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Der betrunkene Berg

Heinrich Steinfest
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Roman

„Ein typischer Steinfest, in dem man sich in den Bildern, gemalt von der Sprache, verlieren kann.“ - Ruhr Nachrichten

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Der betrunkene Berg — Inhalt

Eine kluge Buchhändlerin und ihr rätselhafter Gast
Ohne sie wäre er gestorben, dünn bekleidet, im Eis der Alpen. Das war wohl auch sein Plan, aber Katharina rettet ihn, bietet ihm Unterschlupf. Auf 1765 Metern Höhe betreibt sie eine Buchhandlung, die nun, im November, geschlossen bleibt. Sie behält den Fremden ohne Namen und Gedächtnis bei sich, vorübergehend. Die beiden lesen zusammen, er kocht für sie, und Stück für Stück beginnt er sich zu erinnern. 

Heinrich Steinfest ergründet die Wege, die uns Zufall und Schicksal einschlagen lassen. Und stellt die Frage, was mit uns geschieht, wenn eine böse Tat das Leben in eine andere Richtung lenkt.

€ 22,00 [D], € 22,70 [A]
Erschienen am 01.09.2022
224 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-07013-3
Download Cover
€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 11.01.2024
224 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31984-3
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 01.09.2022
240 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-60288-4
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Leseprobe zu „Der betrunkene Berg“

1

Oh!

Soeben trieb die erste Schneeflocke am Fenster vorbei.

Man hätte meinen können, aus ihr, so klein sie auch war, leuchte eine Werbeaufschrift heraus: Es lebe der Winter!

Obwohl ja eigentlich noch Herbst war. Spätherbst.

Aber es war nun mal eine Werbung für den Winter, den diese Schneeflocke an diesem Ort durch die Luft trug. Werbung für den Winter und den aus dem Winter schlüpfenden Wintersport. Wie auch Werbung für den Umstand, dass Weihnachten sich näherte. Und wenn Weihnachten in der Nähe war, keimte ja stets die Hoffnung auf, es könnte sich um weiße [...]

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1

Oh!

Soeben trieb die erste Schneeflocke am Fenster vorbei.

Man hätte meinen können, aus ihr, so klein sie auch war, leuchte eine Werbeaufschrift heraus: Es lebe der Winter!

Obwohl ja eigentlich noch Herbst war. Spätherbst.

Aber es war nun mal eine Werbung für den Winter, den diese Schneeflocke an diesem Ort durch die Luft trug. Werbung für den Winter und den aus dem Winter schlüpfenden Wintersport. Wie auch Werbung für den Umstand, dass Weihnachten sich näherte. Und wenn Weihnachten in der Nähe war, keimte ja stets die Hoffnung auf, es könnte sich um weiße Weihnachten handeln.

Hier oben jedenfalls würden sie ganz sicher weiß sein.

Das Fenster, an dem diese vermeintlich erste Schneeflocke vorbeitrieb, gehörte zu einem Geschäftslokal in 1.765 Metern Höhe. Ein Fenster, über dessen dekorierte Auslage hinweg man hinaus auf den Weg sah, der hochführte zu jenem Berggipfel, an dessen Fuß sich eine mächtige Schutzhütte befand und daneben dieser kleine Laden.

Kein Souvenirladen, kein Sportartikelgeschäft in luftiger Höhe, sondern … ja, eine Buchhandlung. Nicht gerade die größte auf der Welt, aber eine der höchstgelegenen, wenn nicht die Schönste aller hoch gelegenen.

Die Besitzerin des Ladens hieß Katharina Kirchner. Hätte jemand sie Kathi oder Katrin oder Trine zu rufen versucht … Glückwunsch! Das hatte sie bereits als Kind verstanden, eine Abkürzung oder Koseform ihres Namens niemals zuzulassen und sich eine Sprachfaulheit bezüglich ihres Namens zu verbieten. Auch ihre Eltern hatten das einsehen müssen.

Kirchner war jetzt dreiundvierzig. Und um es mit den Worten eines der Skilehrer zu sagen, die regelmäßig mit Gruppen von Tourengehern an der Schutzhütte und dieser Buchhandlung vorbeikamen: Sie war eine Schönheit, von der man nicht sagen konnte, ob sie besser zu ihren Büchern passe oder besser zur Rauheit der diesen Laden umgebenden Natur. Es war etwas Wildes an Katharina, aber eine Wildheit, die von ihrer Bildung und Kultur gebändigt schien. Weniger von einer Erziehung. Und ganz sicher nicht von jemand Drittem.

Zweimal verheiratet, zweimal geschieden, oft geliebt, oft verliebt war sie letztlich zur Überzeugung gekommen, die zweite Hälfte ihres Lebens – sie wusste mit merkwürdiger Sicherheit, einundachtzig oder zweiundachtzig, aber ganz sicher niemals dreiundachtzig zu werden – frei von einer Partnerschaft zu verbringen. Ihr diesbezüglicher Hunger war gestillt.

Es gehörte zu ihren Markenzeichen, ihr dunkles, langes Haar stets mit bedruckten Seidentüchern gebunden zu haben. Doch weder trug sie in ihrem Laden ein Dirndl noch Outdoor-Kleidung, sondern Kostüme von verhaltener Eleganz. Und fast immer Blusen, Blusen von der gleichen Art wie ihre Haarbänder. Auch wenn es kälter wurde. Diese Blusen verliehen ihr etwas Schwebendes und Luftiges. Zudem war Katharina das Gegenteil einer erfrorenen Frau.

Sie war eine Blusen-Frau, die hart im Nehmen war.

Natürlich verstand sie es auch, Wander- und Bergschuhe zu tragen, aber eben nicht, wenn sie in ihrem Laden stand. In ihrem Laden mit all den Büchern, die dicht gedrängt Regale und Tische und die eine, sehr breite, panoramaartige Auslage füllten. Bücher, die sich ausschließlich mit Bergen und Bergwelten befassten und auch immer dort spielten. Es war wirklich fast alles dabei, was jemals von deutschsprachigen Zungen über die Berge gesagt worden war. Oder von anderen Zungen in deutscher Übersetzung. Bücher von fanatischen Alpinisten und Alpinistinnen, waghalsigen Abenteurern, kämpferischen Frauen, poesiebegabten Naturbeobachtern, wie auch von Leuten, die lieber über die Berge schrieben, als auf ihnen herumzuklettern. Zudem führte Frau Kirchner natürlich Wanderkarten, aber ebenso kleine Buchkunstobjekte, die sich in Inhalt und Form mit der Anziehungskraft ausgerechnet jener hoch gelegenen Regionen beschäftigten, die so gänzlich ungeeignet für die menschliche Existenz erschienen. Weshalb ja das Wandern und das Bergsteigen und das Skifahren und überhaupt die alpine Naturbegeisterung erst erfunden worden waren. Um an einem fremden, zu Waghalsigkeiten animierenden Ort zu sein. Woraus wiederum etwas Sakrales entstanden war. Selbst noch in Momenten, da man sturzbetrunken in einer Skihütte hockte und die letzte Abfahrt in der Art einer Todesspirale bewältigte. Am Berg war man Gott nun mal etwas näher, selbst als noch so gottloser Konsument.

In ihrem ersten Beruf hatte Katharina Bühnenbildnerin gelernt und war von ihrem Geburtsort Salzburg nach Norddeutschland gezogen, wo sie für mehrere kleine Theater tätig wurde. Doch die Arbeit mit Schauspielern und Regisseuren war ihr zusehends auf die Nerven gegangen. Letztlich war ihr vor allem der Regisseur auf die Nerven gegangen, mit dem sie sich in erster Ehe verheiratet hatte.

Aus dieser enervierenden Ehe und aus dieser enervierenden Bühnenbildnerei flüchtete sie schließlich … ja, man kann es so ausdrücken: Sie flüchtete vom Norden in den Süden Deutschlands und dort in die Automobilindustrie. Sie übernahm einen Job in der Designabteilung eines bekannten Sportwagenherstellers, wo man trotz aller Arbeit am Computer auch noch Leute benötigte, die wirklich zeichnen konnten. Und Katharina konnte zeichnen. Sie besaß den Strich einer Schwimmerin. Sie schwamm über das Zeichenpapier.

Und während sie über das Papier schwamm und dabei half, mehrere neue Sportwagenmodelle zu entwickeln, lernte sie einen der Topmanager des Unternehmens kennen. Mit ihm ging sie ihre zweite Ehe ein. Auch diese blieb kinderlos. Es stellte sich heraus, dass Katharina keine Kinder bekommen konnte. Das war nun absolut nichts, was sie erschütterte. Es war ihr zweiter Mann, den dies erschütterte. Er war jemand, der seinen Namen in Form eines Nachwuchses sehen wollte. Das war zwar nicht der einzige Grund für die Trennung, aber doch der entscheidende: sein Kindergetue und Kindergejammere, die Angst um seinen Namen. Er entließ Katharina aus ihrer beider Ehe und sie ihn.

Nicht ohne Abfindung. Was für ein passendes Wort! Sich mit etwas abzufinden. Katharina fand sich mit dem Umstand einer weiteren gescheiteren Ehe ab und benutzte das aus diesem Umstand gewonnene Kapital, um in die Stadt ihrer Kindheit und Jugend zurückzukehren, also Salzburg, dieses wie zur Stadt umgebaute Klavier.

Und von dieser klavierenen Stadt aus begann sie damit, den Plan einer hoch gelegenen Buchhandlung umzusetzen. Einer Buchhandlung, die zuerst einmal als eine Skizze auf dem Papier schwamm.

Sie suchte und fand den richtigen Ort und das richtige Haus: eine gar nicht so kleine ehemalige Winterschutzhütte im Besitz des Österreichischen Alpenvereins. Ein Verein, der sich überzeugen ließ, den bloß noch als Abstellraum genutzten holzverkleideten Komplex an Katharina zu verpachten, so, wie ja auch das große steinerne Schutzhaus daneben von einem Wirtsehepaar gepachtet worden war.

Zur Schutzhütte also die Buchhütte.

Natürlich war das nicht gerade eine Fußgängerzone, in der Katharina ihren Buchladen eröffnete. Oder eigentlich doch. Wenn man sich den Fußgänger hier als eine forcierte, von diversen hoch entwickelten Kleiderhüllen umgebene Form des alpinen Ausflüglers vorstellte. Die Schutzhütte befand sich in zweistündiger Entfernung von der Bergstation einer Seilbahn, die von einer Ortschaft des Salzkammerguts sommers wie winters die Gäste nach oben gondelte. Wanderer und Skifahrer.

Von den Wanderern – und im Winter von den Tourengehern und denen, die sich mit Schneeschuhen ausgerüstet hatten – waren es dann nicht wenige, die zu jener Schutzhütte hinübermarschierten, natürlich zum Ausruhen, zum Essen und Trinken, bevor es zurückging oder auch hoch zum Gipfel des Berges, an dem die Schutzhütte lag. Aber man besuchte eben auch den Buchladen der Katharina Kirchner, der einen durchaus logischen Namen trug: Bücherberg. Und viele nannten den Laden gerne: Katharinas Bücherberg.

Und dieser Bücherberg erwies sich wahrlich als ein Geschenk, ein Geschenk in den Bergen.

Dieses „Geschenk“ war freilich keine Goldgrube. Aber darum ging es auch nicht. Die entscheidenden Dinge im Leben sind nie Goldgruben. Wer an das Glück der Goldgruben glaubt, hat keinen Verstand und wird auch mit einer Villa am See oder einem Flug ins Weltall nicht zufrieden werden.

Katharina war einfach ein großartiger Buchladen in großartiger Höhe gelungen. Wobei zu ihrer Kundschaft auch Leute zählten, die es üblicherweise vermieden, irgendwelche Berge hochzusteigen oder wilde Naturen seilbahnmäßig zu erobern. Und doch … sie taten es allein, um diesen kleinen Laden aufzusuchen. Einmal auch ein Hundertdreißigkilo-Mann, Besitzer einer der größten Privatbibliotheken des Landes, der wegen seiner Herzprobleme auf diesem Berg fast umgekommen wäre. Aber Katharinas Credo lautete: „Niemand stirbt auf diesem Berg.“

Sie konnte nicht ahnen, welche Bedeutung dieser Satz in diesem Jahr haben würde, als eine erste Schneeflocke den kommenden Winter werbewirksam einläutete. Spät im Herbst zwar, aber den Winter wie eine fröhliche Katastrophe ankündigend.

Als es dann geschah, lag bereits ein halber Meter Schnee am Berg. Es war Ende November, und die Schutzhütte hatte geschlossen. Deren Betreiber machten von Oktober bis Dezember Urlaub, bevor sie kurz vor Neujahr ihre Herberge samt Gastwirtschaft wieder aufsperrten und die Wintersaison begann, die von Januar bis März andauerte. In der Zeit von Oktober bis Dezember hatte darum auch Katharina ihren kleinen Buchladen geschlossen, allerdings blieb sie als einzige Person auf dem Berg. Sie verspürte kein Bedürfnis nach Urlaub. Zudem war es ein solcher Urlaub gewesen – kurz nach ihrer erfolgreichen Scheidung –, der sie praktisch ins Unheil geführt hatte. Aus dem sie zwar lebend wieder herausgekommen war, jedoch nicht ohne seelische Blessuren, nicht ohne das Gefühl, es gar nicht zu verdienen, noch am Leben zu sein, sondern eher dorthin zu gehören, wo jetzt andere waren, nämlich irgendwo am Grund des Meeres.

Das war dann auch der letzte Urlaub ihres Lebens gewesen, und es würde ganz sicher keiner mehr dazukommen. Aber ebenso wenig sehnte sie sich nach Salzburg, der Stadt, in der immerhin noch ihre Eltern lebten, ein in der partnerschaftlichen Auseinandersetzung eng verbundenes Paar. Katharina hatte als Jugendliche immer wieder vom „Weltkrieg“ ihrer Eltern gesprochen und damit das Umfassende von deren Auseinandersetzungen gemeint. Nein, sie mied die klavierene Stadt und blieb auch in diesen drei Monaten geschlossener Häuser oben am Berg. Sie nannte es ironisch ihr Shining, auf den Roman von Stephen King und die Verfilmung von Stanley Kubrick anspielend: die Wahnsinns-Geschichte eines Mannes, der mit seiner Familie ein im Winter geschlossenes Hotel betreut und dabei den Verstand verliert. Denn auch Katharina sah zu, dass eben nicht nur ihr Buchladen, sondern auch die Schutzhütte gut durch diese drei Monate kam, bevor dann wieder der Tourismus und auch der eine oder andere Buchkäufer in die Landschaft einfiel. Allerdings konnte man wirklich nicht sagen, dass Katharina in dieser Zeit irgendeinem Wahnsinn anheimfiel, irgendwelche mondänen Hotelbars halluzinierte oder gar begann, Stimmen zu hören. Sondern eben nur die kleine, bescheidene Schnapstheke im Schutzhaus besuchte und sich selbst einschenkte.

Sie kam stets gut durch diese Zeit. Lesend, ihre Buchhaltung erledigend, die beiden Häuser pflegend. Sowie in der Küche der Schutzhütte für sich kochend. Wobei sie aber keine große Köchin war. Man konnte sagen, ihre Kochkünste folgten jener Vernunft, die aus einem hungrigen Menschen einen satten macht, ohne darum zu den Sternen aufgebrochen zu sein.

Und sie wanderte. Sie wanderte täglich im Schnee, zumeist hoch zur Spitze des Berges, an dessen Fuß ihr Buchladen sich befand. Ein Berg, der den Begriff Kogel in seinem Namen trug. Zwischen dem Gipfel dieses Kogels und der Hütte lagen knapp hundert Höhenmeter. Eine Strecke, für die sie gut eine Dreiviertelstunde benötigte.

Tag für Tag also, ohne je einer Person zu begegnen, was sich dann im neuen Jahr und mit der Öffnung der Alpenvereinshütte beträchtlich änderte.

Jetzt aber war sie mit dem Berg allein, stand an den Nachmittagen oben am Gipfel, oft wild umweht, mitunter im Sonnenschein, mitunter im Schneesturm, bekleidet mit einem weißen Anorak und einer weißen Skihose. Man hätte meinen können, sie spiele in der Winterszene eines James-Bond-Films. Ihr schimmerndes seidenes Haarband freilich stach dann doch recht deutlich aus dem Weiß der Umgebung heraus. Würde man sie in diesem Gelände orten müssen, es würde dank ihres Haarbands gelingen.

Aber es war dann sie, die jemanden ortete.

Es kam der Tag, an dem sie den Mann fand.

Ein Dienstag eventuell, vielleicht auch ein Mittwoch, jedenfalls ein bitterkalter, aber wolkenloser Tag. Das Blau des Himmels war so kräftig und dunkel, als sei ein wenig vom Schwarz des Weltalls in dieses Blau hineingetröpfelt. Während der Schnee auf eine Weise glitzerte, dass ein ironiebegabter Mensch hätte denken können, der Kristallglas- und Kitschhersteller Swarovski zeichne dafür verantwortlich.

So kalt die Luft auch war und sosehr der Wind in regelmäßigen Böen das blitzende und funkelnde Weiß aufwirbelte und darum dem fliegenden Schnee eine abgerundete Gestalt verlieh, kam Katharina dank der kräftigen Sonne und der Mühe des Aufstiegs dennoch ins Schwitzen. Derart, dass sie ihren weißen Anorak öffnete. Die Kälte drang durch das Gewebe der Skiunterwäsche wie winzig kleine, trommelnde Hände, die gegen Katharinas Brust klatschten. Der Schweiß floh in Panik, als fürchte er, vom Applaus erschlagen zu werden.

So marschierte sie also, den Serpentinen folgend, auf dem ihr so vertrauten Weg.

Kurz bevor sie den abschließenden Grat erreichte, der zu einem schmiedeeisernen Gipfelkreuz führte, erkannte sie im steilen Schneefeld, halb verdeckt von einer Wechte, etwas Dunkles. Aber nicht etwa ein Stück Felsgestein oder die Spitze einer den Schnee durchdringenden Latsche, sondern … Als sie das Ding erreichte, begriff sie, dass es sich um einen Menschen handelte. Einen groß gewachsenen, stämmigen, aber völlig leblos wirkenden Mann, dessen Bart und Augenbrauen und unter der Wollmütze grau hervorstehendes Haar von kleinen Eiszapfen behängt waren. Er trug zwar Wandersachen, doch für diese Verhältnisse viel zu dünne und zu leichte. So, wie er angezogen war, hätte er in den Sommer gehört. Aber Sommer war halt nicht.

Er hatte eine seitliche Haltung eingenommen, die Knie gegen den Oberkörper hochgezogen. An seinem Rücken klebte ein kleiner Schneehügel. Die Spuren, die er verursacht haben musste, um hier hinaufzugelangen, waren längst verweht. Es sah aus, als sei er aus einem Flugzeug gefallen.

Indem Katharina ihn berührte, fest nach seiner Schulter griff und ihn solcherart auf den Rücken drehte, vernahm sie ein leises Stöhnen, das wie ein verloren geglaubter Fluch zwischen seinen blutig vereisten Lippen ins Freie drang. Und es war wohl wirklich ein Fluch, ein knittriges „Verdammt!“. Das war dann aber auch schon das einzige Lebenszeichen, das der Mann von sich zu geben verstand. Seine Augen waren hinter den Eiszapfen geschlossen, sein massiger Körper in Wanderhose, Sportschuhen und einem dünnen, hellbraunen, zerschlissenen Pullover vollkommen starr.

Katharina kniete sich neben ihn und gab ihm rechts und links eine Ohrfeige. Was aber keinerlei Wirkung zeigte. Also wiederholte sie die Übung, wobei sie diesmal etwas mehr Kraft und Schwung in die beiden Schläge fügte. Kleine Eiszapfen flogen zur Seite. Es sah aus, als schüttle sie einen Weihnachtsbaum, von dem die Dekoration herunterfiel. Aber es half. Der Mann kam zu sich.

„Was?“, fragte er, während er seinen Kopf hob und sein linker Arm aus der Schneegrube wie ein verspätetes Eisenbahnsignal hochkam.

„Stehen Sie auf!“, wies ihn Katharina an.

„Nein!“, antwortete er, als würde in jedem Buchstaben dieses Worts ein einzelner Knochenbruch stecken.

„Wollen Sie hier erfrieren?“, fragte Katharina.

„Genau das will ich.“

„Blödsinn! Hoch mit Ihnen“, befahl sie.

Er weigerte sich noch immer. Und tat so, als würde er sich durch ein Hin- und Herrutschen noch ein Stück tiefer in den Schnee graben wollen.

Katharina aber griff entschieden unter seine Schulter und drückte ihn hoch.

Natürlich war sie nicht imstande, diesen gut hundert Kilogramm schweren Mann in die Aufrechte zu befördern. Aber die Anstrengung und Vehemenz, mit der sie ihn gepackt hatte, zeigte Wirkung. Psychologische Wirkung. Er verstand wohl, dass es keinen Zweck hatte, sich zu wehren. Und dass diese Frau eher sich selbst in Gefahr bringen würde, als ihn einfach hier liegen zu lassen.

So richtete er sich zuerst mit seinem Oberkörper auf. In dieser Haltung wartete er eine Weile, bevor Katharina erneut sein Bemühen einforderte und er schließlich unter einigen Klagen ob der Schmerzen, die er empfand, zurück auf seine zwei Beine fand.

Er mochte um die einsneunzig groß sein. Bullig, massiv, wie man so sagt: ein Bär von einem Mann. Aber ein sichtlich verzweifelter und stark geschwächter Bär. In einem Kinderstück hätte man dazu gesagt: ein vom Unglück verzauberter Bär.

Er stand nur kurz, dann fiel er wieder auf sein Hinterteil.

„Jetzt hören Sie auf, sich leidzutun, und strengen sich an“, sagte Katharina.

„Ich will sterben“, erklärte der Mann in der Tat recht wehleidig.

„Hier oben stirbt keiner“, erwiderte Katharina, so, wie sie es schon einmal gesagt hatte. Doch sie spürte bereits, dass es diesmal eine sehr viel weitreichendere Bedeutung haben würde.

Man kann sagen, sie witterte die Zukunft, die aus dieser Begegnung entstand. Sie ahnte, dass dabei – sowenig ihr das recht sein mochte – mehr herauskommen würde als damals, als ein hundertdreißig Kilo schwerer Buchkäufer Herzprobleme bekam und in der Folge mit einem Hubschrauber hinunter ins Tal gebracht wurde (und zwar nicht ohne das Buch, das er gekauft hatte, einen illustrierten Glocknerführer aus dem Jahre 1915, der angeblich Franz Kafka gehört hatte, zumindest gab es in diesem Buch eine Randzeichnung, die verblüffend genau Kafkas Kritzeleien ähnelte).

„Also los!“, sagte Katharina, reichte dem Mann einen ihrer weißen Skistecken und griff ihm seitlich unter den Arm, sodass sie mit ihrer rechten Schulter unter seine Achsel geriet, ihn von unten her stützte. Und auch von hinten, indem sie ihre Hand gegen seinen Rückenmuskel drückte. So begannen die beiden loszugehen, sie mit ihren Schneeschuhen, er mit seinen sommerlichen Turnschuhen, was natürlich dazu führte, dass er, der so viel Schwerere, mit jedem Schritt tief in den Schnee einsank, während Katharina eher über die weiche Fläche glitt.

„Nehmen Sie meine Schneeschuhe“, sagte sie, „dann kommen wir rascher vorwärts.“

Er nickte und fiel nach hinten. So saß er erneut auf seinem Hinterteil, während sie ihm ihre Schneeschuhe anschnallte.

„Üblicherweise“, erklärte Katharina, „binde ich einem erwachsenen Mann nicht die Schuhe, auch nicht die Schneeschuhe.“

„Dann hätten Sie mich nicht retten dürfen“, antwortete er leise.

„Oha“, meinte Katharina, „Sie können ja richtig sprechen.“

Er nickte, aber es war ein trostloses Nicken. Als wollte er die Bedeutung der Sprache gleich wieder herunterspielen.

„Na, kommen Sie, gehen wir weiter“, gab Katharina das Tempo vor.

Der Mann erhob sich nun ohne ihre Hilfe, schwerfällig, aber doch bereits in einer Weise, die eine gewisse körperliche Kraft vermuten ließ. Die verriet, dass dieser Mann, in Momenten, da er nicht gerade bewusstlos auf einem Berg herumlag, durchaus den einen oder anderen Gegenstand zu heben verstand. Und dass etwa eine Ohrfeige oder ein Kinnhaken aus seinen Armen beträchtliche Wirkung besaß. Es sah nicht so aus, als habe er die vergangenen Jahrzehnte fast nur auf einem Schreibtischsessel zugebracht.

Wie alt mochte er überhaupt sein? So um die fünfzig etwa. Oder besser gesagt, gut fünfzig.

„Wie heißen Sie denn?“, fragte Katharina.

„Und Sie?“, fragte er zurück.

Sie nannte ihren Namen.

Er aber erklärte, er wisse nicht, wie er heiße. Er könne sich an seinen Namen einfach nicht erinnern.

„Hören Sie auf, mir eine Amnesie vorzuspielen.“

„Es ist aber so“, sagte er, „ich weiß es wirklich nicht.“

„Und auch nicht, wie Sie hier hochgekommen sind?“

„Zu Fuß, nehme ich an.“

„Ach nein“, meinte Katharina. Es war ein hübscher Spott in ihrem Gesicht. Als würde ihr Mund näher an ihre Augen heranrücken und Mund und Augen sich gegenseitig ihren Zweifel bestätigen. Ein Ausdruck, an den sich der Mann aus dem Schnee noch würde gewöhnen müssen.

„Mehr weiß ich auch nicht“, sagte er.

„Aber schon, dass Sie hier sterben wollten.“

„Ja, das stimmt. Könnte aber nicht sagen, warum und wieso. Doch einen guten Grund wird es wohl geben.“

„Ja, man stelle sich einen schlechten Grund für so was vor“, sagte Katharina, meinte dann aber, dass man das Philosophieren auf später verschieben solle. Denn in der Tat kündigte sich ein Wetterwechsel an. In der Ferne drohte eine graue Wand, die sich beeilte, das Blau des Himmels auch über jenem Hang abzudecken, an dem Katharina und der Mann standen.

Die beiden nahmen ihren Weg wieder auf, der Mann nun mit Schneeschuhen nicht mehr ganz so tief einsinkend, Katharina jetzt mit bloßen Bergschuhen geschickt einen Weg vorgebend, den sie, wie man so sagt, auswendig kannte. Was auch gut war, da sich die Lichtverhältnisse tatsächlich rasch zur Dunkelheit hin verkehrten. Dazu wehte es jede Menge Schnee heran, nicht mehr in der kreisrunden Art vom Boden gewehter Flocken, sondern mit großer Heftigkeit aus dem Himmel herbeigetragen. Sodass Katharina sich die Mütze ihres Anoraks überziehen musste, etwas, was sie sehr ungerne tat: ihren Kopf einsperren. Ein Gefühl, das freilich nicht für ihr omnipräsentes Haarband galt, das sie als einen Teil ihres Kopfes begriff.

Jetzt aber war der Sturm einfach zu heftig, um sich alleine mittels eines Haarbandes zu schützen. Der Mann an ihrer Seite hingegen war noch immer viel zu leicht angezogen. Bär hin oder her, ihm war schließlich kein Fell gewachsen.

„Beeilen wir uns!“, sagte sie und erhöhte die Geschwindigkeit des Marsches durch den Nacht gewordenen, schneegepeitschten Nachmittag.

Sie schafften es. Es mochten noch einige Eiszapfen am Bart des Mannes dazugekommen sein, doch von Katharina geführt und angetrieben, fiel er – der sich weder an seinen Namen noch an den Grund für sein Sterbenwollen auf diesem Berg erinnern konnte – in das rettende Innere des Bücherbergs. In einen Raum, in dem die Wärme nicht nur vom Anblick der dicht gedrängten Bücher in den Regalen stammte, sondern auch von einer funktionierenden Heizung. Alsbald noch verstärkt durch einen verglasten Kamin, dessen aufgeschichtete Holzscheite Katharina sogleich in Brand setzte. Mit einer Bewegung, die etwas von einem Fingerschnippen besaß.

Nein, sie war keine Magierin, natürlich nicht, aber manche ihrer Bewegungen besaßen nun mal die Aura verhexter Handlungen.

Und das galt auch für die Art und Weise, wie sie jetzt den Mann ganz leicht berührte – irgendwo an der Schulter, als würde sie eine Akupunkturnadel ansetzen: kleiner Punkt, große Wirkung – und der Mann dadurch nach hinten kippte, hinein in einen tiefen Ledersessel, der von einem Halbkreis aufgereihter Bücherstapel umgeben war. Und so landete er wie ein glücklich erlegtes Wild in diesem alten, geäderten roten Sessel (so ein Rot wie auf den Lippen einer hundertjährigen Baronin, die es in ihrem Leben auf ein paar Zigaretten zu viel gebracht hatte, aber halt nicht umzubringen war).

Katharina kniete sich vor den Mann hin und zog ihm die leichten Sportschuhe herunter, dann die viel zu dünnen Socken. Darunter waren seine Füße. Mächtige Füße, wie ja der ganze Mann etwas Mächtiges und Schrankartiges an sich hatte. Aber bei aller Macht wiesen diese Füße Erfrierungen ersten Grades auf. Katharina konnte es sehen, die graugelbe Verfärbung, wie altes Papier, zudem kleine Bläschen an den Zehen. Und sie konnte es spüren, als sie jetzt die Haut berührte, so hart und kalt, als streiche sie über eine Oberfläche aus Metall. Als wär’s eine Prothese.

„Okay“, sagte sie, „raus aus den Klamotten. Ich bringe Ihnen Decken und mache Ihnen ein Wasserbad für die Füße. Und ich rufe die Bergrettung.“

„Nein!“ Er schrie es richtiggehend.

„Was denn, kein Wasserbad?“

„Keine Bergrettung. Bitte!“

„Na gut, darüber reden wir nachher. Jetzt ziehen Sie mal das kalte, nasse Zeug aus. Ganz!“

Sie ließ ihn alleine und bewegte sich in einen Raum, der hinter dem Buchladen lag. Ihr Privatbereich, in welchem alles sich in einem einzigen Zimmer zusammendrängte: eine kleine Küche, der Wohnzimmerbereich, ein Bett für eine Frau, ein Kasten für eine Frau, ein Schreibtisch für eine Frau, seitlich ein kleines Lager für Bücher, die vorne im Laden keinen Platz gefunden hatten. Zudem eine sehr schmale Nasszelle. Nur die Toilette lag außerhalb, ein Wasser sparendes Trennklo auf der Rückseite des Bücherbergs.

Katharina zog eine Rettungsdecke aus dem Notfallkoffer – ein goldenes Ding, das aussah wie eine zu einer ultradünnen Fläche gepresste Barockkirche – und holte eine kleine Plastikwanne aus dem Schrank, die sie mit warmem, aber nicht heißem Wasser füllte.

Damit kehrte sie zu dem Mann zurück, der nun tatsächlich völlig nackt vor dem alten, roten Ledersessel stand. Ein frierender, blasser Bär, dem das Schmelzwasser aus seinem Bart und dem dunklen, von grauen Strähnen durchzogenen, vollen Haar heruntertropfte.

Sie betrachtete ihn ganz kurz, weder interessiert noch abschätzig, sondern den gut fünfzigjährigen Körper einfach zur Kenntnis nehmend: die athletische Brust, wie sie da in einen nicht ganz so athletischen, viel gutes Essen und viel guten Alkohol verratenden Bauch überging. Keine Kugel, wie bei dünnen Menschen, sondern ein von unterhalb des Brustkorbs bis tief in den Bereich des Beckens führender massiver Vorbau. In dessen Schatten ein mittelgroßes Geschlecht hing. Dazu breite Oberschenkel, Oberschenkel eines Gewichthebers. Auch sehr breite Schultern, auf die gut und gern ein Medizinball gepasst hätte. Allerdings insgesamt sehr viel weniger Behaarung, als man bei einem Mann mit einem solchen Bart und einem solchen Haupthaar hätte vermuten dürfen. Man sah diesem Körper auch seine Wendigkeit an, dieses Vermögen, sich selbst mit hundert Kilo etwa aus einem Startblock zu katapultieren.

Katharina faltete die Decke auseinander und legte sie mit Schwung um die Schulter des Mannes, überlappte die Enden auf der Vorderseite und ließ den Geretteten – erneut jenen vitalen Punkt berührend – zurück in den Sessel fallen. Sodann breitete sie über die Golddecke auch noch eine dicke Wolldecke. Und wies ihr Gegenüber an: „Jetzt stecken Sie Ihre Hände in die eigenen Achselhöhlen, das ist die beste Art sich zu wärmen.“

Was natürlich mit den Füßen nicht ging, weshalb Katharina die Wanne mit dem warmen Wasser herbeischob und die Füße – als hebe sie zwei Brocken von Marmor an – ins Wasser tauchte.

„Ich spüre nichts“, sagte der Mann nicht ohne Schrecken.

„Das wird sich bald ändern.“

Klar, eine wichtige Regel bei Unterkühlung ist, im Freien frierend keinen Schnaps zu sich zu nehmen. Schnaps, der einem zuerst zwar etwas einheizt, dann im Zuge weit gestellter Gefäße aber noch stärkere Einbußen an Wärme bewirkt und den Betreffenden zusätzlich vergessen lässt, in welch prekärer Situation er sich befindet. Aber im Freien war man ja nicht mehr, glücklicherweise, weshalb Katharina nun nach einer Flasche Cognac griff und diesen in zwei Gläser einschenkte. Ein Glas reichte sie dem Mann, eins war für sie selbst.

So tranken sie, Retterin und Geretteter.

„Scheiße, das tut weh“, sagte der Mann.

„Der Cognac?“, fragte Katharina. Dabei machte sie wieder dieses typische Gesicht, bei dem sich ihre Augen und ihr Mund einander näherten und zusammen einen Zweifel zum Ausdruck brachten.

„Nein, die Füße“, erklärte der Mann. „Sie brennen.“

„Ich sagte es doch. Natürlich brennen sie“, meinte Katharina kalt, „weil dank des warmen Wassers wieder das Leben in ihre Füße zurückkehrt. Und das Leben tut halt weh.“

„Ist das Ihre Philosophie?“

„Absolut“, gab die Buchhändlerin in den Bergen zur Antwort. Dabei lächelte sie jedoch in einer Weise, die wohl meinte – nun standen ihr Mund und ihre Augen etwas weiter auseinander als üblich, das Gesicht zog sich also ein Stück in die Länge –, dass nicht alles, was sie sagte, auch ernst zu nehmen sei. Dass manches einfach Spott war. Dass die Welt aber diesen Spott verdiente.

Dann jedoch kehrte Katharina zu der Frage zurück, wieso sie nicht die Bergrettung rufen, zumindest informieren solle, damit die am nächsten Tag kommen und ihn hinunter ins Tal befördern könnte.

„In dem Zustand, in dem Sie sind“, sagte sie, „werde ich es nicht riskieren, Sie alleine hinüber zur Bergstation der Seilbahn zu bringen.“

„Ich will weder zur Bergstation noch ins Tal“, antwortete er mit Schmerzen in der Stimme. Das Leben in seinen Füßen war jetzt mächtig angeregt. Allein gelindert von dem Cognac, den er hinunterschluckte, wozu es nötig gewesen war, eine seiner Hände aus der Wärme der Achselhöhle zu ziehen.

Er erklärte, bleiben zu wollen.

„Ich bin kein Hotel“, sagte Katharina.

„Was sind Sie eigentlich?“, fragte er und sah sich um. „Eine Buchhandlung? Oder träume ich das nur? Auf wie viel Metern sind wir?“

„Auf über eintausendsiebenhundert. Und ja, es ist eine Buchhandlung.“

„Also träume ich.“

„Na, dann hätten wir den gleichen Traum“, meinte Katharina. „Und das ist eher unwahrscheinlich. Außer, einer von uns ist bloß eine Figur im Traum des anderen. Aber das wollen wir doch nicht annehmen, oder? – Also noch einmal, was stellen Sie sich vor? Hierzubleiben?“

„War da draußen nicht eine große Berghütte?“, erinnerte sich der Mann.

„Ja, aber die hat geschlossen, die öffnet erst wieder zu Neujahr.“

Sie erklärte ihm die Umstände an diesem Ort und dass eben Bücherberg und Schutzhütte pausieren würden.

„In der Zwischenzeit halte ich die Stellung“, sagte sie.

„Welchen Tag haben wir eigentlich?“, fragte er.

„Den 28. November.“

„Das wäre somit ein Monat, bis die Schutzhütte wieder in Betrieb geht.“

„Richtig.“

„Lassen Sie mich hierbleiben. Diesen einen Monat.“

„Wieso denn, um Himmels willen? Abgesehen davon, Sie könnten ein Mörder oder Schlimmeres sein.“

Er fragte sie nicht, was denn schlimmer als ein Mörder sei, sondern meinte erneut: „Dann hätten Sie mich nicht retten dürfen.“

„Und das wollen Sie also bestimmen.“

„Ich bitte Sie nur.“

„Ich habe doch gar nicht den nötigen Platz. Das ist ein kleiner Laden mit einer wirklich kleinen Wohnung. Und hinüber in die Schutzhütte kann ich Sie nicht lassen. Wenn das rauskommt … ich würde meine Schwierigkeiten kriegen.“

„Lassen Sie mich doch einfach in diesem Ledersessel bleiben.“

„Das ist ein Sessel, um darin zu lesen.“

„Gut. Ich kann darin auch gerne lesen. Lesen und schlafen.“

„Ach ja! Einen ganzen Monat lang?“

„Wieso nicht? Lesen, schlafen und mich erinnern. Erinnern, warum ich hier hochkam und sterben wollte. – Ich meine, Sie haben mich nicht sterben lassen. Also dann lassen Sie es zumindest zu, dass mir wieder einfällt, was geschehen ist. Sterben oder sich erinnern.“

„Erinnern können Sie sich auch unten im Tal.“

„Nein“, sagte er. „Sonst wäre ich ja nicht hier hochgeklettert.“

„Mit solchen Schuhen sind Sie kaum geklettert“, sagte Katharina, schüttelte den Kopf und meinte: „Gütiger, was mache ich bloß mit Ihnen?“

„Einen Monat“, bat er erneut.

Sie überlegte, dann fragte sie: „Sie sehen mir immerhin aus, als könnten Sie einen Nagel in die Wand schlagen.“

„Wieso sagen Sie das?“

„Es ist einiges im Laden zu tun, bevor im Januar die Saison beginnt. Diverse Umbauarbeiten.“

„Und was, wenn ich zwei linke Hände habe?“, fragte er. „Ich weiß nicht, ob ich ein guter Handwerker bin. Wo ich mich doch nicht einmal an meinen Namen erinnern kann und wieso ich unbedingt sterben wollte.“

„Das sind Automatismen“, erklärte Katharina, „die vergisst man nicht, wie man einen Namen vergisst. Das ist wie Klavierspielen, Französisch sprechen oder wissen, dass mit Kafka ein Schriftsteller gemeint ist und nicht etwa der Name einer Schokoladentorte.“

„Dann sagen wir also, ich bin ein passabler Handwerker, und Sie behalten mich darum hier, damit ich Ihnen einen Nagel in die Wand schlage.“

„Gut“, meinte Katharina, „so kann ich mir einreden, es hätte einen Sinn, Sie aufzunehmen. Sie also weder zum Teufel zu schicken noch die Bergrettung zu verständigen. Oder mich bei der Polizei zu erkundigen, ob man auf der Suche nach einem Mann ist, der so aussieht, wie Sie aussehen.“

„Wie sehe ich denn aus?“, fragte er.

„Seien Sie nicht unverschämt.“

„Okay, verzeihen Sie“, sagte er und betonte noch einmal, sich jetzt ziemlich sicher zu sein, handwerkliche Fähigkeiten zu besitzen. Wie er ja auch wisse, dass Kafka keine Schokoladentorte sei.

Katharina jedoch erklärte: „Schon, aber ohne Namen geht es einfach nicht.“

„Wie meinen Sie das?“

„Mein Gott“, sagte Katharina, „ich muss Sie doch irgendwie ansprechen können. Zumindest mit einem Vornamen.“

„Nun ja, ich …“

„Robert“, sagte Katharina direkt heraus.

„Robert? Wieso ausgerechnet?“

„Ich finde, dass Sie etwas Roberthaftes an sich haben.“

„Und das wäre?“

Sie sagte, das Merkwürdige sei, dass, wenn man den Namen Französisch ausspreche, er eher weich und fragil klinge, auf Deutsch aber etwas ungemein Robustes besitze.

„Sie halten mich für robust?“

„Na ja, ich habe Sie gerade aus dem Eis gezogen, und dafür schauen Sie eigentlich ganz gut aus. – Also, wir bleiben bei Robert.“

Der Mann, der soeben Robert getauft worden war, nickte.

„Was aber nicht bedeutet, dass wir uns duzen werden“, bestimmte Katharina. „Wir bleiben beim Sie. Wir wollen schließlich keine Freunde werden, nicht wahr? Ach, was rede ich. Ich hole Ihnen noch etwas warmes Wasser.“

Und das tat sie dann.

Als sie zurückkam, hatte er die Augen geschlossen. Er schlief. Sie legte ihm die Hand auf die Stirn. Klar, er fieberte. Aus seinem Mund drang ein Geräusch, wie wenn ein Berg atmet. Ein schwer atmender, vom vielen Bergsein erschöpfter großer Stein.

Sie füllte warmes Wasser nach und ließ die Füße noch einige Zeit darin. Währenddessen holte sie – magisch angezogen – ein Buch aus einem der vielen Regale, die die Wände ihres Ladens bedeckten. Ein Buch, das schon sehr lange an dieser Stelle stand und das zu lesen sie sich auf eine rätselhafte Weise gescheut hatte. Ein Buch, das immerhin dem Berg gewidmet war, auf dem man sich befand. Allerdings kein Reisebericht, sondern die autobiografische Erzählung jenes Mannes, dem die touristische Erstbesteigung zu verdanken war.

Das Buch war 1905, wenige Jahre nach dem Tod des Autors, in einer kleinen Auflage in einem Wiener Verlag erschienen und erlitt das Schicksal, gar nicht erst in Vergessenheit geraten zu können, weil es gar nicht erst Bekanntheit erlangte. Dennoch wurde es in den späten 1990er-Jahren von einem Tiroler Literaturwissenschaftler wiederentdeckt und erneut verlegt. In einer wirklich schönen Ausgabe. Mit einem ausführlichen Nachwort des Herausgebers.

Was hatte Katharina so lange davon abgehalten, es zu lesen? Weil sie darin etwas zu erfahren glaubte, was ihr die Freude an diesem Berg, an dieser Gegend nahm? Unsinn! Dann schon eher der Umstand, dass es von einem katholischen Priester geschrieben worden war, einem Mann namens Simon Schindler, der aus Axams bei Innsbruck stammte, zuletzt in der Verwaltung der Erzdiözese Wien tätig gewesen war und 1902 achtunddreißigjährig bei einem Besuch in Mailand starb. Eine gewisse Zeit aber als Seelsorger ebenjene Gemeinde unten im Tal betreut hatte, zu der Katharinas Berg gehörte.

Das Erregendste daran war … nun, sie konnte es nicht ändern, auch wenn es schlimm klang, das Erregendste war der Umstand, dass Simon Schindler recht jung verstorben war. Noch dazu in Mailand. Was hatte ein österreichischer Priester in Mailand zu suchen gehabt? Urlaub wohl kaum.

Sie hatte also weder die Erzählung noch das Nachwort gelesen. Doch nun schien es ihr an der Zeit. Jetzt, wo sie diesen Fremden knapp unterhalb des Gipfels gefunden hatte.

Der Einband des Buches war in einem durchgehenden Rostrot gehalten, während der Titel wie der Name des Autors gleich der Struktur eines Gebirgsmassivs aus der Oberfläche hervorstachen.

Selbstporträt eines lächelnden Mannes auf der Spitze des Berges.

So einen Titel musste man erst einmal auf der Vorderseite eines Schutzumschlags unterbringen, ohne den Eindruck einer überfüllten Seilbahngondel zu vermitteln.

Katharina hatte das schon lange nicht mehr getan … Nein, das hatte sie noch nie getan, sich zusammen mit einer zweiten Person ein Buch gegenseitig vorzulesen. Etwas, was durchaus wieder in Mode gekommen war, jetzt, da so viele Methoden der Liebesbekundung an ihr ästhetisches Ende gelangt waren und manche Paare sich wieder an alten Formen orientierten.

Natürlich hatte Katharina nicht vor, sich in Liebesbekundungen zu diesem aus dem Himmel gefallenen Mann zu ergehen, aber irgendwie würde man die gemeinsame Zeit überstehen müssen. Und den Kerl immer nur einen Nagel in die Wand schlagen und Regale montieren zu lassen, wäre dann doch zu wenig gewesen.

Mal sehen, sagte sie sich, wie der Mann, dem sie den Namen Robert gegeben hatte, sich als Vorleser und vor allem als Zuhörer eignete. Mal sehen.

Katharina legte das Buch auf die Mitte ihrer kleinen Verkaufstheke, schenkte sich ein weiteres Glas Cognac ein und nahm einen gediegenen Schluck. Sodann holte sie die Füße des schlafenden und fiebernden Mannes aus dem warmen Wasser, trocknete sie vorsichtig ab und legte Bandagen um die betroffenen Hautpartien. Robert rührte sich nicht.

Katharina trank ihr Glas aus und begab sich nach hinten in ihren Wohnbereich.

Robert blieb zurück wie ein leibhaftig gewordenes dickes Buch unter anderen dicken und nicht ganz so dicken Büchern.

Und alle waren sie auf irgendeine Art fiebrig.

Heinrich Steinfest

Über Heinrich Steinfest

Biografie

Heinrich Steinfest wurde 1961 geboren. Albury, Wien, Stuttgart – das sind die Lebensstationen des erklärten Nesthockers und preisgekrönten Autors, welcher den einarmigen Detektiv Cheng erfand. Er wurde mehrfach mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, erhielt 2009 den Stuttgarter Krimipreis und...

Pressestimmen
alues_buecherparadies

„Kennt ihr schon Katharinas Bücherberg? Nein? Dann wird es wohl höchste Zeit!“

frischvomstapel.com

„Fesselnde Story in einem ganz und gar ungewöhnlichen Plot, spannend, fantasiereich und mit überraschenden Wendungen – eben ein echter Steinfest.“

Freie Presse

„Er dramatisiert die Handlung, erzeugt Gänsehaut. Man kann sich dem Geschehen nicht entziehen. Er zeigt sich erneut als Meister der Verknüpfung von Realem und Fantastischem.“

Ruhr Nachrichten

„Ein typischer Steinfest, in dem man sich in den Bildern, gemalt von der Sprache, verlieren kann.“

Bianco

„Ein raffiniert kombinierte Geschichte, der man schnell erliegt.“

Bibliotheksnachrichten

„Der Spannungsbogen ebbt auf und ab und führt uns zu einem imposanten, aussagekräftigen und traumatischen Schluss. Empfehlenswert!“

Radio freeFM „Freunde reden Tacheles“

„Einer der ganz großen Könner der deutschen Sprache.“

buch-haltung.com

„Wer ein Faible für skurrile Erzähleinfälle hat und Prosa mag, die scharf an der Realität entlangschrammt, den dürfte auch Heinrich Steinfests neues Erzählabenteuer ›Der betrunkene Berg‹ nicht enttäuschen.“

Rheinische Post

„Der Erzählton ist unterhaltsam, aber trotzdem unaufgeregt-tiefgründig, oft ironisch. Man erliegt schnell dieser raffiniert komponierten Geschichte und ihren drei Hauptprotagonisten in der wahrscheinlich höchstgelegenen Buchhandlung Europas.“

Alpe Adria Magazin

„Ein raffinierter Roman.“

Deutschlandfunk „Büchermarkt“

„Diese Geschichte schwingt in beschwipster Fabulierlust und gibt sich einem cognacschwenkenden Einfallsreichtum hin. So werden erlebnishungrige Schneewanderer und Norwegerpulli tragende Stubenhocker gleichsam in einen prickelnd-schwankenden Höhenrausch versetzt, der einen am Ende auf einen Berggipfel oder mindestens in die nächste, gut sortierte Buchhandlung lockt.“

OÖ Nachrichten

„Steinfests so bizarrer wie köstlicher Humor tropft aus jeder Felsritze.“

pergamentfalter

„Ein grandioser Roman, der mich in seiner Intelligenz und Tiefsinnigkeit sehr berührt hat.“

Talschafft Gemeindeblatt

„Steinfest erzählt lustvoll, klug, mitreißend. Er zelebriert das skurrile, geheimnisvolle im Alltäglichen. Sprachlich wieder ein Wunderwerk!“

Stadtblatt Osnabrück

„Sprachlich herrscht in dem Roman durch viele elliptische Sätze ein lockerer Plauderton, der reizvoll mit dem schicksalsschweren Inhalt kontrastiert.“

Aachener Nachrichten

„Heinrich Steinfest hat einen spannenden Roman über Schicksal, Schuld und die Irrwege des Lebens geschrieben – poetisch und mit Ironie.“

hessenschau ARD-Bühne (Frankfurter Buchmesse)

„Heinrich Steinfest ist mit diesem Roman in meinen Augen ein echtes Meisterwerk gelungen. Ein Gipfel seines Schaffens, der in mir als Literaturkritiker, wenn man so möchte, einen Höhenrausch auslöst.“

Wochenend Journal

„Heinrich Steinfest (…) aber macht aus dieser Konstellation kein surrealistisches Drama, sondern ein schräges, hintersinniges, gelegentlich albernes, manchmal fast märchenhaftes Kammerspiel.“

Badische Neueste Nachrichten

„Eine kunstvolle Mischung aus Phantastischem und Realität, Ironie und genauer Beobachtung.“

SWR2 „Am Samstagnachmittag“

„Wie Heinrich Steinfest all das mit überbordender Lust am Fabulieren aus einer eigentlich überschaubaren Romankonstellation hervorzaubert, bereitet große Lesefreude. Der Mann kann es halt.“

literaturoutdoors.com

„Heinrich Steinfest (...) gelingt mit seinem neuen Roman eine sprachlich fulminante wie inhaltlich abgründige Hochschaubahn von Leben, Leidenschaft, Verhängnis.“

Westfalenpost

„Die kongeniale Kombination von Sprachwitz und unbändiger Erzählkunst von Heinrich Steinfest machen das Buch zu einem wahren Bergkristall, der nicht nur in keiner Buchhandlung, ob auf dem Berg oder im Tal, fehlen darf, sondern auch in jeder privaten Bibliothek seinen festen Platz haben sollte.“

Buchkultur Spezial

„Es wäre kein Steinfest-Titel, wenn nicht viele Verästelungen im Erzählen ihren Glanz entfalten würden.“

Berliner Zeitung

„Und so bleibt ›Der betrunkene Berg‹, der im Verlauf durchaus auch feine Ironie und subtile Referenzen zu bieten hat, bis zum Schluss von packender Leichtigkeit.“

Kleine Zeitung

„Voll schräger Bilder, magischer Momente und bizarrem Witz.“

MDR Kultur „Am Nachmittag“

„Heinrich Steinfest versteht seine reichhaltigen Zutaten zu dosieren und erfreut die Leserin mit einem zart angedeuteten glücklichen Ausgang.“

Die Presse am Sonntag

„Heinrich Steinfest hat mit ›Der betrunkene Berg‹ einen bildmächtigen Roman über Schuld und Sühne geschrieben, zu dem man immer wieder zurückkehrt.“

Kurier

„Die sogenannte Wirklichkeit mit Schuld und Scheitern ist im Buch immer gegenwärtig.“

magazin-koellefornia.com

„Ein intelligenter Roman, der einem zum Denken anregt. Wunderbar geschrieben (…). Hier findet sprachlich viel mehr statt, als der Leser vermutet. Literatur der Champions League.“

NDR Kultur „Neue Bücher“

„Heinrich Steinfest ist ein Roman mit raffiniert gesetzten Widerhaken geglückt, der klüger macht, als man vor der Lektüre war.“

WDR 5 „Scala“

„Ein wildes, smartes, höchst unterhaltsames Buch.“

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