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Das Haus, das in den Wellen verschwandDas Haus, das in den Wellen verschwand

Das Haus, das in den Wellen verschwand

Lucy Clarke
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Roman

„Ein toller Roman mit einigen unvorhersehbaren Wendungen.“ - Franken aktuell

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Das Haus, das in den Wellen verschwand — Inhalt

Lana und Kitty wagen das große Abenteuer und gehen auf Weltreise. Unterwegs treffen sie auf eine Gruppe junger Globetrotter, die mit ihrer Jacht von den Philippinen nach Neuseeland segelt. Schnell werden die Frauen Teil der Crew, und es beginnt eine Zeit voller neuer Erfahrungen vor der traumhaften Kulisse der Südsee. Doch auch das Paradies hat seine Schattenseiten. Denn die Freundinnen merken bald, dass an Bord nichts ist, wie es scheint. Und als ein Crewmitglied spurlos verschwindet, kommen nach und nach die Gründe ans Licht, weshalb ihre Mitreisenden die Fahrt wirklich angetreten haben …

€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 02.06.2017
Übersetzt von: Claudia Franz
384 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31104-5
Download Cover
€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 01.06.2016
Übersetzt von: Claudia Franz
384 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97299-4
Download Cover

Leseprobe zu „Das Haus, das in den Wellen verschwand“

Kapitel 1: Jetzt


Der Pinsel rutscht Lana aus den Fingern und dreht sich im Fallen. Als er am Fuß der Staffelei landet, spritzen winzige Flecken blauer Acrylfarbe an Lanas Knöchel.
Sie schaut nicht hin und bemerkt auch nicht, dass sich die Farbspritzer über die kleine Tätowierung, ein Flügel, an ihrem Knöchel verteilt haben. Ihr Blick bleibt auf das Radio auf der Fensterbank gerichtet, und ihre Finger ragen immer noch in die Höhe, als hielten sie den Pinsel an die Leinwand. Der silberne Kasten aus Metall und Drähten zieht ihre ge­­samte Aufmerksamkeit auf [...]

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Kapitel 1: Jetzt


Der Pinsel rutscht Lana aus den Fingern und dreht sich im Fallen. Als er am Fuß der Staffelei landet, spritzen winzige Flecken blauer Acrylfarbe an Lanas Knöchel.
Sie schaut nicht hin und bemerkt auch nicht, dass sich die Farbspritzer über die kleine Tätowierung, ein Flügel, an ihrem Knöchel verteilt haben. Ihr Blick bleibt auf das Radio auf der Fensterbank gerichtet, und ihre Finger ragen immer noch in die Höhe, als hielten sie den Pinsel an die Leinwand. Der silberne Kasten aus Metall und Drähten zieht ihre ge­­samte Aufmerksamkeit auf sich. Sie lauscht der Stimme des Nachrichtensprechers.
»… ist hundert Seemeilen vor der Nordküste Neuseelands gesunken. Die Jacht namens The Blue soll vor acht Tagen mit ­einer Besatzung von fünf Leuten, darunter zwei Neuseeländern, Fidschi verlassen haben. Der Seenotrettungsdienst in der Bay of Islands hat eine Rettungsaktion eingeleitet. Die Küstenwache beschreibt den Seegang als mäßig bewegt, mit Windstärken bis zu zwanzig Knoten.«
Lana blinzelt und bemüht sich, die Informationen aufzunehmen, die an ihr abzuprallen scheinen, wie Regen auf harter, verbrannter Erde. Ihr Blick bohrt sich in das Radio, als könne es dadurch mehr preisgeben, aber der Nachrichtensprecher ist schon beim nächsten Thema.
Sie hebt ihre Hand an den Kopf und spürt die kühle Seide des Kopftuchs, mit dem sie sich die Haare aus dem Gesicht gebunden hat. Acht Monate ist es nun her, dass Lana die Jacht verlassen hat, braun gebrannt, barfuß, einen großen Rucksack auf dem Rücken. Unter ihren Augen hatten tiefe Schatten gelegen, als sie am Strand entlanggegangen war, ohne sich noch einmal umzuschauen. Sie konnte es nicht.
Als sie sich jetzt umdreht, erblickt sie in dem großen Spiegel, der an der Wand lehnt, ihr Spiegelbild: Ihr Gesicht ist bleich, die großen grünen Augen sind weit aufgerissen und schauen sie fragend an. Ist Kitty nach all der Zeit immer noch an Bord gewesen? Ist sie tatsächlich geblieben, obwohl Lana fort war? Es ist nicht ausgeschlossen, dass Kitty nach England zurückgekehrt ist. Lana versucht, sich vorzustellen, wie sie mit einem Drehbuch in der Hand in der Londoner U-Bahn sitzt, die glänzenden Haare offen über den Schultern, die Lippen rot angemalt. Das Bild will aber nicht scharf werden, nicht wirklich. Sie weiß, dass Kitty die Jacht nicht freiwillig verlassen hätte. Wie könnte eine von ihnen heimkehren, nach allem, was passiert ist?
Seit acht Monaten haben sie sich nicht mehr gesehen – so lang waren sie seit Beginn ihrer Freundschaft noch nie getrennt gewesen. Sie denkt an Kittys E-Mails, die immer noch ungelesen im Posteingang warten. Erst waren fast täglich lange Mails eingetroffen, dann nur noch alle paar Tage, manchmal auch erst nach einer Woche. Bei der Lektüre hatte Lana sich vorgestellt, wie die Jacht an entlegenen Inselketten entlangsegelte, und sich gefragt, was wohl an Bord ge­­schah und mit wem Kitty die Zeit verbrachte. Da ständig diese Bilder in ihrem Kopf umhergeschwirrt waren, hatte sie die E-Mails irgendwann nicht mehr geöffnet. Und Kitty aus ihren Gedanken verbannt.
Nun bricht sich plötzlich eine Erinnerung Bahn, wunderschön und bunt wie ein Drachen: Kitty und sie, die im Alter von elf Jahren im Schneidersitz auf dem Kinderzimmerboden hocken und Freundschaftsbändchen flechten. „Das ist für dich“, hatte Kitty gesagt und ein schmales Baumwollbändchen aus türkisfarbenen und gelben Fäden hochgehalten – Lanas Lieblingsfarben. Sie hatte es um Lanas Hand­gelenk gelegt und die Zähne zu Hilfe genommen, um es in der richtigen Position zu verknoten. Hinterher war auf Lanas Handrücken eine Spur Lipgloss mit Erdbeergeschmack zu­­rückgeblieben.
Lana wiederum hatte für Kitty ein Bändchen aus pink­farbenen und weißen Fäden geflochten. Sie hatten die Hand­gelenke aneinandergelegt und sich versprochen, für immer und ewig Freundinnen zu bleiben.
Achtzehn Monate lang trug Lana ihr Freundschaftsbändchen, das allmählich zerfranste und spülwassergrau wurde, bis es in der Badewanne schließlich riss. Sie fischte es aus dem Wasser und hängte es zum Trocknen über die Handtuchstange. Dann legte sie es in die Erinnerungsschachtel zu dem Foto ihrer Mutter.
Freundinnen für immer und ewig, hatten sie sich geschworen.
Heiße Schuldgefühle steigen in Lana auf, als sie an das gebrochene Versprechen denkt: Sie hat Kitty aus ihrem Leben verbannt, die Bugleine durchgeschnitten und das Boot aufs Meer hinaustreiben lassen.
Verzweifelt wartet Lana auf die nächsten Nachrichten. Sie muss wissen, was auf dem Wasser geschehen ist – ob sich die Besatzung auf ein Rettungsfloß flüchten konnte, ob jemand verletzt ist –, aber im Radio dudelt ein penetranter Softrock-Song. In wenigen Schritten ist sie am Fensterbrett und schaltet das Radio aus.
Am offenen Fenster bleibt sie stehen. Das Morgenlicht ist fahl und dunstig, eine salzige Brise weht herein. Lana stellt sich auf die Zehenspitzen und schaut über die Baumwipfel hinweg aufs Meer. Die Aussicht ist einer der Gründe, warum sie diese Wohnung überhaupt gemietet hat, trotz der schadhaften Dielen und der lautstarken Elektroöfen, an die man sich im strengen Neuseeländer Winter schmiegen muss, um ein bisschen Wärme zu verspüren.
Jetzt, da der Sommer naht, ist sie dankbar für die großen Fenster, die das Licht hereinfluten lassen. Sie kann ihre Staffelei davor aufbauen und vor der Arbeit noch ein wenig malen. Es ist fast eine Art von neuem Leben, das sie sich hier aufgebaut hat: Sie hat einen Job, eine Wohnung und ein ge­­brauchtes Auto. Ihre Tage mögen nicht mehr mit Freunden und Gelächter und Trubel angefüllt sein, aber das ist vielleicht auch besser so.
Manchmal denkt sie an ihren Vater in England, der jeden Abend allein in seinem heruntergewohnten Reihenhaus hockt, Kreuzworträtsel löst und fernsieht. Nachdem sie so lang gegen seinen gleichförmigen Alltag rebelliert hat, ist sie sich der Ironie durchaus bewusst, dass ihr eigenes Leben jetzt in denselben geruhsamen Bahnen verläuft. Alle paar Monate schreibt sie ihm – nur kurze Briefe, um ihn wissen zu lassen, dass es ihr gut geht –, aber sie notiert nie ihre Adresse auf dem Umschlag. Dazu ist sie noch nicht bereit.
Acht Monate ist Lana nun schon in Neuseeland. Als sie in ihrem sonnengebleichten Baumwollkleid aus dem Flugzeug stieg, hatte der Herbst bereits begonnen. Das salzverkrustete Haar war ihr offen auf die Schultern gefallen. Sie hatte lediglich einen großen Rucksack auf dem Rücken und die fünfhundert Dollar, die von ihren Ersparnissen noch übrig waren.
Die erste Nacht hatte sie im Auckland Hostel verbracht. Mit geschlossenen Augen lag sie auf der Matratze des Etagenbetts und wartete darauf, dass der Boden unter ihr zu schlingern und zu rollen begann. Wenn in diesem Moment jemand in den Schlafsaal gekommen wäre, ihr eine Hand auf die Schulter gelegt und gefragt hätte: Alles in Ordnung? Ist etwas passiert?, hätte sie es erzählt. Alles hätte sie erzählt: von dem Leinenrucksack, der über Bord geworfen wurde, und davon, wie eine Leiche im Meer trieb; vom Horizont, der schwankt und sich krümmt, wenn kein Land die Sicht be­­grenzt; von dem roten Sarong auf dem Kabinenboden, weicher Stoff unter Lanas Füßen; von einem Kuss in einer Kalksteinhöhle; davon, dass man seine beste Freundin anschauen und sie nicht wiedererkennen kann. Aber es kam niemand und fragte. Und als sich die Minuten in Stunden und die Stunden in eine ganze Nacht verwandelten, verdrängte Lana diese Erinnerungen und verschloss sie in ihrem Innern.
Als der Morgen anbrach, wusch sie sich das Salz von der Haut. Sie drehte das Wasser voll auf, ließ es sich lange Zeit über den Körper laufen und freute sich über die anscheinend endlosen Wasserreserven. Dann zog sie ihr Kleid an, nahm den Rucksack auf den Rücken und marschierte los. Ihre Flip-Flops scheuerten an den Zehen, da sie wochenlang barfuß gelaufen war. In einem Straßencafé ließ sie sich nieder und frühstückte. Nachdem sie einen salzigen Bagel mit Speck und Spiegelei verschlungen hatte, fuhr ein Wagen mit einem Surfbrett auf dem Dach vor; auf einem handgeschriebenen Schild an der Heckscheibe stand: Zu verkaufen. $ 500. Lana ging hin und fragte den Autobesitzer, einen jungen Spanier, dessen Visum in zwei Tagen ablief, ob er auch mit dreihundert Dollar zufrieden wäre. Er erklärte, wenn sie ihn noch schnell zum Flughafen bringe, seien sie quitt.
Danach fuhr sie in Richtung Norden, ohne Karte, ohne Plan und ohne jemanden an ihrer Seite. Es war eigenartig, nach so langer Zeit wieder in einem Auto zu sitzen. In den Kurven schlug sie das Lenkrad viel zu stark ein, weil sie an das Steuerrad der Jacht gewöhnt war. Die Geschwindigkeit und das scheinbar widerstandsfreie Fortkommen auf der Straße waren so irritierend, dass sie irgendwann sämtliche Fenster herunterkurbelte, um den Wind im Gesicht zu spüren.
Auf ihrer ersten Fahrt durch Neuseeland kam sie an dunklen Seen, endlosen Weinbergen und atemberaubenden Berglandschaften vorbei. Als sie die Küste erreichte, hielt sie schließlich auf einem Kiesweg, der zur Bucht führte. Das Auto war dem Meer zugewandt, und Lana beobachtete, wie die Wellen heranrollten und sich über den Strand ergossen. Als die Sonne im Meer versunken war, kletterte sie auf die Rückbank, löste ihren Schlafsack aus der Halterung unter dem Rucksack und schlüpfte hinein, den Kopf gegen die Tür gelehnt.
Wenn jemand gefragt hätte: Warum ausgerechnet Neuseeland?, hätte sie antworten können, dass sie immer schon dorthin wollte. Das wäre aber nur die halbe Wahrheit gewesen.
In Wahrheit war Lana immer klar gewesen, dass die Jacht irgendwann dorthin zurückkehren würde – so wie sie wusste, dass er aus Neuseeland kam. Vielleicht hatte sie all die Monate dort ausgeharrt, weil sie, sosehr sie die Sache auch vergessen wollte, noch nicht bereit war, die Blue aus ihrem Leben zu verbannen.



Kapitel 2: Damals


Das Skizzenbuch steckte zwischen Tüten mit Cashewnüssen und Stapeln von Sonnenhüten hinten in einer Verkaufsbude. Lana nahm es behutsam vom Regalbrett herunter und wischte die Staubschicht vom Deckblatt. Die Seiten waren dünner, als sie es sich gewünscht hätte, aber dafür waren sie von einem frischen, makellosen Weiß. Sie nahm es mit zur Verkaufstheke, wo ein philippinischer Junge, der sie mit seinen schiefen Zähnen angrinste, nach dem Preis suchte.
„Künstlerin?“, fragte er.
Sie wollte schon verneinen, als es sie plötzlich überkam. „Ja, Künstlerin“, bestätigte sie lächelnd. Warum eigentlich nicht? Sie war auf Reisen; niemand außer Kitty kannte sie hier. Sie konnte sein, was sie wollte.
Mit dem Skizzenbuch unter dem Arm trat sie aus dem Schatten der Bude heraus. Überall wimmelte es von Menschen. Die Hitze des Tages staute sich in den Straßen, die Wärme und Staub abzustrahlen schienen. Lana hatte ihr volles bernsteinfarbenes Haar zu einem lockeren Knoten zu­­sammengebunden und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Die Hitze auf den Philippinen war wie eine Wand, starr und undurchdringlich, Tag und Nacht.
Als sie sich einen Weg durch die Menschenmassen bahnte, streifte sie einen Mann, der mitten auf dem Gehweg stand und mit einem Strohfächer die Glut seines Grills anfachte. Ein Geruch nach Verkohltem stieg auf.
An einer Bude hinter dem Mann surrte ein Dieselgenerator, der Lana heiße Abgase an die nackten Beine blies. Sie wich zwei mit Glasflaschen vollgestopften Kisten aus, die auf dem Gehweg aufgestapelt waren, und trat dann über ein paar Risse und Furchen im Asphalt. Von dem Straßenmarkt war sie ein wenig enttäuscht. Sie hatte sich schon vorgestellt, wie sie hier entlangschlendern und fantasievoll bedruckte Kleider oder interessanten, selbst gemachten Schmuck entdecken würde; stattdessen hatten die meisten Buden die immer gleichen langweiligen T-Shirts und Sarongs im Angebot.
Auf der anderen Straßenseite lief ein philippinischer Junge mit einem kleinen Hahn im Arm, gefolgt von einem Hund mit einer Kokosnussschale im Maul. Hinter dem Jungen entdeckte Lana Kitty, die in der Schlange vor einer Bäckerei stand, die schwarzen Haare über eine Schulter geworfen. Von hinten hätte man sie mit ihrer zierlichen Figur und der braun gebrannten Haut fast für eine Einheimische halten können. Sie sprach mit einem älteren Mann, der über etwas lachte, das sie sagte. Kitty hatte die wunderbare Gabe, überall Freunde zu gewinnen, indem sie mit ihrem unerschöpf­lichen Vorrat an Geschichten und Fragen auch Wildfremde in Gespräche verwickelte.
Lana blieb inmitten der Menge stehen, um die Straße zu überqueren und zu Kitty zu gehen. Von einer warmen Windböe wurde der süßliche, hefige Geruch von Brot herübergetragen, während sie darauf wartete, dass sich in der endlosen Prozession bunt bemalter Tricycles eine Lücke auftun würde. Autos gab es nicht in Norappi, nur diese Dreiräder, die sich mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die Straßen schlängelten und unentwegt hupten. Mit ihren bunten Metallgehäusen, die am Motorrad des Fahrers befestigt waren, erinnerten sie Lana an die Tuk-Tuks in Bangkok, die sie von Bildern her kannte.
Plötzlich kam es auf der anderen Straßenseite zu einem Tumult. Der Junge mit dem Hahn schrie auf, als sich der Vogel aus seinen Armen befreite und über die Straße flattern wollte. Ein Tricycle, das in diesem Moment vorbeikam, riss scharf das Steuer herum, die Bremsen quietschten. Der Fahrgast – ein junger Ausländer mit riesigen Kopfhörern auf den Ohren – wurde hochgeschleudert und auf die andere Seite der Sitzbank katapultiert, sodass das Fahrzeug wankte und auf den Gehweg geriet.
Es krachte in einen Straßengrill und schleifte ihn mit, di­rekt auf Lana zu. Der Lärm, mit dem das Metall über den ­Asphalt schepperte, war ohrenbetäubend. Wie gelähmt von diesem plötzlichen Chaos, konnte sie nicht rechtzeitig ausweichen; der Grill knallte gegen ihren Fuß und riss ihr Bein zur Seite. Sie taumelte, Tasche und Skizzenbuch flogen in hohem Bogen davon. Dann spürte sie den harten Asphalt an den Händen, an ihrem Knie, am Knöchel. Sand und Staub stiegen ihr in die Nase. Der Boden vibrierte vor Hitze.
Das Geschrei schwoll weiter an. Lana hob den Kopf und sah, dass der Junge nach dem Hahn schnappte. Er bekam eine Handvoll Schwanzfedern zu fassen, riss das kreischende Tier an sich und hielt es unsanft fest. Das Tricycle stand jetzt am Straßenrand, während der Fahrer dem Jungen eine Ohrfeige verpasste und ihn heftig gestikulierend ausschimpfte.
Lana blinzelte. Sie sollte aufstehen, aber aus irgendeinem Grund konnte sie sich nicht bewegen. Ihre Sachen hatten sich auf dem Asphalt verteilt, die sauberen Seiten ihres Skizzenbuchs waren voller Dreck.
Während sie noch dalag, sammelte ein junger Mann in einem bunten T-Shirt ihre Habseligkeiten ein. Dann kam er zu ihr, wedelte den Staub von den Seiten des Skizzenbuchs und fragte: „Alles in Ordnung?“
„Ja“, sagte sie und schaffte es endlich, sich aufzurichten. Sie fühlte sich benommen und legte die Fingerspitzen an die Stirn.
„Komm“, sagte der Mann, stützte sie am Ellbogen und half ihr vorsichtig auf.
Als sie stand, hielt er sie weiter fest, damit sie ihr Gleich­gewicht wiederfinden konnte. In ihrem Knöchel pochte der Schmerz. Als sie hinabschaute, sah sie, dass sie direkt über dem Knöchel blutete.
„Ich war in dem Tricycle. Der Fahrer wollte dem Hahn ausweichen, aber …“ Er hielt inne und blickte sie an. Aus dem Kopfhörer, der an seinem Hals hing, drang leise Musik. „Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?“
„Mir geht es gut …“
„Lana! Um Gottes willen!“ Kitty drängelte sich durch die Menge, die Sonnenbrille schräg auf dem Kopf; ihre Tasche schlug gegen ihre Hüfte. Als sie Lana erreichte, schlang sie ihr die Arme um den Hals. „Ich habe den Lärm gehört. Und dann sah ich dich! Bist du verletzt? Ist es sehr schlimm?“ Kitty trat einen Schritt zurück, hielt Lana aber an den Oberarmen gepackt, als sie an ihr hinabschaute. „Dein Knöchel blutet ja.“
„Das wird schon wieder“, sagte Lana, die einfach nur von der Straße verschwinden und sich einen Moment hinsetzen wollte. Matt klopfte sie sich den Staub vom Kleid.
„Das gehört dir, vermute ich“, sagte der Fremde und hielt Lana ihre Sachen hin.
Lana bedankte sich.
„Dann mal alles Gute!“
Als Lana sich umdrehte und gehen wollte, flimmerte es vor ihren Augen. Alles schien plötzlich lauter und näher zu sein: das Hupkonzert, die Gesprächsfetzen auf Tagalog, das Knallen der Hämmer auf Metall. Sie fühlte, dass an ihrem Knöchel heißes Blut hinabrann, und verspürte einen Brechreiz. Menschen schoben sich an ihr vorbei, und der Geruch von Waschmittel, Essen und Schweiß, der aus ihren Kleidern aufstieg, nebelte sie ein. Einfach weitergehen. Ganz langsam. Raus aus dieser Straße.
Ihre Beine waren wackelig, und ihr Gleichgewichtssinn funktionierte nicht. Sie streckte die Hand aus, um sich irgendwo festzuhalten, doch da war überall nur Luft.
„O Gott!“, hörte sie Kitty rufen, ihre Stimme schien jedoch weit weg zu sein.
Plötzlich war der junge Mann an Lanas anderer Seite und packte sie am Unterarm. „Keine Sorge“, sagte er, „wir halten dich fest.“
Die beiden lotsten sie die Straße entlang und traten dann in einen Durchgang zwischen zwei Buden, der in eine schattige Gasse führte. Überall liefen Hühner herum, und die ­ge­­bleichte Wäsche, die zum Trocknen aufgehängt worden war, wurde in der Hitze ganz steif. Eine ältere Frau, die vor einem leeren Teller saß, beobachtete sie aus milchig braunen Augen.
Der Mann führte sie nach links, über eine baufällige Brücke, die ein Flüsschen überquerte und dann in einer von Felsen abgeschlossenen Sackgasse zu münden schien. „Da hinten ist es.“
Zwischen den Felsen tauchten Touristen auf, plauderten und lachten. Lana humpelte langsam durch einen kühlen Felsengang.
Schließlich gelangten sie ans obere Ende einer Beton­treppe, in die Hunderte von weißen Kieseln eingelassen wa­­ren. Von dort sah man auf eine Bar hinab, die auf Stelzen im Wasser errichtet worden war, fast ausschließlich aus Bambus und Treibholz, und sich zu den Seiten hin zum blauen Himmel öffnete. Rucksacktouristen in T-Shirts, Boardshorts, Trägerkleidchen und farbenfrohen Oberteilen lungerten auf niedrigen Sesseln oder Kissen herum und spielten Karten, rauchten, redeten. Zwei junge Frauen saßen am Ende des Tresens, tranken Bier und ließen ihre braun gebrannten Beine über dem Wasser baumeln. Vibrierende Rhythmen er­­füllten die Luft und mischten sich mit Stimmen und Gelächter.
Ihr Begleiter fand einen Platz am Wasser, wo ein kühles Lüftchen wehte. Lana legte ihr Skizzenbuch auf den Tisch und ließ sich in einen der breiten Holzsessel sinken, die nur wenige Zentimeter über dem Wasser schwebten. Sie streckte das Bein aus, erleichtert, den Knöchel entlasten zu können.
„Ich hole Eis“, sagte Kitty. „Und Drinks. Lana, du hast etwas Medizinisches jetzt dringend nötig.“ Dann wandte sie sich an den Mann. „Ein Bier?“
Er hob die Hände. „Trinkt ihr beiden nur, ich halte mich lieber zurück. Demnächst rücken meine Freunde hier an.“
„Nur ein ganz kleines Bier – als Dankeschön“, beharrte Kitty.
Nach einem kurzen Zögern zuckte er mit den Achseln. „Okay, warum nicht?“
Er heiße Denny, sagte er. Als Kitty zum Tresen ging, erzählte er Lana, dass er aus Neuseeland kam. Sein gleich­mäßiger goldbrauner Teint betonte seine blassblauen Augen, und seine Haare – eine dichte Masse sandfarbener Locken – schienen in die Höhe zu wachsen. Unwillkürlich dachte sie, dass sie sich vermutlich wie Sprungfedern anfühlten, wenn sie jetzt hineingreifen würde.
Er nahm den Kopfhörer vom Hals und legte ihn neben ihr Skizzenbuch auf den Tisch. „Du malst?“
„Gelegentlich“, antwortete sie.
„Was malst du denn?“
„Ach, eigentlich alles, was mich anspricht.“
„Und was spricht dich an?“ Er musterte sie interessiert.
Darüber musste sie einen Moment nachdenken. In dem Monat, den sie nun schon mit Kitty auf den Philippinen war, hatte sie bereits zwei Skizzenbücher gefüllt. Sie dachte an ihre letzten Zeichnungen: einige Jungen, die auf einer bröckeligen Mauer saßen und die Beine baumeln ließen; eine Ziege, die im Schatten angebunden war; ein Toreingang, der mit einem ausgebleichten gelben Laken verhängt war; ein einsamer Schuh, den jemand an den Straßenrand geworfen hatte. „Ich skizziere gerne ganz banale Dinge, die einen bestimmten Moment festhalten“
Er nickte nachdenklich. „Dinge mit einer Geschichte.“
„Ja, das trifft es besser.“
Kitty kam mit drei Bierflaschen zurück, die nass glänzend auf einem Bambustablett standen; aus den Flaschenhälsen ragten Zitronenschnitze hervor. Sie verteilte sie und reichte Lana dann ein paar Servietten und ein Glas mit Eiswürfeln. „Das war das Beste, was sie als Erste-Hilfe-Maßnahme auftreiben konnten.“
Lana wickelte die Eiswürfel in eine Serviette, drückte sie an den Knöchel und zuckte zusammen, weil es so kalt war.
Kitty schob ihre Zitrone mit dem Finger in die Flasche, dann stießen sie an.
Irgendwo hörte man das Getöse von umstürzenden Holzteilen, gefolgt von Gelächter. Als Lana sich umdrehte, sah sie, dass ein gewaltiger Jenga-Turm eingestürzt war. Die Erbauer sammelten die Einzelteile zusammen und beschimpften sich gegenseitig auf Italienisch. Kitty wandte sich wieder ihren Begleitern zu und sagte: „Tolle Bar. Davon hatte ich noch gar nicht gehört.“
„Sie wird von einem wirklich netten Pärchen betrieben“, sagte Denny. „Die beiden hatten definitiv den richtigen Riecher für die Lage.“ Er schaute auf das Flüsschen, das von der untergehenden Sonne in ein rosiges Gold getaucht wurde. Als er sich wieder umdrehte, blieb sein Blick an einer Bewegung am Eingang hängen. „Ah“, sagte er, „da sind sie ja.“
Zwei Männer, etwa Ende zwanzig, schlenderten zur Bar, zwischen sich eine jüngere blonde Frau, die barfuß war. Denny winkte sie herbei und stellte sie einander vor.
Aaron, ebenfalls ein Neuseeländer mit einem kantigen Kiefer und breiten Schultern, stützte sich auf eine Stuhllehne. „Ich habe das Teil bekommen“, berichtete er Denny. „Aber ich musste erst zum Laden des Bruders des Cousins des Mechanikers.“
Denny verdrehte die Augen. „Was hast du bezahlt?“
„Sechstausend Pesos.“
„Das ist gut.“
Aaron nickte.
„Joseph ist nicht da?“
Aaron zog eine Augenbraue hoch und deutete damit etwas an, was Lana nicht begriff. „Okay, ich hol mal Bier.“
Heinrich, ein Deutscher mit ebenmäßigen weißen Zähnen und einem praktischen Haarschnitt, zog für das blonde Mädchen – Shell – einen Stuhl zurück und rückte seinen dann daneben.
„Was ist passiert?“, fragte Shell, die Lanas Knöchel mit dem Eiswickel betrachtete.
„Ich bin einem flüchtenden Hahn in die Quere gekommen“, sagte Lana und nahm die Serviette weg, um ihr die Schwellung zu zeigen.
„Diese verfluchten Kamikaze-Hähne“, fügte Kitty hin-
zu.
Als Shell sich vorbeugte und sanft ihre Fingerspitzen auf Lanas Haut drückte, klimperten die unzähligen silbernen Armreifen an ihrem Handgelenk. Dann strich sie über den Rand der Schwellung. „Scheint verstaucht zu sein. Du solltest es heute Nacht weiter mit Eis kühlen.“
Lana mochte Shell sofort und spürte eine große Herzlichkeit in ihrem Lächeln. Sie fragte sich, ob Shell und Heinrich wohl ein Paar waren. Es war schwierig, zu sagen, ob ihr unbeschwerter Umgang miteinander von Vertrautheit oder von Intimität herrührte.
Aaron kehrte mit den Getränken zurück. Kitty unterhielt die anderen mit einer Geschichte, die sie erlebt hatte: ein Rendezvous einer schlanken Philippinerin mit einem alternden Amerikaner. Lana war froh, dass sie sich einfach nur zurücklehnen und zuhören konnte. Sie versuchte, die Konstellationen und die Dynamik dieser Gruppe von Freunden zu ergründen, die zusammen durch Südostasien reisten.
Da die Mischung aus Bier und Rum allen zu Kopf stieg, sprang die Unterhaltung an diesem lauen Sommerabend mühelos von einem Thema zum nächsten. Lana vergaß den Schmerz in ihrem Knöchel und grinste über die witzigen Anekdoten, die zur Sprache kamen: Denny hatte bis zu seinem neunten Lebensjahr nur in seinem Spiderman-Outfit schlafen können; Heinrich war derart von Ehrgeiz getrieben, dass er seinen Bruder immer zu Pinkelwettbewerben aufgefordert hatte; Shells Eltern besaßen einen Tierfutterhandel in Ontario, und sie war mit den weißen Plastiksäcken, in denen das Futter geliefert wurde, immer Schlitten gefahren; Aaron hatte sich mal im Regenwald auf Réunion verirrt und aus Versehen auf einen Ameisenhaufen geschissen, was ihm nicht gut bekommen war.
Weitere Runden wurden spendiert und getrunken. Kerzen wurden angezündet, und als die Nacht herabsank, erhellten Lichterketten die Bar. Kitty bestellte noch eine Runde Bier und Schnaps, woraufhin der Lärm am Tisch weiter anschwoll.
„Wie seid ihr eigentlich auf die Idee gekommen, auf die Philippinen zu reisen?“, erkundigte sich Shell bei Lana, woraufhin sich die Aufmerksamkeit der Gruppe sofort auf sie richtete.
Lana schaute auf ihre Flasche. Ihr Mund wurde trocken, als sie daran dachte, was sie dazu bewogen hatte, England zu verlassen. Sie musste an den Gesichtsausdruck ihres Vaters denken, der sie dabei überrascht hatte, wie sie, den braunen Umschlag in der Hand, auf dem abgewetzten Teppich seines Schlafzimmers kniete. Seine Gesichtszüge wurden schlaff, als zöge sie das Gewicht seiner Schuldgefühle nach unten.
Später in jener Nacht hatte Lana bei Kitty auf der Schwelle gestanden und gewartet. Der Regen war ihr in den Kragen getropft, und sie hatte die Schultern hochgezogen, um sich vor dem scharfen Wind zu schützen. Ihr Inneres hatte sich hohl und rau angefühlt, als habe man ihr die Eingeweide herausgerissen. Kitty hatte die Tür geöffnet, sie angeschaut und dann sofort hereingezogen. „Um Gottes willen, was ist denn mit dir passiert?“
Kitty wohnte in einer winzigen Einzimmerwohnung in Ealing, über einem Blumenladen. Sie führte Lana in den vollgepfropften Raum, in dem auch das Doppelbett stand, auf dem sich Kissen und Häkeldecken türmten. Kittys Kleidung hing an zwei Kleiderstangen, die an der Wand standen, und die Schuhe lagen in einer Truhe am Fußende des Bettes. Ihr Ankleidetisch war mit Make-up, diversen Bodylotions und Parfümflakons übersät. Das ganze Ambiente hatte etwas von einem Kostümfundus.
Kitty nahm einen weichen Morgenmantel vom Haken an der Tür und legte ihn Lana, die am ganzen Leib zitterte, um die Schultern. Dann rieb sie Lanas rote Hände. „Du bist ja eiskalt. Was ist denn passiert? Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Kann ich bei dir bleiben?“, fragte Lana mit tränenerstickter Stimme.
„Natürlich! Was ist denn los? Tut mir leid, dass es hier so kalt ist. Dieser dämliche Vermieter hat die Heizung immer noch nicht repariert“, sagte Kitty und zeigte auf den Radiator, auf dem zwei Tangas und ein Geschirrtuch zum Trocknen lagen. „Ich mache uns eine Wärmflasche und einen Tee.“
Ein paar Minuten später saßen sie im Bett, die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen und die Wärmflasche zwischen den Füßen. Lana drückte die Tasse mit dem dampfenden Tee an die Brust und spürte, wie ihr Herz pochte. Kopfschmerzen breiteten sich in ihren Schläfen aus, als sie zu erzählen begann. Sie ließ nichts aus: wie sie den Briefumschlag im Zimmer ihres Vaters gefunden hatte, was für Wahrheiten er enthielt und dass ihrem Vater nichts eingefallen war, wie er die Sache hätte abstreiten können.
Kitty hörte zu, die Augen auf Lana gerichtet, die Lippen zusammengepresst. Ihren Tee tranken sie beide nicht.
Als Lana zu Ende erzählt hatte, war ihr Gesicht tränenüberströmt. „Das werde ich ihm nie verzeihen.“
„Nein!“, widersprach Kitty. „Sag das nicht. Er hat einen Fehler gemacht, einen schrecklichen Fehler. Aber du darfst ihn nicht hassen. Das darfst du einfach nicht!“ Das brachte sie derart vehement vor, dass ihre Hand zitterte und kalter Tee auf die Bettdecke spritzte.
Lana schob die Erinnerung schnell beiseite. Sie konnte nicht an jenen Tag denken. Nicht hier. Als sie aufsah, be­­merkte sie, dass alle sie anschauten und auf eine Antwort warteten.
„Wir haben am Globus gedreht und einfach irgendwo draufgetippt“, eilte Kitty ihr zu Hilfe. „Und das waren dann die Philippinen.“
Lana nickte.
„Ich habe gedreht – und Lana hat mit geschlossenen Augen getippt.“
Heinrich lachte. „Wirklich? Das ist ja köstlich.“
Und es stimmte sogar – zumindest teilweise. Es mochte nicht der Grund sein, warum sie sich auf die Reise gemacht hatten, aber es war der Grund dafür, dass sie ausgerechnet hier gelandet waren. Lana hatte im Schneidersitz auf Kittys Bett gesessen, den Globus vor sich. Dann hatte sie die Augen geschlossen und an ihren Fingerspitzen den sanften Luftzug von der rotierenden Kugel gespürt. Und nach einer Weile hatte sie den Zeigefinger auf die kalte Oberfläche gedrückt.
Als sie die Augen wieder aufgeschlagen hatte, hatte der Zeigefinger mitten auf eine Ansammlung von Inseln am Äquator gelegen. Sie hatte den Finger weggenommen und den Namen vorgelesen: Philippinen.
„Möchtet ihr noch etwas trinken?“, fragte die Kellnerin, ein Tablett auf die Hüfte gestützt.
Die Bar war nun proppenvoll, und die Leute mussten fast schreien, um sich über die dröhnende Musik hinweg unterhalten zu können.
Aaron schaute auf die Uhr an seinem kräftigen Hand­gelenk, schob dann den Sessel zurück und stand auf. „Ich glaube nicht, danke.“
Als die Kellnerin fort war, wandte sich Aaron an Lana und Kitty. „Wir haben eine Flasche Rum, die unbedingt weg muss. Kommt ihr noch mit zu uns?“
Kitty und Lana hakten sich unter, als sie den anderen folgten, und Lana versuchte, ihren Knöchel so wenig wie möglich zu belasten. Da sie das Haarband herausgezogen hatte, fielen ihre Haare in einer dichten bernsteinfarbenen Welle auf ihre Schultern.
Die Gruppe blieb am Ufer stehen. Lana spürte den Alkohol, den sie getrunken hatte – waren es fünf Biere gewesen oder vielleicht sogar sechs? In der Dunkelheit sah sie, wie ­Aaron ein Seil von einem Holzpfosten losband. Das andere Ende war mit einem kleinen Metallboot mit Außenbord­motor verbunden, das er nun ins flache Wasser schob.
„Was tust du da?“, fragte Kitty leicht lallend.
„Euer Taxi bereitstellen.“
Shell, Heinrich und Denny kickten ihre Flip-Flops in den Sand und wateten ins Wasser. Sie kletterten in das Dinghy, das hin und her schaukelte und kleine Wellen an den Strand schwappen ließ.
„Wo fahren wir hin?“, fragte Kitty, auf deren Gesicht sich ein Grinsen breitmachte.
„Nach Hause“, erklärte Aaron.
„Euer Zuhause ist ein … Schiff?“
Lana sah Aarons Lächeln im Mondlicht.
„Nun kommt schon“, rief Denny aus dem Dinghy herüber. „Es wird euch gefallen, das verspreche ich euch.“
Lana zuckte mit den Achseln und schlüpfte aus ihren Sandalen. Der Boden war glitschig, und sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, was in dem stillen, dunklen Wasser alles lauern mochte.
Auf dem Boot war es eng. Lana saß auf einer feuchten Holzplanke, eingequetscht zwischen Shell und Kitty, Tasche und Skizzenbuch auf dem Schoß.
Aaron riss an der Startleine, und der Motor sprang stotternd an.
Der Geruch von Diesel und Fisch stieg aus der Hafenbucht auf, und immer wieder streifte kühle Luft ihre Haut. Unter der großen Last sank das Dinghy tief ins Wasser. Wenn sie die Hand aus dem Boot halten würde, dachte Lana, könnte sie die Finger über die Wasseroberfläche gleiten lassen.
Die Nacht war vollkommen still. Sie kamen an den bangkas der Fischer vorbei, die wie farbenfrohe Einbäume an ihren Ankern trieben. Die anderen plauderten munter weiter, aber Kitty und Lana waren verstummt. Sie starrten aufs Wasser, wo sich in der Dunkelheit der Schatten einer Jacht abzuzeichnen begann und das Mondlicht die Wölbung eines dunkelblauen Rumpfs beschien.
Lana riss die Augen auf und sog das Bild in sich ein. Es war eine elegante, lange Jacht mit zwei Masten, die aussahen, als würden sie Wache stehen. Im Mondlicht konnte man nun auch den Namen erkennen, der in einer verschnörkelten weißen Schrift auf den Rumpf gemalt war: The Blue.
Während Lana den beiden Wörtern innerlich nachlauschte, wurde ihr Herz von etwas ergriffen – war es Aufregung, Vorfreude oder Angst? –, das sie nicht recht verstand.
Sie ließen sich in der Plicht nieder – dem Teil des Bootes mit Steuerstand und Sitzgelegenheiten hinten im Boot; jemand nannte es „Cockpit“, was Kitty sofort ein Kichern entlock­­te – und tranken aus großen Gläsern Rum-Cola. Lana hielt einen Joint in den Fingern, ohne dass sie hätte sagen können, wer ihn herumgereicht hatte. Aus einem Lautsprecher irgendwo an Deck ertönte Musik. Die Jacht schaukelte sanft, als singe ihnen das Meer ein Wiegenlied. Lana spürte, wie sich ihr Körper diesem Rhythmus hingab und alle Anspannung von ihr abfiel.
Shell hatte sie unter Deck herumgeführt und ihnen den Wohnbereich gezeigt, den sie den Salon nannte, und die enge Kombüse. Abgesehen von den leeren Bierflaschen, die sich auf einer Seite stapelten, war sie tadellos aufgeräumt. Im vorderen Teil der Jacht gab es drei enge Kabinen mit Schlafkojen, und im Heck befanden sich zwei etwas größere Kabinen mit Doppelbetten, wo Aaron und Denny schliefen.
Lana gefiel die Schlichtheit der Räume, in denen es nach Holz und Lack roch. Sie war noch nie auf einer Segeljacht gewesen und blieb immer wieder stehen, weil sie etwas bemerkte, das sie am liebsten zeichnen würde: die von der Feuchtigkeit gewellten Taschenbücher, die auf einem Regalbrett im Salon standen und von der Encyclopaedia of Cruis­ing gestützt wurden; die beiden kleinen Hängematten an der Decke der Kombüse, die mit Obst gefüllt waren; die Seekarten, die auf einem Tisch ausgebreitet und mit einer wunderschönen großen Muschel beschwert waren.
Kitty leerte ihr Glas und stellte es ab. „Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ihr auf einem Segelschiff lebt“, sagte sie. „Wem von euch gehört es denn?“
„Der Skipper bin ich“, sagte Aaron, der breitbeinig dasaß, seinen Drink lässig in der großen Hand. Das passte. Lana war aufgefallen, wie behutsam er über das Steuerrad gestrichen hatte, als sie an Bord zurückgekehrt waren. Gleichzeitig hatte er den Blick über das Deck schweifen lassen, als wollte er sicherstellen, dass alles in Ordnung war.
„Ihr segelt also einfach in der Weltgeschichte herum und geht vor Anker, wo es euch gerade passt?“, fragte Kitty.
Er nickte. „So ungefähr.“
Soweit Lana es beurteilen konnte, bestand die Crew aus fünf Leuten: Aaron, Denny, Heinrich, Shell und dann noch ein gewisser Joseph, der bei ihrer Ankunft allein im Bug gehockt und geraucht hatte. Denny hatte ihn gefragt, ob er sich zu ihnen gesellen wolle, aber Joseph hatte nur im Vorbeigehen eine Hand gehoben und mit einem klangvollen französischen Akzent erklärt, dass die Koje auf ihn warte.
Die Nacht schritt voran, und es floss mehr Rum und immer noch mehr. Lana lauschte den Gesprächen und Kittys Lachen, das jetzt irgendwie losgelöst klang. Während die Jacht träge an ihrem Anker vor sich hin dümpelte, betrachtete Lana die Lichter der Stadt, die jenseits des tintenschwarzen Wassers glitzerten. Sie hätte sich nie träumen lassen, dass dies nur der Anfang war.

Lucy Clarke

Über Lucy Clarke

Biografie

Lucy Clarke studierte Englische Literatur an der Universität von Cardiff, bevor sie sich ganz ihrer Karriere als Schriftstellerin widmete. Ihre Romane erobern auf der ganzen Welt die Bestsellerlisten. Sie ist passionierte Tagebuchschreiberin und mit einem professionellen Windsurfer verheiratet, mit...

Medien zu „Das Haus, das in den Wellen verschwand“
Musik begleitet Lucy Clarkes Bücher: Wenn sie schreibt. Wenn sie reist, um für ihre Bücher zu recherchieren. Wenn sie am Manuskript arbeitet. Und eigentlich immer.

Hier gibt es die Songs, die sie beim Schreiben von „Das Haus, das in den Wellen verschwand“, begleitet haben:


Pressestimmen
Franken aktuell

„Ein toller Roman mit einigen unvorhersehbaren Wendungen.“

boersenblatt.net

„Viel Fernweh, wechselnde Schauplätze, emotionale Landschaftsbeschreibungen.“

Oberländer Rundschau (A)

„Stimmige Kulisse, glaubhafte Charaktere und eine spannende Handlung.“

Lea

„Spannender Lesestoff“

BÜCHER Magazin

„Clarkes Roman ist wie eine riesige Welle, die den Leser mit sich reißt und erst am Ende wieder sachte ans Ufer spült. Spannende und kurzweilige Lektüre.“

Kommentare zum Buch
Roman über Freundschaft und Vertrauen und das Ausleben von Sehnsuchtsgefühlen - ein spannender Pageturner
Lena am 16.06.2017

Lana und Kitty sind beste Freundinnen aus England und befinden sich gerade auf den Philippinen als sich zufällig auf die Crew der Jacht "Blue" treffen und von ihnen als Besatzungsmitglieder aufgenommen werden.   Lana hatte die Reise angetreten nachdem sie erfahren hatte, dass ihre Mutter gar nicht bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, als Lana drei Jahre alt war, sondern dass diese die Familie wegen eines anderen Mannes verlassen hat und mit diesem nach Griechenland gegangen ist. Tief enttäuscth von ihrem Vater musste sie raus aus England. Kitty, die einen Alkoholiker als Vater hat und als angehende Schauspielerin von mehr träumt, als in der Provinz einem alltäglichen Job nachzugehen, war sofort Feuer und Flamme für diese Auszeit.   Sie verbringen einige entspannte, ungezwungene Wochen ohne Sorgen und mit einem Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit. Auf der Jacht herrschen einige wenige Regeln unter anderem, dass Beziehungen zwischen den Crew-Mitgliedern untersagt sind. Lana verliebt sich dennoch in Denny, der die Beziehung allerdings nicht gegenüber Skipper Aaron offenbaren möchte. Kitty flirtet sowohl mit Shell als auch mit Heinrich. Als dann auch noch bei der langen Überfahrt nach Palau Joseph als blinder Passagier an Bord ist, kommen immer mehr Spannungen zwischen den Crew-Mitgliedern zutage, die auch in körperlichen Auseinandersetzungen münden. Und dann ist Joseph plötzlich verschunden - über Bord gegangen und es scheint, als wären die Crew-Mitglieder nicht nur wegen einer kleinen Auszeit an Bord der "Blue", sondern um ihren Problemen aus der Vergangenheit, von denen die anderen nichts ahnen, davon zu segeln.   Die Geschichte ist aus der Perspektive von Lana erzählt, die inzwischen alleine in Neuseeland ist und als Künstlerin arbeitet, nachdem sie die Jacht vor acht Monaten verlassen hat. Aus den Nachrichten erfährt sie, dass die "Blue" gesunken ist und die Besatzung vermisst wird. Lana ist voller Sorge um Kitty, von der sie sich offenbar im Streit getrennt hat und begibt sich in das Rescue Center um mehr zu erfahren. Dort trifft sie auf die Verwandten der anderen Crew-Mitglieder und erfährt so noch mehr von deren Geheimnissen.   "Das Haus, das in den Wellen verschwand" ist der dritte Roman von Lucy Clarke nach "Die Landkarte der Liebe" und "Der Sommer, in dem es zu schneien begann" und wie die beiden Romane zuvor, spielt auch dieser an exotischen Orten und handelt von einer jungen Frau, die eine Todesnachricht erhält und nach und nach die Rätsel um den vermeintlich toten, geliebten Menschen aufdeckt. Auch wird erneut in zwei Zeitebenen erzählt, wobei die Vergangenheit im Mittelpunkt der Erzählung steht.   Durch die sehr bildhafte Erzählung fühlt man sich selbst in die Hitze versetzt und kann die bunten Inseln, das glitzernde Meer und die kühle Brise auf der Jacht, die kühlen Nächte und den Tau des Morgens spüren. Lucy Clarke hat eine Gabe, Geschichten so dicht und atmosphärisch zu erzählen, dass man sich das Setting - auch an diesen fremden Orten - sehr gut vorstellen kann. Durch die vielen kleinen Geheimnisse, die jedes Crew-Mitglied umgeben und die nur sehr zögerlich aufgedeckt werden, ist der Roman sehr spannend zu lesen. Dadurch, dass man sich als Leser in der Zukunft befindet und weiß, dass irgendetwas auf der Jacht vorgefallen sein muss, dass Lana diese verlassen und keinen Kontakt mehr zu ihrer ehemaligen besten Freundin hat, die sie schon seit ihrem elften Lebensjahr kennt.   Der Roman wird damit zu einem wahren Pageturner, um zu erfahren, was vor acht Monaten vorgefallen ist und ob es nach dem Sinken der Jacht gegenwärtig, noch Überlebende gibt. Es ist ein Roman über Freundschaft und Vertrauen, um Verrat und Problembewältigung sowie das Ausleben von Sehnsuchtsgefühlen, einer Sinnsuche und dem Traum von einem einfachen Leben fernab von allen Sorgen. Bislang der beste Roman von Lucy Clarke, den ich geradezu verschlungen habe!

Sonia am 16.07.2016

Dieses Buch ist phänomenal. Ich habe so sehr mitgefiebert, mitgelitten, ich war einfach Teil der Crew. Das war der pure Wahnsinn! Ich kann nicht anders, als diesem genialen Buch fünf Sterne zu geben. Wenn es tausend Sterne gäbe, ich würde tausend geben. Lucy Clarke hat mit diesem Buch ein Werk geschaffen, das nichts weniger als die volle Punktzahl verdient hat!

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