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Maximilian Dorner
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Mein Jahr in Bayern

„Ein ausgezeichnetes, nicht ganz unkompliziertes Werk, das erst bei mehrmaliger Lektüre seine Stärken enthüllt, wo immer man es aufschlägt.“ - Vorarlberger Nachrichten

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Da machst was mit ! — Inhalt

Maximilian Dorner, Münchner Kindl und frisch gebackener Onkel, bricht mit seinem nagelneuen Rollstuhl auf zu einer zwölfmonatigen Heimaterkundung von Oberstdorf bis zum Frankenwald. Dabei legt er (fast) alle Vorurteile ab, lässt sich in Altomünster die Hirnschale eines Heiligen auflegen, wird in Aschaffenburg Zeuge der Deutschen Gabelstaplermeisterschaft und trifft den offiziellen Marienfigurenbekleider des Erzbistums. Er begibt sich in die Hände einer Gesundbeterin im Allgäu und legt das Bayerische Fernsehen mit Fragen zu seinen Wetterkameras lahm. Am Ende seiner Reise erkennt er, wie wunderbar fremd einem die eigene Heimat doch werden kann.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 08.09.2011
256 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-95350-4
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Leseprobe zu „Da machst was mit !“

Wenn ich von München weg käme,
und wärs über den Ozean,
zu Fuß tät ich wieder zurück laufen.


BALLY PRELL


Onkelland


Vor Kurzem habe ich ein Tellerchen aus dem Landtag gestohlen. Der Grund mag Dir vielleicht kauzig vorkommen, denn eigentlich wollte ich nur … Gut, dann ist Dein Onkel eben ein Dieb. Allerdings nur dieses Tellerchens wegen, das sei zu meiner Ehrenrettung gesagt. Du brauchst den Mund also gar nicht so vorwurfsvoll zu verziehen.
Da sitzen wir nun am Neujahrsmorgen, Du vor Deinen Bauklötzen auf dem Parkett und ich vor meinem Diebesgut, in dessen [...]

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Wenn ich von München weg käme,
und wärs über den Ozean,
zu Fuß tät ich wieder zurück laufen.


BALLY PRELL


Onkelland


Vor Kurzem habe ich ein Tellerchen aus dem Landtag gestohlen. Der Grund mag Dir vielleicht kauzig vorkommen, denn eigentlich wollte ich nur … Gut, dann ist Dein Onkel eben ein Dieb. Allerdings nur dieses Tellerchens wegen, das sei zu meiner Ehrenrettung gesagt. Du brauchst den Mund also gar nicht so vorwurfsvoll zu verziehen.
Da sitzen wir nun am Neujahrsmorgen, Du vor Deinen Bauklötzen auf dem Parkett und ich vor meinem Diebesgut, in dessen schwarzen Rand das bayerische Wappen eingelassen ist. – In welches Land wurdest Du da nur hineingeboren? Diese Frage treibt mich seit Deiner Geburt im vergangenen Februar um. Es wird wohl noch einige Zeit vergehen, bevor Du sie Dir beantwortest, falls Du dann nicht ganz andere Sorgen hast. Ich wiederum wuchs in einer Umgebung auf, in der man beim Wort „ Heimat “ instinktiv zusammenzuckte. Tracht galt als das Gegenteil von cool, die freiwillige Feuerwehr als etwas für angehende Alkoholiker. Und das laut Auftrumpfende – sowohl im Selbstlob als auch bei Kritik – blieb mir immer fremd. Schon allein deshalb habe ich mir selbst diese Frage nie gestellt. Aber nun, da wegen eines sich ausdehnenden Generalstreiks der Nerven mein Bewegungsradius auf wenige hundert Meter zusammengeschrumpft ist, hat „ Heimat “ einen sanfteren Klang angenommen: mehr Stubenmusik als Defiliermarsch.
Zeitlebens bin ich dem Vorwurf, als Bayer nicht einmal den Münchner Dialekt zu beherrschen, mit einem kühlen Lächeln begegnet. Trotzdem hat er mir jedes Mal einen Stich versetzt, weil für einen kurzen Augenblick die Umrisse von etwas heimlich Vermisstem aufleuchteten. Es kam mir oft vor, als ob ich nur zufällig hier groß geworden wäre. Als hätte ich mit Bayern im Grunde genommen gar nichts zu tun. Und Bayern nichts mit mir.
Ich würde Dir das gerne ersparen. Deswegen werde ich es in unser beider Namen im Lauf der nächsten zwölf Monate erkunden, so gut es eben geht. Unser Vaterland – na, das ist mir dann doch zu hoch gegriffen, vielleicht passt „Onkelland“ besser …
Allerdings ist meine Aussicht, seitdem Stufen kaum mehr überwindbar sind, auf das Erdgeschoss beschränkt. Panoramaansichten kann ich nicht bieten. Nahaufnahmen von Menschen liegen mir mehr. Und alleine schaffe ich es auch nicht. Ich bin wohl oder übel auf Hilfe angewiesen. Darum werde ich jetzt als Erstes eine Rundmail an alle mit mir befreundeten Autobesitzer schreiben, in der Betreffzeile: Mein Jahr in Bayern. Bitte nehmt mich mit !


Heilsversprechen


Christine hat auf die Rundmail als Erste geantwortet. In ihrem klapprigen, tiefseeblauen Mercedes nimmt sie mich an einem wolkenlosen Vormittag mit zu Irmgard, einer Wunderheilerin, nach Bad Feilnbach. Kaum auf der Salzburger Autobahn, gibt sie Gas, als wären wir auf dem Weg ans Mittelmeer.
„Hast du dich eigentlich schon mal gefragt, wem der Himmel über Bayern gehört?“, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf. „ Sollte ich mir darüber Gedanken machen ? “
„Ich hab an Neujahr bei Youtube was Sensationelles herausgefunden. Unser bayerischer Papst war doch vor vier Jahren in München. Auf dem Marienplatz gab es diese wahnsinnig rührende Abschlussveranstaltung, mit Ministerpräsident und Bundeskanzlerin und allen. Und da wurde am Ende auch die bayerische Hymne gesungen. “
Christine reiht sich auf der rechten Spur hinter einem Laster ein, was ich als Einverständnis deute, die ganze Geschichte zu erzählen.
„Der Papst steht also mit roten Wangen auf dem Podest neben der Mariensäule. Und winkt und winkt. Und von unten winken alle mit gelb- und blau-weißen Fahnen zurück. Da setzt auf einmal die Musik ein, angeführt von einem Mädchenchor. Alle singen mit: in der ersten Reihe Ministerpräsident und Bundeskanzlerin, das Fahnen schwenkende Volk natürlich, die Trachtler und Würdenträger, die Kameramänner des Bayerischen Fernsehens. Selbst der Papst brummt mit, selig lächelnd : ›Gott mit dir, du Land der Bayern …‹ Und jetzt pass auf! Die Mädchen singen ihm ins Gesicht : › … und erhalte dir die Farben deines Himmels weiß und blau.‹“ Ich mache eine weihevolle Pause.
„Ja und?“, fragt Christine nach einer Weile.
„Deines Himmels, verstehst du? Deines. Eigentlich muss es heißen: Seines Himmels weiß und blau. Das bedeutet, dass der Himmel nicht mehr Gott gehört, sondern dem Volk der Bayern. Das ist doch ungeheuerlich: In Anwesenheit des Papstes wird der Himmel enteignet. Die haben einfach eine ausrangierte Fassung gesungen, nur um dem Papst eins auszuwischen. Und das direkt neben der Säule mit der Muttergottes obendrauf. Und niemand hat es bisher bemerkt. Außer mir. Ist das nicht sensationell ? “
Christine überlegt eine Weile, dann sagt sie:
„ Sag mal, so ganz normal ist das aber nicht, wenn man sich an Neujahr auf Youtube die Bayernhymne anhört, und dann diese Mail. Ist irgendwas?“ Ich schüttle den Kopf, worauf sie fortfährt: „Aber das kannst du ja alles gleich mit Irmgard besprechen.“


Auf dem Heimweg, nach der Hypnose, machen wir am Irschenberg halt. Der ist Radiohörern und Reisenden wegen der fast täglichen Staus bekannt. Darauf steht eine gelbe Barockkirche, wie ein Leuchtturm zwischen Bayern und Italien. Entweder zeigt er an, dass der Urlaub nun endlich beginnt oder dass dessen Ende kurz bevorsteht. Nie wäre ich darauf gekommen, dass man hier auch halten kann. Christine hingegen hat hier schon öfter Station gemacht, um vor dem ausgebreiteten Alpenpanorama die Sitzung bei Irmgard nachwirken zu lassen. Der Kirche, gibt sie zu, hat sie dabei allerdings weniger Beachtung geschenkt als dem Gasthof nebenan.
Auf dem Gehweg zum Portal liegt ein alter Schäferhund und spielt bayerischer Löwe, den Kopf majestätisch erhoben, die Vorderpfoten übereinandergeschlagen. Ich bleibe stehen und warte seine Entscheidung ab. Mit vollgefressener Gelassenheit lässt er mich schließlich passieren. Die Kirche ist zwei Heiligen gewidmet, von denen ich bislang noch nie etwas gehört habe: Marinus und Anianus, beides Mönche aus Irland, ließen sich im siebten Jahrhundert nach einer Rompilgerreise als Einsiedler am Irschenberg nieder. Der vom Papst geweihte Bischof Marinus an Ort und Stelle, sein Freund, der es lediglich zum Diakon gebracht hatte, in einer Klause auf dem Nachbarhügel; voneinander getrennt durch eine bei schlechtem Wetter unüberwindbare Schlucht. Von dort wirkten sie, jeder für sich und doch gemeinsam, auf das sprunghaft gläubige Volk ein.
Vierzig Jahre ging das gut, bis vorbeiziehende Vandalen, marodierende Slawen wahrscheinlich, Bischof Marinus zwangen, ihnen den Weg zur nächsten Behausung zu zeigen. Der weigerte sich jedoch, sie zu begleiten. Allerdings weniger, um die Bewohner des Dorfes vor den Vandalen zu schützen, als wegen seines Gelübdes, den Irschenberg nicht mehr zu verlassen. Dieses besiegelte sein Schicksal, denn die ergrimmten Wilden verbrannten ihn bei lebendigem Leib an Ort und Stelle. Genau zur gleichen Stunde starb auf wundersame Weise auch sein Freund auf dem Nachbarhügel. Ohne von Marinus’ Tod Kenntnis zu haben, entschlief er einfach, nachdem ihm eine goldene Taube aus dem Mund entwichen war.
Christine seufzt.
„Sie müssen sich sehr geliebt haben, die zwei.“ Heute lassen die in Autos vorbeihastenden Horden die beiden in der Kirche schließlich vereinten Heiligen unbehelligt links und rechts liegen. Und werden doch von ihnen festgehalten. Nur deswegen gibt es nämlich zu Urlaubszeiten hier jeden Tag einen Stau: als selige Mahnung und Gruß an alle Reisenden.




Meine Beine lassen sich kaum bewegen. Aber ich bin zu gut gelaunt aufgewacht, um nachzuschauen, wie effektvoll sie sich diese Nacht wieder verknotet haben. Die Daunendecke ziehe ich nur gerade so weit hinunter, bis beide Ohren freiliegen. Januarkalt ist es. Und sonntagsruhig. Es muss geschneit haben, die Geräusche eines vorbeifahrenden Autos dringen gedämpft durch das Fenster meiner Eckwohnung herein. Das Licht der Neonreklame vom Casino gegenüber taucht einige Lamellen der Jalousie in ein übernatürliches Blau. Ich fühle mich so daheim, wie man es nur beim Aufwachen im eigenen Bett sein kann. In meinem Kopf dreht sich wie eine festhängende Schallplatte der Vers „Gott mit dir, du Land der Bayern …“. Sieht ganz so aus, als könnte man diesem Land nicht näherkommen, ohne gleichzeitig Gott näherzukommen, so eng, wie die beiden miteinander verknüpft sind.
Die Haustür geht auf, jemand trampelt auf dem Fußabstreifer im Treppenhaus den Schnee von den Schuhen, die Tür kracht so laut ins Schloss, dass meine Wohnungstür zittert. Der Eintretende hustet und schließt den Messingbriefkasten auf. Er scheint leer gewesen zu sein, so schnell, wie er ihn wieder zuschlägt. Dann entfernen sich die Schritte auf der knarzenden Treppe, verstummen, bevor ich das Stockwerk bestimmen kann. Mühsam stehe ich auf. Geht doch!
Nach einem Dutzend Umzügen innerhalb Münchens fühle ich mich zum ersten Mal angekommen. Zu Hause im Westend, gleich hinter der Theresienwiese, in Erinnerung an den Erbauer der über ihr thronenden Bavaria auch Schwanthalerhöhe genannt. Recht viel mehr weiß ich weder über die engeren noch weiteren Kreise um mich herum. Meine Mutter ist hier aufgewachsen, ich selbst weit vor den östlichen Toren der Stadt. Und die wenigen unverrückbaren Wissensbrocken über mein Heimatland sind gleichzeitig die zweifelhaftesten. Allesamt entstammen sie dem Heimat- und Sachkundeunterricht der Grundschule. Robuster Stolz durchzieht sie wie eine Mineralader: Ich lernte dort beispielsweise, dass der Ebersberger Forst das größte zusammenhängende Waldgebiet Deutschlands sei, dass die Straße zwischen Grafing und Ebersberg als Racheakt wegen des nicht erlangten Landkreissitzes von den Grafingern „Münchner Straße “ getauft worden und dass Ebersberg nur ein überflüssiges Überbleibsel der letzten Eiszeit sei. Außerdem kann ich noch im Tiefschlaf alle S-Bahn-Stationen bis zum Marienplatz aufsagen. Der Lehrer, der mir das alles beibrachte, hielt zur besseren Durchblutung weite Teile des Unterrichts im Kopfstand ab.
Viel mehr habe ich seitdem über Bayern nicht dazugelernt. Heimisch werden heißt anscheinend nichts anderes, als nicht mehr genau hinzuschauen. Und wenn ich bislang über dieses Land nachdachte, ging es mir wie Physikern mit ihren Atomen. Je genauer man sie untersucht, desto mehr zerbröseln sie einem zwischen den Fingern. Das fängt schon bei den Regionen an: Bayern zerfällt in Franken und Altbayern, zerfällt in Oberbayern, Niederbayern und die Oberpfalz. Oberbayern zerfällt in … Vom Großen ins Kleine funktioniert es nicht, vielleicht also besser in der umgekehrten Richtung.
Nun lässt mich der Ebersberger Forst nicht mehr los. Ich breite eine zwischen Bücherregal und Wand vor sich hinstaubende Landkarte auf dem Küchentisch aus. Erste Beobachtung: Bayern ist ungefähr so umfänglich wie mein Oberkörper. Und München nur ein winziger Fleck, nicht einmal so groß wie das Herz.
Mit einem dicken Filzer markiere ich die bis zum heutigen Tag bereisten Orte. Das Ergebnis ist ernüchternd. Warum kokettiere ich eigentlich so penetrant mit meinem Bayerntum, wenn ich nur einen Bruchteil des Landes kenne ?
Überrascht bin ich über Bayerns viele Nachbarn: Österreich und Baden-Württemberg, klar. Aber auch Hessen und Thüringen und Tschechien und – tatsächlich! – sogar Sachsen grenzen für ein paar Zentimeter an Bayern ! Und dann die Flüsse. In ihrem Süden streben sie alle der Donau mit einer Verbeugung zu, während diese Bayern auf dem kürzesten Weg Richtung Meer passiert.
Je länger ich die Karte studiere, desto verheißungsvoller erscheint mir dieses Land. Ich starre so lange darauf, bis mir die Umrisse nichts mehr sagen. Dann falte ich sie umständlich zusammen und lasse sie wieder hinter dem Bücherregal verschwinden.


Am Nachmittag wage ich – im Grunde froh darüber, dass der bestellte Rollstuhl immer noch nicht da ist – einen Krücken-Spaziergang durch den Schnee. Dabei folge ich einem kleinen roten Wägelchen des Straßendienstes, das eine feine Spur Kies wie einen Teppich auslegt. Die Kraft reicht an diesem Tag für eine Blocklänge bis zur nächsten Kreuzung. Aber erst einmal muss ich die vor meiner Wohnung überqueren. Ich bleibe auf der Straßenmitte stehen: hinter mir mein Küchenfenster, zur Rechten der seine Pächter wie Socken wechselnde Backshop, zur Linken der Spielsalon. Diagonal gegenüber das Haus voller türkischer Rabaukenkinder. An Silvester versuchen sie regelmäßig, die an allen vier Häusern mit Drahtseilen aufgehängte Straßenlaterne abzuschießen. Dieses Mal gelang es ihnen, das Licht flackerte noch ein paar Minuten und erlosch. Ein Plastikzacken fiel an Neujahr wie ein Menetekel herunter.
An der Längsseite des Backshops hängt ein Kaugummiautomat. Er ist über und über mit Aufklebern antifaschistischer Trutzbünde verziert. Neben dem Geldeinwurfschlitz für Wunderhexen verlangt einer: „Globale Bewegungsfreiheit für alle“. Eine Forderung, der ich mich bedingungslos anschließe. „Für alle“ scheint das Leitmotiv des Widerstandes im Westend zu sein. An der gegenüberliegenden Hausfassade steht in krakeliger Sprayschrift, nach anderthalb Jahren fällt es mir zum ersten Mal auf, „Keine Miete mehr“ – und darunter, viel kleiner, dafür mit einer dicken Linie unterstrichen: „Macht für alle“.
Vor dem Supermarkt liegt ein aus einem Block herausgerissener Zettel in einer Schneeverwehung. Ich stupse ihn mit der Krücke an. Die Rückseite ist mit blauem Kugelschreiber beschrieben. Vorsichtshalber nehme ich ihn mit.




Wie alle drei Wochen hat sich die großfamiliäre Schafkopfrunde bei mir versammelt. Wir spielen um Geld, aber nur die Verluste zählen. Irgendwann wollen wir mithilfe unserer Spielkasse nach Teneriffa reisen, in zweihundert Jahren vielleicht.
Zur Stammrunde gehören meine vier Großcousinen und der dazugehörige Vater. Mit schöner Regelmäßigkeit überlegen wir, auf welche Weise wir eigentlich miteinander verwandt sind. Irgendwo in der Oberpfalz muss es ein ganzes Dorf mit noch weiter entfernten Verwandten geben. Seit Jahren wird es heraufbeschworen und liefert das Stichwort für den Großonkel, Geschichten über meine Großeltern zu erzählen. Ich sauge sie begierig auf, denn über sie habe ich von den eigenen Eltern bisher kaum etwas erfahren. Gerade innerhalb einer Familie führt jede Spurensuche nur über Umwege ans Ziel.
Mein Großonkel, inzwischen selbst bald achtzig, ist ganz gerührt, als er auf meinem Schreibtisch die Bayerische Geschichte seines „alten Professors“ liegen sieht. Noch ein Oberpfälzer. Der in seinen Vorlesungen besonderen Wert auf die oberpfälzischen Geschehnisse gelegt hätte. Eine Region, die geprägt wurde durch die vielen den Menschen aufgezwungenen Religionswechsel. Vom Katholizismus zum Protestantismus, dann zum Kalvinismus, zurück zum Luthertum und wieder hin und zurück. Darauf, so der alte Professor, könnte man die Neigung des Oberpfälzers zum Knorrigen und Einsilbigen zurückführen. Mein Großonkel kommt, obwohl das Taxi bereits wartet, noch einmal in die Küche, um mir ein wenig umständlich von der Zeit des Simultaneums zu erzählen, als in einer Kirche katholisch und evangelisch gepredigt wurde. Was aber auch nicht lange gut ging, da man über die Nutzung der Kirchen in Streit geriet, als die … dann aber zerrt ihn eine seiner Töchter aus der Wohnung.
Egal, wie motiviert ich auch beginne, nach fünf Seiten verwechsle ich in dem Geschichtsbuch die bayerischen Herzöge und lege es zurück auf den Stapel. – Wie viele Bücher es doch über Bayern gibt! Die meisten wollen einem das Land schmackhaft machen, seine Vorzüge herausstellen, seine glorreiche Geschichte, seine landschaftlichen Schönheiten, sein Brauchtum und seine Sehenswürdigkeiten. Da muss doch etwas faul sein, wenn so dreist gelobhudelt wird. Auf den Umschlägen scheint immer die Sonne, das Gras ist grün. Die Menschen lachen fröhlich in die Kamera. Wenn ich selbst aus dem Fenster schaue, regnet es matschigen Schnee. Seit Jahren. Keiner der Vorbeihastenden lacht. Lebe ich vielleicht gar nicht in Bayern ?




Seit wann ich es nicht mehr so genau nehme, durch wen mir ein Wunder geschieht, vermag ich Dir gar nicht zu benennen. Ich kann es mir schlicht nicht mehr leisten, wählerisch zu sein. Die Hypnose bei Irmgard in Bad Feilnbach brachte mir wenig, hatte dafür aber einen stolzen Preis. Warum also nicht die Heiligen? Oder hast Du noch etwas anderes einzuwenden, außer dass es Dir ein wenig peinlich ist? Zumal Wunder die einzigen kostengünstigen Heilsversprechen sind. Waren die Heiligen in Bayern gerade deswegen über Jahrhunderte so populär?
Seit einer Stunde google ich mit den entsprechenden Schlagworten durch das Netz und habe prompt einen in meiner Nähe gefunden, der für mich passen könnte. Rasso, so steht geschrieben, wird angerufen „bei heimlichen und schambaren Gebrechen“. – Die Heiligen kosten zwar kein Geld, stattdessen Zeit und Energie. Man muss sein Stubenhockertum überwinden. Also auf nach Grafrath !
Weswegen Rasso die Zuständigkeit für Unterleibsleiden zugesprochen bekam, weiß niemand. Von ihm selbst ist eigentlich nichts bekannt außer seinem kunstvoll drapierten Gerippe. Nicht einmal eine herzerweichende Legende wie auf dem Irschenberg rankt sich um sein Leben. Man weiß nur, dass er – zunächst Fürst von einem halben Dutzend Herzogtümern, dann ein heftig bettelnder Jerusalempilger – auffallend groß gewesen sein muss. Und er war ein fleißiger Sammler. Im 15. Jahrhundert hat ein Andechser Mönch aufgelistet, welche Reliquien Rasso so zusammengerafft hatte auf seinen Reisen kurz vor der ersten Jahrtausendwende: Glieder und Gebeine von Peter und Paul, Simon, Judas, Jakobus, auch das Haupt des Apostels Philippus und dessen rechten Arm, die Kinnbacken Johannes’ des Täufers und den Arm Sankt Bartholomäus’ … All diese Schätze hat er bis nach Grafrath gebracht, doch nun ist von all dem nichts mehr vorhanden als eben sein eigenes Skelett. Und selbst das wurde schon mehrfach ausgelagert, gestohlen und immer wieder aufs Neue zusammengesetzt. Den Rest haben sich die Klosterbrüder von Andechs gesichert.
Ohne eine Erklärung zu erwarten, stimmen meine Eltern zu, mich zu begleiten. Wann immer ich möchte, sagen sie und sind dann doch etwas perplex, dass es schon morgen sein soll.
Da die Kirche nur für Gottesdienste geöffnet ist, rufe ich kurz entschlossen beim örtlichen Kulturverein an, besser gesagt, bei dessen Vorsitzender. Ich erreiche allerdings nur ihren Mann. Er verspricht, nach der Messe mit dem Schlüssel in der Hand auf mich zu warten.


Zu meiner Überraschung ist das Begrüßungskomitee am nächsten Morgen drei Mann hoch. Neben dem Mann der Vorsitzenden erwarten meine Eltern und mich der Organist, in Personalunion auch Kirchenhistoriker, und ein älterer Herr mit nicht benannter Funktion. Später stellt er sich als Jerusalempilger vor ( gemeinsam mit Frau neun Monate und zwei Tage unterwegs), der schon deswegen wüsste, was Rasso durchgemacht hat. Ich sitze mit aufgeschlagenem Notizbuch in einer Kirchenbank und lasse mich über die Wallfahrtsgeschichte Grafraths unterrichten wie ein Abgesandter der heiligen Inquisition. Besonders angetan bin ich von den Mirakelbüchern. Im Laufe der Jahrhunderte wurden darin Tausende von Wunderheilungen dokumentiert. Der Mann der Vorsitzenden hat der Übersichtlichkeit halber eine Datenbank programmiert und die ersten zweitausend Wunder bereits in sie eingegeben. Diese widerlegte allerdings die These von Grafrath als „urologischem Wallfahrtsort“. Zählte man nämlich alle diesbezüglichen Heilungen zusammen, käme man nur auf ungefähr zehn Prozent. Zudem nähmen Steinleiden über die Jahrhunderte kontinuierlich ab, nicht nur hier, sodass eine solche Aussage unzulässig verallgemeinere. Krankheitensoziologisch sei das dennoch hochinteressant, erklärt er weiter. Ein Professor habe unlängst die der Kirche gestifteten Gallen- und Blasensteine untersucht. Von hundert Objekten waren nur zwei aus Gips. Der Rest ist echt. Trotz dieser eindeutigen Beweislage bemüht sich das Begrüßungskomitee, die Wundertätigkeit des Heiligen möglichst niedrig zu hängen. Metaphorisch müsse man viele Geschehnisse aus heutiger Sicht deuten. Sie überbieten sich geradezu in Relativierungen. Selbst die wiederzubelebende Wallfahrt solle man eher als Angebot zur Meditation verstehen, als Einkehrmöglichkeit zu sich. Doch da sind sie bei mir an den Falschen geraten, gegen Wunder habe ich nichts einzuwenden.
Als ich in die Runde frage, was der Heilige ihnen persönlich bedeuten würde, verstummen sie. Die peinliche Stille fängt mein Vater mit der Bemerkung auf, dass das ja wohl doch eine sehr intime Frage sei. Worauf die drei Herren nicken und mich zum Hochaltar mit Rassos Ge- beinen komplimentieren.


Meine vom Glauben abgefallene Freundin Marion schüttelt heftig den Kopf, als ich ihr den heiligen Rasso nahezubringen versuche. Meine Begeisterung für dessen Knochen sei genauso schlimm wie die ihrer verrückten Verwandtschaft, die sich jedes Jahr mit der Hirnschale irgendeines komischen Heiligen segnen lassen würde. Ich bin sofort Feuer und Flamme, aber sie widersetzt sich jedem Versuch, gemeinsam mit mir zum heiligen Alto zu fahren. Nur den Namen gibt sie schließlich preis.
Es ist schon sonderbar : Alle meine in Oberbayern groß gewordenen Freunde, viele aus der Kirche ausgetreten oder dieser nur stirnrunzelnd gedenkend, haben irgendwelche katholischen Erinnerungen, meistens ummantelt von einer dicken Schicht Scham. Niemand bekennt sich zu diesen Wurzeln. Und ich, der ohne Glauben aufwuchs, plane nun schon innerhalb weniger Wochen den dritten Heiligenbesuch. Ich hoffe inständig, dass Du meinen Enthusiasmus besser verstehen wirst als ich selbst im Moment. Dass sich das in der Rückschau schon irgendwie zueinanderfügen wird.

Maximilian Dorner

Über Maximilian Dorner

Biografie

Maximilian Dorner, 1973 in München geboren, studierte Dramaturgie an der Bayerischen Theaterakademie und war als Autor, Regisseur und Kulturveranstalter tätig. Sein Debütroman „Der erste Sommer“ gewann 2007 den Bayerischen Kunstförderpreis. Die Auswirkung seiner MS-Erkrankung auf sein Leben hat er...

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„Ein ausgezeichnetes, nicht ganz unkompliziertes Werk, das erst bei mehrmaliger Lektüre seine Stärken enthüllt, wo immer man es aufschlägt.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Maximilian Dorner zeigt sich als exzellenter Beobachter.

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