Das Erwachen der Señorita Prim — Inhalt
Angelockt durch eine ungewöhnliche Stellenanzeige reist Señorita Prim nach San Ireneo de Arnois. Sie hofft, in diesem bezaubernden kleinen Ort, fernab des Getöses der Welt, als Bibliothekarin Fuß zu fassen. Doch noch weiß sie nicht, dass sich ihr Leben nachhaltig verändern wird. Denn in San Ireneo gehen die Uhren anders. Und nichts ist, wie es scheint ...
Leseprobe zu „Das Erwachen der Señorita Prim“
Die Ankunft
In San Ireneo de Arnois sprach jeder über die An-kunft der Señorita Prim. An dem Tag, als sie zum ersten Mal im Ort gesehen wurde, war sie nur eine Bewerberin auf dem Weg zu einem Vorstellungs-gespräch, doch man kannte sich untereinander gut genug, um zu wissen, dass eine freie Stelle hier nicht lange unbesetzt blieb. Viele von ihnen erin-nerten sich noch daran, wie es zwei Jahre zuvor mit der Lehrerin gewesen war. Gleich acht Kandidatin-nen waren damals erschienen, um sich zu bewer-ben, doch nur dreien von ihnen wurde gestattet, sich [...]
Die Ankunft
In San Ireneo de Arnois sprach jeder über die An-kunft der Señorita Prim. An dem Tag, als sie zum ersten Mal im Ort gesehen wurde, war sie nur eine Bewerberin auf dem Weg zu einem Vorstellungs-gespräch, doch man kannte sich untereinander gut genug, um zu wissen, dass eine freie Stelle hier nicht lange unbesetzt blieb. Viele von ihnen erin-nerten sich noch daran, wie es zwei Jahre zuvor mit der Lehrerin gewesen war. Gleich acht Kandidatin-nen waren damals erschienen, um sich zu bewer-ben, doch nur dreien von ihnen wurde gestattet, sich vorzustellen. Und das nicht aus Desinteresse an der Erziehung und der Bildung der Kinder – in San Ireneo de Arnois war das Bildungsniveau her-vorragend –, sondern aus der Überzeugung, dass eine große Auswahl die Entscheidung für das Rich-tige nur erschwere. Die Besitzerin des Schreibwa-renladens beispielsweise, eine Frau, die einen ganzen Nachmittag auf die Verzierung eines einzi-gen Papierbogens verwenden konnte, hielt es für ausgesprochen übertrieben, mehr als einen Vormit-tag mit der Auswahl einer Lehrerin zu verschwen-den. Und alle anderen stimmten ihr zu. In diesem Ort waren die einzelnen Familien – jede entspre-chend ihrer Eigenheiten, ihrer Ansprüche und ihrer Möglichkeiten – selbst für die Ausbildung der Kinder verantwortlich. Die Schule wurde als ein unterstüt-zendes Element – lästig, aber unverzichtbar – an-gesehen, das die meisten Familienväter befürwor-teten. Die meisten, jedoch nicht alle. Warum sollte man dem also mehr Zeit als nötig einräumen?
Den Augen des Besuchers präsentierte sich San Ireneo de Arnois als ein irgendwo in der Vergan-genheit verbliebener Ort. Von Rosengärten umge-ben, blickten die alten Steinhäuser stolz auf die we-nigen Straßen, die in einen belebten Platz mündeten. Dieser wurde von beschaulichen Läden und einigen öffentlichen Gebäuden beherrscht, in denen man ohne jegliche Hast seinen Geschäften nachging. In der direkten Umgebung des Ortes gab es ein paar Bauernhöfe und Werkstätten, die die Läden mit den nötigen Gütern belieferten. Es war eine äußerst überschaubare Gesellschaft, die sich hier angesiedelt hatte: einige fleißige Bauern, Hand-werker und Geschäftsleute, eine kleine Anzahl Akademiker und die genügsame mönchische Ge-meinschaft in der Abtei von San Ireneo. Doch all diese miteinander verbundenen Individuen bildeten ein ganzes Universum, das Räderwerk einer Ge-meinschaft kleiner Unternehmer, die stolz darauf war, sich selbst versorgen zu können, und dabei viel Wert auf einen freundschaftlichen, höflichen, nachbarschaftlichen Umgang legte. Gut möglich, dass diejenigen recht hatten, die meinten, dass San Ireneo de Arnois irgendwo in der Vergangenheit verhaftet schien. Und zweifellos hätte noch ein paar Jahre zuvor niemand daran geglaubt, dass der Be-sucher jemals von einem derart lebhaften und fröh-lichen Marktgeschehen erwartet würde, wie es in-zwischen der Fall war.
Doch wie war es dazu gekommen? Wenn die Seño-rita Prim auf dem Weg zu ihrem möglichen neuen Arbeitsplatz die Besitzerin des Papierwarenladens danach gefragt hätte, hätte diese ihr erklärt, dass all der wunderbare Wohlstand der Beharrlichkeit eines jungen Mannes und der Weisheit eines alten Mönchs zu verdanken war. Aber da die Señorita Prim auf ihrem eiligen Weg das hübsche Geschäft nicht bemerkte, konnte dessen Besitzerin ihr auch nicht mit Stolz erklären, dass San Ireneo de Arnois in Wirklichkeit eine Kolonie glücklicher Menschen war, die auf der Suche nach einem einfachen ländlichen Leben aus der modernen Welt geflohen waren.
I
Der Mann im Armsessel
1
Genau in dem Augenblick, als der kleine Septimus nach der Mittagsruhe seine Glieder streckte, seine Füße eines Elfjährigen in die Schuhe eines Vier-zehnjährigen steckte und ans Fenster seines Zim-mers trat, stieß die Señorita Prim das rostige Gartentor auf. Das Kind betrachtete sie neugierig. Auf den ersten Blick schien sie nicht besonders nervös zu sein; nicht mal leicht aufgeregt. Sie hatte auch nicht die bedrohliche Ausstrahlung des letzten Stelleninhabers, der stets genau zu wissen schien, welche Art von Buch man im Sinn hatte, wenn man es wagte, um eines zu bitten.
Vielleicht gefällt sie uns, sagte der Junge sich, während er sich die Augen rieb. Dann trat er vom Fenster zurück, knöpfte sich schnell die Jacke zu und eilte die Treppe hinunter, um die Tür zu öffnen.
Die Señorita Prim, die gerade in schönster Ruhe zwischen den üppigen blauen Hortensiensträuchern daherging, hatte den Morgen in der Überzeugung begonnen, dass dies der Tag sein würde, auf den sie ihr ganzes Leben lang gewartet hatte. All die Jahre über hatte sie von einer solchen Gelegenheit geträumt. Sie hatte es vor sich gesehen, sich alles ausgemalt und jedes Detail überdacht. Dennoch konnte Prudencia Prim an diesem Morgen auf dem Weg durch den Garten feststellen, dass ihr Herz kein bisschen schneller schlug und nicht einmal die leiseste Aufregung darauf hindeutete, dass der große Tag gekommen war.
Sie wurde neugierig beobachtet, das war ihr klar. So, wie die Leute sie immer ansahen, dessen war sie sich nur allzu bewusst. Doch gleichzeitig war sie davon überzeugt, dass sie diesmal nicht mit dieser gewissen Irritation, ja, diesem Misstrauen gemustert wurde, wie es sonst manchmal vorkam. Schließlich gab es nicht viele, die von sich behaupten konnten, das Opfer eines fatalen geschichtlichen Irrtums zu sein, sagte sie nicht ohne Stolz zu sich selbst. Nicht jeder lebte wie sie in dem dauerhaften Gefühl, zum falschen Zeitpunkt in der falschen Umgebung ge-boren worden zu sein. Den meisten fiel, anders als ihr, offenbar gar nicht auf, dass alles, was es wert war, bewundert zu werden, alles Schöne und Er-habene, spurlos verschwunden war. Die Welt, so beklagte es Prudencia Prim, hatte das Gefühl für die Harmonie, die Ausgewogenheit und die Schönheit verloren. Und längst nicht alle waren sich dieser Wahrheit bewusst, ebenso wenig, wie sie den Drang zum entschiedenen Widerstand verspürten.
Und genau diese unbeugsame Entschlossenheit war es, die die Señorita Prim drei Tage, bevor sie zwischen den blühenden Hortensien entlangschritt, dazu bewogen hatte, auf eine kleine seltsame Zei-tungsanzeige zu reagieren:
Gesucht wird ein weibliches Wesen, dessen Geist sich die Unabhängigkeit von der Welt bewahrt hat und das sich in der Lage sieht, einem höflichen Mann und seinen Büchern als Bibliothekarin zur Seite zu stehen. Besondere Fähigkeiten im Umgang mit Hunden und Kindern sehr willkommen. Arbeitserfahrung nicht erforderlich. Akademikerin-nen und Inhaberinnen sonstiger beruflicher Titel unerwünscht.
Die Señorita Prim entsprach nur zum Teil diesem Profil. Die Unabhängigkeit von der Welt hatte sie sich in jedem Fall bewahrt, dessen war sie sich si-cher. Genau wie ihre unzweifelhafte Fähigkeit, ei-nem höflichen Mann und seinen Büchern als Bibli-othekarin zur Seite zu stehen. Allerdings hatte sie keine Erfahrung im Umgang mit Kindern und Hun-den und weder mit der einen noch der anderen Spezies jemals zusammengelebt. Doch was sie am meisten beunruhigte, war die Schwierigkeit, ihr Profil jenem ausdrücklichen „Akademikerinnen und Inhaberinnen sonstiger beruflicher Titel uner-wünscht“ anzupassen.
Señorita Prim verfügte über eine ganze Reihe be-ruflicher Titel. Sie hatte einen Studienabschluss in Internationalen Beziehungen, Politikwissenschaften und Anthropologie vorzuweisen, war Doktorin der Soziologie und spezialisiert in Bibliothekswissen-schaften und in mittelalterlicher russischer Kunst. Die Menschen, denen sie begegnete, blickten jedes Mal ungläubig auf diesen außergewöhnlichen Le-benslauf, zumal es sich bei der dazugehörigen Person um eine einfache und nicht gerade karrie-rebewusste Angestellte handelte. Sie verstanden es eben nicht, sagte sie sich missmutig; sie verstanden eben nicht den Gedanken der Exzellenz. Wie auch in einer Welt, in der alles Bedeutende an Bedeutung verloren hatte?
„Sind Sie seine neue Bibliothekarin?“
Die Bewerberin senkte überrascht den Kopf. Dort unten, auf der Schwelle dessen, was die Eingangs-tür zu dem Haus zu sein schien, sah sie in die Augen eines blonden Kindes mit strengem Blick.
„Sind Sie es, oder sind Sie es nicht?“, insistierte der Kleine.
„Es wäre wohl etwas verfrüht, das zu behaupten“, entgegnete sie. „Ich bin wegen der Anzeige hier, die dein Vater aufgegeben hat.“
„Er ist niemandes Vater“, sagte der Junge nur, be-vor er sich umdrehte und ins Haus rannte.
Die Señorita Prim starrte verwirrt auf die nun leere Türschwelle. Sie war sich absolut sicher, dass in der Anzeige von einem Mann mit Kindern die Rede gewesen war. Natürlich war es nicht selbstverständ-lich, dass ein Mann Kinder hatte, sie selbst hatte im Laufe ihre Lebens einige Männer ohne Kinder ken-nengelernt; aber wenn in ein und demselben Satz die Worte Mann und Kinder vorkamen, was sonst sollte man daraus schließen?
Verwundert hob sie den Blick und betrachtete zum ersten Mal eingehend das Haus, vor dem sie nun stand. Sie hatte den Garten derart in Gedanken versunken durchquert, dass es ihr kaum aufgefallen war. Es war ein altes Gebäude aus verblichenem rotem Stein mit vielen Fenstern und Fensterläden zum Garten hin. Das massive, vor sich hin brö-ckelnde Mauerwerk war voller Risse und Sprünge und über und über von üppig wuchernden Rosen bedeckt, die dringend der Hand eines Gärtners be-durft hätten. Der Eingangsbereich, der von vier al-ten, von einer immensen Glyzinie bewachsenen Säulen flankiert wurde, bot einen zugleich impo-santen und verlorenen Anblick.
„Im Winter muss es da drin eiskalt sein“, murmelte sie.
Dann sah sie auf die Uhr: Es war bereits später Nachmittag. Alle Fenster waren sperrangelweit ge-öffnet, und der kühle Septemberwind blähte die leichten weißen Gardinen wie Segel. Es sieht aus wie ein Schiff, dachte sie, ein altes, gestrandetes Schiff. Mit leichtem Schritt näherte sie sich dem Fenster, das am nächsten lag, und stellte sich auf einen nicht mehr ganz jungen Hausherrn ein.
Durch das Fenster bot sich der Señorita Prim der Blick auf einen großen, äußerst unordentlichen Raum voller Bücher und Kinder. Es waren mehr Bücher als Kinder, deutlich mehr, doch aus irgend-einem Grund vermittelte das Kräfteverhältnis den Eindruck von Ausgeglichenheit. Die Anwärterin auf die Stelle zählte dreißig Arme, dreißig Beine und fünfzehn Köpfe. Die dazugehörigen Kinder waren gleichmäßig im Raum verteilt, sie lagen bäuchlings auf dem Teppich oder auf einem der alten Sofas, oder sie hatten sich in einen der abgenutzten Le-dersessel gekuschelt. Außerdem bemerkte die Señorita Prim zwei riesige Hunde, die ausgestreckt zu beiden Seiten eines altmodischen hohen Arm-sessels ruhten, der mit dem Rücken zum Fenster in der Nähe eines Kamins stand. Der Junge, der sie an der Tür empfangen hatte, war auch zu sehen, er lag auf dem Teppich, in die Lektüre eines Heftes vertieft. Die anderen Kinder hoben ab und zu die Köpfe, um auf eine männliche Stimme zu reagieren, die direkt aus dem Sessel bei dem Kamin zu kom-men schien.
„Lasst uns anfangen“, sagte der Mann im Arm-sessel.
„Gibst du uns Hinweise?“, fragte eines der Kinder.
Als einzige Antwort beschränkte sich die männliche Stimme darauf zu zitieren:
Ultima Cumaei venit iam carminis aetas;
magnus ab integro saeclorum nascitur ordo:
iam redit et Virgo, redeunt Saturnia regna;
iam nova progenies caelo demittitur alto.
„Und?“, fragte die Stimme schließlich.
Die Kinder schwiegen.
„Könnte es Horaz sein?“, fragte eines schüchtern.
„Es könnte Horaz sein“, antwortete der Mann, „ist es aber nicht. Versucht es noch einmal. Wer traut sich, es zu übersetzen?“
Señorita Prim, die die Szene hinter den schweren Vorhängen verborgen beobachtete, dachte bei sich, dass die Frage die Kinder überforderte. Sie waren zu klein, um ein Werk anhand eines einzigen kurzen Zitats zu erkennen, zumal es auch noch ein la-teinisches war. Obwohl die Señorita Prim Vergil gelesen hatte, konnte sie dieses Spiel nicht guthei-ßen, absolut nicht.
„Ich helfe euch ein bisschen“, fuhr die Stimme aus dem Armsessel fort: „Diese Verse waren einem römischen Politiker zu Beginn des Imperiums ge-widmet. Einem Politiker, der der Freund von meh-reren großen Dichtern war, von denen wir bereits einiges gelesen haben, Horaz zum Beispiel. Einer dieser Freunde hat ihm diese Verse gewidmet, weil er den Frieden von Brundisium ausgehandelt hatte, der, wie ihr wisst – oder wissen solltet –, den Konflikt zwischen Antonius und Octavian beendete.“
Der Mann schwieg und sah die Kinder fragend an – so stellte es sich die Señorita Prim in ihrem Versteck jedenfalls vor –, bekam jedoch keine Antwort. Lediglich einer der Hunde erhob sich schwerfällig, als wollte er damit sein Interesse für das historische Ereignis bekunden, näherte sich träge dem Kamin und ließ sich dort wieder auf dem Teppich nieder.
„All das, wirklich alles, haben wir im letzten Frühjahr durchgenommen“, klagte der Mann nun.
Die Kinder knabberten, in Gedanken versunken, an ihren Stiften, baumelten unbekümmert mit den Bei-nen, stützten das Kinn in die Hände.
„Ihr ungebildete Bande“, ließ die leicht irritierte Stimme nicht locker, „was ist heute eigentlich mit euch los?“
Die Señorita Prim spürte, wie ihr das Blut heiß in die Wangen stieg. Sie hatte keinerlei Erfahrung im Umgang mit Kindern dieses Alters, das nicht, doch was sie meisterhaft beherrschte, war die Kunst des Feingefühls. Señorita Prim glaubte fest daran, dass das Feingefühl die Kraft war, die das Universum steuerte. Dort, wo es fehlte, so wusste sie aus Er-fahrung, war die Welt dunkel und unheimlich. Em-pört von dem, was sie soeben gesehen hatte, und beinah starr vor Schreck wollte sie aus ihrem Ver-steck auffahren, doch das plötzliche Knurren eines der Hunde ließ sie in der Bewegung innehalten.
„Gut“, sagte der Mann nun mit versöhnlicher Stimme, „versuchen wir es mit etwas viel Einfa-cherem.“
„Vom selben Schriftsteller?“, fragte ein Mädchen.
»Genau. Seid ihr bereit? Ich zitiere nur einen halben Vers:
… facilis descensus Averno …
Eine unerwartete Welle nach oben schnellender Arme und lautes Triumphgeschrei machten deutlich, dass diesmal die Schüler die Antwort wussten.
„Vergil!“, riefen sie einstimmig im schrillen Chor. „Die Aeneis!“
„Das ist es, ihr habt’s“, entgegnete der Mann mit befriedigtem Lachen. „Und das vorherige Zitat war aus den Eklogen, aus der vierten Ekloge. Also ist der römische Staatsmann, der mit Vergil und Horaz befreundet war …“
Bevor eines der Kinder etwas sagen konnte, erklang die klare melodische Stimme der Señorita Prim von draußen hinter den Vorhängen und erfüllte das Zimmer: „Asinius Pollio natürlich.“
Fünfzehn Kinderköpfe wandten die Gesichter zum Fenster. Von ihrer eigenen Kühnheit überrascht, trat die Señorita instinktiv einen Schritt zurück. Nur der Gedanke an die eigene Würde und der wichtige Grund ihrer Anwesenheit hinderten sie daran, weg-zulaufen.
„Es tut mir schrecklich leid, auf diese Weise bei Ihnen hineinzuplatzen“, sagte sie, während sie langsam in die Mitte der Fensteröffnung rückte. „Ich weiß, ich hätte mich anders bemerkbar machen sollen, aber der Junge, der mir die Tür geöffnet hat, hat mich an der Schwelle stehen lassen. Daher bin ich zum Fenster gegangen, und so habe ich Sie von Vergil und Pollio reden hören. Es tut mir wirklich leid, Señor.“
„Sie sind die Bewerberin um die Stelle der Biblio-thekarin, nicht wahr?“
Der Mann stellte die Frage ohne jede Unfreund-lichkeit, fast so, als wäre ihm gar nicht aufgefallen, dass eine Unbekannte durch das Fenster seinen Unterricht gestört hatte. Immerhin weiß er, was sich gehört, dachte die Señorita Prim überrascht, er hat äußerst gute Manieren. Vielleicht war ihr Urteil über ihn zu voreilig gewesen; möglicherweise hatte sie überstürzt reagiert.
„Ja, Señor. Wir haben heute Morgen telefoniert. Ich komme auf die Anzeige hin.“ Der Mann im Arm-sessel betrachtete sie einen Moment, lange genug, um festzustellen, dass die Frau, die draußen am Fenster stand, viel zu jung für den Posten war.
„Haben Sie Ihren Lebenslauf mitgebracht, Señorita …?“
„Prim, Señorita Prudencia Prim“, entgegnete sie.
Und sofort fügte sie entschuldigend hinzu: „Ich weiß, dass es ein ungewöhnlicher Name ist.“
„Ich würde sagen, es ist ein Name mit Charakter. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, wenden wir uns zunächst Ihrem Lebenslauf zu. Haben Sie ihn dabei?“
„In der Anzeige stand, dass die Bewerberin über keine akademischen Titel verfügen sollte, daher dachte ich, Sie würden nicht nach meinem Lebens-lauf fragen.“
„Sie wollen damit sagen, dass Sie keinen akade-mischen Titel haben? Mein Ansinnen bezog sich auf jegliche Titel, das Einzige, was ich voraussetze, sind Kenntnisse in Bibliothekswissenschaften.“
Die Señorita Prim hüllte sich in Schweigen. Aus irgendeinem ihr unbekannten Grund verlief das Gespräch nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte.
„Nun, die Wahrheit ist, dass ich doch ein paar Titel habe“, gab sie nach einer Weile zu, „also einige … eine Menge, könnte man sagen.“
„Eine Menge?“ Der Ton in der Stimme des Mannes im Armsessel wurde ein wenig schärfer. „Señorita Prim, ich war der Meinung, die Anzeige wäre ein-deutig.“
„Ja, das war sie“, sagte sie schnell, „das war sie auf jeden Fall. Aber erlauben Sie mir, Ihnen zu er-klären, dass ich, vom akademischen Standpunkt aus gesehen, kein gewöhnlicher Mensch bin. Ich habe noch nie danach gestrebt, aus meinen Titeln irgendeinen beruflichen Nutzen zu ziehen, ich ge-brauche sie nicht, ich erwähne sie niemals, daher …“, sie machte eine Pause, um Atem zu holen, „… können Sie sicher sein, dass sie meine Arbeit nicht beeinflussen werden.“
Als sie zu sprechen aufhörte, bemerkte Señorita Prim, dass die Kinder und die Hunde sie bereits eine ganze Weile schweigend betrachteten. Ihr fiel wieder ein, was der Junge an der Tür über den Mann gesagt hatte, mit dem sie gerade redete. War es möglich, dass von all diesen Kindern nicht eines sein eigenes war?
„Sagen Sie mir doch bitte, um welche Titel es sich handelt und um wie viele“, insistierte er.
Die Bewerberin schluckte, während sie überlegte, wie sie diese heikle Frage am besten beantworten sollte.
„Wenn Sie mir ein Blatt Papier geben könnten, würde ich es kurz schematisch darstellen.“
„Schematisch darstellen?“, rief er entsetzt aus. „Haben Sie den Verstand verloren? Wie kommt ein Mensch, dessen Titel einer schematischen Darstel-lung bedürfen, auf den Gedanken, sich auf einen Posten für Kandidaten ohne beruflichen Titel zu bewerben?“
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