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Denkanstöße 2019

Denkanstöße 2019

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Denkanstöße 2019 — Inhalt

Denkanstöße 2019 – das sind wichtige Erfahrungen, historische Hintergründe, bedeutende Randnotizen und erhellende Erkenntnisse eines Jahres, die schon heute unser Bewusstsein prägen. Rolf Dobelli verrät überraschende Wege zum Glück, Joachim Käppner erklärt, warum 1918 die Chance zum Frieden in Europa vertan wurde, Ronen Steinke erinnert an eine Freundschaft, die Religions- und Kulturgrenzen überwindet, Dirk von Gehlen entwirft ein Plädoyer auf den Pragmatismus und Miriam Meckel reflektiert, welche Folgen ein technologisch „optimiertes“ Gehirn für unsere Gesellschaft hat.

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 04.09.2018
Herausgegeben von: Isabella Nelte
224 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97897-2
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Leseprobe zu „Denkanstöße 2019“

Vorwort

Wo viel gezweifelt, umgeworfen und erneuert wird, erklingt bisweilen auch der Ruf nach einer starken Hand, die endlich Ordnung schaffen möge. Zu komplex erscheint die Gegenwart, von der Zukunft ganz zu schweigen.
Somit könnte man frei nach Heraklit über den Geist unserer Zeit urteilen: Nichts ist so beständig wie die Beschwerde über den Wandel. Den Neugierigen und Mutigen unter uns sollte diese Verzagtheit Ansporn sein, etwas entgegenzusetzen, Neues zu erforschen und Argumente fürs Selberdenken zu sammeln. Jene Autorinnen und Autoren zu lesen, die [...]

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Vorwort

Wo viel gezweifelt, umgeworfen und erneuert wird, erklingt bisweilen auch der Ruf nach einer starken Hand, die endlich Ordnung schaffen möge. Zu komplex erscheint die Gegenwart, von der Zukunft ganz zu schweigen.
Somit könnte man frei nach Heraklit über den Geist unserer Zeit urteilen: Nichts ist so beständig wie die Beschwerde über den Wandel. Den Neugierigen und Mutigen unter uns sollte diese Verzagtheit Ansporn sein, etwas entgegenzusetzen, Neues zu erforschen und Argumente fürs Selberdenken zu sammeln. Jene Autorinnen und Autoren zu lesen, die unverdrossen an gesellschaftlichen, philosophischen und wissenschaftlichen Denkanstößen arbeiten, um unsere Gegenwart zu einem streitbaren und lebenswerten Ort zu machen.
In „Die Kunst des guten Lebens“ beweist Rolf Dobelli, dass wir die Lösungen für unsere Probleme oft bereits in uns tragen. Dirk von Gehlen spürt dem Geheimnis wahrer Gelassenheit nach und breitet herrlich pragmatisch nichts Geringeres als die Zukunft vor uns aus. Jeanne Rubner und Hirnforscher Peter Falkai erstellen zur besseren Orientierung bei der Sinnsuche eine neurologische Landkarte der Gefühle, Miriam Meckel testet die technologischen Zukunftsvisionen der digitalen Welt gleich an sich selbst und formuliert als entschiedenes Fazit „Mein Kopf gehört mir“, und Joachim Käppner und Ronen Steinke zeigen in ihren wichtigen Beiträgen, wie aufschlussreich historisches Wissen für Gegenwart und Zukunft ist.
Inspirierend, visionär und unterhaltsam bietet die vorliegende Anthologie intellektuellen Proviant, mit dem sich die Weiten des Denkens hervorragend durchmessen lassen.



ERFAHRUNGEN
Aus Religion und Zeitgeschichte


Joachim Käppner
1918 – Aufstand für die Freiheit.
Die Revolution der Besonnenen

Die deutsche Revolution lag kaum ein Jahr zurück, da schrieb ihr Kurt Tucholsky 1919 schon eine Grabrede:
Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen,
behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein (…)
Wir dachten schon: Jetzt gilts den Offizieren!
Wir dachten schon: Hier wird nun ernst gemacht.
Wir dachten schon: Man wird sich nicht genieren,
… das Feuer brennt einmal … es ist entfacht …
Wir dachten schon: Nun kommt der Eisenbesen …
Doch weicht der Deutsche sich die Hosen ein.
Behüt dich Gott, es wär zu schön gewesen,
behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein!

Behüt dich Gott: Tucholskys Text aus der Weltbühne rührt noch heute an, ein Jahrhundert später. Eine tiefe Trauer spricht daraus, Trauer um eine verlorene Möglichkeit, um eine einmalige, verpasste Chance. Dabei hatte die Revolution zu diesem Zeitpunkt eigentlich Gewaltiges erreicht: den Sturz des Kaiserreichs und seiner gestrigen Ordnung, eine Nationalversammlung, welche die erste deutsche Demokratie aus der Taufe hob; ein modernes Wahlrecht, die fortschrittlichste Verfassung und die tiefgreifendsten Sozialgesetze, die es in Deutschland je gab. Und doch. Der Schriftsteller spürte mit wachem Geist, wie labil diese neue Demokratie sein würde, wie mächtig die alten Gewalten noch waren. Wir dachten schon, es galt den Offizieren? Aber sie waren immer noch da, ebenso wie die Juristen und Verwaltungsbeamten des alten Obrigkeitsstaates, die Industrieführer und rechten Zeitungszaren und die vielen anderen, die der jungen Republik von Beginn an nach dem Leben trachteten. Nur wenige Jahre später, 1933, war die deutsche Freiheit tot.
„Was auf Weimar folgte, war so schrecklich, daß wir das Scheitern der ersten Republik zu den großen Katastrophen der Weltgeschichte rechnen müssen“, schrieb der Berliner Historiker Heinrich August Winkler 1991 in seinem glänzenden Buch Weimar 1918 – 1933. Geschichte der ersten deutschen Demokratie, und wer sich mit diesem Scheitern befasse, leiste „damit notwendigerweise immer auch Trauerarbeit“. Die Revolution von 1918, die nach Weimar führte, blieb unvollendet, widersprüchlich, zwiespältig. Sie fegte das wilhelminische Kaiserreich beiseite, ließ seine Institutionen aber bestehen; sie stützte sich in ihren Anfängen auf Hunderttausende bewaffnete Soldaten und fand schon zwei Monate später kaum noch Freiwillige, welche die Regierung bewachen mochten; sie begann mit der Verheißung einer neuen Ära und Ordnung und endete mit den Massakern, verübt von rechtsradikalen Freikorps, in einem jahrelangen, zähen, immer wieder aufflackernden Bürgerkrieg.
Der Anfang der deutschen Republik liegt im Schatten ihres Untergangs. Inkonsequenz, Zögern und Schwäche scheinen für viele das Kennzeichen der Revolution wie der aus ihr hervorgegangenen Demokratie zu sein; und so hat diese Revolution vergleichsweise wenig Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen, außer Momentaufnahmen wie der Ausrufung der deutschen Republik durch den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann am 9. November 1918 und das grässliche Ende der linken Revolutionäre Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wenige Wochen später.
In anderen demokratischen Staaten wäre der Sturz der alten Throne der Stoff, aus dem die Mythen der eigenen Gründungsgeschichte gewebt werden: Männer und Frauen, die sich der Ungerechtigkeit entgegenstellen, ihr Leben riskieren, um eine bessere Welt zu schaffen. Der Sturm auf die Bastille und die Französische Revolution 1789 sind ein Beispiel dafür, so wie der Unabhängigkeitskrieg der USA 1775 bis 1783, der Aufstand Simon Bolivars gegen die spanischen Kolonialherren in Südamerika ab 1810; der Sieg der Nordstaaten gegen die Sklavenhalter im amerikanischen Bürgerkrieg 1861 bis 1865. In der Überlieferung leben diese Geschehnisse fort, Denkmäler erinnern an sie; und selbst wer sich für Details der Geschichte wenig interessiert, kann mit den Namen der Helden von damals etwas anfangen und versteht, wofür sie standen und was sie mit der eigenen Gegenwart verbindet.
Aber es gibt keine vergleichbare Erzählung über den erstaunlichen Triumph der ersten Novembertage 1918, als die Freiheit plötzlich zu siegen schien in Deutschland. Bestenfalls erzeugt der Name des linken Sozialdemokraten und Kriegsgegners Hugo Haase, eine der ehrenhaftesten Gestalten des Umsturzes vom November 1918, noch ein fernes Echo. Kaum jemand erinnert sich noch an Richard Müller, der 1918 die Galionsfigur der revolutionären Industriearbeiter war; als 2008 eine erste Biografie, von Ralf Hoffrogge, über Richard Müller erschien, diesen „Sisyphos der Revolution“, schrieb der Extremismusforscher Wolfgang Wippermann voll Grimm im Vorwort: „Was ist das für ein Volk, das seine Revolutionäre nicht kennt!“
Eigentlich ist die deutsche Geschichte an Freiheitsbewegungen nicht arm: Da sind die aufständischen Bauern 1525, die Kämpfe der Städte gegen feudale Mächte, die Erhebungen gegen Napoleon in den Freiheitskriegen, die Göttinger Sieben als Gegner erstickender Repression nach 1815; da ist der Hessische Landbote von 1834 mit seiner berühmten Parole „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ Und da ist natürlich die große Revolution von 1848 mit dem Rufen nach Einheit und Freiheit. Und als ihre letzte Bastion, die Festung Rastatt in Baden, gefallen war und ihre Kämpfer von Preußens Exekutionskommandos füsiliert oder auf der Flucht waren, da dichtete Ludwig Pfau das Badische Wiegenlied:
Schlaf, mein Kind, schlaf leis,
dort draußen geht der Preuß!
Der Preuß hat eine blutige Hand,
die streckt er übers badische Land,
und alle müssen wir stille sein,
so wie dein Vater unterm Stein.

Schlaf, mein Kind, schlaf leis,
dort draußen geht der Preuß!
Gott aber weiß, wie lang er geht,
bis dass die Freiheit aufersteht,
und wo dein Vater liegt, mein Schatz,
da hat noch mancher Preuße Platz!

Von da an freilich beginnt eine Entwicklung, die oft als der deutsche Sonderweg bezeichnet wird: Der Vater, der da unterm Stein liegt, Opfer preußischer Kugeln, hat im Zweifel für die nationale Einheit in Freiheit gekämpft. Doch die Freiheit erstand leider nicht mehr auf, und die Einheit der deutschen Lande war von nun an ein obrigkeitsstaatliches Projekt, das sich mit der Reichsgründung von 1871 vollzog. Die Revolution von 1918 war die historische Chance, diesen Webfehler des Deutschen Reiches zu korrigieren. Einmal, aber nur dieses eine Mal und in einem sich schnell schließenden Zeitfenster weniger Wochen, bot sich die Gelegenheit, die Geschichte zu wenden und zu vollenden, was die Barrikadenkämpfer von 1848 nicht vollbracht hatten: den Sturz des Obrigkeitsstaates, des Militarismus, des eifernden Nationalismus, die Errichtung der deutschen Demokratie. Sie wurde nicht stark genug, um nicht auch zu scheitern, so wie alle Versuche zuvor, die deutsche Freiheit zu erkämpfen. Deswegen sind die deutschen Freiheitsbewegungen noch heute ein Stiefkind der Geschichtswissenschaft und Publizistik, auch wenn sich das langsam ändert.
Die Hoffnungen und Möglichkeiten der deutschen Revolution 1918/19 sind Thema dieses Buchs, und damit naturgemäß auch die Gründe, warum die Hoffnungen enttäuscht und die Möglichkeiten verpasst wurden, eine stärkere Republik zu schaffen als jene von Weimar. Im Mittelpunkt stehen die entscheidenden Wochen zwischen dem 9. November 1918 und den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919, diesem Scheinsieg der Demokratie, es endet mit dem Untergang der zweiten Münchner Räterepublik im Mai 1919, dem utopischsten Experiment dieser Revolution. Was danach kommt, ist keine Revolution mehr, sondern ein langer, sich noch über Jahre ziehender Bürgerkrieg.
Es ist dies, vor allem, ein Buch über Soldaten – Soldaten, die sich für die Freiheit erheben, ihren Offizieren die Degen wegreißen und Schluss machen wollen mit der Herrschaft der Generäle. Es will daher versuchen, dem Leser diese Männer, ihre Lebenswege, ihre Motive und ihr Handeln, intensiver vor Augen zu führen, als das bisher in einer Gesamtdarstellung der Fall war. Und über ihre Gegenspieler, eben die hohen Offiziere, die Oberste Heeresleitung und mehr und mehr auch die revolutionäre Regierung der Volksbeauftragten selbst. Dominiert von der SPD, die damals MSPD hieß, verbündete sich diese von Friedrich Ebert geführte Regierung ausgerechnet mit dem alten Militär. Die Radikalisierung der Revolution bis zu den „Weihnachtskämpfen“ um das Berliner Stadtschloss 1918 ist vor allem eine Folge des Bündnisses der MSPD mit den Generälen, ihren Erzfeinden von gestern, das aus Angst vor den Linksradikalen geschmiedet wurde; doch war diese Angst größer als die tatsächliche Bedrohung.
Das Buch versteht sich in aller Bescheidenheit als Beitrag zur Ehrenrettung der Revolutionäre und will diese daher genauer in Augenschein nehmen, etwa die „Volksmarinedivision“, die zum Schutz der Regierung gegründet wurde und auf die diese Regierung dann am Heiligabend mit schwerer Artillerie schießen ließ. Einer ihrer Unterhändler brachte seine Verwirrung darüber auf den Punkt, als er Regierungschef Friedrich Ebert, den Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten, schlicht fragte: „Warum sind wir betrogen?“
Diese Revolutionäre waren überwiegend die eigenen Leute der Sozialdemokratie, sie hatten „Einigkeit“ gefordert und standen auf dem Boden des Regierungsbündnisses aus MSPD und deren linkerer Abspaltung, den Unabhängigen. Erst als das Bündnis kurz nach Weihnachten 1918 zerbricht an der Gretchenfrage dieser Revolution – wie hältst Du’s mit dem Militär? –, beginnt eine Spirale der Radikalisierung. Und die Gräuel, die sich fortan auf deutschen Straßen abspielen, fügen sich ein in jene Geschichten eines beginnenden Zeitalters überbordender, exzessiver Gewalt in Europa als Mittel der innenpolitischen Auseinandersetzung.
Sehr lange Zeit war die deutsche Revolution ein ungeliebtes Stiefkind der Geschichtsschreibung, teilweise ist sie es bis heute. Fast ein halbes Jahrhundert später schrieb der Hamburger Historiker Fritz Fischer, der in seinem so berühmten, viel diskutierten Buch Griff nach der Weltmacht 1961 die massive Mitschuld der deutschen Führung an der Entfesselung des Ersten Weltkriegs nachwies: „Kein anderes Ereignis deutscher Geschichte wurde bis heute so wenig beachtet wie die November-Revolution von 1918/19 – obgleich der Zusammenbruch der Monarchie und die Entstehung einer bürgerlichen Republik ohne Zweifel zu den entscheidenden und prägenden Ereignissen deutscher Vergangenheit zählen.“
Die Sozialdemokraten unter ihrer einflussreichsten Persönlichkeit, Friedrich Ebert als Vorsitzendem des Rates der Volksbeauftragten, der Revolutionsregierung, und die Generäle sind die wichtigsten Handelnden in dieser Revolution. Am Militär entzündete sich Ende Oktober 1918 der Aufstand der Matrosen und Soldaten, doch als die Revolution vorüberging, da war das Militär immer noch da, in neuer, noch brutalerer Form, und schmiedete bereits die Sargnägel der Republik, der es dienen sollte. Jahrzehnte ist darüber gestritten worden, wie so etwas möglich sein konnte. Viele Jahrgänge von Studenten der Geschichte, auch der Autor dieses Buchs, sind durch den Gebhardt – Handbuch der deutschen Geschichte zur Weimarer Republik zunächst mit einer Deutung konfrontiert worden, die für konservativere Historiker den Rang eines Glaubensbekenntnisses besaß. Ihr zufolge war die Demokratie nach dem Sturz des Kaiserreichs in ihrer „Geburtsstunde von links her, nicht von rechts mit Gewalt in seiner Existenz bedroht“. Angesichts der kommunistischen Bedrohung Deutschlands habe die SPD nach der Revolution vom 9. November 1918 die Qual der Wahl gehabt: „die sozialistische Revolution im Bündnis mit denen auf eine proletarische Diktatur hindrängenden Kräften oder die parlamentarische Republik im Bündnis mit den konservativen Kräften wie dem alten Offizierskorps“. Autor des Gebhardt-Bandes über Weimar war Karl-Dietrich Erdmann, einer der bekanntesten und einflussreichsten Geschichtsprofessoren der frühen Bundesrepublik. Ob, und wenn ja, wie es Erdmann, Jahrgang 1910, mit den Nazis gehalten hatte, ist bis heute umstritten. Nach dem Krieg war er längere Zeit Vorsitzender des Historikerverbandes, CDU-Mitglied und Gegner der Brandt’schen Ostpolitik. Dies ist hier nur erwähnt, weil das von ihm verfasste Handbuch die Konflikte des Kalten Krieges so überdeutlich widerspiegelte. Viele Historiker wie Hagen Schulze folgten dieser Interpretation.
Das Handbuch wurde erst 2001 neu geschrieben – so lange wirkte Erdmanns Interpretation aus der Ära Adenauer noch nach. Widerlegt wurde sie freilich bereits in den sechziger Jahren, etwa von Susanne Miller. Die große Historikerin der deutschen Arbeiterbewegung bemängelte eine „Beschwörung der abschreckenden bolschewistischen Kontrastfigur“, die „von vornherein die Frage nach den realen Chancen eines dritten Weges ausklammert und als gar nicht ernsthaft diskussionswürdig hinstellt“.
In der DDR erfuhr die Novemberrevolution naturgemäß eine andere Bewertung. Hier fand sie durchaus die Aufmerksamkeit der Forschung, es erschienen zahlreiche Werke, die meisten allerdings mit grob verzeichnender Tendenz. Der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht mahnte die eigenen Historiker früh bereits drohend, sich lieber nicht zu sehr für die Arbeiterräte und meuternden Matrosen von damals zu begeistern: „Wer die Novemberrevolution als eine sozialistische charakterisiert, negiert dabei bewußt oder unbewußt die Rolle der Partei.“ Eine schlimmere Sünde war für ostdeutsche Historiker lange Zeit unvorstellbar, aber die Kommunistische Partei oder ihr Vorgänger, der Spartakusbund, waren eben meilenweit davon entfernt gewesen, diese Revolution geführt zu haben. So sind es ausgerechnet die linken Sozialisten, die Gewerkschaftszellen, die Räte der Arbeiter und Soldaten, denen die Geschichtswissenschaft der DDR oftmals mit Misstrauen, Abstand, nachträglichem Rufmord oder plumpen Versuchungen der Vereinnahmung begegnete. In gewisser Weise ergab sich ein trauriges Paradox: Sowohl die bürgerlich-konservative Geschichtsschreibung als auch die orthodox-marxistische betrachteten die Revolution von 1918 als Fremdkörper, als Ereignis ohne Potenzial zu einem dritten Weg.
Diesen hat eine kritische Gegenbewegung in der Bundesrepublik aber schon seit den Sechzigerjahren erforscht. Jüngere Historiker wie Eberhard Kolb machten deutlich, „daß der Novemberumsturz nicht das Werk von ›Berufsrevolutionären‹“ und schon gar nicht Ergebnis „einer Fernsteuerung aus dem bolschewistischen Rußland“ war. Gerade die spontan entstandenen Räte der Arbeiter und Soldaten gerieten ins Spektrum der Forschung – und wurden zeitbedingt gelegentlich verklärt als Beginn einer basisdemokratischen Systemalternative. Die SPD hingegen, welche diese Räte zu zähmen und für ihre Zwecke eines geordneten Übergangs zur Demokratie zu nutzen versucht hatte, wurde immer negativer betrachtet.
Aufs Äußerste zugespitzt hat diese Kritik an der Sozialdemokratie der große deutsche Publizist Sebastian Haffner. Der Verrat (so der ursprüngliche Titel) von 1969 ist das eindrucksvollste der über die Fachwelt hinaus verbreiteten Bücher über die Novemberrevolution und zugleich eine schneidende Abrechnung mit der SPD: „Die deutsche Revolution war eine sozialdemokratische Revolution, die von den sozialdemokratischen Führern niedergeschlagen wurde; ein Vorgang, der in der Weltgeschichte kaum seinesgleichen hat.“ Dieses Buch ist ein cri de cœur, eine Totenklage auf alles, was in Deutschland hätte sein können und niemals sein durfte: Hätte die Ebert-SPD die Massenbewegung genutzt, statt sie zu fürchten, das alte Militär zum Teufel gejagt, statt sich mit ihm zu verbünden, wäre die Republik 1933 wahrscheinlich nicht untergegangen oder wenigstens nicht den Nazis in die Hände gefallen – so der Gedankengang Haffners, und seiner Logik kann man sich schwerlich verschließen.
Anders sieht es mit den Motiven derer aus, die Haffner als die Täter erschienen, allen voran von Ebert, an dem er kein gutes Haar ließ: „Ebert hat der Revolution gegenüber nie ein schlechtes Gewissen gehabt, weil er sie verriet.“ Verrat eben, Verstellung, Doppelspiel, sogar Mord: So sah Haffner die führenden Mehrheitssozialdemokraten von 1918 und 1919. Zehn Jahre später, 1979, hat er im Nachwort der Neuauflage selbstkritisch bemerkt: „Ich würde es heute anders schreiben: ruhiger, skeptischer, kälter. Es ist mir, für meinen heutigen Geschmack, zu viel Entrüstung darin.“ Er hat die handelnden Personen nach den Ergebnissen ihrer Politik beurteilt, und diese Ergebnisse waren eine schwere, zu schwere Bürde für die Weimarer Republik. Er hat aber nicht, wie es Historiker tun, nach den Motiven jenseits der Revolutionsfurcht gefragt, nach den Handlungsspielräumen der „Akteure“, wie man heute sagt, nach ihrem Wissen und ihren Vorstellungen. So spielt der ungeheure äußere Druck, den die Siegermächte auf die deutsche Revolutionsregierung ausübten, in dem Buch kaum eine Rolle; ohne die Last des soeben verlorenen Krieges lassen sich aber viele Entscheidungen der SPD-Führung nicht richtig verstehen.
Inzwischen ist der Blick, auch durch zahlreiche Einzel- und Regionalstudien, sehr viel breiter und unbefangener geworden – und auch gnädiger, was die Rolle der Sozialdemokraten betrifft. Unbestreitbar aber bleibt, dass sie im Bestreben, das Reich 1918/19 nicht in Chaos, Not und Bürgerkrieg entgleiten zu lassen, einen zu hohen Preis zahlten. In der Verwaltung, der Wirtschaftsordnung und vor allem dem Militär führte, so der Freiburger Historiker Ulrich Herbert, „der Primat der Kontinuität dazu, dass selbst scharfe Gegner von Demokratie und Arbeiterschaft in Amt und Würden blieben“. Die Folgen waren die fortgesetzte Spaltung der Arbeiterbewegung und eine schwere Erblast für die junge Republik, deren Erzfeinde weiterhin an Schlüsselpositionen der Macht blieben.
Noch immer ist das Wissen über die deutsche Revolution 1918 – und damit über die einmalige Gelegenheit, der deutschen Geschichte eine völlig andere Wendung zu geben – außerhalb der engeren Fachzunft erstaunlich gering, trotz des neu erwachten Interesses an der Geschichte des Ersten Weltkriegs, das sich am 100. Jahrestag seines Beginns und den kontroversen Debatten um das Werk Die Schlafwandler von Christopher Clark festmachen lässt. In Herfried Münklers Bestseller Der große Krieg spielt die Revolution wie in so vielen älteren Darstellungen nur eine Nebenrolle. Der Hamburger Historiker Axel Schildt spricht von „ihrer nahezu allseitigen posthumen Unbeliebtheit, die sich auf das Ergebnis der Revolution, die Weimarer Republik, umstandslos übertrug und durch deren Ende hinreichend begründet erschien“. Es ist eine Geschichte ohne rechtes Happy End, ohne wirklichen Sieger, aber mit vielen Verlierern, allen voran der deutschen Demokratie.
Nach der Wiedervereinigung 1990 sank das Interesse an der Revolution von 1918 zeitweilig „auf den völligen Nullpunkt“, erst ab 2008 sind zarte Neuansätze zu finden. In den vergangenen Jahren aber hat sich ein gewisses Revival des Interesses an der deutschen Revolution gezeigt. Als jüngere Werke von Gewicht sind unter anderem der kurze Band Die Revolution von 1918/19 zu nennen, verfasst 2009 von dem Hamburger Journalisten und Historiker Volker Ullrich, sowie die großartige, leider an entlegenem Ort erschienene Biografie des linken Sozialdemokraten Hugo Haase von Ernst-Albert Seils von 2016. Mit dem Thema selbst sind aber auch alte politische Kontroversen wieder erwacht. Ein teilweise heftiges Ressentiment gegen die SPD-Führung, besonders gegen Friedrich Ebert, bestimmt erneut nicht wenige, auch durchaus verdienstvolle Werke; umgekehrt sind manche Versuche, Eberts Handeln zu verteidigen, noch immer von längst überwunden geglaubten Vorurteilen gegen seine linken Kontrahenten von damals geprägt. Mitunter verrät all dies noch immer mehr über die Konflikte der Gegenwart als über die Geschichte der Revolution, zumindest aber würde eine weitere Historisierung der Debatte guttun.
Dieses Buch möchte den Versuch dazu wagen. Es will die Geschichte der Revolution vom Anfang her erzählen, unvermeidlich natürlich im Wissen um das Ende des demokratischen Versuchs 1933, aber nicht aus der Perspektive dieses späteren Scheiterns. Es will zeigen, welche Spielräume sich den Handelnden boten und welche Motive sie trieben, und damit auch, ob dieses Scheitern unvermeidlich war. Geschichte ist immer ein offener Prozess, viele Entscheidungen darin sind jedoch niemals mehr umkehrbar. Der Schriftsteller Alfred Döblin hat dies 1931 klarsichtig beschrieben: „Wenn sie 1918 gewußt hätten, was sie unternehmen, würden die Deutschen damals die notwendigen Maßnahmen getroffen haben, ihre Demokratie zu sichern. Alle, die seither Zeit gehabt haben, die Republik zu unterhöhlen, wären gleich damals ein für allemal verhindert worden zu schaden. Stattdessen hat die deutsche Demokratie sich einfach eingerichtet, als gebe es im ganzen Lande niemand mehr, der nicht den Stimmzettel anerkannte. … Die deutsche Demokratie war sogar noch stolz auf ihre Gewaltlosigkeit. Bis heute hat sie die Anwendung von Gewalt ihren Feinden überlassen, die von der gütigen Erlaubnis bestens Gebrauch machen.“
Die Revolution 1918 ist ein Meilenstein in der verkannten und vernachlässigten Geschichte der deutschen Freiheitsbewegungen. In dem leider wenig besuchten Pantheon dieser Freiheitsbewegungen gehört der Revolution von 1918/19 und jenen, die sie wagten, für immer ein besonderer Platz.

Die SPD und das Kaiserreich bis 1918
„Der Dreck des Parlamentsapparats“: Im wilhelminischen Deutschland

Bernhard von Bülow steht am 17. Oktober 1900 zufrieden vor dem Reichskanzlerpalais an der Berliner Wilhelmstraße. Er ist am Ziel seiner Wünsche, Herr über den schlossartigen Regierungssitz, der „allen Außenstehenden als geheimnisvoll unzugängliches Gebäude“ erscheint, wie es einer seiner späteren Spitzenbeamten ausdrückt, Arnold Brecht. Welcher Geist hier nun einzieht, das hat Kaiser Wilhelm II. bei der Ernennung des Fürsten unmissverständlich zum Ausdruck gebracht: „Bülow soll mein Bismarck werden, und wo wie dieser und mein Großvater Deutschland äußerlich zusammenhämmerten, so werden wir im Innern den Dreck des Parlaments- und Parteiapparats wegräumen.“
Gelingen wird ihm das nicht, aber das Kaiserwort wirft ein bezeichnendes Licht auf die innere Dauerkrise des kaiserlichen Deutschland. Mit Bernhard von Bülow zieht ein Mann ein, der Wilhelm II. zuvor geschmeichelt hat: „Er ist so bedeutend, nach Friedrich dem Großen der bedeutendste Hohenzoller.“ Die Tage Friedrichs des Großen sind lange schon vorüber, doch die monarchische Idee hat sich kaum verändert. Das blieb der Fluch dieser deutschen Reichseinigung von 1871: Sie war nicht, wie die amerikanische Unabhängigkeit 1776, gemeinsam mit der Freiheit erkämpft worden. Das hatten die Revolutionäre von 1848 versucht und waren blutig gescheitert. Als 1849 die Verteidiger der badischen Festung Rastatt vor Preußens Armeen kapitulierten und bald vor den Exekutionskommandos standen, starb mit ihnen auch die deutsche Freiheit. Die Einheit war nicht mehr ein Projekt selbstbestimmter Bürger, sondern des Obrigkeitsstaats, des zweiten Kaiserreichs.
Das Reich, das 1871 entstand, entwickelte sich in der Folge zu einem gesellschaftlichen und politischen Doppelwesen. Oder besser, um einen heutigen Ausdruck aus der Zeit des europäischen Einigungsprozesses zu benutzen: Es war ein Staat der zwei Geschwindigkeiten. Das politische System ist rückständig; die Machtstruktur und mit ihr die politische Kultur spiegeln die dramatische Niederlage der deutschen Demokratie von 1848 wider. Die nach außen und im Ausland sichtbarste Gestalt ist der Kaiser, seit 1890 Wilhelm II. von Hohenzollern. Er verkörpert den neuen Nationalstaat wie keine andere Instanz und tut das gern in Uniform, oft politisch irrlichternd und pompös, ein Mann, der dem Amt wenig gewachsen ist und seine Unsicherheit durch markige Reden und leider auch Taten zu überspielen versucht. Der linkssozialistische Historiker Arthur Rosenberg, 1889 in Berlin geboren und mit diesem System aufgewachsen, wird es 1928 schlicht so charakterisieren: „Deutschland wurde unter Wilhelm II. konservativ-agrarisch regiert, und das Bürgertum stand daneben.“
Das Doppelgesicht des kaiserlichen Deutschland wird später die Vorstellung erzeugen, ohne das Unglück des Weltkrieges hätte sich das Kaiserreich vielleicht von selbst Richtung moderner, parlamentarischer Demokratie entwickelt, da es viele ihrer Einrichtungen bereits besitzt: den Reichstag mit freien Wahlen, die Gewerkschaften, das Parteienwesen. Der Historiker Fritz Stern hat auf diese Weise sogar die Möglichkeit eines „deutschen Jahrhunderts“ ausgemalt, und der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler weist zumindest auf die Habenseite hin: „In vieler Hinsicht war Deutschland das modernste Land Europas. Es hatte die bei Weitem größte Industrieproduktion, war in den Zukunftsindustrien führend, hatte ein leistungsfähiges Schul- und Universitätssystem, besaß in den Natur- wie Geisteswissenschaften Weltgeltung und verfügte über ein lebhaftes kulturelles und künstlerisches Leben.“
Das alles ist richtig – aber der Gedanke, das Kaiserreich hätte auf dem Wege der Evolution in die Moderne des Westens finden können, verkennt die Macht der alten Gewalten. Er verkennt ihren Willen, die Bastionen ihrer Macht unter keinen Umständen zu räumen oder auch nur zu öffnen. Und er verkennt das Ausmaß an Destruktivität, Gewaltbereitschaft und antidemokratischem Affekt innerhalb der sogenannten Eliten des wilhelminischen Deutschland. Es gibt zu wenig Austausch zwischen diesen Eliten und nachdrängenden Reformern wie den moderaten Sozialdemokraten, den Katholiken oder den Liberalen. Nach dem Ende der Bismarck’schen Sozialistenverfolgung 1890 folgen nur noch wenige Reformen von Substanz; verbissen hält das System an der Ausgrenzung der Arbeiterschaft, der Gewerkschaften, der Landarbeiter in Ostelbien fest. Selbst moderate Zugeständnisse wie die Aufhebung verschiedener Willkürgesetze gegen die Gewerkschaften werden erst in der Spätphase des Krieges zögernd gelockert oder aufgehoben, unter Weltuntergangsgeschrei der mächtigen Industrieverbände.
Drei Fünftel des Reichsgebiets bedeckt der größte Einzelstaat, Preußen. Dort aber gilt noch bis zum schmählichen Ende der Hohenzollernmonarchie 1918 ein Drei-Klassen-Wahlrecht aus keinem anderen Grund, als die vormodernen und halbfeudalen Zustände zu betonieren – so stellt die zahlenmäßig kleine Schicht der Adeligen und Großgrundbesitzer mehr als ein Viertel der Abgeordneten. Der Kaiser ist zugleich König dieses Preußen als mächtigem Bollwerk des Obrigkeitsstaates, und die ostelbischen Junker und Großgrundbesitzer haben in besonderem Maße sein Ohr.
Unter Wilhelm I. hat Reichskanzler Otto von Bismarck eine enorme Macht gesammelt, bis Wilhelm II. ihn 1890 davonjagt. Der Kanzler wiederum ist mit seinem Apparat aus Staatssekretären de facto die Reichsregierung, und nur der Kaiser, nicht der Reichstag, kann ihn entlassen, wie in diesem Fall: Bismarcks vorsichtige Außenpolitik, die auf die balance of power in Europa achtet, verhindert aus Sicht des Monarchen, dass das Reich endlich einen „Platz an der Sonne“ erhält, was immer das sein mag; es gehört neben dem britischen Empire und Frankreich bereits zu den stärksten Mächten der alten Welt.
Der Reichstag, das Parlament, das von allen männlichen Bürgern über 25 Jahren gewählt wird und daher eine bemerkenswert demokratische Instanz in diesem autoritären Herrschaftssystem ist, kann den Kanzler zwar weder wählen noch feuern; er besitzt aber das Recht, ihn zu Stellungnahmen über seine Politik aufzufordern und, vor allem, seine Gesetze und den Haushalt zu bestätigen. Dieser Reichstag ist 1870/71 das große Zugeständnis der Monarchie an die wachsenden bürgerlichen Schichten. Sie erhalten eine politische Repräsentation, ihren Herzenswunsch, freilich eine, die nicht besonders viel mitzubestimmen hat. Wenn es der Reichstag ernsthaft versucht wie 1906, als er weitere Mittel für die Vernichtungsfeldzüge der „Schutztruppen“ in der Kolonie Südwestafrika verweigert, löst ihn Reichskanzler Bernhard von Bülow einfach auf. Noch einmal Arthur Rosenberg: „Vom Bürgertum verlangte Bismarck, daß es mit derartigen Zugeständnissen sich zufrieden gab … Die starke militärische Kaisergewalt war doch die beste Stütze für das besitzende Bürgertum gegen die Gefahren einer proletarischen sozialen Revolution.“ Und im Großen und Ganzen ist dieser Plan aufgegangen.
Der Reichstag bleibt deshalb ein Papiertiger, an besseren Tagen ein fauchendes Kätzchen. Die spätere Theorie, das Reich habe schon am Vorabend des Ersten Weltkrieges vor dem Durchbruch zur Parlamentsherrschaft gestanden, lässt sich in der Praxis vor 1914 kaum je bestätigen. Gerade weil die Fraktionen nicht die Regierung bestimmen, sondern höchstens deren Gesetze ablehnen können, entwickeln die Parteien kein konstruktives Miteinander. Gemeinsam wären sie stark, doch sie finden die Gemeinsamkeit nicht. Ganz im Gegenteil. Das Plenum des Reichstags ist die große Bühne, auf der sie ihre politischen Wünsche und Ziele ausdrücken und ihre Anhängerschaft zu mobilisieren versuchen.
Mit der Zeit zeichnen sich mehrere Blöcke ab: Da sind die Konservativen, welche den Obrigkeitsstaat repräsentieren und oft noch an Radikalität übertreffen und die zur Regierungszeit Wilhelms II. das politische Klima immer aggressiver gestalten; sie fordern eine Weltmachtrolle des Reichs, Aufrüstung und scharfe Repression gegen die Opposition; Antisemitismus und Hass auf nationale Minderheiten wie Polen und Dänen nehmen vor 1914 rasant zu. Ihre Parteien wie die Wirtschaftliche Vereinigung, die Deutschkonservativen oder die Freikonservativen üben zwar ein demokratisches Mandat aus, lehnen die Demokratie als Staatsform jedoch ab, mit ihnen ist, im Wortsinne, kein parlamentarisch regierter Staat zu machen.
Das gilt abgeschwächt auch für die Nationalliberalen, die den zweiten starken Block bilden. Die NLP vertritt, grob gesprochen, jene Bürger, die sich von Bismarck haben gewinnen lassen und die nationale Einheit der Freiheit vorziehen. Von der bürgerlichen Demokratiebewegung geblieben sind drittens die meist zersplitterten und schwächeren Linksliberalen, während das Zentrum als vierte Kraft die Katholiken vertritt, die Bismarck im Kirchenkampf hat verfolgen lassen und die sich abschotten gegen den preußisch-protestantischen Charakter des Regimes, aber mit dem Status quo leben können. Lange Zeit stellen sie die stärkste Fraktion und lassen sich ihre Zustimmung mit Entgegenkommen erkaufen.
Und da sind am Ende die Sozialisten, ab 1890 in der SPD vereint, die den Reichstag höchst erfolgreich als Instrument ihres politischen Aufstiegs nutzen und über die Jahre immer stärker werden. Koalitionen mit Partnern wie den linken Liberalen oder dem Zentrum streben sie jedoch nicht an, ihr politisches Ziel ist der Klassenkampf und, zumindest in der Theorie von Karl Marx und Friedrich Engels, die Diktatur des Proletariats. Theoretisch könnten sich die drei Kräfte zu einem machtvollen Bündnis für die Parlamentarisierung zusammenschließen, wie sie es 1919, nach dem Krieg, in der „Weimarer Koalition“ tatsächlich tun werden; praktisch aber fehlt ihnen im Kaiserreich alles dazu, sie sind, von Ausnahmen abgesehen, fremde Planeten, die um dieselbe Sonne kreisen.
Wie das Parlament, so ist auch die Gesellschaft des Reichs tief gespalten. Denn nicht nur die Sozialdemokraten gewinnen an Zulauf, es entstehen auch nationalistische Bewegungen wie die „Alldeutschen“ unter ihrem eifernden Anführer Heinrich Claß. Der Nationalismus des Kaiserreichs ist mehr als eine politische Bewegung, deren Ziele doch eigentlich durch die Reichseinheit von 1871 bereits verwirklicht wurden; er entwickelt sich „zum Fluchtpunkt der Modernisierungskrise“ (Ulrich Herbert). Wer immer sich als Verlierer der Moderne sieht, sich ängstigt vor gesellschaftlichen Veränderungen, das politische Heil in einem idealisierten Gestern und einer Volksgemeinschaft sucht, die es so niemals gegeben hat – der Nationalismus bietet ihnen allen eine säkulare Heilslehre, die Reichskriegsflagge eine Fahne, um die sie sich scharen können; er ist das rechte Gegenstück zum Sozialismus und der internationalen Solidarität, nur viel destruktiver. Vergleichbare Kräfte gibt es auch jenseits des Rheins in Frankreich – wie der antisemitische Dreyfuss-Skandal und die nationalistischen Träume einer Revanche für 1871 nur zu deutlich zeigen. Aber dort und erst recht in den angelsächsischen Staaten werden sie durch eine starke Demokratiebewegung in Schranken gehalten, und dieses freiheitliche Gegengewicht fehlt Deutschland vor 1914 sehr.
Der „Deutsche Flottenverein“ zählt bei Kriegsausbruch mehr als 1,1 Millionen Mitglieder, die sich für den Bau der Schlachtflotte begeistern, dem liebsten Kriegsspielzeug ihres Oberherren und seines Staatssekretärs im Reichsmarineamt, Admiral Alfred von Tirpitz. Die schwimmenden Festungen sind das Symbol für Deutschlands Weltgeltung, politisch aber eine Narretei, wie sie Bismarck unbedingt vermieden hätte. Sie beschwören einen Dauerkonflikt mit der Seemacht Großbritannien herauf und ein Rüstungswettrennen, welches das Reich nicht gewinnen kann. Schlimmer noch, die Briten ohne Not vor den Kopf zu stoßen, isoliert Deutschland außenpolitisch und provoziert eine Annäherung der alten Gegner Frankreich und Großbritannien. Während die französischen Nationalisten auf Rache sinnen für den verlorenen Krieg von 1871 und die Annexion Elsass-Lothringens, bleibt im Osten das Zarenreich eine potenzielle Bedrohung.
Und immer mehr greift der Gedanke um sich, ein Krieg habe etwas Erlösendes, er werde das Volk einen und den Sozialismus vernichten wie eine reinigende Flamme, das Land von den Juden, dem Materialismus, den Überforderungen durch eine komplexe Gegenwart befreien. „Der Krieg sei uns heilig wie das läuternde Schicksal“, schreibt Alldeutschen-Führer Claß 1912 in einer anonymen Hetzschrift, „der Arzt unserer Seelen, der mit stärksten Mitteln uns heilen wird.“ Claß, aus protestantischem Haus stammend, ist einer der widerwärtigsten Hassprediger seiner Epoche, aber keineswegs der einzige; er steht für einen Geist, der bereits weit über den des alten Obrigkeitsstaates hinausgeht und den Nazismus schon vorwegnimmt, radikalisiert, infantil und doch voll mörderischem Gift: „Ist der verkommene oder halbtierische russische Bauer, der Schwarze in Ostafrika, das Halbblut Deutschlands-Südwests oder der unerträgliche Jude Galiziens oder Rumäniens ein Glied dieser Menschheit?“ Im späten Kaiserreich hat eine Verrohung des politischen Denkens eingesetzt, die einem geistigen Bürgerkrieg gleichkommt.
Der Historiker Ulrich Herbert wird es treffend ausdrücken: Die Herrschaft im Reich lavierte zwischen zwei Polen, denn: „Für eine konstitutionelle Diktatur war es in Deutschland offenbar bereits zu spät, für eine parlamentarische Demokratie angesichts der Kräfteverhältnisse womöglich noch zu früh.“

Sozialismus, Freiheit, Ohnmacht: Die Welt der
Arbeiterbewegung

1910 befragt eine staatliche Enquetekommission Industriearbeiter, die in der SPD organisiert sind, was sie persönlich tun würden, wenn sie genug Zeit und Geld hätten. Die Antworten sprechen Bände:
Ein Bergmann, 37 Jahre alt, neun Kinder, Wochenverdienst im Akkord 24 Mark: „Ich könnte mich durch mehr spazieren im Freien erholen und auch mehr lesen. Zuerst bessere Kost für mich und die Familie, dann bessere Kleidung und Schuhzeug dann mehr Betten daß die Kinder nicht zu dreien in einem Bette schlafen müssen. Dann für mich und die Kinder aufklärend und veredelnd wirkende Bücher und Schriften.“
Ein 30-jähriger Bergarbeiter, zwei Kinder, Wochenverdienst im Akkord 18 Mark: „Erstens ein paar Stunden sich in der frischen Luft bewegen was für den Untertagsbergmann sehr gesundt wäre. … meiner Frau mehr Abschlag geben daß wir besser leben können wies einem Menschen zu kommt und nicht wie es jetzt ist daß wenn man von der Schicht kommt bloß trockne Bratkartoffeln bekommdt.“
Ein Kettenscherer, 47 Jahre, keine Kinder, Wochenverdienst im Akkord 21 Mark: „Wenn man in meine Jahre kommt, dann läßt das Wünschen und Hoffen langsam nach; denn gleich wie das Laub verlieren die Bäume, so schwinden dem Leben Ideale und Träume. Daß ich eine Erlösung der darbenden Menschheit noch erleben werde, darauf hoffe ich schon lange nicht mehr. Daß aber die Arbeiter einmal aus ihrer Not und Sklaverei erlöst werden, das hoffe ich bestimmt.“
Es ist ein ganz eigenes Milieu, in dem die Anhänger der SPD leben, eine Parallelgesellschaft, eine politische Heimat, entstanden aus der Verfolgung unter Bismarcks Sozialistengesetzen und unter dem Eindruck fortgesetzter Feindseligkeit der wilhelminischen Gesellschaft. Und die Industriearbeiterschaft wächst, die SPD zieht sie an wie ein Magnet, sie ist ihre Massenbasis. Der Parteivorsitzende August Bebel ist so populär, dass er „Gegenkaiser“ genannt wird, und das ist mehr als nur ein Scherz. Von 1890 bis 1912 steigt der Anteil der SPD-Wähler von fast 1,43 Millionen Wählern auf 4,25 Millionen; das ist ein Drittel der Wählerschaft. Sie besuchen sozialdemokratische Wirtshäuser und Vereine, lesen sozialdemokratische Blätter und suchen Hilfe bei sozialdemokratischen Anwälten, wenn sie Ärger mit dem Staat bekommen; es gibt eigene Parteischulen, Bibliotheken, Bildungseinrichtungen.
Um die Jahrhundertwende hat die deutsche Arbeiterbewegung einiges erreicht, mehr als in anderen und demokratischer verfassten Industriestaaten des Westens, vom Elend in Russland ganz zu schweigen. Schon unter Bismarck war, im vergeblichen Versuch, den Sozialisten das Wasser abzugraben, das System der Sozialversicherungen für einen Teil der Arbeiter eingeführt worden. Die Gewerkschaften haben die Zahl ihrer Mitglieder innerhalb eines Jahrzehnts vervierfacht auf 1,2 Millionen (1906), sechs Jahre später werden es schon 2,6 Millionen sein. Dazu kommen noch 450 000 Mitglieder in den christlichen und bürgerlichen Gewerkschaften. Sie alle werden von den Arbeitgebern nicht als Gesprächspartner auf Augenhöhe akzeptiert, aber sie sind da und werden immer stärker; keine rechtlose Unterschicht mehr, sondern ein selbstbewusster Stand. Dennoch haben die organisierten Arbeiter ein klares Gefühl für die soziale Ungleichheit im Reich; sie schuften in Kohlenschächten oder vor glühenden Hochöfen, verdienen wenig Geld und sind vielfach noch immer von der Willkür der Zechenbesitzer und Stahlbarone abhängig. Während des Bergarbeiterstreiks von 1899 prahlt der mächtige Ruhrindustrielle Emil Kirdorf, ein bekennender Verächter der Sozialdemokratie, welche die „Pöbelherrschaft“ anstrebe, und ein späterer Wegbereiter Adolf Hitlers: „Weder Kaiser noch Könige haben in den Betrieben etwas zu sagen. Da bestimmen wir allein.“
Die Not der breiten Arbeiterschaft geht nur langsam zurück, mancherorts nimmt sie gar zu, besonders in den übervölkerten Armenquartieren der Großstädte. Der Berliner Journalist Albert Südekum begleitet einen befreundeten Arzt zu einem Krankenbesuch im Wedding. Es ist, wie er schreibt, „meine erste Forschungsreise ins dunkle Land der Berliner Armenwohnungen“. Ein Durchgang führt zu den Hinterhöfen, so eng stehen die Mietskasernen, dass gerade ein Feuerwehrwagen zwischen ihnen wenden kann – Vorschrift. In den Höfen spielen Kinder, „arme Großstadtpflanzen“, so Südekum. Die Patientin wohnt im dritten Hinterhaus, in der typischen Armenwohnung: eine Küche und eine Stube. In der Stube freilich lebt ein Untermieter, die Familie braucht das Geld und haust nun in der Küche.
Ein besonders berüchtigtes Beispiel ist der Meyer-Hof im Berliner Wedding, vor dem eines Tages staunend der flanierende Literat Franz Hessel steht: „Aus dem Hof der riesigen Mietskaserne, dem ersten Hof – sie hat wohl fünf oder sechs, eine ganze Stadt wohnt darin. Alle Arten Berufe lassen sich erraten aus den Anschlägen: Apostelamt, Pumpernickelfabrik, Damen- und Burschenkonfektion, Schlosserei, Lederstanzerei, Badeanstalt, Drehrolle, Fleischerei. Und noch soundso viel Schneiderinnen, Näherinnen, Kohlenmänner, die in den endlosen, graurissigen Quergebäuden hausen. … Sonst ist es hier im Norden wie auch in den proletarischen Teilen von Schöneberg oder Neukölln den Häusern von außen meist nicht anzusehen, wie viel Armut sie bergen. Wie die Menschen, so haben auch die Gebäude eine heruntergekommene Bürgerlichkeit. Sie stehen in endloser Reihe; Fenster an Fenster, kleine Balkons sind vorgeklebt, auf welchen Topfblumen ein kümmerliches Dasein fristen. Um eine Vorstellung vom Leben der Bewohner zu bekommen, muß man in den Hof vordringen, den traurigen ersten und den traurigeren zweiten, man muß die blassen Kinder beobachten, die da herumlungern und auf den Stufen zu den drei, vier oder mehr Eingängen der lichtlosen Quergebäude hocken, rührende und groteske Geschöpfe, wie Zille sie gemalt und gezeichnet hat.“
Das ist die Nachtseite des Kapitalismus, unermüdlich angeprangert von sozialdemokratischen Rednern und Reichstagsabgeordneten. Ihre Parteiversammlungen beenden sie mit dem gemeinsamen Singen der „Internationale“, der Hymne der internationalen sozialistischen Bewegung, in der es heißt:

Es rettet uns kein höh’res Wesen,
kein Gott, kein Kaiser noch Tribun
Uns aus dem Elend zu erlösen
können wir nur selber tun!


Aber wie diese Erlösung aus eigener Kraft konkret zu erreichen ist, darüber sind sich die Sozialdemokraten nicht wirklich im Klaren. Durch die gesamte Regierungszeit Wilhelms II. hindurch denkt und handelt die wichtigste Kraft der Opposition mit einem inneren Widerspruch, der vielen gar nicht recht bewusst ist. Endgültiges, jedoch fernes Ziel ihrer Politik ist nicht die Reform, sondern die Revolution; nicht Teilhabe an Staat und Regierung, sondern deren Übernahme; nicht der Wandel des Systems, sondern der Systemwechsel. Wenn die Nationalisten also vor der Sozialdemokratie als „dem Umsturz“ warnen, haben sie theoretisch recht: In der Theorie von Karl Marx ist der Weg zu Revolution und sozialistischer Gesellschaft am Ende zwangsläufig, eine Gesetzmäßigkeit der Geschichte.
Aber den Herren, die da für den Umsturz im Reichstag sitzen oder die Gewerkschaften lenken, haben Marx und Engels zwar die Revolution als weltliches Heilsversprechen hinterlassen, doch ohne jede konkrete Handlungsanweisung dafür. Und diese Herren mit Hut und Weste haben so gar nichts Revolutionäres an sich. Sie wollen nicht die Bastille stürmen, zumindest ganz gewiss nicht jetzt. Ihr Weg zur Macht führt nicht über Massenstreiks, brennende Barrikaden und Guillotinen, ihr Aufstieg ist friedlich, aber, wie sie voll Zuversicht hoffen, so unaufhaltsam wie die Flut am Meer. Es gibt sogar einen Namen dafür: die Integrationstaktik.
Sie sehen das Erreichte und fürchten darum. Eine Revolution ähnlich der von 1848, ein gewaltsames Aufbegehren würde vom Militär im Blut erstickt werden – so wie in Russland 1905. Von allen europäischen Mächten ist das Zarenreich das bei Weitem rückständigste, despotischste, ein düsteres Imperium wie aus einer lange überwundenen Epoche, das erklärte Feindbild aller Sozialisten. Im Januar 1905 ist eine gewaltige Menge von fast 200 000 Menschen in einem Demonstrationszug zum Winterpalast des Zaren in Sankt Petersburg marschiert, um Reformen zu fordern: Menschenrechte, Parlamentarisierung, den Achtstundentag. Sie waren friedlich und unbewaffnet, viele trugen Kreuze und Heiligenbilder, und ihre Sprecher hatten eine Bittschrift dabei, die mit den Worten begann: „Herrscher! Wir, die Arbeiter der Stadt Petersburg, unsere Frauen, Kinder und hilflosen greisen Eltern, sind zu Dir gekommen, Wahrheit und Schutz zu suchen. Wir sind verelendet, wir werden unterdrückt, mit schwerer Arbeit belastet, man beschimpft uns!“
Doch der Zar war nicht da, um die Klagen seiner Untertanen anzuhören. Statt seiner warteten auf dem weiten Platz vor dem Palais schon seine Schützenbataillone. Das Militär feuerte in die Menge, an dem Tag, der als „Petersburger Blutsonntag“ in die Geschichte eingehen würde, starben Hunderte Menschen; noch viel mehr fanden den Tod in den Unruhen der folgenden Monate. Einer der radikalsten russischen Sozialisten, Leo Trotzki, sah darin einen Wendepunkt – fort von Reformen und Evolution, hin zu Gewalt und Revolution. Er kehrte heimlich aus dem Exil zurück, um eben diese voranzutreiben, und notiert später: „Die Revolution von 1905 brachte einen Umschwung im Leben des Landes, im Leben der Arbeiterpartei und in meinem persönlichen Leben.“
Ein Jahr später, auf dem Mannheimer Parteitag der SPD, zieht Bebel die Lehren aus dem Petersburger Blutsonntag. „In Rußland wird der Kampf um eine neue Staatsordnung geführt, bei uns aber sind seit einer längeren Reihe von Jahren die Vorbedingungen, um die man in Rußland noch kämpfen muß, erfüllt.“ Im Saal Beifall, Rufe: „Sehr richtig!“ Bebel fährt fort: „Deshalb ist die Situation in Deutschland mit der in Rußland nicht zu vergleichen. Soviel wir an der Ordnung der Dinge auch auszusetzen haben, niemand wird doch behaupten, daß wir in unserem Kampfe in allen Fällen zu ähnlichen Methoden zu greifen hätten wie unsere russischen Genossen!“
Die Ordnung der Dinge. In Petersburg verlangten die Massen ein Parlament – in Deutschland haben sie längst eines, und die Partei der Arbeiter erringt immer neue Wahlerfolge. In Russland sind Gewerkschaften und Oppositionsparteien verboten und werden von der gefürchteten Geheimpolizei des Zaren verfolgt – in Deutschland wird die SPD drangsaliert, ausgegrenzt und benachteiligt, gewiss; aber sie kann halbwegs frei agieren, und die Regierung wagt es nicht mehr, mit Gewalt gegen „den Umsturz“ vorzugehen, wie es noch Bismarck tat. Die SPD spricht zwar andauernd von der Revolution, bleibt aber achtsam im legalen Rahmen. Wilde Streiks, Straßenschlachten, gar bewaffneter Widerstand, dafür steht sie nicht. August Bebel denkt zwar radikal, beteuert jedoch: „Wir sehen keine Heugabeln vor unseren Augen blitzen!“
Das ist nicht die Verschärfung der Klassengegensätze, welche nach sozialistischer Lehre Vorbedingung einer erfolgreichen Revolution wäre. Die Ordnung der Dinge im Kaiserreich soll vom Kopf auf die Füße gestellt werden, aber erst dann, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Niemand hat eine genaue Vorstellung davon, wann das sein und wie der Weg dorthin sein wird. Mit Recht wird die Historikerin Susanne Miller schreiben: „Die entscheidende, sowohl von Marx und Engels als auch von den deutschen Sozialdemokraten nicht eindeutig beantwortete Frage blieb, ob es möglich sei, durch anhaltende Reformen die Emanzipation des Proletariats durchzusetzen.“
Im Herzen wie in der Praxis hat die Führung der SPD diese Frage vor 1914 bereits mit Ja beantwortet. Die Masse der Wähler und Genossen folgt ihr darin, und vor dem Ersten Weltkrieg werden der rechte Flügel, der die Diktatur des Proletariats gleich als ideologischen Ballast abwerfen will, und der linke, der sie am liebsten so früh wie möglich erkämpfen möchte, deutlich in der Minderheit bleiben. Es dominieren die „Zentristen“ um Parteiführer Bebel, sie sprechen manchmal radikal und handeln fast immer moderat. Sie bestimmen den Kurs, aber sie vertreten eine Politik, die Feuer und Wasser zugleich will.
Das hindert sie nicht, das Feuer zu beschwören, wie 1903 durch einen vorsichtshalber ungenannten Verfasser im Parteiorgan Vorwärts. Diese Ode an die Revolution wandelt das berühmte Freiheitsgedicht von Ferdinand Freiligrath an die demokratischen „Märzgefallenen“ von 1848 ab, mit dem nicht von Bescheidenheit kündenden Titel „Die Roten an die Toten“, nämlich an jene der so bitter gescheiterten Revolution ein Menschenalter zuvor:

„Die Kugel mitten in der Brust,
die Stirne breit gespalten –“
So steigt Ihr, blutig, rauchberußt,
Geheiligte Gestalten,
Aus Eurem Grab um Mitternacht
Und hört begeistert melden,
den roten Sieg der Junischlacht,
Ihr märzgefall’nen Helden.

Seht in jenem Ort,
Wo Eure Herzen lauschten,
Und an der Redner freiem Wort
Aufjauchzend sich berauschten,
Wo einst der Freiheit Feuerwein
Erhitzt das Blut der Massen,
Da klappern jetzt zur „Wacht am Rhein“
Des Freisinns Kaffeetassen.

Was jagt Euch plötzlich in die Flucht,
Zurück in Euer Bette?
Schämt Ihr der Söhne Euch und flucht,
Ihr fliehenden Skelette? –
O daß ein wäss’rig Zwergengeschlecht
Blutarmer Renegaten
Der hohen Freiheit heilig Recht
Verraten konnt’, verraten!
Ja, wir verstehen Euren Fluch!
O nehmt, verratne Manen,
Nehmt frisches Zeug zum Leichentuch
Von unsern roten Fahnen!
Wenn wir gesiegt, habt Ihr gesiegt,
Denn wir sind Eure Erben. …
Ein letzter Sturm, ein letzter Stich –
Und er ist ganz geschlagen.
O tote Schar, wir rächen Dich,
Wir, Deine Erben, tragen
Wenn unsrer neuen Siege Glanz
Ins Land Fanfaren schmettern,
Aufs Märzengrab den Junikranz
Mit roten Ruhmes Blättern!

Der Freiheit Feuerwein. Ein letzter Sturm, ein letzer Stich: Das verhasste Klassensystem hinwegzufegen ist immer noch das ideologische Ziel der SPD, eine Vision, ein Leitbild für die Arbeiterschaft, wenn auch ein fernes. Für den rechten Flügel der Partei, die „Revisionisten“, kann es gar nicht fern genug sein. Ihr führender Theoretiker Eduard Bernstein will sich endgültig verabschieden von Karl Marx, dem Erfurter Programm und der Illusion, der Umsturz werde sich gesetzmäßig durch die Krise des Kapitalismus ergeben – irgendwie, irgendwann. In seiner großen Streitschrift Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie fordert er 1899 ein Bekenntnis zu dem, „was sie heute in Wirklichkeit ist: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei“ . Ganz ähnlich klingt schon 1893 selbst der marxistische Theoretiker Karl Kautsky: „Für die Diktatur des Proletariats kann ich mir aber eine andere Form nicht denken als die eines kraftvollen Parlaments nach englischem Muster mit einer sozialdemokratischen Mehrheit und einem starken und bewußten Proletariat hinter sich. … Ein parlamentarisches Regime bedeutet in Deutschland den Sieg des Proletariats, aber auch umgekehrt.“
Bernstein spricht die weltanschaulichen Widersprüche in seiner Partei mit einer Klarheit an wie kaum ein zweiter, und er gewinnt Anhänger. Allerdings haben die Revisionisten ein Problem: Nolens volens lockern sie das einigende Band, das die Vision einer gerechten, durch die Revolution gereinigten Welt für eine Partei bedeutet, in der so viele unterschiedliche Menschen und Strömungen vertreten sind. Gravierender ist freilich, dass dem Reformkurs so erkennbare Grenzen gesetzt sind: Die Partei wächst, sie wird immer größer und stärker und gewinnt doch nur minimal an wirklichem politischen Einfluss hinzu, wie verdammt dazu, auf immer und ewig Opposition zu bleiben.
Für die Linken in der Partei ist Reformpolitik jeder Couleur „Opportunismus“, wie sie es nennen. Befeuert von der – gescheiterten – russischen Revolution 1905 verlangen sie Taten statt Worte, den Massenstreik zur Mobilisierung des Proletariats. Bernstein hält ihnen „Utopisterei“ vor, denn auch die Radikalen haben Schwachstellen: Erstens fehlt ihnen jede konkrete Strategie für den Kampf gegen das System, so als genüge es, den Weg zwar nicht zu kennen, aber tapfer zu rufen: Wo ein Wille ist, da ist auch eine Tat. Und zweitens erscheint der linke Verbalradikalismus genau deswegen mit dem Alltag der Arbeiterschaft, die sich in ihrer sozialdemokratischen Welt eingerichtet hat, zu wenig zu tun zu haben. Es fehlt dem Revolutionsflügel der SPD die Massenbasis, er ist, wie die Revisionisten, deutlich in der Minderheit.
Es wäre auch zu kurz gegriffen, von „der Linken“ zu sprechen; ihr Spektrum vor 1914 ist in sich zu vielfältig, es reicht von Vertretern der linken Parteimitte bis hin zu Barrikadenträumern, welche die Erhebung und den Sieg des Proletariats so bald wie möglich ins Werk setzen wollen.
Die bekannteste Vertreterin der Linken ist Rosa Luxemburg, und nicht nur, weil Politikerinnen noch rare Ausnahmen sind in der Männerwelt des Wilhelminismus. Frauen dürfen weder wählen noch in den Reichstag gewählt werden. Als Frau, Jüdin und linke Aktivistin ist sie schon früh Ziel hasserfüllter Attacken der politischen Rechten. Auf den ersten Blick fällt sie nicht besonders auf, sie ist so klein, dass sie ihr langes Haar sorgfältig nach oben aufsteckt, um größer zu wirken, und doch strahlt sie ein intellektuelles Charisma aus, dem sich nicht viele entziehen können. Sie hinkt wegen eines Hüftschadens leicht beim Gehen und geht gerade darum leidenschaftlich gern. Sie kleidet sich sorgfältig, ordnet ihre Bücher und ihren Schreibtisch sorgfältig und denkt und schreibt sorgfältig und mit scharfer Intelligenz.
1871 im russischen Teil Polens zur Welt gekommen, lebt die junge Rosa Luxemburg einige Jahre im Schweizer Exil; durch eine Scheinehe mit dem Deutschen Gustav Lübeck 1898 erhält sie die deutsche Staatsbürgerschaft und engagiert sich sogleich in der SPD. Die Massenpartei scheint ihr das Vehikel zur Umwälzung der Gesellschaft, weshalb sie leidenschaftlich gegen Bernsteins Revisionisten streitet und sogar deren Ausschluss fordert. Durch ihren Text Sozialreform oder Revolution? wird sie in der Partei weitbekannt, denn die Antwort, welche sie darin gibt, lautet natürlich: Revolution. Immer wieder verurteilt die politische Justiz Rosa Luxemburg zu Gefängnisstrafen, so hat sie aufgerufen zur Kriegsdienstverweigerung: „Wenn uns zugemutet wird, die Mordwaffen gegen unsere französischen oder anderen ausländischen Brüder zu erheben, so erklären wir: ›Nein, das tun wir nicht!‹“ Die Haft ist für sie persönlich sehr hart, sie liest und schreibt, so viel sie kann; aber sie wird nun in der Partei zur lebenden Legende und zur wortmächtigen Frontfrau des linken Parteiflügels.
Zwischen Revisionisten und Linken steuert der Parteivorstand die Masse der Anhänger wie einen großen Dampfer, dessen Ziel fern hinter dem Horizont wartet. Wer dieses Ziel, die Revolution, die neue Gesellschaft, eines Tages erreichen will, kann natürlich auf die stärkste Waffe des Proletariats, den Massenstreik, nicht verzichten, auch wenn die Revisionisten davon nichts hören wollen. Immerhin haben die Genossen in Belgien und Schweden das allgemeine gleiche (Männer-)Wahlrecht soeben durch genau dieses Mittel erkämpft. Nur, im Reich gibt es dieses Wahlrecht bereits, und was wäre im Hier und Jetzt zu erreichen außer einem Bürgerkrieg, den die Sozialdemokratie schwerlich gewinnen kann – das System hätte die stärkeren Bataillone. Zwar bekennt sich, von Bebel dirigiert, der Mannheimer Parteitag von 1906 klar zum Massenstreik. Aber ein Sieg der Linken ist das in keiner Weise. Alle Räder stehen still, wenn unser starker Arm es will? So weit möchte es die SPD nur kommen lassen, wenn das Erreichte unmittelbar bedroht wäre – etwa durch einen Staatsstreich von oben gegen das Wahlrecht oder den Reichstag. Der Massenstreik, für die Linke der Auftakt zum revolutionären Klassenkampf, wird im Kuppelgebäude des Mannheimer Rosengartens als Ultima Ratio definiert, als Mittel der letzten Wahl, der Defensive.
1913 tritt Otto Wels als Beisitzer des Parteivorstandes den Radikalen sogar entgegen, weil diese über massenhafte Streiks das allgemeine gleiche Wahlrecht in Preußen durchsetzen wollen, so wie es die Arbeiter in Belgien mit Erfolg vorgemacht haben. Aber einen wilden Arbeitskampf für diese sozialdemokratische Kernforderung lehnt Wels ab, lieber spottet er über die linken Genossen, denen das sonst so verachtete Parlament plötzlich die Mobilisierung des Proletariats wert sei.
Vor allem die mächtigen, rasch wachsenden freien Gewerkschaften lehnen eine Radikalisierung des politischen Kampfes rundheraus ab. Einer ihrer einflussreichsten Anführer, Theodor Bömelburg, lässt keinen Zweifel, dass die Arbeitnehmervertreter „allen Versuchen, durch die Propagierung des Massenstreiks eine bestimmte politische Taktik festzulegen“, entgegentreten werden: „Ungeheure Opfer hat es gekostet, um den augenblicklichen Stand der Organisation zu erreichen. Um aber unsere Organisationen auszubauen, dazu brauchen wir in der Arbeiterbewegung Ruhe.“
Bömelburg, ehemaliger Maurergeselle, mit schwarzem Vollbart und kantigem Schädel eine beeindruckende Erscheinung, gilt als innerparteilicher Intimfeind von Rosa Luxemburg. Von ihm stammt der Satz „Partei und Gewerkschaft sind eins“. Was nach Einheitsfront klingt, ist für die Linksradikalen keine gute Nachricht. Die freien Gewerkschaften nämlich wollen bewahren, das Erkämpfte sichern, ihr Ziel ist gewiss nicht ein Bürgerkrieg; vielmehr wollen sie zu einer Macht aufsteigen, die Industrielle und Regierung zwingen kann, mit ihr auf Augenhöhe zu verhandeln. Sie wollen die Lebensverhältnisse der Arbeiter verbessern, statt ihnen Gewehre in die Hand zu drücken; und überdies: Diese Gewehre gibt es nicht.
1912, bei den letzten Reichstagswahlen des Kaiserreichs, erringt die Partei einen spektakulären Erfolg, mehr als jeder dritte Deutsche wählt bereits SPD: 34,8 Prozent der Stimmen – und das trotz eines ungerechten und von der Regierung auch so beabsichtigen Zuschnitts der Wahlkreise und ebenso ungerechter und gewollter Verzerrungen des Wahlrechts. Die Partei gewinnt daher nur 110 der 397 Sitze im Parlament statt etwa 140, sie ist aber erstmals stärkste Fraktion. Der Reformkurs scheint zu triumphieren, eine neue Ordnung der Dinge zumindest in Zukunft kein bloßer Traum mehr zu sein. Im Reichstag gibt sich Gustav Noske siegessicher, als er den anderen Fraktionen zuruft: „Sie können sich fast ausrechnen, wann der Tag kommen wird, an dem wir eine Mehrheit im deutschen Volk hinter uns haben werden.“ Das Protokoll vermerkt wütendes Zischen und Zwischenrufe zur Rechten. Die Sozialdemokraten sind der Macht nahe, aber nur rechnerisch. Politisch ist sie 1912 noch sehr weit entfernt.

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