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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Daniela Sacerdoti
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Roman

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Am Ende des Winters — Inhalt

Eilidh Lawson steht an ihrem absoluten Tiefpunkt: Ihre jahrelangen Kinderwunschbehandlungen blieben erfolglos, und ihr Mann hat eine Geliebte. Traurig begibt sie sich in ihr kleines Heimatdorf, um die Wunden heilen zu lassen. Jamie versucht, das Beste aus seinem Leben zu machen, seit seine Traumfrau ihn und ihre gemeinsame Tochter verlassen hat, doch es fällt ihm manchmal schwer. Beide wissen noch nicht, dass Hilfe meist aus ungeahnten Richtungen kommt – und dass auf jeden Winter irgendwann auch wieder der Frühling folgt … .

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 09.03.2015
Übersetzt von: Sina Hoffmann
320 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-96721-1
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Leseprobe zu „Am Ende des Winters“

Prolog

Persephone

Der seltsamste und erstaunlichste Tag meines Lebens – der Tag, der meine Vorstellung von Leben und Tod von Grund auf verändert hat – begann wie jeder andere. Ich bin in der Wirklichkeit, wie ich sie stets gekannt habe, aufgewacht und, von einem Mysterium umgeben, ins Bett gegangen.

Unser ganzes Leben lang beschäftigen wir uns mit Dingen und Aufgaben und versuchen, die Tatsache zu ignorieren, dass die Dunkelheit eines Tages kommen wird, um uns zu holen. Die Unendlichkeit kann so, wie sie ist, nicht in unser Leben passen, da sie einfach zu [...]

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Prolog

Persephone

Der seltsamste und erstaunlichste Tag meines Lebens – der Tag, der meine Vorstellung von Leben und Tod von Grund auf verändert hat – begann wie jeder andere. Ich bin in der Wirklichkeit, wie ich sie stets gekannt habe, aufgewacht und, von einem Mysterium umgeben, ins Bett gegangen.

Unser ganzes Leben lang beschäftigen wir uns mit Dingen und Aufgaben und versuchen, die Tatsache zu ignorieren, dass die Dunkelheit eines Tages kommen wird, um uns zu holen. Die Unendlichkeit kann so, wie sie ist, nicht in unser Leben passen, da sie einfach zu beängstigend, zu groß ist. Wir müssen sie in ihre Schranken verweisen, indem wir all die Millionen kleinen, alltäglichen Dinge tun, die die Grenzen unserer Wirklichkeit definieren. Dabei nutzen wir unsere fünf Sinne für das, wofür sie vorgesehen sind: Um Dinge zu berühren, sie zu sehen – Dinge, die real und gegenwärtig und auf dieser Seite der Existenz sind, auf der Seite der Lebenden. Wir verpassen dem Mysterium ein menschliches Antlitz; wir verleihen etwas, das formlos ist, eine Form.

Wir erfinden Rituale, um die Übergänge zu erklären. So verwandeln wir Leben und Tod in Zeremonien und machen sie damit irdischer und nüchterner, um sie besser begreifen zu können. Wenn ein Baby zur Welt kommt, ergehen wir uns nicht in Überlegungen, warum diese kleine Seele nun hier ist, wo sie im vorherigen Leben war, was sie alles weiß … Die frischgebackene Mutter kehrt von ihrem Ausflug in das Unbekannte zurück und nimmt das Baby aus der Dunkelheit mit ins Licht. Beide werden gewaschen und angezogen, damit es so aussieht, als seien sie niemals jenseits gewesen … als sei sie niemals im Untergrund gewesen, in der Finsternis, wo sich das Leben und der Tod
berühren und vermischen.

Und wenn jemand stirbt, kann sich die Familie zum Glück mit all den herzzerreißenden Dingen ablenken, die wir tun müssen, wenn alles zu Ende ist – die Blumen, das Essen, die Frage, was weggeworfen werden muss und was noch weggegeben werden kann –, während Tränen auf die zurückgelassenen Dinge fallen: auf ein Paar Hausschuhe, eine Tasse, einen Morgenmantel. Wir trösten einander, suchen Halt an einem starken Arm, klammern uns an eine warme Hand, in der das Blut kraftvoll fließt; wir spüren es unter der Haut, und es singt so laut, so klar, dass es den Tod verbannt.

Wie könnten wir auch nur eine Sekunde lang dem ins Auge sehen, was wirklich passiert ist – dass jemand gelebt hat und nun nicht mehr da ist, für immer von uns gegangen ist, in die Nichtexistenz übergegangen ist –, ohne dabei auf die Knie zu fallen und in Todesangst zu schreien, mit dem Wissen, dass uns dies eines Tages auch widerfahren wird: Irgendwann schließen auch wir unsere Augen und werden sie niemals wieder öffnen. Wie können wir jemals so mutig und unerschrocken sein, in die tiefe, sinnlose Finsternis zu schauen, die uns alle erwartet, und dennoch weiterzuleben ?

Wenn es denn Finsternis ist, die uns erwartet.

Denn ich weiß nun, dass es nicht so ist.

Der Tag, der wie jeder andere begann, ist der Tag, an dem
alles Überflüssige abgestreift wurde und ich direkt das Mysterium erblickt habe. Ich habe eine Person gesehen, die ich eigentlich für verstorben gehalten hatte, und sie stand direkt vor mir. Ich habe eine Seele ohne einen Körper gesehen, und sie hat ge-
lächelt.

Vielleicht bin ich naiv, vielleicht mögen zahlreiche Beweise, die Wissenschaft und der Verstand mir widersprechen und
behaupten, ich hätte Unrecht, aber ich glaube fest an das, was meine Großmutter mir vor vielen Jahren einmal gesagt hat – dass nämlich die Liebe niemals stirbt und uns nach dem irdischen Tod jene Liebe erwartet, die wir im Leben empfunden haben. Jenseits von Angst und Schmerz fängt die Liebe uns auf, wenn wir fallen.

Das habe ich in einer Frühlingsnacht im Wald begriffen, und seitdem habe ich keine Angst mehr.



Ein Baby verloren

Eilidh

An dem Tag, an dem ich mein Baby verloren habe, war das Wetter so wunderbar, so sonnig, dass die halbe Stadt, die Sonnenbrille auf der Nase und ein Lächeln auf den Lippen, unterwegs war.

Ich ging in meinem großen Schwangerschaftstop mit Blümchenmuster spazieren. Zwar war ich erst in der zehnten Woche, und es war noch viel zu früh, um Schwangerschaftskleidung zu tragen, doch ich konnte es einfach nicht mehr abwarten.
Außerdem hatte ich ein paar Lebensmittel besorgt, einige recht bizarre Kombinationen wie Sardinen und Cashewnüsse, da ich mir eingeredet habe, diese oder jene Gelüste zu haben. Hatte ich aber eigentlich gar nicht. Ich wollte nur endlich einmal Sätze sagen können wie: „ Ich ernähre mich nur von Mangos und HP-Würzsauce und kaue auf Gummiband herum. Man bekommt ja so ein Verlangen nach den schrecklichsten Dingen, wenn man schwanger ist ! “

Schwanger.

Ich war wirklich schwanger. Rückblickend kommt mir das unfassbar vor.

Ich wollte das komplette Programm erleben; ich wollte jedes Anzeichen, jedes noch so kleine Symptom – die Übelkeit am Morgen, die geschwollenen Knöchel, zeltförmige Oberteile, die schlaflosen Nächte. Ich wollte darüber lachen, wie riesig meine Unterwäsche geworden war, und in irgendeinem albernen Fragebogen aus einer Zeitschrift die Wahrscheinlichkeit testen,
einen Jungen oder ein Mädchen zu bekommen. Ich wollte mich über Namensbücher hermachen, Kinderzimmermöbel aus-
suchen und die Vorteile eines Tragetuchs gegenüber einer
Babytrage diskutieren. Ich wollte kleine Bodys kaufen, winzige Strampler, Mützchen, Handschuhe und Söckchen. Alles in Weiß, bis zur großen Ultraschalluntersuchung in der zwanzigsten Woche, bei der wir erfahren würden, ob wir einen Jungen oder ein Mädchen bekommen. Tom und ich würden ehrfürchtig auf den Bildschirm starren und einander zuflüstern: „ Sieh mal, es winkt uns zu ! Es will uns Hallo sagen ! “ Wir würden unsere Freunde und Verwandten anrufen und allen erzählen, dass wir in freudiger Erwartung sind. Wir würden die Ultraschallbilder rahmen und auf dem Kaminsims aufstellen. Tom würde eines zur Arbeit mitnehmen, wo es dann die anderen Ärzte, die Hebammen und Arzthelferinnen begeistert betrachten könnten und schwärmen würden: „ Er … oder sie … kommt ganz nach Ihnen ! “ Das kann man natürlich noch nicht sagen, auf den Aufnahmen kann man kaum etwas erkennen – es wäre einfach nur so eine Bemerkung, diese Nettigkeiten, die die Leute einander sagen, weil es so guttut, über Babys zu reden, mit all der Hoffnung und dem Glück, die sie auf ihrem Weg in diese Welt in sich tragen.

Was ich aber am allermeisten wollte, war, zu spüren, wie mich das Baby von innen tritt. Man hat mir erzählt, dass es wie winzige Wellen sei, wie ein Schmetterling, der im Bauch he-
rumflattert. Ich wollte, dass Tom seine Hand auf meinen Babybauch legt, ich wollte den Stolz in seiner Miene sehen und die Zärtlichkeit, die er mir, seiner Frau, gegenüber empfindet, die ihm einen Sohn oder eine Tochter schenkt.

Ich habe so lange darauf gewartet, so unendlich lange; alle anderen wurden schwanger und trugen ihre süßen Babybäuche stolz vor sich her, während ich in meiner Jeans Größe S und mit flachem Bauch umherlief. Ich hasste es, dass ich immer dünner wurde anstatt rund und füllig.

Verzweifelt wollte ich wie sie sein, die schwangeren Frauen: meine Schwester, meine Freundinnen, meine Kolleginnen, meine Friseurin. Sogar die Postbotin drängte mir jeden Morgen ihren Babybauch auf, wenn ich ihr dabei zusah, wie sie unsere Straße hinauf- und wieder hinunterwatschelte und dann schwerfällig in ihren roten Postbus kletterte. So lange, bis sie mir erklärte, man habe ihr – aus gesundheitlichen und sicherheitstechnischen Gründen, Sie verstehen – neue Aufgaben
zugeteilt, sodass sie nun im Postgebäude am Schalter säße,
Pakete annähme und ihrem Bauch zusähe, wie er immer mehr zur Kugel wurde. Sie versprach, vorbeizukommen und kurz Hallo zu sagen.

Fast schon besessen beobachtete ich die Bäuche anderer Frauen, um zu sehen, ob sie auf jene süße, pralle Art und Weise angeschwollen waren, wie es bereits ganz am Anfang passiert, wenn der Babybauch noch kaum da ist, aber schon zu sehen ist. Ich quälte mich und redete mir ein, dass alle, wirklich alle, schwanger waren, nur ich nicht.

Jedes Mal, wenn ich einem Kinderwagen begegnete, schaute ich zur Seite. Ich traute mir selbst nicht über den Weg und
befürchtete, diesen Blick zu haben – jener sehnsüchtige, starrende Blick, den Mütter nur allzu gut erkennen, sodass sie
allein mit ihrem Blick schon signalisieren: „ Das ist mein Baby ! “

So wollte ich sein. Ich wollte, dass andere Frauen sich mit glänzenden Augen mein Baby anschauen und mich beneiden; ich wollte mich wie die Königin der Welt fühlen und die glücklichste Frau von allen sein.

Wie meine Schwester. Sie ist darin geradezu eine Expertin.

Katrina ist drei Jahre jünger als ich. Wir beide lieben
Babys, wir beide wollten schon immer Mutter werden. Wir haben für unser Leben gerne Vater-Mutter-Kind gespielt, haben uns um unsere Puppen gekümmert, sie gefüttert, ins Bett gebracht und sie in ihren rosafarbenen Kinderwagen spazieren gefahren. So war es auch kaum eine Überraschung, dass wir beide mit Kindern arbeiten wollten: Sie wurde Kinderkrankenschwester, ich wurde Kindergärtnerin. Eine Fachkraft für professionelle Entwicklungsbegleitung, wie es heutzutage so schön heißt.

Sie hat früh geheiratet, direkt nach dem Collegeabschluss, und wurde binnen eines halben Jahres schwanger. Sie bekam einen Sohn, einen wunderbaren, süßen Jungen, meinen geliebten Neffen Jack. Als Katrina wieder niederkam – Zwillinge, zwei Mädchen –, hatte ich schon seit mehr als drei Jahren vergeblich versucht, schwanger zu werden. Als ich ihr zusah, wie sie beide hielt, eines in jedem Arm, beide in rosafarbenen Stramplern mit winzigen rosafarbenen Mützchen, wurde mir vor Trauer und Schmerz ganz übel.

Nach Isabella und Chloe – während ich gerade den zweiten Versuch einer künstlichen Befruchtung unternahm – kam Molly. Sie war der absolute Liebling der Familie. Es folgten noch mehr Gratulationen, noch mehr Feiern, noch mehr Familienzusammenkünfte, bei denen meine Mum und mein Dad gerne scherzten, dass eine Tochter genügend Kinder für uns beide
gebar.

Nur dass dies nicht wirklich als Scherz gemeint gewesen war. Denn sie wussten von meinen Bemühungen und Anstrengungen. Es ist nur so, dass meine Familie nicht sonderlich … wie soll ich sagen … taktvoll ist. Mancher würde gar
so weit gehen und sagen, dass sie ein wenig gemein ist. Jedenfalls mir gegenüber. Insbesondere meine Schwester. Sie ist wirklich erbarmungslos, erinnert mich ständig daran, wie fruchtbar sie ist und wie reichlich ihre Ausbeute an kleinen Gesichtern, kleinen Händen und winzigen Zehen ist, wie sehr die Kinder sie lieben, an ihr hängen und ihr das Gefühl geben … gebraucht zu werden.

Während ich nutzlos bin, unfruchtbar, die Arme wund aufgrund der gähnenden Leere. Leere Arme, leeres Herz.

„ Hättest du Kinder, wüsstest du, wie ich mich fühle “, rief meine Schwester heulend an Jacks erstem Schultag.

„ Sie wollen eben ihre Mum, nicht wahr ? Eine Tante ist nicht dasselbe ! “ Sie lachte immer, wenn eines der Zwillingsmädchen mit seinem aufgeschürften Knie an mir vorbei zu ihr lief.

„ Tut mir leid, es ist nicht so, dass ich es nicht will, aber bei mir beruhigt sie sich schneller “, erklärte sie stets, wenn ich sie bat, Molly ins Bett bringen zu dürfen.

Währenddessen behandelte ihr Ehemann Tom auf die gleiche Art und Weise. Inklusive gemeiner Witze darüber, Platzpatronen abzuschießen, was ja nicht mal stimmte – denn nach intensiven Tests hatte man herausgefunden, dass das Problem quasi vor meiner Tür lag. Tom tat dann so, als würde er lachen, wurde danach jedoch jedes Mal sehr, sehr still. Bald schon fand er immer mehr Entschuldigungen, um den Familienzusammenkünften fernzubleiben. Ich konnte es ihm nicht mal übel nehmen.

Tom ist Arzt; er ist ein paar Jahre älter als ich. Zwischen uns herrschte keine überbordende Leidenschaft oder Ähnliches; wir waren gute Freunde, wir kamen gut miteinander aus und wünschten uns beide Kinder. Tom war da schon deutlich über dreißig und stand auch seiner eigenen Familie nicht sonderlich nahe, sodass wir hofften, eine eigene Familie gründen zu können und dann nie mehr allein zu sein.

Bereits kurz nach den Flitterwochen machten wir die ersten Versuche, ein Baby zu bekommen. Zehn Jahre, eine Menge Schwangerschaftstests und fünf künstliche Befruchtungen später hatte es endlich geklappt. Ich war schwanger.

Doch zu diesem Zeitpunkt war unsere Ehe kaputt. Tom traf sich mit einer anderen Frau, und das schon seit längerer Zeit. Von den vielen Hormonspritzen und allem, was dazugehörte, war ich so erschöpft, dass ich keine Kraft mehr hatte, das auch noch zu diskutieren, ganz zu schweigen davon, um unsere Ehe zu kämpfen.

Zwei Jahre zuvor hatte ich meinen Job gekündigt. Die Kinderwunschbehandlung verwandelte mich in ein emotionales und physisches Wrack, und ich konnte mir bei der Arbeit keine weiteren Ausfallzeiten mehr leisten. Ich arbeitete jeden Tag von morgens bis abends mit Kindern, musste lächeln, liebevoll und fröhlich sein, während mir fortwährend das Herz blutete.

Von den schwangeren Frauen, mit denen ich zu tun hatte, einmal ganz zu schweigen. Wenn sie ihre Kinder abholten und eine von ihnen Mühe hatte, sich zu bücken und ihrem Nachwuchs die Gummistiefel auszuziehen, rief ich: „ Warten Sie, ich helfe Ihnen “, und dann sagte sie lachend: „ Vielen Dank ! Tut mir wirklich leid, ich werde jeden Tag dicker und dicker ! “, während sie ihren runden Bauch tätschelte. Mir war jedes Mal schlecht vor Eifersucht. Erschöpft von der Hormonbehandlung und müde von den schlaflosen Nächten, musste ich dennoch die Zähne zusammenbeißen und lächeln.

Ich habe gekündigt. Ich wollte all meine Energie für mein Ziel aufsparen, für das Einzige, was zählte.

Viermal haben sie versucht, mir unsere Babys einzusetzen – sie nannten sie Embryos, ich nannte sie Babys. Viermal hat es nicht geklappt.

Dabei war es nicht einmal so, dass sie sich eingenistet hätten und ich dann eine Fehlgeburt gehabt hätte. Nein, nicht einmal das. Nichts passierte, kein leichtes Anschwellen des Bauches oder gar das Gefühl, mich … anders zu erleben. Ich empfand rein gar nichts, als sei nie irgendwas passiert, als sei alles nur ein Traum gewesen, diese vier Babys in der Warteschleife. Ein Traum, der sich bei Licht in nichts auflöste, wie es Träume nun einmal tun. Als hätte es sie nie gegeben.

Ich weinte stundenlang und trank ein Glas Saft – Wein war während der Behandlung tabu – mit meinem besten Freund Harry. Die Freundschaft zu ihm rettete mich wirklich davor, durchzudrehen. Mit dreizehn Jahren lernten wir uns in der Schule kennen; mit sechzehn Jahren gingen wir ein paar Mal miteinander aus und beschlossen dann, dass wir besser daran taten, nur beste Freunde zu sein. Ein Jahr später folgte sein Coming-out, das seinen Vater bis aufs Blut schockierte. Daraufhin zog Harry für eine Woche zu seiner Tante, bis sein Vater dort auftauchte und ihn unter Tränen darum bat, wieder nach Hause zu kommen. Nach diesem unwesentlichen Umbruch verlief Harrys Leben wieder in geordneten Bahnen. Er traf seinen
Lebenspartner Douglas, als er aufs College ging. Die beiden sind bis heute zusammen.

Während ich also die Hölle auf Erden durchmachte, boten Harry und Doug mir einen sicheren Hafen. Wir verbrachten viele Nächte damit, uns Seifenopern und kitschige Filme anzusehen und dabei Krabbenchips und chinesische Glasnudeln zu essen.

Ich lag oft in Harrys Armen und schluchzte, und er tröstete mich stets. „ Komm, komm schon, alles wird gut, alles wird gut … “ Ich war ihm unendlich dankbar dafür. Er ist wie ein Bruder für mich.

Als ich ihm erzählte, dass Tom eine Freundin hat, kehrte er kurzzeitig zu seinem alten Ich vor dem Coming-out zurück und fragte mich, ob er zu Tom gehen und ihn an meiner Stelle verprügeln solle. Dann beruhigte er sich jedoch wieder und schlug vor, Toms Profil in einer Onlinekontaktbörse für Schwule komplett mit Handynummer und E-Mail-Adresse zu veröffentlichen.

„ Nein danke, ich glaube, ich werde die Sache ignorieren und einfach so tun, als sei nichts passiert. “

„ Das funktioniert nie. “

„ Ich weiß … aber ich kann jetzt nicht aufhören. Die nächste Kinderwunschbehandlung beginnt in zwei Monaten, das kann ich nicht absagen, es könnte meine letzte Chance sein ! “

Und es klappte. Die fünfte IVF war erfolgreich.

Als ich auf das blaue Kreuz auf dem Schwangerschaftstest starrte – eine Linie leuchtend blau, die andere eher zögerlich und fast kaum zu sehen –, rutschte ich an der gefliesten Wand entlang auf den Fußboden hinunter, schloss die Augen und
genoss das größte Glück, das ich je empfunden hatte.

Vier Schwangerschaftstests und vier blaue Kreuze später war meine Blase leer, und mir war schwindelig vor Aufregung.

Tom war außer sich vor Freude. Eine ganze Weile machte er keine Überstunden mehr und hatte an den Wochenenden keine Tagungen und Meetings zu besuchen oder Mehrarbeit zu leisten. Ich befand mich in einer großen, glückseligen Seifenblase, traute mich aber noch nicht, mich in die Vorbereitungen für das Baby zu stürzen. Dafür war es noch zu früh – ich wollte nichts heraufbeschwören. Meine Schwangerschaft war als risikoreich eingestuft; ich musste mich andauernd untersuchen lassen und konnte mich daher überhaupt nicht entspannen.

Eines Tages kam Tom mit einer Wiege aus weiß lackiertem Schmiedeeisen nach Hause. Sie war wunderschön.

„ Sie gehörte Eva “, erklärte er und trug die Wiege vorsichtig ins Haus. Eva ist die kleine Tochter von seinem besten Freund und Trauzeugen. „ Er und seine Frau wollen keine Kinder mehr, darum hat er sie mir geschenkt. Sie wurde in Schottland hergestellt, in irgendeinem kleinen Dorf in den Highlands. Ich dachte, sie gefällt dir bestimmt ! “ Er lächelte. In jenen Tagen schien er wieder ganz der alte Tom zu sein. Der Mann, den ich geheiratet hatte.

„ Und wie ! Sie ist wunderschön ! Und aus Schottland ! “

Als Kind hatte ich mehrere Jahre in Schottland gelebt, nachdem sich meine Eltern voneinander getrennt hatten. Meine Mutter, meine Schwester und ich haben damals bei meiner Großmutter Flora in Glen Avich gewohnt, oben im Nordosten des Landes.

„ Es ist nur … “, stotterte ich zögerlich.

Verwundert verzog er das Gesicht.

„ Na ja, es heißt doch, dass es Unglück bringt, zu früh die Wiege ins Kinderzimmer zu stellen. Vielleicht können wir sie erst einmal auf dem Dachboden verstauen ? “

„ Auf dem Dachboden ? Dort staubt sie doch nur ein. Außerdem ist dieser ganze Kram mit Wiegen in Kinderzimmern, schwarzen Katzen und Leitern ziemlicher Quatsch, und das weißt du auch. “

„ Natürlich – natürlich weiß ich das. “

Aber das stimmte nicht. Mein Kopf sagte mir: Komm schon, Eilidh, sei nicht albern, doch mein Bauch sagte: Warum es riskieren ?

„ Eilidh. “ Tom lachte und hob die Wiege hoch, um sie nach oben zu tragen. „ Seit wann bist du abergläubisch ? “

„ Keine Ahnung, es ist nur … “ Ich zuckte mit den Schultern. Mir fehlten die Worte, um es zu erklären.

„ Absoluter Quatsch. Komm schon, komm hoch und sieh sie dir an ! “

Er trug die Wiege die Treppe hinauf und durchquerte den Flur – die Wiege, in der niemals unser Kind liegen sollte. Vorsichtig stellte er sie in dem Raum ab, der das Kinderzimmer werden sollte und schon seit Jahren auf seine Bestimmung wartete.

„ Hier. Sieht sie nicht perfekt aus ? “

Ich nickte und lächelte.

Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, doch ich hatte Angst.


_______


Die Wiege war nicht schuld, natürlich nicht. Ich bin nicht abergläubisch genug, um das wirklich ernsthaft zu glauben. Weder war es die Wiege, noch waren es die Einkäufe, die ich an einem heißen Tag nach Hause geschleppt hatte – nichts, was ich getan hatte, war schuld, sagte der Doktor.

Ich solle mir keine Vorwürfe machen, sagte er.

Doch das tat ich – oh, und wie! Ich machte mir Vorwürfe, nicht stark genug gewesen zu sein, das Baby die ganzen neun Monate auszutragen, um ihm eine Chance auf sein Leben
geben zu können. Ich habe mein Baby im Stich gelassen, und nun ist es tot.

An jenem schönen Sommertag vor drei Monaten, vor einer halben Ewigkeit, war ich ein paar Minuten lang bei meiner Nachbarin stehen geblieben und hatte mich mit ihr unterhalten, bevor ich mich von ihr verabschiedete und mich umdrehte, um die Straße zu unserem Haus zu überqueren. Als ich weiterging, hörte ich schon, wie meine Nachbarin mir hinterhergelaufen kam und mir einen Arm um die Taille legte, als müsse sie mich stützen.

„ Lass mich dir die abnehmen, Eilidh, Liebes, sei so gut “, sagte sie, nahm mir sanft die Einkaufstüten ab und führte mich ins Haus, ihren Arm immer noch um meine Taille geschlungen. Langsam wurde mir klar, dass irgendetwas nicht stimmte, und da merkte ich auch schon, dass mir etwas an den Beinen hinunterlief, und das war kein Schweiß. Ich schaute nach, und es war Blut.

Daniela  Sacerdoti

Über Daniela Sacerdoti

Biografie

Daniela Sacerdoti ist die Urenkelin des italienischen Schriftstellers Carlo Levi. Sie wurde in NeapeI geboren und ist in Südtirol aufgewachsen, wo sie als Lehrerin arbeitete, bis sie in Glasgow ein neues Leben begann. Hier widmet sie sich ganz ihrer Familie und dem Schreiben.

Kommentare zum Buch
Berührend, gefühlvoll, von Beginn an fesselnd
Lesegenuss am 21.07.2015

Achtung - mit Spoilern im Text: Der erste Satz: Der seltsamste und erstaunlichste Tag meines Lebens - der Tag, der meine Vorstellung von Leben und Tod von Grund auf verändert hat - begann wie jeder andere.   Manchmal entscheidet man sich aus dem Bauch heraus für ein Buch, manchmal auch ganz bewusst. Das letztere war bei hier der Fall. Um es vorweg zu sagen, ich habe es keine Sekunde bereut. "Am Ende des Winters" zieht den Leser mit in die Geschichte hinein und läßt ihn bis zur letzten Seite nicht los. Schon nach wenigen Seiten ist man mitten drin in der Geschichte, die von Eilidh Lawson, einer jungen Frau, und Jamie, dem alleinerziehenden Vater von Maisie, handelt. Halt, nicht zu vergessen ist Elizabeth, die verstorbene Mutter von Jamie. Eilidhs größter Wunsch, endlich ein eigenes Kind in den Armen zu halten, geht trotz mehrfacher künstlicher Behandlungen nicht in Erfüllung. Sie leidet sehr darunter, und das hat auch Auswirkungen auf ihre Ehe mit Tom. Dieser hat sich weit von ihr entfernt, inzwischen lebt er bei seiner Geliebten. Nach der erneuten Fehlgeburt fährt Eilidh in das kleine schottische Dorf Glen Avich. Dort wohnt noch ihre Tante Peggy und empfängt sie mit offenen Armen. Glen Avich, mit diesem Ort verbindet Eilidh sehr viel. Hier fühlt sie sich wohl, denn die ersten Jahre ihrer Kindheit hat sie hier verbracht. Und das Haus der verstorbenen Großmutter Flora war ihr so vertraut.   "Eines Nachts saß ich auf dem Felsen und lauschte, wie das Wasser ans Ufer plätscherte, als mich etwas aufschreckte. Eine Woge der Trauer brach über mir zusammen wie ein Schauer, der sich von meiner Stirn bis zum Rücken zog. ... Als Geist fließen Tausende von Seelen durch mich hindurch, Tausende von Stimmen flüsterten mir ihre Gedanken und Erinnerungen zu. Diese eine Stimme, die kannte ich. Es war Eilidh, die Enkelin meiner Freundin aus Kindertagen, Flora McCrimmon, die sich im Schlaf ihre Trauer und ihr Leid aus dem Leib schrie. Aber sie rief nicht nach mir, sondern nach Flora." Zitat S. 38   Jamie und Eilidh kennen sich aus ihrer Kindheit, haben viel Zeit miteinander verbracht. Aber auch Jamies Leben war in der Vergangenheit nicht einfach. Schon bald nach der Geburt seines Kindes hatte ihn seine Frau, eine Künstlerin, verlassen und war zurück nach London gegangen. Mit dem Kind konnte sie nicht viel anfangen und so wuchs Maisie unter der Obhut der Großmutter Elizabeth auf. Doch ganz plötzlich war diese vor drei Jahren gestorben.   Während Eilidh langsam wieder zu sich selbst kommt, wahrt Jamie Abstand zu Frauen. Nein, er war noch nicht bereit für eine neue Beziehung. Der Weg zu ihm führte so oder so nur über Maisie. Und dann ist da noch Jamies Schwester Shona. Sie lebt zwar nicht in dem kleinen Ort mit ihrer Familie, ist aber stark präsent und der Halt für Eilidh und Jamie in den wichtigsten Momenten.   Und doch war da jemand, der spürte, Eilidh und Jamie waren füreinander bestimmt.   "Manchmal verlieren wir jemanden, dann denken wir, unser Leben sei vorbei, und erstarren in diesem Augenblick der Verzweiflung. Doch es kann sich auch herausstellen, dass trotz all des Kummers und Leids unser echter Seelenverwandter immer noch da draußen herumläuft. Das Leben kann uns durchaus eine zweite Chance bescheren - … Zitat S. 327   Der Roman wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Und trotz dieses Umstands ergänzen sich diese nahtlos. Auf wunderbare Art und Weise hat die Autorin hier eine Geschichte entstehen lassen, die in Worte zu verpacken nicht einfach ist. Es überzeugt mit seinen leisen Tönen, der bildhaften Sprache, hier ist alles stimmig - selbst die traurigen Passagen!   Fakt ist, dass Elizabeths Kapitel mich sehr berührt haben. Allein diese zu lesen, war etwas ganz besonderes.   "Am Ende des Winters" ist eine ruhige, gefühlvolle Geschichte, die für lange Zeit im Herzen bleibt. Das Cover ist mit viel Liebe zum Detail und farblich sehr harmonisch gestaltet. Die Autorin Daniela Sacerdoti schreibt nicht einfach nur so dahin. Sie hat ihre eigene Sprache, ihren eigenen Schreibstil. (P.S. Sie ist die Urenkelin des italienischen Schriftstellers Carlo Levi.) Ihr Schreibstil ist derart berührend und besitzt eine hohe Qualität, so dass man an dieser Stelle der Übersetzerin ein großes Lob geben muss! Nur wer sich derart in eine Geschichte fallen lassen kann, ist fähig, dieses so professionell wiederzugeben.   "Am Ende des Winters", die Geschichte erhält von mir absolute Leseempfehlung, denn ich habe nicht nur glückliche Lesemomente gehabt, auch nachdenkliche. Must-Read!!!

Am Ende des Winters wird alles gut
colette am 10.06.2015

 "Am Ende des Winters" ist ein richtig schönes Buch, welches schön und traurig zugleich ist! Mal lacht man mit den Personen und dann leidet man wieder mit ihnen mit. Die Geschichte bleibt immer spannend und hat mich persönlich richtig in ihren Bann gezogen. Der Schreibstil liest sich auch sehr flüssig und die Geschichte wird aus mehreren Perspektiven erzählt. So bekommt man immer die verschiedensten Gedanken der underschiedlichen Personen näher gebracht und versteht so auch die ein oder andere Person richtig gut bzw man kann das Leben und Handeln der Protagonisten besser nachvollziehen. Richtig ans Herzs gewachsen in diesem Buch ist mir ja Maisie, die Tochter von Jamie. Ich denke, jeder, der dieses Mädchen durch dieses Buch erlebt, würde sich ein solches Kind wünschen. Sie ist einfach nur ein Goldschatz und ich kann Eilidh richtig verstehen, als sie Maisie so ins Herz geschlossen hat! "Am Ende des Winters" ist ein Buch, welches mich mit einem Lächeln zurückgelassen hat.Ich hätte bei diesem Roman noch hundert Seiten oder so mehr lesen können, da ich Maisie, Jamie und auch Eilidh richtig ins Herz geschlossen habe. Ihre Geschichte gefiel mir richtig gut und das Buch ist perfekt für kalte Tage. skjoonsbuecher.blogspot.co.at

HibiscusFlower / lovelybooks.de am 01.04.2015

Daniela Sacerdoti zeichnet für ihre LeserInnen mit Worten eine wunderbare Kulisse, bei der die Magie der schottischen Highlands zu spüren ist und lässt dabei sehr viele Emotionen einfließen. Die Rezension wurde ursprünglich auf www.lovelybooks.de veröffentlicht

buchfeemelanie / lovelybooks.de am 01.04.2015

Ein kurzweiliges, gefühlvolles Buch mit besonders tollen Charakteren.   Die Rezension wurde ursprünglich auf www.lovelybooks.de veröffentlicht

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