Anstich (Kommissar-Pascha-Reihe 4) — Inhalt
Kaum ist Anstich, schon ist die Wiesn wieder vorbei. Es herrscht Katerstimmung auf der Münchner Theresienwiese – zumal die Schausteller und Budenbesitzer bei den Abbau- und Auffräumarbeiten einen schier unfassbaren Fund machen. Drei Leichen in einem Müllhaufen. Zeki Demirbilek alias Kommissar Pascha muss sein Romantikwochenende in Istanbul abbrechen, denn einer der Toten hat nicht nur dem Augenschein nach ausländische Wurzeln. Doch ohne Oktoberfest-Experten Kommissar Pius Leipold läuft auf bayerischem Hoheitsgebiet nichts. Als Leipold nach der Befragung einer Tatverdächtigen spurlos verschwindet, geht Zeki zwischen leeren Bierzelten und skelettierten Fahrgeschäften selbst auf Spurensuche. Mit leidenschaftlicher Gründlichkeit und dem ein oder anderen Weizen rückt der bekennende Münchner Türke dem Verbrechen zu Leibe. – „Ein bayerisch-türkisches Krimijuwel.“ Marcus H. Rosenmüller
Leseprobe zu „Anstich (Kommissar-Pascha-Reihe 4)“
Letzter Tag der Wiesn
1
Mit aller Wahrscheinlichkeit hätte der Mann, der wie ein Minarett kerzengerade dastand und dessen Kinn wie ein Kurzsäbel geschwungen war, hinsichtlich der Sinnhaftigkeit des Oktoberfestes lautstark widersprochen. In Vorfreude auf seinen ersten Wiesnbesuch wartete er vor dem Hotel mit Waldblick im oberbayerischen Oberammergau auf das Taxi, das er kurz zuvor über die Rezeption bestellt hatte. Er freute sich über die angenehmen herbstlichen Temperaturen, als er gleich zwei Taxis aus entgegengesetzten Richtungen die Landstraße [...]
Letzter Tag der Wiesn
1
Mit aller Wahrscheinlichkeit hätte der Mann, der wie ein Minarett kerzengerade dastand und dessen Kinn wie ein Kurzsäbel geschwungen war, hinsichtlich der Sinnhaftigkeit des Oktoberfestes lautstark widersprochen. In Vorfreude auf seinen ersten Wiesnbesuch wartete er vor dem Hotel mit Waldblick im oberbayerischen Oberammergau auf das Taxi, das er kurz zuvor über die Rezeption bestellt hatte. Er freute sich über die angenehmen herbstlichen Temperaturen, als er gleich zwei Taxis aus entgegengesetzten Richtungen die Landstraße entlangfahren sah.Geht es dem Münchner gut, besucht er das Oktoberfest. Geht es ihm schlecht, geht er erst recht hin. Sinnvoll – das wissen alle, die sich jemals auf dem größten Volksfest der Welt vergnügt haben – ist ein Wiesnbesuch an sich nicht. Egal, ob es einem gutgeht oder schlecht.
Der aus dem Ortskern angebrauste Fahrer erreichte als Erster die Hotelzufahrt. Seine Kollegin im anderen Taxi schien jedoch mit dem Ausgang des Wettrennens nicht einverstanden zu sein. Der Hotelgast, der die lukrative Fahrt zum Oktoberfest avisiert hatte, bemühte sich, Töne und Laute aus den Mündern der Taxifahrer zu verstehen, die offensichtlich im Streit lagen. Dabei kam ihm die Postkarte in den Sinn, die er den Kollegen ins Büro geschickt hatte. Die bonbonfarbene Abbildung zeigte eine Blondine mit Zöpfen und drallen Brüsten im Dirndl und einen Naturburschen mit pausbackigem Gesicht in Lederhosen durch den Haupteingang des Oktoberfestes schreiten. Obwohl die Fahrerin und der Fahrer, die sich mittlerweile gegenseitig an den Kragen packten, eine Art Deutsch sprachen, war er nicht in der Lage, dem Streit zu folgen. Er konnte den bayerischen Dialekt keiner von ihm je gehörten Sprache zuordnen, obwohl er die ganze Welt bereist hatte und einige Sprachen selbst beherrschte. Aus Respekt vor der urwüchsigen Kultur, aus der für ihn die beste Vereinsfußballmannschaft der Welt hervorgegangen war, verbot er sich ein Schmunzeln. Er kontrollierte die Uhrzeit auf seiner luxuriösen Armbanduhr und beschloss, den Streit mit Hilfe einer Münze zu schlichten. Die Warterei wurde ihm zu dumm.
Da tauchte die Dame von der Rezeption auf und marschierte auf die Streithälse zu. Zwei Ohrfeigen knallten durch die Luft. Dann war es kurze Zeit still. Die Hoteldame stöckelte zu ihrem Gast zurück und entschuldigte sich für die Unannehmlichkeit. Im Anschluss griff sie nach seinem Koffer, weil dieser ihn stehen gelassen hatte und zum Taxi gegangen war. Mit einem unhörbaren „Drecksau“ quittierte sie die Unhöflichkeit des selbstherrlichen Gastes.
Rund eine Stunde später erreichte das Taxi die bayerische Landeshauptstadt und machte auf Wunsch des Fahrgastes einen Abstecher Richtung Olympiastadion. Der Mann versuchte, aus dem fahrenden Auto ein Foto des Stadions zu schießen, was gründlich misslang und einen Reigen fremdländischer Flüche nach sich zog. Der aufmerksame Fahrer hatte den fehlgeschlagenen Versuch verfolgt. Er stieg in die Bremsen – aus Gastfreundschaft und zur Demonstration von Münchens Ruf als Weltstadt mit Herz, wie er später bei der Polizei aussagen würde. Dass er für die Demonstration die rechte Fahrspur des Mittleren Rings blockierte und dadurch ein Hupkonzert verärgerter Verkehrsteilnehmer auslöste, juckte ihn nicht. Er wandte den Kopf nach hinten.
„Warten Sie! Das haben wir gleich!“, beteuerte er seinem überraschten Passagier und legte den Rückwärtsgang ein, um mit Warnblinkern zurückzusetzen. Dann stieg er aus, winkte einige verärgerte Fahrer mit hochroten Köpfen vorbei und bot seinem Fahrgast an, ein Foto von ihm zu machen.
Ebendiese Aufnahme befand sich neben rund einhundert weiteren auf dem Fotoapparat, den die Polizei später unter eigentümlichen Umständen sicherstellen sollte. Es zeigte den Fahrgast neben dem Ortseingangsschild. Im Hintergrund glänzte das Dach des Olympiastadions im Licht der Vormittagssonne, während der Olympiaturm feierlich in den Münchner Herbsthimmel ragte.
Der Fahrtwind eines vorbeizischenden Autos wirbelte den weißen Seidenkaftan des Mannes leicht auf.
2
Weit weg vom Münchner Olympiaturm beförderte kurz vor Spielende ein Stürmer im Stile eines Beamten, der kurz vor der Pensionierung stand, den Ball über die Torlinie. Wie der Niederländer, der sein allererstes Spiel für Fenerbahçe Istanbul bestritt, den Gesundheitscheck für den Transfer zum Topclub der Türken überstanden haben konnte, waren Zeki Demirbilek und weiteren fünfzigtausend Zuschauern im ausverkauften Şükrü-Saracoğlu-Stadion schleierhaft. Ungeachtet dessen dröhnte der Jubelschrei durch das Heimstadion seines Lieblingsvereines. Die Erleichterung über den Treffer, der eine peinliche Niederlage und damit das Aus gegen einen unbedeutenden Zweitligisten im türkischen Pokalwettbewerb bedeutet hätte, war aus jeder einzelnen jubelnden Kehle herauszuhören.
„Komm“, sagte der Münchner Kommissar zu seiner Freundin, die einen Fenerbahçe-Schal um den Hals trug. „Lass uns verschwinden, hier passiert nichts mehr.“
Derya Tavuk zierte sich und blieb sitzen. „Und die Nachspielzeit? Das sind bestimmt drei bis vier Minuten“, schrie sie gegen die Freudengesänge an.
„Gel! Komm!“, insistierte Zeki. „Das Spiel ist vorbei.“
Er folgte mit seiner Freundin anderen Zuschauern die Treppe zum Ausgang nach oben. Er war nicht alleine mit der Einschätzung des Spiels – Hauptsache gewonnen. Von einer Verlängerung oder gar einem Elfmeterschießen ging er bei dem K.-o.-Spiel nicht aus, und weil sie am Tag darauf nach München zurückflogen, wollte er keine Zeit im Istanbuler Verkehrschaos verlieren. Zum Spielende hatte er in eine der Seitenstraßen in der Nähe des Stadions ein Taxi bestellt.
Sobald sie hinten im Taxi Platz genommen hatten, lief das Spiel in voller Lautstärke im Radio weiter. Die Stimme des Kommentators überschlug sich. In der letzten Minute der Nachspielzeit glich der Außenseiter aus. Der Schiedsrichter pfiff ab. Verlängerung. Zeki starrte betroffen durch das Seitenfenster. Das live im Fernsehen übertragene Topspiel sorgte für leergefegte Straßen im asiatischen Stadtteil Kadıköy. Für den Münchner mit Istanbuler Wurzeln war es Wunder und Rätsel zugleich, wie seine Geburtsstadt auf zwei Kontinenten fußen konnte. Als könnte sich die Metropole nicht entscheiden, ob sie europäisch oder lieber doch asiatisch sein wollte. Passend zu dem unsäglichen Fußballspiel kam dem Einundvierzigjährigen die geographische Situation der für ihn schönsten Stadt der Welt wie ein Unentschieden vor.
Seine um einige Jahre jüngere Freundin lächelte besänftigend. Dann zog sie seine Hand in ihren Schoß und drückte sie aufmunternd. „Das macht doch nichts, Zeki. Wir können den Rest des Spieles im Radio hören und haben mehr Zeit zusammen. Hast du eigentlich einen Tisch reserviert?“
Zeki ignorierte die Frage und beugte sich zum Taxifahrer vor. Der für seine Körperfülle zu kurz geratene Mann lachte dreckig über Deryas Worte. Offenbar hatte er das Gespräch auf Deutsch verstanden. Zeki gefiel nicht, wie er sein feistes Gesicht in den Rückspiegel hielt, und forderte ihn auf, das Radio auszuschalten, um nicht mithören zu müssen, wie sein Verein möglicherweise das Spiel doch noch verlor. Als der Fahrer sich weigerte, erinnerte er ihn daran, einen zahlenden Fahrgast zu befördern, dessen Wünsche er zu erfüllen habe. Verärgert machte der Fahrer aufgrund Zekis münchnerischem Einschlag deutlich, wie Scheiße er den FC Bayern fand.
Auch wenn Zeki kein übertrieben glühender Fußballfan war, hing sein Herz nicht nur an Fenerbahçes Schicksal. Sein zweiter Verein, dem er den Sieg gönnte, egal, wie gut oder schlecht er spielte, war der FC Bayern. Weil er zu selten zu deren Heimspielen in die Allianz Arena kam, hatte er sich über Deryas Überraschung gefreut. Hinter seinem Rücken hatte sie sich mit seiner Kollegin Isabel Vierkant abgesprochen. Vierkant hatte den Leiter des Sonderdezernats Migra mit einem Vorwand nach unten geschickt. Mit einem schelmischen Lächeln erwartete ihn Derya vor dem Polizeipräsidium, in der Hand einen Stapel Reservierungsbestätigungen: Kurzurlaub nach Istanbul. Flug, Hotel und Sieg inklusive.
Nach einem Wortgefecht hielt der Fahrer den Wagen am Straßenrand an und stieg wutentbrannt aus. Zeki folgte ihm. Streifenpolizisten wurden auf die handgreifliche Auseinandersetzung aufmerksam und zeigten Fingerspitzengefühl bei ihrem Einsatz. Die Polizisten konnten die Gefühle des Fahrgastes nachvollziehen, da sie selbst von Geburt an Anhänger des Fußballclubs waren. Fenerbahçe hatte mittlerweile nach einem Foulelfmeter, den der niederländische Beamtenstürmer verursacht hatte, ein Tor kassiert und war gegen den Zweitligisten ausgeschieden. Der Taxifahrer verriet sich mit einem rot-gelben Feuerzeug als Galatasaray-Istanbul-Anhänger und hatte damit bei den Ordnungshütern schlechte Karten. Gnädig sahen die Polizisten von einer Festnahme Zekis ab und weigerten sich, die Strafanzeige des Taxifahrers aufzunehmen. Es gab Wichtigeres zu tun. Ein Großeinsatz wegen randalierender Fans wurde über Funk durchgegeben.
Derya hatte sich während des Streites zurückgezogen und wartete in einem Straßencafé auf ihn. Zeki richtete seinen Anzug und wischte sich mit einem seiner drei Stofftaschentücher, die er stets bei sich trug, das Gesicht sauber.
Derya entging nicht, wie aufgeräumt er wirkte. „Hast du dich beruhigt? Ich habe Hunger. Wollen wir jetzt essen gehen?“
„Was hätte ich denn machen sollen? Du hast gehört, was er gesagt hat!“, rechtfertigte er sich für den Streit.
„Habe ich“, erwiderte sie und stand auf. Sie hakte sich bei ihm unter und zog ihn mit sich.
„Und was sagst du dazu?“, wollte er wissen und ließ sich von ihr führen. Der Herbstabend lud mit milden Temperaturen zum Flanieren ein. Das laute Stadtleben, die grellen Lichter und die quasselnden Menschen um sie herum gingen Zeki aber plötzlich gegen den Strich. Er sehnte sich nach der Ruhe, die er an München liebte. Derya dagegen genoss offenbar den Spaziergang, der aufgrund der unzähligen Schlaglöcher einem Spießrutenlauf gleichkam.
Derya blieb stehen und lächelte ihn amüsiert an. „Mein geliebter Kommissar, du hast den Taxifahrer einen minderbemittelten, rot-gelben Vollpfosten geschimpft.“
„Ja, aber nur, weil er mich einen Spießer genannt hat. Einen Münchner Spießer!“, flammte Zekis Wut noch einmal auf.
„Bist du das nicht manchmal?“, entgegnete Derya.
„Wie kommst du darauf?“, beschwerte er sich und zog ein blau-gelbes Stofftaschentuch hervor, mit dem er nach einem Taxi winkte. Mit der Farbkombination in Fenerbahçes Vereinsfarben konnte er wenigstens sicher sein, nicht an den Falschen zu geraten.
3
„Schau mal, wer da herumstänkert! Das ist dein Scheich!“, grölte Bude, wie Dirk Schön seit Kindertagen genannt wurde. Ein etwas zu weiter, lässiger Janker und durchlöcherte Jeans waren sein Markenzeichen. Er stieß den Ellbogen in die Seite seines Freundes. Der Deutschtürke namens Tamer Fleischauer wischte sich mit dem T-Shirt die verschwitzte Stirn trocken. Während er eine Zigarettenschachtel aus seiner Hüfttasche hervorzog, blickte er ungläubig zu dem Mann im Seidenkaftan, auf den sein Freund deutete.Auch in der bayerischen Landeshauptstadt zeigte sich der Herbst nach wie vor von seiner milden Seite. Am späten Abend, wenige Stunden vor dem Ende des Oktoberfestes, wankten zwei junge Männer aus einem der heillos überfüllten Bierzelte. Die beiden waren schwer bedient von der lauten Blasmusik und brauchten dringend eine Auszeit vom Bier.
„Was macht der denn hier?“, wunderte sich Fleischauer. In seinem Gesicht thronte eine mächtige Nase, flankiert von winzigen Augen. Zornige Abschätzigkeit durchzog die Stimme des Dreißigjährigen. „Wie ist der nach München gekommen?“
»Du hast ihn gestern doch nach Oberammergau gefahren. Warum nicht auch retour? Der zahlt doch so gut«, gab Schön seinem Freund recht.
„Die Drecksau“, ärgerte sich Fleischauer. Als Reiseunternehmer bot er seinen Kunden auch einen Fahrservice an.
„Das gibt’s nicht! Schau mal!“, jaulte Schön auf und klopfte sich auf den Oberschenkel.
Fleischauer schüttelte den Kopf und zündete die Zigarette an. Er verdrehte die Augen, als er die Peinlichkeit mit ansehen musste, wie der Mann im Kaftan den Sicherheitsleuten am Eingang Scheine zustecken wollte, um eingelassen zu werden. Als hinter ihm Wiesnbesucher in Lederhosen und Dirndln lautstark schimpften, gab Okcan, Fleischauers Kunde und derzeit einzige Einnahmequelle, den Versuch auf, trotz Überfüllung in das Bierzelt zu gelangen, und verschwand in der Menge.
„Wir schauen, was er treibt“, beschloss Fleischauer spontan. „Ich möchte wissen, wohin er geht.“
„Da steht eine frische Maß im Bierzelt! Und die Cathryn hat mir ihre Adresse vom Hotel gegeben“, erschrak Schön über die Idee seines besten Freundes.
„Egal. Wir schnappen uns den jetzt.“
„Wie schnappen?“
Fleischauer zog nervös an seiner Zigarette. „Bude, was der Kerl mir Scheine in die Hand gedrückt hat, das glaubst du nicht. So viel Trinkgeld kriege ich den Rest meines Lebens nicht mehr zusammen. Der hat mehr. Viel zu viel hat der. Verstehst du?“
Schön witterte eine Gelegenheit, an Geld zu kommen, war aber nicht sicher, wie das vonstattengehen könnte. „Glaubst du echt, da geht was?“
„Natürlich geht da was. Ein bisschen geht immer. Ist doch so. Oder war es je anders?“
„Hast du einen Plan?“, zeigte Schön sich nun interessiert.
„Scheiß auf einen Plan. Mir fällt schon was ein. Komm jetzt“, erwiderte Fleischauer energisch.
Die zwei Freunde waren erfahrene Wiesngänger. Was sie für den Festzeltbesuch brauchten, trug Schön in den Hosentaschen und Fleischauer im Hüftbeutel bei sich. Geld, Schlüssel, Handy, Ausweis und Kondome. Es war nicht notwendig, zum Biertisch zu Cathryn und den fröhlich zechenden Neuseeländern zurückzukehren. Fleischauer warf die Zigarette zu Boden und drückte sie mit seinem Turnschuh aus.
Das leuchtend weiße, über den mit Unrat übersäten Asphalt schwebende Gewand des Mannes im Blick zu behalten fiel nicht schwer. Von weitem beobachteten die beiden, wie der unerfahrene Wiesnbesucher verärgert die Leute anblaffte, die sich offenbar über seine Kleidung lustig machten. Als er das nächste Bierzelt erreichte und die Schlange Wartender entdeckte, drehte er auf dem Absatz um und kehrte in die entgegengesetzte Richtung zurück. Direkt auf Fleischauer und Schön zu. An einem der Stände versorgte er sich mit gebrannten Mandeln und Zuckerwatte. Die Freunde verfolgten, wie er seine Nase in die Mandeltüte steckte. Er roch daran, probierte das Naschzeug und verzog angeekelt das Gesicht. Dann versuchte er, einer Schönheit im Dirndl die volle Tüte zu schenken, doch diese erwiderte offenbar eine unschöne Bemerkung und verschwand in der Menge. Verärgert warf Okcan die Tüte zu dem anderen Müll auf den Boden und probierte die Zuckerwatte erst gar nicht, sondern ließ auch diese fallen. In dem Moment kam Fleischauer die Idee seines Lebens – wie er in dem Augenblick glaubte, als ihn die Erleuchtung ereilte.
„Lauf zu Seraya und bring sie her“, raunte er seinem Freund zu und drückte ihm einen Fünfzigeuroschein in die Hand.
„Was soll ich damit?“, fragte Schön verwirrt.
„Die Kohle gibst du Seraya, sonst kommt sie nicht mit dir mit. Sag ihr, ich habe ein gutes Geschäft für sie“, erklärte Fleischauer ungeduldig. „Wir treffen uns bei deinem Vater am Stand. Schick eine SMS, wenn ihr da seid. Stefan jobbt doch heuer wieder als Security im Bierzelt, oder?“
„Ja, klar. Den Traumjob gibt der doch nicht auf!“
„Passt“, gab sich Fleischauer zufrieden. „Komm ja nicht ohne Seraya wieder!“
4
Zeki war zusammen mit seinen Eltern nach München gekommen, als er zwölf war. Seitdem lebte er in Bayern. Einige Male über das Jahr besuchte er Istanbul, Beruf und Familie in München erlaubten allerdings keine längeren Aufenthalte. Seine Eltern, die vor vielen Jahren aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrt waren, gaben jeden Lira, Dollar und Euro ihrer Rente für Reisen aus und waren nicht da, um sie zu fragen. Selma, seine Ex-Frau, um eine Empfehlung zu bitten, wäre eine Möglichkeit gewesen, die er aber nicht in Betracht zog. Je stärker sich Zeki von der Mutter seiner Zwillingskinder zu distanzieren versuchte, desto mehr sehnte er sich nach ihr. Wie ein Drogenabhängiger, der auf Entzug war, beschwor er sich, durchzuhalten. Ruf sie nicht an! Schreib ihr nicht! Und komm nicht auf die Idee, sie zu besuchen! Er war tatsächlich versucht gewesen, ihr seine Aufwartung zu machen, einen Vorwand wegen der anstehenden Hochzeit ihres Sohnes zu erfinden, um an ihrer Tür zu klingeln. Selma hatte es geschafft, in die alte Heimat zurückzukehren; er kämpfte Tag um Tag in München mit der Vorstellung, es ihr gleichzutun.Die Freundin des Münchner Kommissars war in Anatolien geboren, Istanbul kannte sie hauptsächlich aus den Nachrichten und vom Hörensagen. Zeki Demirbilek war die Stadt nicht fremd, er war dort zur Welt gekommen, doch spürte er mehr, als dass er es wusste, wie das Leben in dem Gewusel aus Abermillionen von Menschen funktionierte. Vor allem hatte er keine Ahnung, wo er ein Restaurant für den letzten Abend eines Romantikwochenendes ausfindig machen sollte. Derya war der Auffassung, es sei Aufgabe des Mannes, einen Tisch zu reservieren.
Am Ende seiner Bemühungen, ein Restaurant zu finden, hatte er seinen geschätzten Amtskollegen Selim Kaymaz um Rat gefragt. Die beiden Kommissare verband eine über den Beruf hinausgehende Freundschaft. Wie es Gepflogenheit war, lud Kaymaz seinen Münchner Freund zu sich nach Hause ein. Doch Zeki erklärte ihm die Umstände des romantischen Wochenendes. Daraufhin erhielt er den nicht allzu geheimen Geheimtipp eines Dachrestaurants in Beyoğlu. Darauf stehen alle Frauen, egal, aus welchem Winkel der Welt sie kommen, meinte er von Mann zu Mann. Schon wieder Dach, wunderte sich Zeki. Istanbul schien hauptsächlich aus Dächern zu bestehen. Derya hatte ein Hotel mit Dachterrasse gebucht.
Zeki folgte dem Rat seines Freundes und versuchte, einen Tisch zu reservieren. Die Restaurantleiterin, die ihn in drei Sprachen begrüßte, vertröstete ihn auf einen Dienstag übernächster Woche. Nach einem erneuten Anruf bei Kaymaz regelte sein Istanbuler Freund die Reservierung für ihn. Wie er das angestellt hatte, wollte Zeki nicht wissen.
Ohne die genauen Anweisungen hätte er nach dem Spaziergang durch das nächtliche Istanbul das Restaurant, das sich im selben Haus wie das Goethe-Institut befand, niemals gefunden. Das unscheinbare, zerbrochene Klingelschild war der einzige Hinweis auf den Geheimtipp. Der enge, mit Graffiti übersäte Fahrstuhl ließ nichts Gutes ahnen. Derya blieb ruhig, weil Zeki ununterbrochen Kaymaz’ exquisiten Geschmack hervorhob. Und er sollte recht behalten.
Tatsächlich war die Atmosphäre hoch über Istanbul verboten schön. Viel mussten die Betreiber dem bezaubernden Ambiente nicht nachhelfen, angesichts des Blicks über die Haliç, das Goldene Horn. Als würde Istanbul für eine Kitschpostkarte Modell stehen, präsentierte sich die Stadt in einem magischen Meeresglitzern. Die monumentale Anlage des Topkapı- Palastes, die beleuchtete Blaue Moschee und die Hagia Sophia waren in der untergehenden Sonne zu sehen. Dazu dezentes Kerzenlicht, die angenehm ruhige Musik und das Essen, das international ausgerichtet war und hervorragend schmeckte. Zeki nahm Deryas Hand, als nach dem Hauptgang ein wenig Zeit war. Die Kerze musste er zur Seite schieben.
„So hast du es dir doch vorgestellt?“, fragte er.
„Genau so und nicht anders“, bestätigte sie mit einem einnehmenden Lächeln. „Du etwa nicht?“
„Doch, doch“, erwiderte er schnell. „Ich finde es nur schade, dass wir morgen wieder zurückfliegen.“
„Ja, schade“, seufzte sie und ließ ihren Blick über das Meer gleiten. „Und hier bist du geboren?“, fragte sie, ohne ihn anzusehen. Mit Istanbul bei Nacht konnte selbst ein Zeki Demirbilek, der als attraktiver Mann galt, nicht mithalten.
„Das bin ich“, bestätigte er. „Diese Stadt ist wie eine Mutter. Sie bleibt dir und gibt dich nicht frei, wenn du in ihr geboren bist. Du kannst wegziehen und dich woanders heimisch fühlen. Istanbul holt dich zurück – und wenn es nur in Gedanken ist.“
Derya nippte an ihrem Wein. „Willst du nicht Selma besuchen, wenn du schon hier bist?“
Wein war Zekis Sache nicht. Er verschüttete sein Glas Bier. Die Frage kam unvermittelt wie ein Pfeil aus dem Hinterhalt. Er blickte Derya in die Augen. „Das kann ich nicht machen, wenn ich mit dir hier bin.“
„Warum nicht? Du warst mit Selma verheiratet, und ihr habt gemeinsame Kinder“, meinte Derya. „Das hört mit der Scheidung nicht auf.“
Er schüttelte den Kopf. Eine solch pragmatische Einschätzung der Lage konnte wohl nur eine Frau machen. „Du bist schon etwas Besonderes, Derya.“
„Gut, dass du das merkst, Zeki“, sagte sie süffisant und hob den Arm, um nach der Rechnung zu verlangen.
„Was ist?“, fragte er erstaunt. „Wir bekommen Dessert. Irgendwas Italienisches, Tiramisu glaube ich.“
„In unserem Hotel gibt es baklava. Wir essen auf der Dachterrasse und trinken çay. Einverstanden?“
Schon knurrte sein Magen in Vorfreude auf die kulinarische Aussicht, die er, als wäre es nicht anders denkbar, auf einer Dachterrasse einnehmen sollte. „Einverstanden. Natürlich.“
„Danach schlafen wir miteinander. Irgendwelche Einwände?“
Er hatte keine Einwände. Er schob Deryas Arm nach unten und pfiff, wie er es von seinem Vater gelernt hatte, zwischen den Zähnen. Natürlich rief er als Mann nach dem Kellner und beglich die Rechnung. Mit den bösen Blicken der anderen Paare, sie sich durch sein Benehmen gestört fühlten, hatte er gerechnet. Allerdings waren sie ihm herzlich egal.
5
Gleich nach der ersten Halben Weißbier war Okcan vom Wiesnvirus befallen. Aufgestachelt von den hübschen Bedienungen fragte er, ob nicht die Möglichkeit bestünde, in eines der Bierzelte zu kommen. Fleischauer, der sich mit dem Trinken zurückhielt, gab zu verstehen, immer reinzukommen, egal, wie voll ein Bierzelt war.Tamer Fleischauer quetschte sich auf dem Oktoberfest durch die Menschentrauben zu dem Mann im Kaftan durch und gab glaubhaft vor, sich über die Begegnung zu freuen. Okcan war augenscheinlich froh über das bekannte Gesicht in der Menge und ließ fallen, ein paar Stunden Zeit zu haben, bevor er zum Flughafen musste. Natürlich würde Fleischauer die Fahrt übernehmen, schob er gleich nach. Der Deutschtürke bedankte sich und bestand darauf, seinen Kunden auf ein Bier im Weißbierkarussell einzuladen.
Drei Weißbiere später bummelte Fleischauer mit seinem Kunden zur Bierstraße. Am Seiteneingang eines Festzeltes schob er seinem Kumpel Stefan von der Security unauffällig einen Zwanziger in die Hand und schaffte es mit viel Mühe, im überfüllten Bierzelt einen Stehplatz zu organisieren. Einen Sitzplatz zu bekommen, war unmöglich. Ohne Sitzplatz kein Bier – das war zwar die offizielle Regelung, doch Fleischauer fand auch dafür eine Lösung. Immerhin war sein Kunde in der Lage, stehend mit einer Maß Bier in der Hand die weltberühmte Bierzeltstimmung zu erleben. Fleischauer sorgte zudem für Nachschub an Marillenbrand, dem Wiesnschnapserl, der es in sich hatte. Nach der zweiten Maß Festbier, drei halben Weißbieren und dem dritten Schnaps fielen Okcans Hemmungen. Er sang und tanzte auf dem winzigen freien Flecken Boden, ganzheitlich beseelt vom Zauber der Wiesn.
Zurück auf dem Festplatz hakte sich Fleischauer bei seinem angeschlagenen Gast unter und führte ihn zum Fahrgeschäft Rotor. Okcan staunte wie ein Kleinkind, als er Zeuge wurde, wie Dirndlträgerinnen auf dem Weg in den Vergnügungstempel entsetzt aufschrien. Der Grund waren die im Boden eingelassenen Luftkanonen, die ihre Röcke hochfliegen ließen, bevor deren Trägerinnen sie mit einem Aufschrei wieder nach unten rissen. Fleischauer munterte Okcan auf, Erinnerungsfotos zu machen. Er sei ja schließlich Tourist. Während dieser klammheimlich seinen Fotoapparat auslöste, schickte Fleischauer seinem Freund eine SMS, damit Seraya nicht vergaß, ein Dirndl anzuziehen.
Im Anschluss führte Fleischauer seinen Gast zu einer weiteren Attraktion. Der in breitem Bayerisch fabulierende Ansager kündigte im Zelt des Teufelsrads eine Damenrunde an. Fasziniert schoss Okcan Fotos von rund drei Dutzend kreischenden Frauen, die auf einer sich immer schneller drehenden Scheibe versuchten, nicht abzurutschen und gleichzeitig ihre wehenden Dirndlröcke festzuhalten. Die Fliehkraft gewann am Ende immer, wusste Fleischauer. Bis es so weit war, wirbelten unter Applaus und Zurufen der Zuschauer die Röcke der Frauen hoch. Ein Spektakel für Jung und Alt. Die Einblicke regten Okcans Männerphantasie derart an, dass er Fleischauer vor Glück umarmte. Fein, Herr Scheich, dachte Fleischauer. Dann wird dir der Rest meines Planes erst recht gefallen. Was war auch ein Wiesnbesuch ohne After-Wiesn?
Endlich traf Schöns Nachricht auf seinem Handy ein. Er war mit Seraya beim Stand seines Vaters angekommen. Schöns Spitzname „Bude“ rührte daher, dass seine Familie seit Generationen eine Schießbude auf dem Oktoberfest betrieb. Als Kind durfte er einmal pro Wiesnzeit Freunde zum Freischießen mitnehmen. Ein Kapital, das Bude nutzte, um Freundschaften zu pflegen.
Am Schießstand erwies sich Okcan als hervorragender Schütze, trotz der Biere und Schnäpse, die er intus hatte. Ganz beiläufig stellte Fleischauer ihm seinen Freund und einem Paukenschlag gleich die bildhübsche, schwarzhaarige Seraya vor. Beim Anblick des knappen Dirndls und der gepolsterten Brüste nahm Okcans Interesse am Zielschießen abrupt ab. Ein Blick in ihre dunklen Augen schien ihm zu genügen, um zu wissen, dass Seraya Türkin war, wenigstens die Tochter türkischer Eltern. Eine echte Türkin, verrieten seine lüsternen, vom Bier gezeichneten Augen, würde nicht mit einem Rock herumlaufen, der nur knapp den Hintern bedeckte. Fleischauers Türkischkenntnisse waren nicht gut genug, um das Gespräch der beiden in Gänze zu verstehen. Dazu redeten Okcan und Seraya zu schnell, hinzu kam der kaum zu ertragende Lärm, der die letzte Stunde des Oktoberfestes einläutete. Zufrieden verfolgte Fleischauer, wie Seraya dem Mann im Kaftan schamlos die Vorzüge ihres zweiundzwanzigjährigen Körpers präsentierte. Okcan zupfte an der Minischürze des Dirndls – in etwa auf Höhe ihres Geschlechtes – und kreischte belustigt auf.
Kurz darauf löste sich Seraya von ihm und stellte sich zu Fleischauer, der neben dem Schießstand eine Zigarette rauchte. Die Menschenmassen zogen an ihnen vorbei. Schön half inzwischen seinem Vater wegen des Andranges nach der Schließung der Bierzelte. Die Angetrunkenen sorgten für die umsatzreichste Stunde des Tages. Auch Okcan wollte weiterschießen. Er legte einen Zwanziger auf den Tresen und zielte auf Plastikrosen.
Seraya musterte Fleischauer, der seinen Gast nicht aus den Augen ließ. „Tamer, was wird das? Im Laufhaus ist die Hölle los. Ich habe Vorbestellungen. Allerspätestens um Mitternacht muss ich zurück sein. Also? Was willst du, und was zahlst du?“, fragte sie genervt.
Fleischauer nickte zu Okcan. „Wir nehmen ihn aus. Ganz einfach. Du lässt ihn drüber, ich mache Fotos …“
„Verstehe“, unterbrach Seraya ihn und musterte das Opfer, das seine Treffer mit einem torjubelartigen Schrei feierte. „Aber nicht im Puff. Zu viel los heute im Laufhaus. Bei dir zu Hause?“
„Von mir aus.“
„Wie viel springt für mich raus?“
„Genug.“
„Tamer, ich bin Geschäftsfrau. Klare Abmachungen, sonst such dir eine andere.“
Fleischauer blickte wieder zu Okcan und rechnete. „Fünfhundert, wenn alles klappt.“
„Er hat einen hungrigen Schwanz, aus dem kriegst du locker mehr raus. Hast du den Ehering gesehen, den er nicht trägt? Ich will einen Riesen, wenn’s nicht klappt die Hälfte. Dafür bekommst du von mir eine schnelle und saubere Arbeit.“
Fleischauer verschluckte sich am Rauch seiner Zigarette und hustete über Serayas kaltschnäuzige Geschäftstüchtigkeit. Er kam nicht mehr dazu, ihr zu antworten, da Okcan mit einer Handvoll Rosen und einem Wiesnherz auf sie zutorkelte.
Seraya setzte ein professionelles Dankeslächeln auf und knickste brav wie ein Schulmädchen. Dann legte sie sich das Lebkuchenherz mit dem Sinnspruch „Tussi on Tour“ um den Hals und hakte sich bei ihm unter. Es war nach halb elf Uhr. In zwei Bierzelten auf dem Festplatz war der Ausschank noch geöffnet.
Sie schlug mit ihrem kaftantragenden Begleiter die Richtung zum Käferzelt ein. Dort eine Maß Bier, sagte sie sich, ein paar gefällige Streicheleinheiten unter dem Biertisch, bis sie ihm ins Ohr flüstern würde, mit ihm allein sein zu wollen.
6
Der Kommissar riss die Augen auf. Das Schlafzimmer des Istanbuler Hotelzimmers baute sich im Badezimmerspiegel vor ihm auf. In der Spiegelung sah er den Zweierdiwan, an dessen Kopfende Derya ihn im Schneidersitz erwartet hatte. Er erblickte das Sitzkissen, das er ihr unter den Rücken geschoben hatte, den niedrigen Salontisch, auf dem sie beide gelegen hatten. Nackt und ineinander verschlungen. Und er betrachtete mit trüben Augen das Ölgemälde im wuchtigen Holzrahmen über dem Doppelbett. Ein schicker Sultan, umringt von Herren mit Frack und Zylinder, offenbar Architekten aus dem Westen, die auf einen halb fertigen Prachtbau blickten. Im Hintergrund eine verschleierte Schönheit mit unbedecktem Bauchnabel und unverhüllten Augen.Zeki, ich bin es. Mach auf!«, tönte es von draußen.
„Zeki! Was ist? Mach auf!“ Derya klopfte heftiger an die Zimmertür.
Fast lautlos hämmerte Zekis Hinterkopf gegen den Rand des Bidets. Er sank zu Boden und starrte auf den Schmierstreifen längs an der Unterseite des Bidets, auf dem Derya in ein Magazin vertieft gesessen hatte. Es gelang ihm, den Kopf zu bewegen. Was ist mit dir?, fragte er sich. Steh auf. Mach ihr die Tür auf. Doch das glühende Weiß der Deckenleuchte zog ihn in den Bann. Ein von einer feinen Staubschicht hervorgerufener Grauton durchzog das Strahlen. Seine Augenlider erschlafften. In seiner Gehirnwelt generierte Bilderfetzen formten sich zum Stimmengewirr, das von der Straße drang. Zwischen fremdländischen Stimmen der Touristen hörte er musikalische Absonderlichkeiten undefinierbaren Ursprungs. Verwässerte Popmelodien im Streit mit nervigem Sazgefiedel. Im Hintergrund meinte er den Muezzin der Blauen Moschee zu hören. Du bist in einem Hotel mit Dachterrasse in Sultanahmet, fiel ihm ohne sonderliche Begeisterung ein.
Die Tür zum Badezimmer quietschte, als sie aufgestoßen wurde. Bevor die Unterkante des Türblatts in sein Geschlecht fuhr, war ihm, als hörte er nackte Fußsohlen auf dem gekachelten Boden. Zum Schmerz im Unterleib bemerkte er den Nagellack an Deryas Zehen und Fingernägeln. Im selben Rot wie die Flagge des Landes, das Istanbul an der brüchigsten Stelle wie ein Scharnier zusammenhielt. Da war kein Unentschieden, wie er gemeint hatte.
„Zeki! Tut mir leid“, schrie Derya erschrocken auf und beugte sich zu ihm. „Warum liegst du da? Was ist mit dir? Ich habe meinen Zimmerschlüssel nicht gleich gefunden.“
Langsam öffnete er die Augen. Sie trug das Kleid, das sie gemeinsam auf dem Basar gekauft hatten, nachdem sie drei Stunden lang durch die Hagia Sophie gelaufen waren. Er erinnerte sich, dass sie es vorhin übergezogen hatte, um an der Rezeption für ihn eine Kopfschmerztablette zu holen. Er war ins Badezimmer getorkelt, um auf die Toilette zu gehen, und war ausgerutscht.
Sein Blick wechselte von ihren unbedeckten Knien zu ihren Brüsten, die er im Ausschnitt des Kleides beäugte. Er lächelte sie an. Sie lächelte zurück und half ihm auf die Beine.
Später lag er im Doppelbett und spürte, wie der Kater dank der Schmerztablette allmählich nachließ. Es war noch nicht einmal Mitternacht, stellte er mit einem Blick auf die Wanduhr fest. Er hatte den Sultan und die verschleierte Frau vor Augen, ohne dass er das Ölgemälde sehen konnte, das über seinem Kopf hing.
„Weißt du, wo du bist?“, fragte Derya, die auf der Bettkante saß.
Er schüttelte den Kopf. „Warum fragst du?“, antwortete er in die Stille.
„Wir haben baklava gegessen und getrunken“, erwiderte sie. „Oben auf der Dachterrasse. Erinnerst du dich?“
Demirbilek überlegte, bis ihm wieder alles einfiel. Die kleine Flasche Rakı hatte er fast alleine ausgetrunken.
„Du hast nichts vom Rakı angerührt!“
„Nein, aber Bier habe ich getrunken.“
„Ich auch?“
„Du auch. Sehr viel Bier“. Sie lächelte erneut. „Fenerbahçe hat verloren.“
Zeki fiel auf, wie das Grün in Deryas Augen mit dem Rot ihrer Lippen verschmolz. Er beugte sich vor. Sie ahnte, was er wollte, und lupfte ihr Kleid über die Oberschenkel, damit er ihren Bauchnabel küssen konnte. Sie schloss die Augen und genoss die Liebkosung auf ihrer Haut, seine Zunge, die sich entlang der Umrandungen ihres Nabels bewegte, seine Hand, die sich behutsam unter ihren Slip schob.
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