. Der Hund hinter ihr war Janis, der versuchte, einen Rollkoffer über die Schwelle zu ziehen, der für ein sehr viel größeres Kind als ihn gedacht war.
Elroy sagte auf Lettisch, „Madam?“, und winkte sie zu sich.
Evija war nicht gekommen. Sie hatte diese Emissärin geschickt, diese Hexe; es war, das erkannte er jetzt, ihre Vermieterin.
Wenn es nach der Frau und nach Janis gegangen wäre, hätte die Übergabe fünfzehn Sekunden gedauert. Sie sah auf das Foto – von Janis und Elroy, fast nackt am Strand von Jurmala vor einem Jahr – und sagte dem Jungen, er solle sich an den Tisch setzen. Aber der war schon zu seinem Vater hingegangen und kletterte auf den Stuhl neben ihm.
Der Junge sagte der Frau auf Lettisch, dass sie nun gehen könne – der Satz, den Evija benutzte, wenn sie ihm erlaubte, vom Abendbrottisch aufzustehen. Aber Elroy wollte, dass die Frau ihm sagte, was zu tun sei. „Gibt es nichts, was Sie mir geben sollten?“, fragte er.
Die Frau ermahnte den Jungen, und der Junge nickte. Und als Elroy nachfragte, übersetzte der Junge flüsternd, sie habe gesagt, dass Janis auf die Papiere aufpassen soll, die in seinem Koffer sind.
Elroy sah der Frau nach, als sie ging. Er spürte etwas Warmes auf dem Oberschenkel. Es war die linke Hand des Jungen. Mit der anderen Hand blätterte der Junge in der Speisekarte und besah sich die Bilder der Gerichte. Elroy bestellte die Leber ab, und sie gingen, ohne etwas gegessen zu haben.
Sie nahmen den Bus zum Flughafen. Er schnallte Janis für den Flug nach Hamburg in seinem Sitz an.
Er hatte aus New Mexico ein Malbuch und einen Wachsmalstift mitgebracht. Der Junge wickelte die Finger einfach so um den Stift, während Elroy ihm beibrachte, nur ganz leicht aufzudrücken, wie um Wachs zu sparen. Und doch zerbrach schon nach kürzester Zeit der Malstift in der Faust des Jungen. Und der Junge sah auf, Angst umspielte seinen zitternden Mund, als befürchtete er, gleich Dresche zu kriegen.
IN HAMBURG angekommen, brachte Elroy den Jungen direkt vom Flugzeug zur Herrentoilette und stopfte ihm Geld in die Anoraktasche.
„Ich wollte den Malstift nicht zerbrechen“, sagte Janis. „Tschuldigung.“
„Wo hast du meine Uhr?“, fragte Elroy ihn ab, während er das alte Klebeband wieder festdrückte, mit dem der Anorak des Jungen geflickt war. Elroy brauchte ein wenig Zeit, um alles zu durchdenken. Er brauchte zehn Minuten, eine Viertelstunde. Er würde sich einen Elternratgeber kaufen müssen. Er würde eine Einkaufsliste machen müssen, mit so Sachen wie Frühstücksflocken, Krankenversicherung, Antihistamin. Der Junge hatte eine Allergie gegen Tierhaar, und in der Wohnung flogen überall die Haare vom Hund von Elroys Vater rum. Elroy brauchte einen Augenblick für sich, ohne dass der Junge dabei war, damit er später den Eindruck erwecken konnte, er wüsste verdammt noch mal, was er tat. Er brauchte Block und Stift.
„Ich hab die Uhr in der Hosentasche“, antwortete der Junge. „Tschuldigung.“
Elroy sagte: „Wenn du noch einmal Tschuldigung sagst, wird’s dir gleich richtig leidtun.“
Der Junge sah auf, er hockte in voller Montur auf der Klobrille.
„Heul doch“, sagte Elroy. „Wann komm ich dich holen?“
Janis hielt Daumen und Zeigefinger hoch. „Zwei“, sagte er.
Elroy trat aus der Kabine. Er sagte dem Jungen, er solle absperren. Er hörte ein Schlurfgeräusch und das Zuschnappen des Riegels. Er verließ die Herrentoilette und versuchte, inmitten all der Hektik der Europäer, die ihm entgegengerannt kamen, ihn beidseits überholten, einen gemäßigten Schritt beizubehalten. In der Halle roch es nach verbranntem Fett. Er ging weiter und zog seinen Koffer und den des Jungen Richtung Terminal 2. Die ramponierten Räder des kleineren Koffers brachten ihn zum Wahnsinn, denn sie waren schuld daran, dass der Koffer ständig umkippte. Er zog das schwere Ding mit der falschen Seite nach oben hinter sich her. Dann hob er es an dessen Teleskopgriff hoch, der sich nicht einschieben ließ. Er verplemperte fünf Minuten, bloß um nach einer Uhr zu suchen, und entfernte sich derweil immer weiter von der Herrentoilette, wo der Junge wartete.
Elroy musste einen Stift kaufen, damit er denken konnte. Er verplemperte weitere zehn Minuten mit der Suche nach einem Schreibwarenladen in Terminal 2. Als er ihn schließlich fand, stellte er fest, dass er dem Jungen, aus ihm nicht mehr erklärlichen Gründen, sein gesamtes Geld gelassen hatte. Warum hatte er dem Jungen so viel Geld gegeben? Er hatte keine Ahnung. Und jetzt verbat sich die Kassiererin, die Dollar anzunehmen bereit gewesen wäre, wenn Elroy welche gehabt hätte, dass er eine solche Kleinigkeit mit Kreditkarte bezahlte. In einer Lautsprecherdurchsage auf Deutsch ging es um irgendwas mit einem Kindergarten an einem der C-Gates. Elroy verfolgte einen Plan, ganz offensichtlich von ihm selbst entwickelt, und doch kannte er dessen letztendliches Ziel nicht. Sein Anschlussflug nach London wäre in drei Minuten zum Einsteigen bereit. Es war schon reichlich nach zwei Uhr. Er machte sich auf den Weg zurück zur Toilette in Terminal 1, er würde sich ein bisschen Geld von dem Jungen holen, um den Stift zu kaufen, Papier zu kaufen, würde sich einen Moment irgendwo hinsetzen, nachdenken, und dann würde er zurückkommen, den Jungen einsammeln und rechtzeitig zum letzten Aufruf am Gate sein. Er würde einen Plan machen müssen, Tagesmutter, Religionsunterricht, Haareschneiden. Was hatte er sich bloß dabei gedacht, dem Jungen sein ganzes Bargeld dazulassen? Eine Lautsprecherdurchsage auf Englisch, irgendwas mit einem Lost-and-found in Terminal 1. Irgendwas beim Lost-and-found. Er blieb stehen, lauschte.
Mit leisem, unerbittlichem Gerumpel zog eine Rolltreppe ankommende Passagiere in die Tiefe unter den Boden.
Er machte kehrt. Zurück zum London-Gate, die Rollkoffer im Schlepptau. Wie ein Boot, das eine Wende fährt, obwohl es am Anker hängt. Der Wind erfasst es. Überall nichts als Wasser. Es dauert eine Weile, bis man begreift, dass man in die falsche Richtung unterwegs ist.
JANIS SAß in einem kleinen Raum, einem Büro irgendwo auf dem Flughafen. Drei freundliche Deutsche um ihn herum, sanfte Stimmen. Heißer Kakao auf dem Schreibtisch. Er wusste, er war in Deutschland, dies mussten also Deutsche sein. Und von den Deutschen wusste er nur, was eine Schauspielerfreundin seiner Mutter in Riga gesagt hatte: Ein Deutscher mag noch so nett wirken, aber besser, man hängt ihn auf.
Lass dich nicht von ihrem Kakao einwickeln.
Heul doch, hatte sein Vater gesagt. Und Janis hatte geheult.
Alles, was die Deutschen ihm sagten, klang wie eine Frage, wobei sich der Ton am Ende süßlich und zugleich drohend anhörte. So wie „Flik flik, bok bok, ACK ACK ACK?“. Er hielt es für das Beste, nicht zu antworten. Fast allen Ärger, den er im Leben bekommen hatte, zum Beispiel wenn ihm Kit Kats vorenthalten wurden oder er im dunklen Schlafzimmer eingesperrt war, während die anderen so lange aufbleiben durften, wie sie wollten, war daher gekommen, dass er geredet hatte.
Deutschland war Europa. Lettland, das Land seiner Mutter, lag auch in Europa. Er hatte zwei Zuhause: Riga mit seiner Mutter und Amerika mit seinem Vater, auch wenn Janis noch nie dort gewesen war. Deutschland musste irgendwo dazwischen liegen. Seine Mutter war in den Ferien und er auch, aber „Ferien“ schien in diesem Fall das falsche Wort, weil das Zuhause seines Vaters, wohin er unterwegs war, angeblich auch sein eigenes Zuhause sein sollte.
Papa wird kommen. Zur Abendessenszeit. Jeden Moment jetzt. Also sollte Janis Platz lassen. Er würde nichts Nahrhaftes essen, was sie ihm auch anboten. Genau wie Papa gesagt hatte, war er in der Klokabine geblieben, bis der kleine Zeiger der Uhr seines Vaters auf die Zwei zeigte. Dann hatte er noch ein bisschen gewartet. Dann hatte er sich die Armbanduhr in die Hosentasche gesteckt und war dahin zurückgegangen, wo sie aus dem Flugzeug gekommen waren. Und hatte gewartet. Papa war nicht da. Also hatte Janis irgendwas von ihrer Verabredung nicht mitbekommen. Allerdings war das Abendessen ein unverrückbares Gesetz, das weder er noch sein Vater umgehen konnten, selbst wenn sie es gewollt hätten. Zur Abendessenszeit müsste Papa auftauchen. Die Dinge standen sehr schlecht, aber das Abendessen würde alles wieder richten.
Janis hatte Sehnsucht nach dem Malbuch. Sein Vater hatte es an sich genommen und in seinen Koffer gesteckt. Das Buch hatte keine Überschriften und war schon deshalb toll. Er konnte noch nicht richtig lesen und verabscheute das Gefühl, etwas nicht richtig mitzubekommen. Das Buch schien von einem Jungen zu handeln, der einen Fuchs zähmt und füttert und mit der Freundschaft des Tieres belohnt wird. Das Buch hatte keinen Titel, sodass Janis sich einen eigenen ausdenken konnte, das Gleiche galt für die Namen der Leute in dem Buch.
Er trank einen Schluck heißen Kakao, während sich die Deutschen berieten. Er wollte nicht mehr heulen, aber er durfte es. Eine der Anweisungen seines Vaters lautete, dass er heulen durfte.
ZWEI STUNDEN SPÄTER landete Elroy in London. Er stieg aus dem Flugzeug, verließ das Gebäude und nahm einen Bus, der auf der falschen Seite fuhr. Er erlebte wieder mal ein Weltwunder – den Linksverkehr. Man kann es nicht glauben, bevor man es nicht gesehen hat. So wie die Frauen, die er durch die Straßen von Kundus hatte schweben sehen, von Kopf bis Fuß in blaue Gewänder gehüllt, mit einem Visier aus Spitze, nur für die Augen. Sein Zugführer hatte sie gewarnt: Haltet den Kopf gesenkt. Ihr sollt sie nicht ansehen. Aber Kundus war ein Star Wars-Planet. Wie soll ich das verarbeiten, ein Kid wie ich?
Elroy stieg nach ein paar Haltestellen aus, schlich zur Rückseite einer Wohnanlage und warf den blöden kleinen Koffer in einen Müllcontainer. Dann kapierte er, dass er wieder auf die richtige Straßenseite gehen konnte – klar doch, alles funktionierte auch rückwärts; vielleicht machst du es anfangs falsch, damit du es später richtig machen kannst – und ja, es kam wieder ein Bus und brachte ihn zurück zum Flughafen.
Heathrow, Terminal 5. Ein helles, lang gestrecktes Gebäude aus Glas und Stahl zwischen asphaltierten Startbahnen. Ticketkontrolle. Gepäckkontrolle. Ein Plakat bei der Sicherheitskontrolle verbot, neben anderen Gegenständen, ausdrücklich Armbrüste, Macheten, Kneifzangen, Schusswaffen, Feuerzeuge in Form von Schusswaffen, Harpunen und Katapulte.
Er vertraute, was er hatte, dem Transportband und der Durchleuchtungsanlage an und trat in den Metalldetektor-Rahmen, Schultern runter, tief durchatmen. Doch die Maschine ließ ihn auffliegen, sie piepste, und ein hängebackiger Sicherheitsbeamter geleitete ihn zu einer zweiten Kontrolle – fragte, ob er einen Herzschrittmacher habe, eine Kobalt-Hüfte, eine Metallplatte im Kopf? – und bedeutete ihm, in die für verfeinerte Spurensicherung vorgesehene Glaskabine zu treten.
Elroy atmete tief durch. Manchmal schlug man den falschen Weg ein, um am Ende wieder auf dem richtigen zu landen. Wie damals, auf der Straße eines verlassenen Viertels in Kundus, wo er ein Hügelchen entdeckte, um das herum das Erdreich sorgfältig durcheinandergebracht war, und er ging auf die Knie und pustete, erkannte die Druckplatte und stand schnell auf. Niemand in der Nähe. Und ehe er wusste, was er tat, sagte er, „Scheiß drauf“, und trat gegen das Ding. Aber es explodierte nicht. Als wollte der liebe Gott ihm sagen: „Ich will, dass du lebst, Arschloch.“ Und einen ganzen Tag lang fürchtete sich Elroy vor gar nichts.
Düsen in den Wänden bespuckten ihn von allen Seiten mit Luft, während die Kabine von einer Maschine nach Kokain, PCP, Heroin, Methamphetamin durchschnüffelt wurde; auch nach TNT, C4 und Semtex.
Ein grünes Licht blinkte, und die Frontscheibe glitt zur Seite. Ein anderer Sicherheitsbeamter führte ihn zu einem Backscatter-Scanner. Er stand vor einer Wand, Hände über dem Kopf, Handflächen nach außen gedreht, während ein Körperscanner ihn von oben bis unten durchleuchtete. Am Kontrollpult eine trübselige Frau aus der Karibik mit Goldkronen auf den Schneidezähnen, die ihm nichts vorzuwerfen hatte und ihn gehen ließ.
Im herbstlichen Nachmittagslicht saß er in einer Reihe von Kunstlederstühlen vor den bodentiefen Fenstern. Eine Farbe hatte sich in der vergangenen Woche aus dem Licht verabschiedet: Gelb, so schien es ihm. Überall in Europa war das ausgelaugte Licht identisch. Und es hatte ihn zurückversetzt in eine Zeit von Laubhaufen, von Pappelblättern unter dem Gummizug seiner Unterhosen. Aufgehäufte und zerstörte Blätterberge.
Die Jumbojets vor den Fenstern sahen aus wie Orcas, die im Aquarium mit den Nasen an die Scheiben stießen. Der Dunst verflüchtigte sich. Das Licht fiel voll auf Elroys rasiertes Gesicht. Er badete seinen Hals darin, hob das Kinn und drehte den Kopf von rechts nach links. Über ihm ein Gitterwerk aus weißem Stahl.
Am Gate erinnerte eine Tafel mit klotzigen Messingbuchstaben daran, dass sich hier einst ein Weiler befunden hatte, Hitherowe, Hetherow, Hetherowfeyld. Eine Heidelandschaft, auf der ein paar Häuser standen. Eichengesträuch und Ginster auf sandigem Boden, wo die Kinder im Gebüsch und im Müll spielten, bis die Mütter sie zum Abendessen hereinriefen.
Er ging an Bord, setzte sich auf seinen Platz, und das Flugzeug bohrte sich durch die Atmosphäre.
EIN WENIG SPÄTER versuchten die Deutschen, Janis dazu zu bringen, etwas zu tun, aber er wusste nicht, was. Einer der Männer band sich den Schlips ab und legte ihn auf den Tisch, er stellte Janis irgendwelche Fragen und zeigte auf ihn. Dann zog der Mann auch noch seine Jacke aus und leerte seine Taschen: Zigaretten, Bankautomat-Quittungen. Lächeln, offene Augen, wie: Verstehst du? Eine Art Beispiel.
Sie wollten, dass er sich auszog? Er wusste nicht, wie er sie abhalten konnte. Eine Regel seiner Mutter lautete, Keiner darf dir deine Sachen ausziehen oder dir irgendwas wegnehmen, was dir gehört. Eine der Deutschen legte Janis die Hand auf die Mütze, und er ließ zu, dass sie sie ihm abnahm und sein zottiges Haar zum Vorschein kam, aber heulen musste er trotzdem. Er starb vor Hunger. Sie sollten sich schämen dafür, was sie ihm da anzutun versuchten. Sie zwangen ihn, sich hinzustellen, und zogen ihm den Anorak aus. Jetzt konnte alles Mögliche passieren. Sie legte den Anorak auf den Tisch und durchsuchte die Taschen. Sie ließen ihn zusehen. Sie fanden ein Kit-Kat-Papier. Kaugummi. Und 263 Dollar, in der Mitte gefaltet.
DIE GROSSKREISROUTE WESTWÄRTS über die Arktis.
Die Schwerkraft zerrte am Flugzeug. Aber der Unterdruck unter den dahinrasenden Tragflächen und der Strömungsabriss an den Hinterkanten der Flügelklappen zogen es in die Höhe, sodass die Passagiere in der Luft schwebten, in einem Gefährt, das mehr als 376 Tonnen wog.
Elroy beobachtete, wie von einem Gletscher Eis ins Meer stürzte. Gott übersäte die Welt mit Wundern, damit man nicht vergaß, was er einem zu tun aufgab. Elroy wusste nicht, ob er es vergessen hatte oder sich erinnerte.
In Boston Logan stieg er um und landete in Albuquerque – die vierte Landung binnen eines Tages, der allerdings schon dreißig Stunden dauerte. Chamisa-Pollen flogen ihm in die Nase und brachen ihm das Herz. Schleim lief ihm aus den Nebenhöhlen.
Er hatte online einen Kleinwagen reserviert, aber Hertz hatte sein Modell überbucht, darum bekam er einen Mustang Cabrio. Er fuhr mit offenem Verdeck auf der schnurgeraden Interstate nach Norden, durch das Tal des Rio Grande, und wandte das Gesicht hinauf zu den Sternen, die im Osten ihre immer gleichen Positionen eingenommen hatten. Er riskierte, dass der Wagen von der Spur abkam.
Westlich von Santa Fe fuhr er ins Jemez-Gebirge, wo ihm die dünne Luft kaum zum Atmen reichte und die Straßen schwarz waren. Schließlich kam er zu einer niedrigen Lehmziegelmauer, die drei Häuserblocks umfasste – er orientierte sich bloß nach Gefühl, fast nach erinnerten Gerüchen, wie ein Hund –, und gelangte an ein Tor, es war ein Uhr früh, Mountain Standard Time. Er hatte zuletzt auf dem Flug nach London etwas gegessen, und sein Bedürfnis nach Nahrung äußerte sich in physischer Panik. Sein Atem ging flach und schnell. Sein Rückgrat versteifte sich.
Am Tor saß ein Wächter in einem erleuchteten Häuschen und machte ein Sudoku. Er fragte Elroy im Maschinengewehr-Englisch der Leute aus New Mexico, wen er besuchen wolle.
„Aber ich habe hier nichts von Mr. Tilly, dass er Sie erwartet“, sagte der Wächter zu dem Klemmbrett, das vor ihm lag. Es bedurfte eines speziellen Hinweises der Wohnungseigentümer, wenn er nach zehn noch klingeln sollte.
„Kommen Sie schon, Mann“, sagte Elroy. „Ich war erst vor drei Tagen hier.“ Er holte einen Packen Umschläge eines Inkassobüros hervor, die er vor ein paar Tagen in seine Aktentasche gestopft hatte – alle ungeöffnet, alle an ihn gerichtet und mit der hiesigen Adresse versehen. Der Wächter unterzog sie einer eingehenden Prüfung.
Das Tor verschwand in der Lehmziegelmauer, und Elroy manövrierte das Cabrio auf das Gelände. Abgeschirmte Lampen, Steingärten, niedrige stuckverzierte Häuser. Er trat unter das Vordach der Veranda und klopfte.
Keine Reaktion. Er drehte den Knauf. Die Tür öffnete sich.
„Ein ganz außergewöhnliches Buch“
„In diesem Buch ist keine Seite zu viel, kein Nebenstrang zu weitschweifig. Salvatore Scibona schafft ein detailgetreues Abbild des Krieges und seiner Verheerungen. Die (alb-)traumhaften Bilder, die uns scheinbar spielerisch vor Augen führen, was die Überlebenden mit sich tragen müssen, sind das eigentliche Kunstwerk. Was sich einsenkt in die Psyche. Ein großartiges Buch, ein Vexierspiel im Sinne Bolaños!“
„Wir haben es hier mit einem potentiellen Nachfolger von Don DeLillo und Cormac McCarthy zu tun, den man im Auge behalten sollte.“
„Wie schlüssig er die Biographie des Freiwilligen auf dessen Kriegseinsatz hin erzählt und sie dann auch wieder herauslöst, das ist grandios.“
„Ein komplex konstruiertes und ebenso verstörendes wie packendes Buch“
„Mit ›Der Freiwillige‹ stellt Salvatore Scibona unter Beweis, dass er ein wahrhaft versierter Schriftsteller ist.“
„Scibona ist eine moderne Odyssee gelungen, die sich über ein halbes Jahrhundert erstreckt – ein großer amerikanischer Roman über den Krieg und seine Folgen im Frieden – und über die unheilvolle Rolle der CIA. Emotional und klug beschreibt er, wie wir unsere wahren Familien gleichermaßen erfinden und entdecken.“
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