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Das Schattenhaus

Das Schattenhaus

Mascha Vassena
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Roman

„Fesselnd und kurzweilig.“ - Stuttgarter Nachrichten

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Das Schattenhaus — Inhalt

Ein verschlafenes Bergdorf im Tessin: Anna ist nach Vignano gekommen, um die alte Villa zu verkaufen, die sie von ihrer Mutter geerbt hat. Doch bei ihrer Ankunft stellt sie überrascht fest, dass in dem Haus eine ältere Dame lebt, die den Dachboden bewohnt. Wer ist sie? Und warum verlässt sie nie ihr Zimmer? Langsam begreift Anna, dass ihre Mutter ein düsteres Geheimnis mit ins Grab nahm. Und dass die Schatten der Vergangenheit noch immer über der verfallenen Villa schweben ...

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 11.08.2014
320 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-96492-0
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Leseprobe zu „Das Schattenhaus“

Sie sitzt auf dem Hocker, während es draußen hell wird, und betrachtet das Blut, das sich mit all der Farbe mischt. Kobaltblau, Kadmiumgelb, Goldocker quellen aus den Tuben, die während des kurzen Kampfes zerplatzt sind. Die Farben haben sich über die Dielen verteilt, und darüber liegt das geronnene Blut wie eine Schicht Krakelierlack.

Blinzelnd, als wäre sie gerade aufgewacht, erhebt sie sich, nimmt eine der frischen Leinwände vom Regal, kauert sich nieder und presst die grundierte Seite in das Gemisch. Sie drückt mit der flachen Hand auf die Rückseite, [...]

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Sie sitzt auf dem Hocker, während es draußen hell wird, und betrachtet das Blut, das sich mit all der Farbe mischt. Kobaltblau, Kadmiumgelb, Goldocker quellen aus den Tuben, die während des kurzen Kampfes zerplatzt sind. Die Farben haben sich über die Dielen verteilt, und darüber liegt das geronnene Blut wie eine Schicht Krakelierlack.

Blinzelnd, als wäre sie gerade aufgewacht, erhebt sie sich, nimmt eine der frischen Leinwände vom Regal, kauert sich nieder und presst die grundierte Seite in das Gemisch. Sie drückt mit der flachen Hand auf die Rückseite, dann zieht sie die Leinwand wieder ab und stellt sie auf eine der Staffeleien. Was sie auf dem Bild sieht, gefällt ihr. Ein Farbwirbel, dessen Geschichte nur sie kennt.

Vorsichtig geht sie um das Durcheinander am Boden herum und öffnet das mittlere der drei großen Fenster. Sie taucht ihren Kopf in die kühle Morgenluft wie in kaltes Wasser und fühlt sich geläutert. Es ist so friedlich still, sogar die Vögel in der ausladenden Krone des Kampferbaums ruhen noch, und am Horizont hinter den Hügeln beginnt es gerade erst zu dämmern.

Eine lang ersehnte Ruhe breitet sich in ihr aus. Alle Kämpfe sind nun vorüber. Sie dreht sich um und betrachtet das Bild, das ihr Geliebter von ihr gemalt hat. So hat er sie unsterblich gemacht. Langsam schweift ihr Blick zu ihm, ein letztes Mal, damit sie ihn in Erinnerung behalten kann, wie er war. Seine Augen sind ein wenig geöffnet, und man könnte glauben, er döse vor sich hin, wäre da nicht das blutverklebte Haar an seiner Schläfe. Doch das macht ihr nichts aus. Sie lächelt zärtlich.

Es schmerzt sie, dass er nicht bei ihr bleiben konnte – doch das, was ihn ausgemacht hat, liegt in dem, was er geschaffen hat. Endlich wird er für immer ihr gehören.


________


Kapitel 1

2013

Fünfzehn Jahre lang war Anna nicht mehr auf der Insel gewesen, und sie hatte geglaubt, sie würde nie zurückkehren. Doch jetzt stand sie an der Reling der Fähre und sah hinüber zu dem flachen Stück Land, das sich nach und nach aus dem Wasser hob. Krampfte sich ihr Magen so zusammen, weil das Schiff schlingernd gegen die Wellen ankämpfte? Auf dem Wasser bildeten sich weiße Schaumkronen. Außer ihr war niemand an Deck. Sie blickte zum Himmel, wo Möwen an unsichtbaren Seilen in der Luft zu hängen schienen, die Schnäbel gelb vor den grauen Wolken. Ihre Schreie mischten sich mit dem Rauschen der Bugwelle und dem Stampfen der Maschinen.

Es war nicht der Seegang, der ihr auf den Magen schlug, sondern die Furcht vor dem, was sie nach dem Anlegen erwartete. Das Haus ihrer Mutter, das Mädchen darin, das sie seit sieben Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Friederike – den Namen hatte Annas Mutter für sie ausgesucht, als würde das Kind dadurch den anderen gleich. Ein gewöhnlicher Name, der verbergen sollte, wer das Mädchen wirklich war. Wäre es nach Anna gegangen, würde sie heute Giulia heißen, aber ihre Mutter hatte, als sie den Namen eintragen ließ, diesen Wunsch einfach ignoriert. Wie immer hatte sie entschieden, was das Beste war.

Die Insel war inzwischen ganz nah, und Anna konnte die Anlegestelle und die Apartmenthäuser am Strand erkennen, die aussahen wie riesige Zuckerwürfel. Ein Angestellter der Fährgesellschaft stapfte im gelben Friesennerz über Deck. In seinem rechten Ohr glänzte der Ohrring mit eingeprägten Initialen, an dem man in früheren Zeiten die ertrunkenen Fischer identifiziert hatte, falls das Meer sie wieder hergegeben hatte.

Das Maschinengeräusch veränderte sich, die Fähre drosselte ihre Fahrt. Der Anleger war nur noch wenige Meter entfernt, die Wartenden, die zum Festland hinüberwollten, bekamen Gesichter. Der Rumpf der Fähre schabte an der Kaimauer, während der Mann im Friesennerz die Taue um die Poller warf und mit seinem Kollegen, der wie sein Zwilling aussah, die Bugklappe herunterließ. Um Anna herum ließen die Passagiere, die mit dem Auto übergesetzt hatten, die Motoren an, die anderen Reisenden strömten an Deck, zogen sich Kapuzen über oder spannten Regenschirme auf. Anna schulterte ihren Armeerucksack und betrat als Erste den Steg. Als der Mann mit dem Ohrring sie grüßte, zuckte sie zusammen. Kannte er sie? Sie zwang sich, ruhig zu bleiben – wahrscheinlich wollte er nur freundlich sein.

Ihre Schritte schepperten auf dem Metall, unter ihr hob und senkte sich das Wasser und klatschte an die Kaimauer, dann war sie an Land. Es war merkwürdig vertraut, nach so vielen Jahren wieder am Anleger zu stehen, wo das übliche Durcheinander herrschte: Busse mit getönten Fenstern boten Rundfahrten an, Reisegruppen standen um ihre Koffer herum, und Möwen glitten in der Hoffnung auf ein Stück Krabbenbrötchen dicht über die Köpfe hinweg.

Den Weg von hier zum Haus ihrer Mutter hätte Anna immer noch blind gefunden. Sie würde zu Fuß gehen, ein letzter Aufschub, bevor sie Rike gegenübertreten musste. Ihr Rucksack war leicht. Sie hatte nur das Nötigste gepackt, nachdem sie den Anruf bekommen hatte.

Barbara, ihre Vorgesetzte, hatte sie zwingen wollen, erst ihre Schicht zu beenden, weil sie so schnell keinen Ersatz für die Rezeption auftreiben könne.

„Meine Mutter ist gerade gestorben!“, hatte Anna ihr ins Gesicht geschrien und war einfach gegangen. Später hatte Barbara ihr eine SMS geschickt, sie müsse nicht wiederkommen. Anna hatte nicht geantwortet.

Stattdessen war sie, nachdem sie wahllos ein paar Klamotten und sonstige Dinge in den Rucksack gestopft hatte, zum Altonaer Bahnhof gelaufen, um den nächsten Zug nach Bremen zu nehmen.

Meine Mutter ist tot, hatte sie die ganze Reise über gedacht, ohne es wirklich zu begreifen. Der einzige Mensch, der, abgesehen von Rike, mit ihr verwandt war, lebte nicht mehr. Anna war, als würde sie von einer Brücke stürzen, die unvermittelt in der Luft endete. Und während sie in der wattigen Atmosphäre des ICE saß und draußen das flache Land vorüberzog, sah sie ihre Mutter vor sich. Eine Frau, die alles getan hatte, um nicht aufzufallen, und die doch in dem kleinen Inselort immer fremd geblieben war, anders schon durch ihren starken italienischen Akzent, den sie nie abgelegt hatte und für den Anna sich als Mädchen oft geschämt hatte. Zu Hause hatten sie nur Italienisch miteinander gesprochen. Doch am besten war ihre Mutter darin gewesen zu schweigen. Auf Fragen, die Anna ihr über ihre Vergangenheit gestellt hatte. „Dein Vater ist tot“ und „Ich wollte weg aus dem Tessin“ war alles gewesen, was sie aus ihr herausbekommen hatte, und als sie sich irgendwann mit diesen vagen Antworten nicht mehr hatte zufriedengeben wollen, hatte ihre Mutter zum einzigen Mal die Beherrschung verloren. „Porco Dio, was geht dich mein Leben an? Ich habe dir deines geschenkt, genügt das nicht? Du hast eine Mutter, einen Vater brauchst du nicht, hast du verstanden?“ Danach hatte Anna aufgehört, Fragen zu stellen, und versucht, sich damit abzufinden, dass sie keine Antworten bekommen würde. Mit der Zeit war ihr das gut gelungen, und jetzt ballte sich in ihrem Magen eine diffuse Furcht zusammen, ganz so, als stände sie vor einer Tür, hinter der etwas wartete, das sie nicht sehen wollte.

Anna schreckte auf, als der Imbisswagen scheppernd durch den Mittelgang rollte. Sie kaufte einen Becher Kaffee, von dem sie wusste, dass er grauenhaft schmecken, sie aber immerhin wärmen würde. Die Klimaanlage im Zug war zu kalt eingestellt, und sie fühlte sich wie erstarrt. Der kurze Kontakt zu der Frau, die den Imbisswagen schob, hatte genügt, um sie aus ihren Grübeleien in die Wirklichkeit zurückzuholen. Es gab so vieles, was sie jetzt organisieren musste. Wo sollte sie anfangen? Sie musste eine Beerdigung ausrichten, wahrscheinlich mit dem Priester sprechen, auch mit Frau Harms, der Vermieterin ihrer Mutter, die Rike vorübergehend bei sich aufgenommen hatte. Sie würde zur Bank gehen und sich um die Auflösung der Konten kümmern müssen. Vor allem aber war die Frage zu klären, was mit Rike geschehen sollte. Sie musste eine Entscheidung treffen. So, wie ihre Mutter damals über sie entschieden hatte.

„Porca miseria, du hast dir das selbst zuzuschreiben, jetzt trägst du auch die Folgen“, hatte sie bestimmt. „Eine Abtreibung kommt nicht infrage, ich lasse nicht zu, dass meine Tochter zur Mörderin wird. Du kriegst das Kind.“

Anna hatte aufbegehrt, zum ersten Mal, aber ihre Mutter war stur geblieben. Simona, die Harte. Nie hatte sie die Zügel aus der Hand gegeben. Wer Rikes Vater war, hatte Anna ihr nicht gesagt. Aus Rache dafür, dass sie ein Kind bekommen musste, das sie nicht wollte, das sie aufgegeben hatte, um sich ihre Freiheit zu erkaufen, und das jetzt auf sie wartete, in einem kleinen weißen Haus, eine Viertelstunde Fußweg entfernt.

In der kühlen Luft unter dem tiefen, endlosen Himmel hatte sie Angst davor, ihrer Tochter gegenüberzutreten. Wie würde es sein, nachdem sie sich so lange Zeit nicht gesehen hatten? War Rike überhaupt bewusst, dass sie zukünftig bei ihr leben würde?

Einen Moment lang dachte Anna daran, wieder an Bord der Fähre zu gehen und einfach umzukehren. Doch das war natürlich nicht möglich. Sie warf noch einen Blick zurück auf die grauen Wellen, die an die Kaimauer klatschten, dann schulterte sie ihren Rucksack und ließ den Hafen hinter sich.

Der Wind zerrte an ihrem Haar, und die Luft war satt von Tanggeruch und Salz. Touristen kamen ihr entgegen, ihre farbigen Windjacken bauschten sich wie Ballons. Wäre sie nicht so nervös gewesen, hätte sie den Spaziergang genossen, aber jeder Schritt brachte sie dem Wiedersehen mit Rike näher. Sie wollte nichts von alldem wissen, was ihr in den kommenden Tagen bevorstand: die Beerdigung, die Beileidsbekundungen der Nachbarn. Sie war nie gut darin gewesen, das Richtige zu tun, eigentlich waren die letzten fünfzehn Jahre eine Abfolge falscher Entscheidungen gewesen, und es kam ihr unwahrscheinlich vor, dass sich das ausgerechnet jetzt ändern würde.

Ihr Herz klopfte ängstlich, als sie den Park am Rosengarten durchquert hatte und auf der anderen Seite in die Stadt kam. Auf den ersten Blick hatte sich nichts verändert. Wie sehr war es ihr damals auf die Nerven gegangen, dass die Straßen und Häuser stets wirkten wie gerade frisch gestrichen. Auch jetzt kamen die Fassaden ihr verlogen vor.

Als rechter Hand der Rotklinkerbau der Grundschule mit seinem hohen Giebel erschien, schnürte sich ihr unvermittelt der Hals zu, und sie ging schnell weiter. Jetzt befand sie sich auf ihrem alten Schulweg. Nur noch hundert Meter, dann war sie zu Hause. Sie zögerte kurz, ihre Beine fühlten sich schwer an. Ein nervöses Flattern breitete sich in ihrer Magengrube aus. Über sich selbst verärgert, gab sie sich einen Ruck, bog in die Frisiastraße ein und sah auf ihre Füße, bis sie vor dem schmalen weiß verputzten Haus stand.

Das Tor quietschte, als Anna es aufdrückte. Im winzigen Vorgarten lehnten zwei weiße Klappstühle neben einem Bistrotisch an der Hauswand. Anna nahm die Stufe zur Eingangstür, neben der ein Mobile aus blauen Holzfischen vom Vordach herabhing. Ob Rike es gebastelt hatte? Sie atmete tief ein und drückte die Klingel. Es erschien ihr ganz unmöglich, dass ihre Mutter nicht die Tür öffnen würde. Im Inneren des Hauses erklang der vertraute Glockenton. Anna stellte ihren Rucksack ab und klingelte noch einmal, aber nichts rührte sich. Vielleicht hatte Frau Harms Rike mit zu sich genommen.

Anna kramte in ihrem Rucksack, bis sie den Hausschlüssel zwischen den Fingern spürte. Es kam ihr seltsam vor, dass sie ihn noch immer besaß nach all den Jahren, in denen sie ihn nicht benutzt hatte. Er hing an einem angegrauten Miniaturstoffturnschuh, den ihr Kerstin, ihre beste Freundin, zum vierzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Was wohl aus ihr geworden war? Nachdem Anna die Insel verlassen hatte, hatte sie nie wieder Kontakt zu ihr gesucht. Kerstin war Teil einer Vergangenheit, die sie vergessen wollte.

Anna schloss die Tür auf und betrat die kühle Diele. In der Luft lag ein Hauch von Basilikum. Simona hatte ihre salsa al pomodoro stets mit frischem Basilikum gemacht. Dieses Aroma, das sie empfangen hatte, wenn sie nach der Schule heimgekommen war, hatte Anna nie vergessen. Es war unvorstellbar, dass Simona nie wieder in der Küche stehen und fusilli mit Tomatensoße kochen würde.

Sie stellte den Rucksack in der Diele ab und ging in die Küche. Das Basilikum stand am Fenster, das Licht fiel durch die Blätter und brachte sie zum Leuchten. Über dem Gläserbord tickte die altmodische Kuckucksuhr, die ihre Mutter einmal auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Als kleines Mädchen hatte Anna es geliebt, wenn zur vollen Stunde der Vogel aus seiner Klappe geschossen kam, doch irgendwann war die Uhr kaputtgegangen und nie repariert worden. Anna setzte sich an den Küchentisch und stützte den Kopf in die Handflächen. Ihr war nach Weinen zumute, aber es kamen keine Tränen. Vielleicht war es zu frisch, vielleicht war zu viel passiert, um trauern zu können.

Als sie Schritte auf der Treppe hörte, fuhr sie unwillkürlich zusammen. Sie stieß den Stuhl so heftig zurück, dass er auf den Boden krachte. Einen Herzschlag lang glaubte sie, das alles wäre nur ein Irrtum und Simona würde gleich hereinkommen. Aber das war natürlich Unsinn.

„Hallo?“, kam eine zaghafte Stimme von der Treppe. „Frau Harms?“

Anna schluckte und trat in die Diele. Der Holzboden knarrte. Ein Gesicht erschien über dem Treppengeländer, eingefasst von wildem, schwarzem Haar. Zwischen den Strähnen blickten zwei schwarz umrandete Augen hervor, und ein pinkfarben leuchtender Mund öffnete sich erstaunt.

„Wer sind Sie denn? Suchen Sie Frau Harms? Die ist einkaufen.“ Die Stimme des Mädchens klang bereits desinteressiert, und es legte den Kopf schräg, um sich die Stöpsel des Kopfhörers wieder in die Ohren zu stecken.

Anna wollte etwas sagen, aber es kam nur ein eigenartiges Geräusch heraus, eine Mischung aus verlegenem Lachen und unsicherem Räuspern.

„Hallo“, setzte sie schließlich an. „Ich bin’s – Anna.“

Rike näherte sich zögernd dem Treppenabsatz. Sie trug schwarz-blau geringelte Strumpfhosen unter einem Minirock mit Schottenkaro. Wie groß sie war. Viel erwachsener, als Anna erwartet hatte.

„Ach so. Frau Harms hat erzählt, dass du kommst, aber ich dachte, erst morgen oder so.“ Rike schürzte die Lippen, als wunderte sie sich, was Anna hier zu suchen hatte.

„Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte“, sagte Anna. „Jemand muss sich doch um dich kümmern.“

„Das hast du bisher auch nicht gemacht.“ Rike ließ sich gegen die Wand fallen und verschränkte die Arme. „Also brauchst du jetzt auch nicht mehr damit anzufangen.“

Für einen Moment war Anna sprachlos, dann musste sie sich eingestehen, dass Rike aus ihrer Sicht recht hatte. Sie wusste ja nicht, wie weh es tat, eine Fremde für sein eigenes Kind zu sein, es nur einmal im Jahr zu sehen, sich ansonsten mit Postkarten zu Weihnachten und zum Geburtstag zu behelfen, nicht zu wissen, wohin mit der Liebe und dem Schmerz. Doch Simona hatte immer behauptet, es sei besser, das Mädchen nicht zu verwirren, das seine Großmutter „Mami“ nannte und es vermied, Anna überhaupt anzusprechen. Und als Rike acht Jahre alt gewesen war, hatten die Postkarten und auch die jährlichen Besuche in Hamburg plötzlich aufgehört. Ihre Mutter hatte Anna empfohlen, das Kind nicht durcheinanderzubringen und es in Ruhe zu lassen. Anfangs hatte Anna es kaum ertragen, das Wenige, was sie von ihrer Tochter mitbekam, auch noch zu verlieren, doch daran war sie schließlich selbst schuld. Im Lauf der Zeit arrangierte sie sich mit der Situation und begann, ihr eigenes Leben zu leben. Sie lernte, den Schmerz in seine Höhle zurückzuscheuchen, wenn er sich hervorwagte. Sie weinte nicht mehr, weil sie wusste, dass der Damm, den sie so mühevoll errichtet hatte, beim geringsten Anzeichen von Schwäche brechen würde. Und nun, als sie ihrem Kind gegenüberstand, das mit trotzigem Blick vom Treppenabsatz auf sie herunterblickte, merkte sie, dass es lange dauern würde, den Schutzwall wieder abzutragen, Stein für Stein.

Mascha Vassena

Über Mascha Vassena

Biografie

Mascha Vassena erhielt für ihre Erzählungen mehrere Stipendien, u. a. das Stipendium Akademie Schloss Solitude und den Hamburger Förderpreis für Literatur. 2005 erschien ihr Erzählungsband „Räuber und Gendarm“ unter dem Namen Mascha Kurtz bei Liebeskind. Sie schreibt außerdem Opernlibretti und...

Pressestimmen
Schweizer Familie

„Eine mitreißende und berührende Familiengeschichte.“

Stuttgarter Nachrichten

„Fesselnd und kurzweilig.“

Brigitte Schweiz

„Ein wunderbarer Schmöker für graue Wintertage.“

Kommentare zum Buch
Ein spannendes Buch für einen gemütlichen Abend
Nina am 22.08.2014

Als Simona starb, gibt es für Anna kein halten mehr. Sie fährt zur Wohnung ihrer Mutter, wo auch ihre Tochter, die bei ihrer Oma aufwuchs, wohnt. Dort findet sie Unterlagen, welche darauf schließen, dass sie ein Haus in Tessin geerbt hat. Dort fährt sie mit Rike ihrer Tochter hin. Der Besuch beim Bürgermeister bringt Klarheit und Anna spürt, dass er ihr irgendwas verbirgt. Dann erfährt sie, dass eine alte Frau namens Charlotte auf dem Dachboden wohnt. Sie verlässt niemals das Haus, was Anna merkwürdig vorkommt. Luca, ein günstiger Handwerker, hilft Anna bei der Renovierung und nach und nach findet Anna beweise dafür, dass hier in dem Haus etwas Schreckliches passiert ist, was nicht nur ihr Leben verändert.   Im Jahre 1963 trifft die schöne Charlotte den gutaussehenden Künstler Georg Kurbin und verliebt sich unsterblich in ihn. Sie verbringen einen wunderschönen Sommer zusammen bis zu jenem Unfall, der alles verändert.   Das Buch ist lesenswert. Am Anfang hatte ich zwar meine Schwierigkeiten mit Anna. Ich konnte mich einfach nicht an sie gewöhnen, doch nach und nach sammelte sie Sympathiepunkte. Charlottes Geschichte hingegen hat mir von Anfang an gefallen. Sie war so ein toller Mensch, voller Pläne für die Zukunft. In dem Buch lernt man, wie wichtig das Leben ist und wie schnell sich ein Leben für immer verändern kann.

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