Das Ensemble — Inhalt
Freundschaft, Ehrgeiz, Hingabe – die Musik als große Metapher für unser Leben
Droht das Leben, sie auseinanderzutreiben, hält die Musik sie zusammen. Denn sobald Jana, Brit, Henry und Daniel auf der Bühne stehen, zählt nur noch eins: Sie sind das Van-Ness-Quartett. Die vier Freunde bringen es vom Konservatorium bis in die Carnegie Hall, lieben und verlieren und finden sich, überwinden Missgunst und Streit und liegen nachts doch wieder wach, weil das nächste Konzert, der nächste Wettbewerb über ihr Leben entscheidet. Bis Henry, Bratschist und Wunderkind wider Willen, sich entscheiden muss: Soll er dem Drängen eines Gönners nachgeben und Solist werden?
Einfühlsam und elegisch erzählt, gibt uns Aja Gabels Roman das Gefühl, ganz von Musik umgeben zu sein. Ein fulminantes Debüt und eine Autorin, die es zu entdecken gilt!
„Ein einfühlsames Porträt vier junger Musiker: manchmal im Zwist miteinander, manchmal in Harmonie, aber immer untrennbar verbunden auf ihrem gemeinsamen Weg.“ Celeste Ng
Leseprobe zu „Das Ensemble“
Teil 1
Streichquartett in D-Dur, op. 20, Nr. 4
Joseph Haydn
12. Streichquartett in F-Dur, op. 96, das „Amerikanische Quartett“
Antonín Dvořák
11. Streichquartett in f-Moll, op. 95, „Quartetto serioso“
Ludwig van Beethoven
Jana
Erste Violine
San Francisco, Mai 1994
Es ist eine Liebesgeschichte, hatte der berühmte Geiger gesagt, und obwohl Jana wusste, dass es nicht so war, gingen ihr diese Worte im Kopf herum, als sie schließlich auf der Bühne saß. Der berühmte Fodorio hatte mit ihnen Anfang der Woche geprobt und diesen Satz gesagt, nachdem sie Dvořáks [...]
Teil 1
Streichquartett in D-Dur, op. 20, Nr. 4
Joseph Haydn
12. Streichquartett in F-Dur, op. 96, das „Amerikanische Quartett“
Antonín Dvořák
11. Streichquartett in f-Moll, op. 95, „Quartetto serioso“
Ludwig van Beethoven
Jana
Erste Violine
San Francisco, Mai 1994
Es ist eine Liebesgeschichte, hatte der berühmte Geiger gesagt, und obwohl Jana wusste, dass es nicht so war, gingen ihr diese Worte im Kopf herum, als sie schließlich auf der Bühne saß. Der berühmte Fodorio hatte mit ihnen Anfang der Woche geprobt und diesen Satz gesagt, nachdem sie Dvořáks „Amerikanisches Quartett“ einmal durchgespielt hatten. In Janas Augen war es eindeutig keine Liebesgeschichte. Aber nun spielten sie es, das „Amerikanische“, als ihr letztes Prüfungskonzert am Konservatorium. Sie begannen mit den schillernden Noten des ersten Satzes, und alles, was Jana denken konnte, war: Vielleicht ist es doch eine Liebesgeschichte.
Es war ein Liebesbrief an das Land, wie sie gelernt hatte. Dvořáks europäischer Bauernblick auf amerikanische Folksongs. Wie konnte jemand denken, es sei eine Romanze? Jana schien es etwas Klassischeres zu sein: Jemand verliebt sich in den Traum von einem Ort, in ein Leben, das er dort leben könnte, etwas, das er nicht ist, aber vielleicht gerne wäre. Es ging um das Schillern, das fast schon sichtbar über dem Pfad deines Lebens schwebte. Um Potenzial, Anspruch und Erfolg. Der berühmte Geiger, mit dem sie geprobt hatten, Fodorio – Jana konnte sich einfach nicht dazu bringen, seinen Namen auszusprechen – war sowieso eher Mittelmaß, zumindest als Lehrer. Jana würde es ihm gegenüber ganz sicher nie offen zur Sprache bringen, aber sie genoss die ernste, innere Lust ihrer Geringschätzung. Was wusste er? Sie wusste: In Dvořáks „Amerikanischem Quartett“ ging es um Amerika als Möglichkeit, und niemand war besser damit vertraut als sie, Möglichkeiten auszumachen und sich ihnen hinzugeben. Als Henrys Bratsche drei Takte später einsetzte, hatte sie aufs Neue entschieden: Nein, es ist keine Liebesgeschichte.
Es ist eine Liebesgeschichte, war kein Satz, an den sich Henry aus ihrer Probe erinnerte, und ganz bestimmt ging er ihm nicht durch den Kopf, als er im dritten Takt die muntere „amerikanische“ Melodie anstimmte. Stattdessen konnte er nicht vergessen, was Fodorio gesagt hatte, als er ihm beim Wegpacken der Bratsche seine Visitenkarte gab. Rufen Sie mich an, falls Sie beschließen sollten, dass diese Quartettgeschichte nichts für Sie ist, hatte er gesagt. Ich kann für Sie das eine oder andere Vorspiel vor den richtigen Leuten in New York arrangieren. Sie könnten als Solist wirklich Karriere machen. Henry hatte die Karte ohne ein Wort genommen, sie in die Samttasche seines Bratschenkastens gesteckt und seitdem nicht wieder hervorgeholt. Aber er spürte sie dort. Falls Sie beschließen sollten, dass diese Quartettgeschichte nichts für Sie ist – als hätte Fodorio es bereits für Henry entschieden und wartete nur darauf, dass er zu dem gleichen Schluss kam. Aber Henry hatte gar nichts beschlossen. Das tat er nie, jung, wie er war, und mit der Art von Talent gesegnet, das für einen alle Lebensentscheidungen trifft.
Ob es nun eine Liebesgeschichte war oder nicht, war auch für Daniel nicht wichtig, der dieser Tage keinerlei Zeit für Romantik oder Liebe, für ihre Symptome oder Nebenwirkungen hatte. Nicht, wo er doppelt so viel wie die anderen üben musste, um mit dem Quartett und dem ihn in den Wahnsinn treibenden Naturtalent seiner Kollegen Schritt zu halten, besonders mit Henry, dessen obszönes Talent ans Geniale grenzte. Selbst betrunken, blind, verliebt oder entliebt würde er ihm voraus sein. Es war kein Platz für die Liebe in Daniels Leben, musste er doch neben der Ausbildung noch Geld verdienen, in einer Kneipe in Castro jobben, wenn’s ging, auf Hochzeiten spielen und reichen Kindern in Pacific Heights erste Cellostunden geben. Es ist eine Liebesgeschichte – klar, okay, aber was noch?
Natürlich ist es eine Liebesgeschichte, dachte Brit, wobei das für sie auf alles zutraf. Diese Note hier, und die, diese freudige Gegenstimme, die Harmonie ihrer zweiten Violine, das gemeinsame Ganze, die hörbare Übereinkunft. Ihr Verhältnis mit Daniel, das er vor ein paar Tagen ziemlich schroff beendet hatte. Selbst das Fehlen von Liebe war für sie Teil einer Liebesgeschichte. Selbst dieser Schmerz, dieses Leiden. Sie waren nützlich. Wobei sie sich vorstellte, das eines Tages nicht mehr wissen zu müssen, sich ausmalte, wie es wäre, ihr Leben noch einmal neu zu beginnen und ohne dieses Wissen auszukommen, und der Vorstellung einer zweiten, parallelen Brit nachhing, die in einer Welt lebte, in der es nicht nötig war, einen Mann zu verstehen, der sich von der Möglichkeit einer Liebe abwandte und ging, überhaupt Menschen zu verstehen, die sich abwandten und gingen, ein Leben, das sich aus all diesen kleinen Abschieden zusammensetzte. Dennoch stimmte diese parallele Brit sie traurig, und es war eine traurigere Leere als die, die sie in Bezug auf sich selbst empfand. Alles war eine Liebesgeschichte.
Und wenn auch keiner explizit gesagt hätte, was es am Ende für sie oder ihn war, lag es letztlich an Jana, ob es um Liebe oder etwas anderes ging: Es hing davon ab, wie ruhig, klar und zeitlich genau bemessen sie im Auftakt vor der ersten Note einatmete, vom Druck ihres Einsatzes und dem Raum, den sie zwischen der ersten und den folgenden Noten ließ, dem Grad, der Länge und dem Klang des Vibratos, das sie auf den Geigenhals aufbrachte. Es waren winzige Bewegungen, gerade zu Beginn des Quartetts, aber auch später. Selbst wie sie die Augen schloss, wenn sie sie denn schloss, ob die Wimpern leicht flatterten, die Stirn sich in Falten legte, all das entschied darüber, was folgte. Janas Aufgabe als erste Violinistin war es zu führen, und mittlerweile ging ihre Führung über das Physische hinaus. Ihre körperlichen wie klanglichen Entscheidungen, die während des gesamten vierzigminütigen Programms eng aufeinanderfolgten, betrafen längst auch das Emotionale, und die in ihnen liegende Kraft, wohlwollend und tückisch zugleich, fühlte sich für sie völlig natürlich an. Jana hatte immer schon ein Ensemble führen und, besser noch, zu Größe führen wollen. So weit musste und würde es kommen, dieser Anspruch machte sie aus. Und wo auf diesem Weg war Platz für eine Liebesgeschichte? Sie musste sie finden und erfinden.
Im großen Vorraum vor der Fakultätslounge fand ein Empfang statt, und das Quartett stand etwas steif an der hinteren Wand aufgereiht. Jana zupfte an der seitlichen Naht ihres Kleides und spürte, wie der trocknende Schweiß sie immer härter machte.
„Wir sollten hier nicht so zusammenstehen“, sagte sie. „Wie Idioten.“
„Doch, sonst hält mich noch jemand fälschlicherweise für Daniel“, gab Henry grinsend zurück.
„Keiner verwechselt mich mit dir“, murmelte Daniel. „Zum einen bin ich fünfzehn Zentimeter kleiner als du und zum anderen …“ Den zweiten Grund nannte er nicht.
„Geh jetzt nicht“, sagte Brit zu Jana und deutete mit einer Geste in den Raum. „Da ist dieser Kerl, der ist mir nicht geheuer.“
Fodorio kam zu ihnen herüber, knöpfte sich das Jackett zu und strahlte. Jana nahm Haltung an. Er war ein Arsch, dachte sie, aber talentiert und erfolgreich, und Talent und Erfolg waren zwei Dinge, denen sie niemals den Rücken kehrte.
„Ferrari“, sagte Daniel leise.
„Fodorio“, verbesserte Henry ihn.
„Seit wann erinnerst du dich an Namen?“, fragte Brit, während Jana den Arm hob, um dem berühmten Geiger die berühmte Hand zu schütteln.
„Das Van-Ness-Quartett“, sagte er mit seinem starken Akzent. Wo kam er her? Aus dem Mittelmeerraum? Jana hatte es vergessen. Er stieß an ihrer ausgestreckten Hand vorbei und umarmte sie. Jana atmete seinen Geruch ein: Moschus, Tabak, Frauen. Sie lächelte und ließ ihn ihr Zahnfleisch sehen.
„Unsere Probe hat euch weit vorangebracht“, stellte Fodorio fest, ging zu Henry und umfasste mit beiden Händen seine Rechte.
„Vorher waren wir auch schon ganz gut“, sagte Daniel.
„Das war ein Witz“, sagte Jana und warf ihrem Kollegen einen verzweifelten Blick zu. Wenn Daniel ein Mal nicht das Arschloch geben könnte, wäre jetzt der richtige Moment.
„War’s das?“, fragte Fodorio und zwinkerte ihr zu. Er zwinkerte! Und umarmte dann Brit, die sich das nur widerwillig gefallen ließ. Das lange blonde Haar fiel ihr wie Pasta über die Schultern. Superdünne Spaghetti, wie sie einem aus der Packung auf den Küchenboden fielen. Jana ärgerte, dass Brit es bei ihren Auftritten niemals hochsteckte. Brits Haar war alles, was das Publikum auf der Bühne anstarrte. Es gab ihr den Anschein zufälliger Schönheit, dieses schöne goldene Haar, das wuchs und wuchs, als könnte sie nichts dagegen tun.
Ihr Konzert war in der Tat gelungen, doch damit hatte Jana auch fest gerechnet. Alle waren gut vorbereitet gewesen, mit dem richtigen Maß an Angst und Zuversicht. Der wahre Test kam jedoch erst noch. Sicher, es war ihr Abschlusskonzert gewesen, und ihre Lehrer hatten im Publikum gesessen und sie bewertet. Sicher waren auch einige Talentscouts da gewesen, von RCA und der Deutschen Grammophon Gesellschaft. In Wirklichkeit war es jedoch nur die Generalprobe für das gewesen, was wirklich zählte, der Esterhazy-Quartett-Wettbewerb in den kanadischen Rocky Mountains, an dem sie in weniger als einer Woche teilnehmen würden. Wenn sie den gewannen oder auf einen der vorderen Plätze kamen, war das der Beginn der lebenslangen Karriere, die sich Jana wünschte, für sich und für das Ensemble.
Sie konnten es sich nicht leisten, dort zu versagen, und Jana sorgte dafür, dass das niemand vergaß.
Fodorio, der berühmte Geiger, der Arsch, der Zwinkerer und tourende Solist, gehörte in diesem Jahr zufällig zu den Juroren des Wettbewerbs, was Jana schon während seines wochenlangen Aufenthalts am Konservatorium stillschweigend, aber aufmerksam registriert hatte.
Sie hakte sich bei ihm ein. „Würden Sie mir ein Glas Champagner besorgen?“, fragte sie.
Fodorio lächelte. „Aber sicher.“
„Oh, mir auch“, sagte Henry.
Jana zog die Brauen zusammen. „Du bist ja noch nicht mal alt genug für Alkohol, Henry.“
„Und überhaupt, hol ihn dir selbst“, sagte Daniel und ging zu der provisorischen Theke hinüber. Brit folgte ihm Sekunden später, wie durch ein unsichtbares Band mit ihm verbunden.
Fodorio holte zwei Champagner und stellte sich mit Jana an einen Tisch. Henry war plötzlich verschwunden. Fodorio machte eine Bemerkung dazu und fragte dann: „Wo ist Ihre Familie, meine Liebe?“
„Oh.“ Jana schüttelte unwillig den Kopf. „In Los Angeles.“
War ihr Fehlen so offenkundig?, fragte sie sich. War die Lücke im Publikum so sichtbar gewesen? Dann dachte sie daran, dass auch Daniels Familie (zu arm zum Reisen, „keine Flugzeugmenschen“, hatte er gesagt) nicht gekommen war, und dass Brits Eltern tot waren. Beides tröstete sie.
„Ihr Konzert mit den Sinfonikern war spektakulär“, sagte sie und beugte sich zu ihm hinüber. Zwei Abende zuvor war sie zu seinem Konzert mit dem Sinfonieorchester von San Francisco gegangen, obwohl sie so etwas kurz vor einem eigenen Auftritt eigentlich nur ungern tat. Es brachte die Dinge durcheinander und beanspruchte ihr Gehör zu sehr. Dennoch zu Fodorio zu gehen war eine taktische Entscheidung gewesen. Und sie log nur ein wenig – das Wort „spektakulär“ benutzte sie sonst nie, aber das Konzert war tatsächlich gut gelaufen. Fodorio gehörte zu den Geigern, die ihren Ruhm für den eines Rockstars hielten und so etwas wie das Mendelssohn-Konzert wie Bon Jovi im Frack spielten. Jana wusste nicht, wie sehr Fodorio tatsächlich von sich eingenommen war. Sie hatte seinen Auftritt von ihrem Platz in der Mitte des ersten Ranges aus verfolgt und es eigentlich nicht mögen wollen, war am Ende jedoch, im letzten Satz, seinem Zauber, seinen aggressiven Ausschmückungen und dem fordernden Tempo erlegen. Fodorio hatte etwas, und er wusste damit umzugehen – vom zarten Holz seines Bogens strahlte es über Saiten und Seele seines Instruments hinaus in den Saal. Ein wenig kalkuliert, dachte Jana, aber gekonnt ausgeführt (und fast schon fanatisch aufgenommen), war es verführerisch.
„Danke“, sagte er. „Ich wusste nicht, dass Sie da waren. Sie hätten hinter die Bühne kommen sollen. Wir hätten es uns … nett machen können.“
Ihr Champagnerglas war leer. Er war ein Magnet mit zwei Seiten: anziehend und abstoßend. Die schwarzen Locken, scheinbar willkürlich über seinen Kopf verteilt, waren sicher wohlüberlegt so hindrapiert. Manschettenknöpfe, ein lachsrosa Frackhemd, der graue Anzug. Er war vertraglich nicht dazu verpflichtet, zu ihrem Konzert zu kommen. Seine Pflicht war mit dieser einen Probe Anfang der Woche (es ist eine Liebesgeschichte) getan gewesen. Warum war er hier?
Er griff über den Cocktailtisch, um ihre Finger von dem leeren Glas zu lösen. Seine Hand war stark, voller Adern und mit spröden, dunklen Haaren bedeckt. Es war die rohe Kraft seines Griffs, die Jana überwältigte. Unversehens war aller Widerstand gebrochen. Was für ein Musiker, was für eine Hand.
„Aber ernsthaft“, sagte Fodorio. „Sie spielen ausgezeichnet.“
„Ich weiß“, antwortete sie und fuhr fast automatisch fort: „Aber nicht wie Henry.“ Sobald ihr jemand ein Kompliment machte, verspürte sie das Bedürfnis, Henrys Talent hervorzuheben, als wollte sie sagen: Ich weiß, mit wem du mich vergleichst. Ich kenne meinen Platz.
„Nun, nein“, sagte Fodorio, und sein Eingeständnis schmerzte sie ein wenig. Sie wollte mehr Alkohol, etwas Stärkeres als Champagner. „Aber Sie haben eine große Karriere in der Kammermusik vor sich. Allerdings könnten Sie noch weit besser sein.“
Jana nahm ihre Hände vom Tisch.
„Nein, nein“, fuhr er fort. „Ich meine, Sie werden noch besser werden. Mit zunehmendem Alter.“
Jana entschuldigte sich, um noch etwas zu trinken zu holen. Sie hoffte, es gebe Schnaps. Was wusste er schon? Nun, eine Menge, gab sie zu. Genug, um in die Jury des weltweit angesehensten klassischen Musikwettbewerbs aufgenommen zu werden. Vergiss das nicht, dachte sie und ging mit zwei Gin Tonic zurück zu dem Tisch, an dem er auf sie wartete. Ihr Körper glühte, als sie ihn dort stehen sah. Auch das würde sie im Kopf behalten.
Es folgte eine Flut von Gesprächen: Der Leiter des Konservatoriums beglückwünschte sie und fragte nach ihren Plänen für den Sommer (spielen, üben, was sonst?), für ihre Zukunft (der Esterhazy, was sonst?) und für das Quartett (Henry wurde lauter, je mehr er trank, Daniel und Brit führten in verschiedenen Ecken hitzige, persönliche Gespräche) – aber Jana behielt Fodorio den ganzen Abend über im Auge, und sie sah, dass auch er immer wieder zu ihr herüberschaute. Gegen Ende des Empfangs und mit peinlich vielen Cocktails im Bauch – schließlich war es eine Feier – flüchtete sie nach draußen, um zu rauchen.
Sie ging ein Stück die Straße hinauf, weg vom Konservatorium, holte eine Zigarette aus der Tasche und steckte sie an. Vorher versicherte sie sich, dass sie keiner sah. Sie wusste nicht wirklich, warum sie ihr gelegentliches Rauchen vor allen verbarg, aber sie tat es, und es fühlte sich gut an, vor Brit, Daniel und Henry ein Geheimnis zu haben. Ihre Mutter hatte geraucht, und der Geruch, besonders der von Pall Malls, beruhigte sie, sobald aus Langeweile ein nervöses Zittern wurde.
Jana setzte sich auf eine Bank und drehte die Beine so, dass sie in die Richtung schaute, aus der sie gekommen war. In der Dunkelheit wirkte das Konservatorium unansehnlich. Als Jana noch klein gewesen war, hatte ihre Mutter – sie hieß Catherine, und auch Jana nannte sie so – ihr immer wieder versprochen, mit ihr in ein klassisches Konzert zu gehen, es aber nie getan. Die Karten für das Los Angeles Philharmonic waren teuer gewesen, und Catherine sagte, klassische Musik sei langweilig. Einmal, in der Highschool, war Jana mit einem ermäßigten Schülerticket hingegangen und hatte ihrer Mutter gesagt, sie wolle mit Freunden ins Kino, in einen Blockbuster mit Catherines Lieblingsschauspielerin. Das hatte ihre Mutter verstanden. Manchmal arbeitete Catherine, manchmal nicht. Jana erinnerte sich an sie als Kellnerin und hinter der Schmucktheke bei Mervyn’s (und auch daran, wie sie da rausgeflogen war), meist aber hatte ihre Mutter, wenn Jana nach Hause kam, noch ihren seidenen Morgenmantel an, rauchte im Garten hinter dem Haus lange, dünne Zigaretten und lernte Texte für kleine Rollen in Werbespots, die sie nicht bekam. Einmal jedoch ergatterte sie eine winzige Nebenrolle als Kassiererin in einer Fernsehserie und nahm die Folge auf. Die VHS-Kassette, dick in Mutters Schreibschrift mit „Band 1“ beschriftet, hatte mitten auf dem Couchtisch gelegen, wie ein Blumenarrangement, bis die Farbe verblichen war und sich das Band nicht mehr abspielen ließ.
Als Jana die Zigarette mit dem Schuh ausdrückte und aufstand, fuhr ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Hätte sie doch einen Mantel mitgenommen. Den Zigarettenstummel warf sie in einen Abfalleimer auf dem Bürgersteig.
„Ich hab’s gesehen. Keine Geheimnisse.“
Jana drehte sich zu der Stimme um. Fodorio lehnte an der Hauswand und rauchte ebenfalls eine Zigarette. „Aber ich verrate nichts“, setzte er hinzu.
„Ich rauche nicht.“
„Ich sagte, ich verrate nichts.“
„Sie haben den Akzent eines reichen Mannes. Eines Mannes, der auf einem Internat war.“
„Jetzt bin ich enttarnt.“
„Sehen Sie. Keine Geheimnisse.“ Sie lehnte sich an die Wand neben ihm. Die Maikühle überzog ihre nackten Arme mit Gänsehaut, und er legte ihr sein Jackett um die Schultern.
„Wie ich höre, will Ihr Quartett dieses Jahr beim Esterhazy mitmachen“, sagte Fodorio.
„Das Gerücht stimmt“, antwortete sie.
War es gegen die Regeln, dass ein Teilnehmer des Esterhazy mit einem Jurymitglied fraternisierte? Sicherlich nicht. Es gab sieben Jurymitglieder und drei Runden, und im Übrigen, wer konnte einem betrunkenen Berufsmusiker verbieten, mit einem anderen eine Zigarette zu rauchen, auch wenn er betrunkener und noch nicht wirklich ein Profi war?
„Ich will Tacos“, sagte er.
„Ich weiß, wo’s welche gibt. Aber es ist ein Stück zu Fuß.“
Sie schlichen sich in den Einspielraum, um ihre Geige zu holen. Bevor Jana ihr Instrument in den Kasten legte, nahm Fodorio es, und ihre Fingerspitzen berührten sich auf der Schnecke. Er sah die Geige genauer an. „Ein hübsches Stück“, sagte er, „für ein armes Mädchen.“
Als sie die Geige mit dem burgunderfarbenen Samtschutz bedeckte und den Kasten schloss, spürte sie seine Hand auf ihrem Rücken, Warnung und Prophezeiung zugleich. Keine Geheimnisse.
Unterwegs legte Fodorio den Arm um ihre Hüfte, und sie lehnte sich an ihn. Obwohl sie es nie zugegeben hätte, fühlte es sich gut an, von einem Mann berührt zu werden. Er war so ein Mann, älter, größer und dreister als die Studenten im Konservatorium, und für einen Augenblick leuchtete Catherines Bild vor Jana auf: ihre Mutter im knappen Designer-Cocktailkleid, wie sie einer Verabredung die Tür öffnete, einem massigen Kerl, der komisch roch und dessen Stirn im Licht der Veranda draußen glänzte, als wäre sie aus Plastik. Jana erinnerte sich, wie sie auf dem Teppich gesessen und den Mann in der Tür angesehen hatte – die nackten Zehen ihrer Mutter krallten sich nervös in den Teppich. Catherine hatte den Mann hereingelassen.
Jana und Fodorio stolperten zum Taco-Truck auf dem Parkplatz einer Tankstelle. Zum Essen setzten sie sich auf den gelben Bordstein.
„Denken Sie wirklich, dass wir gut sind?“, fragte sie mit einer falschen mädchenhaften Unsicherheit, die nicht zu ihr passte. Für Jana war der schnellste und sicherste Weg zum Erfolg Selbstvertrauen. Das hatte sie schon weit gebracht. Das, und keine Zeit mit Ablenkungen wie Männern oder Freundinnen zu verschwenden.
„Ich denke, dass Sie jung sind“, sagte er.
„Wir sind nicht jung. Henry ist jung. Ich bin vierundzwanzig.“
„Nun, Ihre Musik klingt jung“, insistierte Fodorio zwischen zwei Bissen. „Was gut und schlecht ist. Es bedeutet, dass Sie Potenzial haben. Aber es lässt nicht wirklich Platz für Risiko.“
„Wir brauchen mehr Risiko?“ Jana lachte, den Mund voller Tacos. „Ich bitte Sie.“
„Nun, es ist so. Sie sind ein bisschen zu perfekt, wenn Sie mich fragen. Und Sie haben gefragt.“
„Wir müssen gewinnen“, sagte sie. Es war das erste Mal, dass sie es vor jemandem laut aussprach und es sich selbst eingestand. „Wir müssen.“
„Was machen Sie, wenn Sie nicht gewinnen? Was machen Sie, wenn Sie mit Ihrem Quartett nicht weiterkommen?“
Sie seufzte. Die Tacos waren gegessen, und es blieben ihr nur noch zwei Zigaretten in ihrer Packung. Sie gab ihm eine. „Ich weiß es nicht“, antwortete sie. „Unterrichten? Etwas aufnehmen? Es in einem Orchester probieren? Es als Solistin probieren, wenn sich die Möglichkeit bietet?“ Das auszusprechen bedrückte sie, es nahm ihr alle Energie.
„Sie könnten eine anständige Solokarriere machen.“
„Das sagen alle.“
„Aber das wollen Sie nicht.“
„Nicht, wenn es etwas Besseres gibt.“
„Gibt es das?“ Fodorios Zigarette hing zwischen seinen Lippen, er breitete die Arme aus. „Das hier. Es gibt nichts Besseres als das hier. Ich rauche und esse Tacos mit einer hübschen Geigerin, die zufällig verdammt talentiert ist und mir zeigen will, wie ich zurück zu meinem Hotel komme, und vielleicht geht sie mit nach oben und bestellt den Zimmerservice, weil der Veranstalter alles bezahlt. Morgen fliege ich nach Sydney, wo es gestern sein wird, oder heute, oder so ähnlich. Was könnte besser sein als das?“
„Wohnen Sie im Omni?“, fragte Jana. „Das ist ganz in der Nähe. Da finden Sie allein hin.“
„Aber Sie müssen mir den Weg zeigen“, sagte Fodorio und blies seinen Rauch in ihren, seine Hand wieder auf ihrem Knie.
Sie sah auf den Boden zwischen ihren Füßen. Wo war Catherine heute Abend? Warum dachte sie überhaupt an Catherine? Es lag an dem dunklen Konservatorium, die schöne, aber verschlossene Fassade erinnerte sie an Catherines Gesicht. Catherine, irgendwo in Los Angeles, wahrscheinlich betrunken. Seit fast zwei Jahren hatte Jana nicht mit ihrer Mutter gesprochen (aus reiner Faulheit, ohne besonderen Groll), doch sie zweifelte nicht daran, dass es sich ihr schon auf irgendeine übernatürliche Weise mitteilen würde, wenn etwas mit Catherine nicht stimmte.
„Also gut“, lenkte Jana ein und stand auf.
Fodorio hatte eine Zwei-Zimmer-Suite mit flauschigen Bademänteln und einem Jacuzzi vor einer klaren Glasscheibe, durch die man ins Schlafzimmer sah. Er liebte sie, wie er es nannte, dabei wollte sie das Gegenteil von Liebe-Machen: vögeln. Das Haar zitterte ihm fast vom Kopf, seine Hände waren rau und hielten nicht still. Seine schöne, teure Geige lag in ihrem Kasten, Jana sah sie über seine Schulter hinweg. Jana wollte sie, und sie wusste, dass er wusste, dass sie sie wollte. Seinen Erfolg. Es war nicht so, dass Jana besonders hübsch gewesen wäre (sie war groß für eine Frau, unauffällig dünn und flach, mit einem eckigen, eher langweiligen Gesicht) oder er besonders attraktiv (zu viele Haare, mochte mancher sagen, und kleiner, als er sich gab). Sie hatten sich aus dem Grund füreinander entschieden, aus dem sich die meisten Menschen füreinander entscheiden: um näher an etwas heranzukommen, das sie selbst nicht besitzen. Für Jana war es seine Leistung. Für ihn, nun, sie nahm an, war es ihr Hunger danach. Und da lag sie, rastlos, müde, nervös und gelangweilt, und während er sie bestieg, dachte sie: Was war es, was dem Quartett fehlte? Wie konnten sie es erlangen? Wie sollte sie erkennen, wenn es an der Zeit war aufzugeben? Am Ende fiel Fodorio in einen Champagnerschlummer, und Jana schlüpfte in einen der flauschigen Bademäntel und besichtigte sein Hotelzimmer, streifte umher und berührte all seine weichen Dinge.
Da standen sein makelloser Louis-Vuitton-Koffer, seine Tasche, die Slipper, die er in seiner Meisterklasse ohne Strümpfe getragen hatte, alles ordentlich vor dem Spiegel aufgereiht. Und da war sie, im Spiegel, eine Hochstaplerin, ein armes Mädchen aus einem kaputten Vorort von Los Angeles, eine Frau, deren Mutter nicht verstehen würde, was Fodorio tat, wer er war – wenn sie sich überhaupt die Mühe machen würde, danach zu fragen. Und dort auf der Kommode lag Fodorios Brieftasche aus fein strukturiertem schwarzen Leder. Sie öffnete sich in ihrer Hand: 327 Dollar in bar, vier Kreditkarten, ein im Bundesstaat New York ausgestellter Führerschein, auf dessen Foto er aufgedunsen und alt aussah, dazu das abgegriffene fünf mal acht Zentimeter große Foto eines kleinen Mädchens mit dunkler, stumpfer Ponyfrisur, ein Schulporträt. Der grelle blaugrüne Hintergrund biss sich mit ihrem grünen Wollpullover. Die Kleine lächelte breit, zeigte die Zähne und hatte Fodorios tiefe Grübchen, die seine Selbstgefälligkeit charmant erscheinen ließen. Jana drehte das Foto um, und auf der Rückseite stand in altmodischer Schreibschrift: Gisella, 6. Es war wie ein Versprechen. Das Leben des Mädchens werde so lang und voller Bilder sein, dass eine Erinnerung an Namen und Alter notwendig sein würde.
In der Probe mit Fodorio Anfang der Woche hatte er die Ordentlichkeit kritisiert, mit der sie Beethovens „Serioso“ spielten.
„Wissen Sie, was das ist? Dieses Stück?“, hatte er gefragt. Er stand oben bei ihnen auf der Bühne. Ein paar Mitstudenten und Lehrer saßen im Zuschauerraum verteilt und warteten auf einen seiner berüchtigten Verrisse.
„Ja“, sagte Jana. „Es ist Beethovens erster Schritt hin zu dem komplizierteren Komponisten, der er später wurde.“
„Hmm, nicht so ganz, meine Liebe. Es ist ein besinnungsloses Durcheinander, die gequälte Seele, die er später im Leben wurde. Das ist ein Unterschied. Das Stück hat etwas Gequältes, und etwas, das dieser Gequältheit, dieser Dunkelheit widersteht, oder? Wie hier.“ Er zeigte auf eine Passage in der Mitte des Satzes, eine Abfolge schwieriger Sechzehntel für sie und Brit. „Sie spielen das wie gleichklingende Sechzehntel, aber es sind keine.“
„Was denn sonst?“, fragte Brit.
„Diese Sechzehntel sind agitato, sie liefern sich ein Rennen, sind fast schon wütend aufeinander. Sie wetteifern. Moment, ich zeige es Ihnen“, sagte Fodorio und legte eine Hand auf den Hals von Janas Geige.
Seine Fingerspitzen hatten ihre berührt. Hornhaut an Hornhaut. Überrascht überließ sie ihm ihr Instrument. Er bedeutete ihr aufzustehen und setzte sich auf ihren Stuhl. Ganz vorn auf der Kante saß er, mehr davor als darauf, und spähte unter großen, zitternden Lidern zu Brit hinüber. Fast ohne zu atmen, begann er die Passage, und Brit fing seinen Einsatz gekonnt auf. Fodorios Noten landeten eine Millisekunde vor Brits, seine Akzente kamen unregelmäßig und stießen nach Brits Synkopen. Jana stand daneben und fühlte sich peinlich überflüssig. Alle Luft wich aus ihr. Er war besser als sie, ja, aber mit Brit, mit dem Quartett, ihrem Quartett.
Jetzt lag er auf dem Bauch, immer noch nackt, und schnarchte leise, die Arme unbequem unter sich verdreht. Nichts als ein Mensch. Unverhohlen, beschämend männlich. Als sie versucht hatte, den Arm unter ihm hervorzuziehen, hatte sein Gewicht es bestätigt. Einfach ein Mann, ein rundum dicker Körper, bewusstlos in einem Bett. Wie enttäuschend, dachte Jana, dass jemand, der zu solch schwierigen Bewegungen und klanglicher Vollkommenheit fähig war, nicht mehr als ein Haufen Mensch auf einer Hotelmatratze sein konnte. Und diese Ansammlung von Muskeln, Blut und Instinkten war ein Vater, der wahrscheinlich vergessen hatte, seine ferne Tochter anzurufen.
Jana zog einen von Fodorios Armen unter seinem Körper hervor, und er erwachte mit einem Ruck, die Fäuste geballt wie ein Zeichentrickboxer. Jana musste lachen, er fand es jedoch gar nicht komisch, was sie mit Wärme erfüllte. Sie nahm eine seiner Fäuste und öffnete sie Finger für Finger. So schlank, wie sie sein sollten.
Dann hielt sie Gisella vor ihn hin.
„Sie hat Geburtstag“, sagte er. „Sie wird sechs.“
„Sieben“, korrigierte Jana.
„Oh“, sagte er, rieb sich die Augen und setzte sich auf. „Ja, sieben. Ich meinte sieben. O Gott, das lässt mich wie einen schrecklichen Vater dastehen.“
„Ich weiß es nur, weil …“, gab sie zurück und drehte das Foto um.
„Ich liebe sie“, sagte er, als wollte er Jana davon überzeugen, und war dann wütend, dass er es musste. „Sie lebt nicht bei mir, aber ich kümmere mich auf andere Weise um sie. Ich kann sie nicht oft sehen, weil ich reisen muss, um mich um sie kümmern zu können. Und ihre Mutter wollte es so, sie hat mir ein Ultimatum gestellt und von Scheidung gesprochen. Die beiden hätten auch mit mir reisen können, aber ihre Mutter hat sich dagegen entschieden. Was soll ich da tun?“
Er redete weiter, doch Jana hörte nicht mehr zu. Was er sagte, klang wie eine Rede, die er schon viele Male in seinem Kopf gehalten hatte, mit seiner leicht blechernen, verzweifelten Tenorstimme, nachdrücklich, schnell, in gedrängtem Tonfall, als versuche er, alles vorzubringen, bevor sie etwas dazu sagen konnte. Wobei es ihr völlig egal war, ob seine Tochter bei ihm lebte oder nicht, ob er für sie zahlte, sie nur in den Ferien oder an zwei Wochenenden im Monat sah. Nicht egal war ihr, wie sehr diese Geschichte, dieses Mädchen, diese Siebenjährige, ihn zu erfüllen vermochte. Gerade eben noch war er nichts als ein Mann in einem Bett gewesen, und jetzt sieh ihn dir an, völlig desinteressiert an der Brust, die aus ihrem Bademantel lugte, ihrem verwuschelten Haar und dem Geruch ihrer Haut. Ein Kind konnte das mit einem Menschen machen, eine Tochter mit ihrem Vater. Selbst hatte Jana das nie erlebt, aber hier war der Beweis.
Er redete noch immer, und sie versuchte, ihn zu erreichen, irgendeinen Schalter umzulegen und seine Aufmerksamkeit wieder auf sie zu richten: Sie wollte das Objekt sein, das Subjekt, das Motiv, wollte die Führung übernehmen, gewinnen.
Gewinnen.
Er schien nicht zu glauben, dass ihr Quartett den Esterhazy gewinnen konnte, aber Jana sah auch, er dachte wie ein Musiker, in jedem Augenblick auf die Möglichkeit gefasst, dass sich alles ändern konnte, mit jeder noch so unsichtbaren Bewegung des Bratschenbogens, die doch klar zu hören war, mit jedem Tempowechsel des Cellisten. Beweglich bleiben. Den Platz behaupten, wo alles zerfallen konnte – war das nicht das, was sie dir in der Meisterklasse beibrachten? Dort lebte er, und wenn Jana es auch nicht tat (vielleicht gehörte sie zu einer anderen Art Musiker), verstand sie es doch. Und konnte es nutzen.
So griff sie nicht nur in ihrer Vorstellung nach ihm, sondern berührte ihn auch auf dem Bett, der Bademantel glitt ihr von den Schultern, und ihr Mund schluckte seine Worte. Er verschmolz mit ihr und bewegte sich wie ein Fisch von einem ihm entgleitenden Mädchen zu einem anderen.
Jana drückte ihn zurück aufs Bett, als er sich auf sie rollen wollte, und grub ihre kurzen Nägel in sein Schlüsselbein. „Nein“, sagte sie, setzte sich auf ihn, und sein Gesicht blühte unter ihr auf. Sie wiegte sich nahe zu seinem Ohr hinunter und sagte: „Ich will gewinnen.“
„Okay“, sagte er lächelnd. „Du gewinnst.“
„Nein“, sagte sie. „Ich will, dass wir gewinnen. Den Esterhazy.“
Sein Lächeln erstarb. Er bäumte sich auf und hob sie an. Sie hielt seinem Blick stand, solange sie konnte. Zog dann jeden Ausdruck aus ihrem Gesicht ab und war nur noch ihr physisches Ich. Sie hätte jede andere sein können, fühlte sich wie jede andere, aber doch auch ganz wie sie selbst. Damit kannte sie sich aus – Entschlossenheit zu verkörpern und auf ein Ziel hinzuarbeiten. Ein Bündel frenetischer Energie, das auf ihm ritt, eine Frau zwischen einem dreifachen Forte und ungezügeltem Chaos. Und in den letzten Wellen entwich ihr ein Schluchzer, bevor sie auf ihm zusammenbrach. Klein war sie jetzt wieder, er groß, ihre Körper schweißbedeckt, nichts als Körper, die von Zeit zu Zeit zu unglaublichen Dingen fähig waren. Die Schlichtheit des Ganzen ließ sie an seinem metallisch riechenden Hals fast in Tränen ausbrechen.
Die Worte kamen langsam aus ihr heraus, aus Angst, doch die Langsamkeit verlieh ihnen eine Aura von Zuversicht. Das Tempo war immer schon eine ihrer Stärken gewesen. Sie sagte: „Wenn du uns nicht hilfst, werde ich allen sagen, du hättest versprochen, uns zum Gewinn zu verhelfen, wenn ich mit dir ins Bett gehe.“
Eine Pause. Das Zählen der Takte. Ein Atemzug.
„Okay“, sagte er, die Hände auf ihrem Rücken. Er tätschelte sie wie ein Haustier. „Okay. In Ordnung.“
Nachdem er wieder eingeschlafen war, jetzt laut und tief, zog sie sich leise an, nahm das Bild von Gisella, das neben das Bett gefallen war, und steckte es in ihre Handtasche, bevor sie die Tür hinter sich ins Schloss zog.
Es war kurz vor Beginn der Dämmerung, die Stunde, in der San Francisco sich wie eine kleine Stadt am Meer anfühlte. Morgendliche Seevögel kreisten an einem tiefvioletten Himmel. Doch es war kalt. Jana beschleunigte ihren Schritt und bedauerte es, keine Strumpfhose angezogen zu haben. Sie fand ein einsam an einer Ecke stehendes Taxi und sprang hinein. An der Tür zum Gebäude in der Haight Street, in dem Henry wohnte, klingelte sie, bis er in die Sprechanlage ächzte. Sie antwortete genau in der Tonlage des Türöffners, einem Des, und er ließ sie herein.
Jana stieg hinauf in den dritten Stock, nahm immer zwei Stufen auf einmal und drückte die angelehnte Tür auf. Es war kalt in Henrys Wohnung, die seine reichen Eltern in Napa bezahlten, liebenswürdige, großzügige, kluge Leute. Unter Janas Füßen raschelten leere Notenblätter. Henry hatte sie auf den Boden geworfen, auf einigen standen kurze Phrasen eines Stücks, das er gerade schrieb. An den Wänden stapelten sich Kisten über Kisten voller Klassikplatten. Neben seiner Bratsche waren sie sein einziger Besitz, den er von Stadt zu Stadt mit sich nahm. Sie waren ihm ans Herz gewachsen, und er sorgte sich um sie wie ein Kind um seine geliebten Spielzeuge. Jana mochte das an ihm, aber es frustrierte sie auch. Die Platten verstopften sein Leben, er packte sie nicht aus, ordnete sie nicht und fand nie, was er suchte. Ein weiterer Punkt, der sein Leben unnötig chaotisch machte.
Sie stieg aus ihren Schuhen und in Henrys Bett, neben das vertraute Komma seines langen Körpers. Der Platz neben ihm war noch warm, parfümiert und etwas klamm. Da war jemand anderes gewesen.
„Wer?“, fragte sie und stieß ihn mit dem Ellbogen an.
„Eine Ballerina nach der Vorstellung“, sagte er in sein Kissen. „Und du?“
„Niemand“, antwortete sie. „Der Bühnentyp und ich waren in einem Schwulenklub in der Stadt.“
Er zog sie näher an sich heran. „Du hast eine Menge Zeit mit Ferrari zugebracht. Wie war das?“
„Genau so, wie du es dir vorstellst.“
„Hat er dir auch seine Karte gegeben?“
Jana hob den Kopf vom Kissen und sah ihn an. „Er hat dir seine Karte gegeben?“
Henry langte mit geschlossenen Augen auf seinen Nachttisch, tastete darauf herum und gab ihr die zusammengefaltete Visitenkarte mit Fodorios Namen. Jana setzte sich auf und betrachtete sie. Auf die Rückseite hatte Fodorio Für Ihren John-Lennon-Moment geschrieben.
„Deinen John-Lennon-Moment?“
„Was?“
„Was er auf die Rückseite geschrieben hat. Wenn du die Band verlassen willst.“
„Niemand verlässt die Band“, murmelte Henry.
„Warum hat er sie dir dann gegeben?“
Henry öffnete die Augen und stützte sich auf den Ellbogen. „Weil er ein kompletter Egomane ist, der das Gefühl haben will, mir bei etwas zu helfen, von dem ich noch gar nicht weiß, dass ich’s brauche.“
Jana fuhr mit den Fingern über die Knicke der Karte. „Warum behältst du sie dann?“
Henry sah sie an, als bedauere er sie, aber nicht auf eine mitleidige Art. Liebevoll, seine Miene ihrer kleinlauten Frage anpassend. Darauf hätte sie die Karte auf den schmutzigen Boden fallen lassen und einschlafen können, aber er nahm sie ihr ab und zerriss sie in winzige Fetzen, die er sich in den Mund steckte, ruhig zerkaute und mit einem Schluck Wasser aus dem Glas auf seinem Nachttisch herunterspülte.
„Schlafen wir jetzt?“, fragte er.
„Okay.“
Gemeinsam fielen sie in einen platonischen Schlummer, wie sie es schon so oft getan hatten: voll mit Tacos, Schweiß und Kolophonium. Sie waren Freunde, und Henry war der Bruder, den sich Jana immer gewünscht hatte. Sie glichen sich in ihrer stolzen Einsamkeit, der Fermate, die sie stur in sich hielten und die in ihnen ewig andauern mochte. Indem sie ihre Fermaten verbanden, empfanden sie so etwas wie Befriedigung. Gibt es etwas Besseres?, hatte Fodorio Jana in Bezug auf sein Leben gefragt, und sie hatte nicht geantwortet. Die Versäumnisse und Enttäuschungen seines Lebens lagen ihr gar nicht so fern, aber wenigstens hatte sie das hier, die Fermate eines anderen. Jana träumte nicht. Henry schlief mit einem flüchtigen Lächeln auf dem Gesicht, und sie konnte nie sagen, ob es ihm ging wie ihr.
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