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Am Abgrund

Am Abgrund

Edward St Aubyn
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Roman

„Der unerschrockene St Aubyn, seiner Erzähllust und Brillanz so sicher wie je, stürzt sich hier in eine wilde Erlösungstragikomödie mit rundum verzweifelten Zeitgenossen (...) - der Leser aber fühlt sich durch Erheiterung erleuchtet.“ - Der Spiegel

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Am Abgrund — Inhalt

Es waren nur drei Tage und Nächte mit Sabine, aber Peter, ein Londoner Banker wie aus dem Bilderbuch, kann sie nicht mehr vergessen. Auf eine beiläufige Bemerkung von ihr folgt er der Spur der flüchtigen Geliebten bis nach Kalifornien. Dort trifft er auf Amerikaner in unterschiedlichen Phasen der Selbstfindung. Beim Sermon eines Anti-guru-Gurus auf die spirituelle Freiheit oder Problemen beim tantrischen Sex beginnt auch er allmählich, sein altes Leben radikal in Frage zu stellen ...

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 27.08.2013
Übersetzt von: Sabine Hübner
304 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-96351-0
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Leseprobe zu „Am Abgrund“

1

Adam trug bei seiner Ankunft in Brookes Villa in San Francisco die feuerrote Nehru-Jacke, die Yves ihm aus Paris mitgebracht hatte. Die meisten Leute würden sich mit einer Nehru-Jacke unsterblich blamieren, doch Adam, in dessen Adern sich die Lava Indiens und das Phlegma Englands mit berauschendem Zischen vereinigten, trug sein neues Outfit mit ungeniertem Selbstbewusstsein. Adam brannte für die Zukunft der Menschheit und hegte nicht die Absicht, dieses Feuer für sich zu behalten. „ Diese Jacke ist ein Abbild meines Herzens “, flüsterte er Yves im Taxi [...]

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1

Adam trug bei seiner Ankunft in Brookes Villa in San Francisco die feuerrote Nehru-Jacke, die Yves ihm aus Paris mitgebracht hatte. Die meisten Leute würden sich mit einer Nehru-Jacke unsterblich blamieren, doch Adam, in dessen Adern sich die Lava Indiens und das Phlegma Englands mit berauschendem Zischen vereinigten, trug sein neues Outfit mit ungeniertem Selbstbewusstsein. Adam brannte für die Zukunft der Menschheit und hegte nicht die Absicht, dieses Feuer für sich zu behalten. „ Diese Jacke ist ein Abbild meines Herzens “, flüsterte er Yves im Taxi zu.

„ Und deiner Seele ? “, fragte Yves.

„ Immer und überall “, erwiderte Adam. „ Mit weniger begnüge ich mich nicht, das weißt du. “ Sein Blick umflorte sich.

„ Mein Shams “, murmelte er.

„ Mein Rumi “, nuschelte Yves.

Für Adam mussten Menschen sich irgendwie lohnen. Sie sollten entweder spirituell entwickelt und genial sein wie er oder peinlich reich wie Brooke. Auch schlichte Güte beeindruckte ihn, aus einer gewissen Distanz.

Brooke war tatsächlich derartig reich, dass jedes Maß persönlicher Wunscherfüllung das sinkende Schiff nur so weit ausschöpfte, dass es nicht unterging. Der Zustrom von Geld war unaufhaltsam, schon nach wenigen Tagen erkältungsbedingter Bettruhe standen ihr die unverbrauchten Einkünfte bis zum Hals. Die einzige Pumpe, die sie vor dem Ertrinken retten konnte, war Wohltätigkeit, und ihre Sekretärin brachte ihr im endlosen Bemühen, sie über Wasser zu halten, allmorgendlich einen Eimer voll Schecks zum Unterschreiben.

Brooke behandelte alle Menschen wie Bedienstete, was angesichts der Tatsache, dass sie tatsächlich dreißig davon hatte, von mangelnder Phantasie zeugte. Ihre Bediensteten hingegen behandelte sie wie Familienmitglieder, da sie als Kind von ihrer eigenen Familie zu den Dienstboten abgeschoben worden war. Sie war im eleganten Süden aufgewachsen, und ihre Eltern interessierten sich ausschließlich für Alkohol, Pferde und andere reiche Menschen, die ihre Vorlieben teilten. Brookes Eltern hatten zu verhindern gewusst, dass ihr Kindergeschrei, ihre gestammelten Fragen nach dem Sinn des Lebens die luxuriöse Raffinesse ihres Heims beeinträchtigten. Stattdessen hatte man sie bei einer der zahllosen schwarzen Familien untergebracht, deren schmucklose Hütten sich unter die Kienföhren duckten. Der Holzrauch hing beinahe so greifbar in der Luft wie die langen Schleier des Louisiana-Mooses, in denen er sich fing. Brooke hatte oft darüber nachgedacht, dass es vermutlich besser für sie gewesen war, bei Mammy zu wohnen. Die Gesellschaften, die zu Pferd die Plantage durchstreiften, auf der Suche nach dem perfekten Ort für den Genuss des „ Eistee Spezial “ – wie man scherzhaft die Gallone kalten Bourbons nannte, in den die Köchin vorsichtshalber einen winzigen Schuss Tee, ein Blatt Minze und einen Zitronenschnitz gab –, trabten nie den Pfad entlang, der zu Mammys Hütte führte und mit seiner ungewöhnlich orangeroten Erde eher einem Fluss als einem Weg glich.

Als ihr Vater beim Sturz von einem seiner Lieblingspferde starb, machte Brooke die aufregende Erfahrung, zur Beerdigungsfeier in das große Haus gebracht zu werden. „ So hätte er sich seinen Tod gewünscht “, sagten seine Freunde reihum, und jeder mit dem Gefühl, sein Gespür für die treffende Formulierung bewiesen zu haben, gemischt mit einem gewissen Neid auf das Schauspiel eines so vornehmen Ablebens. Sie fragte ihre Mutter, ob sie nach dem Begräbnis im großen Haus übernachten dürfe.

„ Wie kannst du nur so etwas fragen, Brooke ? “, meinte ihre Mutter ehrlich empört. „ Du siehst doch, das Haus ist voll belegt mit den Verwandten deines Vaters. “

Auf der Rückfahrt im Auto zu Mammy waren in Brooke, durch einen dichten Bodennebel aus Jammer und Unverständnis, eine revolutionäre Wut aufgestiegen, ein Argwohn gegen reiche Weiße, der jedem Kreuzverhör durch Malcom X standgehalten hätte, und die Entschlossenheit, jenseits des von Hengsten und geleerten Flaschen abgesteckten Familienhorizonts einen Daseinszweck zu finden, ohne dabei allzu weit in die Richtung abzudriften, die durch Mammys Leidenschaft für übermäßiges Essen und ihre Ohnmachten in der Kirche vorgezeichnet war.

Nach einer psychoanalytischen Vorhölle in Manhattan, konfrontiert mit dem grauen Spiegel von Dr. Bukowskis Schweigen („ Wenigstens bin ich kein Kleinianer “ , hatte er beim ersten Treffen gegluckst, sich dann aber nie wieder so einen Temperamentsausbruch gestattet ), machte sie sich auf den Weg zur Westküste mit ihren bunten Befreiungsversprechen.

Davon kuriert, weise Männer dafür zu bezahlen, ihr zuzuhören, bezahlte sie nun dafür, ihnen zuzuhören.

Zu diesem Zeitpunkt begegnete sie Kenneth Shine, dem spirituellen Lehrer, und erkannte, dass sie hier endlich am Beginn ihrer eigentlichen Reise stand.

„ Sie haben mein Leben verändert “, sagte sie ihm an jenem ersten Abend.

„ Was hat Ihr Leben nicht verändert ? “ , fragte er mit gütigem Blick, und diese Frage, die ihr unter anderen Umständen kaum aufgefallen wäre, öffnete ihren Geist. In diesem Moment glaubte sie zu erkennen, wie unbeständig alles ist und dass wir uns alle verändern und dass das Ich nur eine Illusion ist und so weiter – er konnte das so viel besser ausdrücken als sie, aber sie stand immer noch unter diesem Eindruck, und das hatte sie in den letzten fünf Jahren angetrieben, während sie sich für das Gute in der Welt einsetzte ; auf der Ebene, die wirklich etwas bedeutete, nämlich der der Veränderung des Bewusstseins.

„ Human Potential Movement “, das war eine ziemlich vollmundige Bezeichnung, vielleicht etwas zu pompös, nichts, was man beiläufig ins Gespräch einfließen lassen konnte, doch in ihren Ohren hatte es einen erhabenen Klang.

„ Du bist der Guidobaldo des Millenniums “, hatte Adam kürzlich erklärt. Sie hatte nicht gewusst, wie das gemeint war. Adam konnte manchmal richtig gemein sein. Natürlich nur, weil er so wahnsinnig genial war und das menschliche Potenzial so klar erkannte, dass er auf jede Selbstgefälligkeit unduldsam reagierte. Gleichzeitig war seine Unduldsamkeit durchaus selbstgefällig, und sogar seine Nervenzusammenbrüche und hysterischen Tränen hatten etwas Arrogantes, als wären sie von Shakespeare und verdienten das eingehendste Studium.

Weder Mammy noch Brookes Lehrer und Lehrerinnen an der Foxcroft Academy waren Asse auf dem Gebiet der Renaissance gewesen, doch wie sich herausstellte, hatte Guidobaldo diese in finanzieller Hinsicht quasi alleine gestemmt. Sie wusste, wozu sie nützlich war, und freute sich, nützlich sein zu können. „ Jeder hilft auf seine Weise – der eine laut, der andre leise “ – Kenneth brachte es wie immer auf einen einprägsamen Nenner. Adam nannte ihn den „ Autoaufkleber “. Zwischen den beiden Männern herrschte eindeutig eine gewisse Rivalität, aber Brooke liebte sie beide.

Kenneth arbeitete an einer Synthese sämtlicher Weltreligionen und Philosophien und wollte sie zu einer Form verdichten, die jeder verstand. „ Global denken, lokal handeln “, lautete eines seiner Mottos. Einen Namen für seine Philosophie hatte er schon ; das Übrige würde sich finden. Er nannte sie Streamismus, in Anlehnung an Heraklit, der wohl mal so etwas gesagt hatte wie, man könne nicht zweimal in den gleichen Strom steigen. Es sei jedes Mal ein neuer Strom. Alles Weitere verwirrte Brooke ein wenig. Sollte man dem Strom folgen – Kenneth hatte da ein total taoistisches Konzept über das Dem-Strom-Folgen, das ganz wunderbar zu Selbstakzeptanz und all diesen psychologischen Schlüsselbegriffen passte –, oder sollte man der Fels in der Brandung sein, unbeeindruckt von den flüchtigen Manifestationen der Zeit ? Auch damit kannte er sich sehr gut aus. Das sei halb Buddhismus, halb Marc Aurel, hatte er ihr erklärt. Sie lernte ja so viel, aber jetzt war sie leicht durcheinander, weil sie sich teils als Felsen im Strom ruhen, teils vergnügt dessen kleine Katarakte hinabsausen sah.

„ Natürlich “, meinte Kenneth, als sie ihm von ihrem Problem erzählt hatte. „ Du hast das zentrale Paradoxon des Streamismus durchdrungen. “

Sie war richtig stolz auf sich.

„ Was ist Gott ? “ , hatte er sie plötzlich mit seinem gütigen Blick gefragt.

Sie hatte nervös geblinzelt.

„ Der unbewegte Beweger “, flüsterte Kenneth. „ Was müssen wir werden ? “, donnerte er.

„ Gott “, riet sie wild drauflos.

„ Genau ! “ Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, ein Lächeln, wie sie es von ihrem Vater nie bekommen hatte, und sie fühlte sich, als sei sie auf einen Berggipfel emporgehoben worden.

„ Wir schwimmen im Strom, ruhen aber gleichzeitig in uns selbst, und indem wir dies tun, werden wir zu Göttern “, behauptete Kenneth, während ihr bei diesen gedanklichen Höhenflügen schwindlig wurde.

„ Damit verrate ich dir natürlich nur einen Teil des Ganzen, du musst auf das Buch warten. “

Und das tat sie. In der Zwischenzeit unterstützte sie Kenneth. Er wollte von einem Mainstreamverlag keinen Vorschuss annehmen. Da könne er sich nicht richtig entfalten, und schließlich heiße seine Philosophie ja nicht Mainstreamismus, witzelte er.

Kenneth dachte unablässig über Streamismus nach. Dieses Konzept war so reich an verborgenem Glanz, dass er sich der Pedanterie, seine Reflexionen aufzuzeichnen, verweigerte. Schweiften seine Gedanken bei der Lektüre Laotses oder der Betrachtung einer Baseballübertragung im Fernsehen ab, kam er unweigerlich zu dem Schluss, innerlich abzuschweifen sei der ungehemmteste Ausdruck des Streamismus, und erlaubte es seinen Gedanken, sich völlig ungehindert zu zerstreuen.

Angesichts solch umfassender Begeisterung verzieh er es sich, dass er Brookes Geld annahm, ohne ihr etwas Konkretes dafür zu bieten. ( Wie unstreamistisch wäre das gewesen und doch andererseits wie streamistisch. ) Trotzdem ließ ihn die Erinnerung an seine vorgetäuschte Leidenschaft zusammenzucken. Wie praktisch wäre es gewesen, hätte er sie attraktiv gefunden, aber sexuelle Heuchelei ist für einen Mann logischerweise schwer aufrechtzuerhalten. Dennoch empfand er eine beunruhigende Zuneigung zu ihr. Die Reichen hatten ja immer Angst, ausgenutzt zu werden, und Brooke forderte diese Befürchtung mit einem Scheck nach dem anderen heraus. Ausgesprochen mutig von ihr.

„ Eines Tages kann ich es dir zurückzahlen “, erklärte er, als sie ihm wieder mal einen Scheck über fünftausend Dollar ausstellte. „ Außer dem Buch und den Kassetten wird es noch lauter Broschüren für viel beschäftigte Menschen geben : › Streamismus und Sexualität ‹, › Streamismus im Büro ‹, › Streamismus und deine Kinder ‹ … “

Kenneths Broschüren bereiteten ihr zwar etwas Sorge, aber schließlich konnte nicht jedermann das Privileg genießen, Kenneth persönlich zu kennen. Sie wollte nur nicht, dass der Streamismus zu etwas Gewöhnlichem verkam.

„ Noch gewöhnlicher, als er schon ist, kann er gar nicht mehr werden “, hatte Adam gegiftet.

Nein wirklich, diese Jungs benahmen sich wie Rivalen. Sie musste es irgendwie schaffen, dass die beiden sich besser verstanden. Vielleicht sollten sie an einer Männergruppe teilnehmen und zusammen in eine Schwitzhütte gehen. Robert Bly konnte ihnen raten, wie man so eine Gemeinschaftserfahrung unter Männern am besten anging. Es war doch Wahnsinn, dass sie sich so stritten, wo sie doch eigentlich dasselbe wollten : die Welt vor der Selbstzerstörung zu retten.

Brooke bezahlte auch Adams Apartment in San Francisco. Indem er seine Schmeicheleien mit scharfen Bemerkungen würzte und gelegentlich seine Telefonnummer änderte, sorgte er dafür, dass ihn dieses Arrangement nicht korrumpierte und sie sich nicht einbildete, über ihn verfügen zu können. Hatte Joyce nicht seine Miss Weaver gehabt ? Und wer würde sich heute ohne Joyce noch an Miss Weaver erinnern ? Mantegna hatte seine Sforzas gehabt. Ihre lächerlichen Intrigen wirkten jetzt reichlich dürftig, doch seine Bilder vergalten das Geschenk ihrer Patronage mit dem weitaus größeren Geschenk seiner Unsterblichkeit. Und genau besehen, spendeten die Mönche Südostasiens, die dank der Großzügigkeit, des dana, der örtlichen Bevölkerung überlebten, denen, die sie unterstützten, ja einen Segen. Nein, Adam war mit der Situation völlig im Reinen, ließ sich aber durch den Umstand, dass Brooke ihm helfen wollte, seinen gottgegebenen Daseinszweck zu erfüllen, nicht von gelegentlichen sanften Sticheleien abhalten.

„ Ich hoffe, ich sterbe mal vor dir “, hatte er an jenem Morgen zu ihr gesagt, als sie ihn mit einer neuen Liste ihrer guten Werke gelangweilt hatte. „ Ich würde den Himmel gern kennenlernen, bevor du ihn verbessert hast. “

„ Wenn du dann kommst, gebe ich eine Party für dich “, meinte Brooke, für die „ Networking “ zu einer zwanghaften Gewohnheit geworden war.

„ Wenn du Cocktailpartys gibst, Süße, werde ich wissen, dass ich nicht angekommen bin “, antwortete er.

„ Sei nicht so gemein “, sagte sie, wie in letzter Zeit immer öfter.

„ Allmählich wird Brooke ziemlich anmaßend “, hatte Adam zu Yves gesagt, nachdem er eingehängt hatte. „ Irgendwann wird sie sich noch für die nächste göttliche Mutter halten. “

„ Ah non “, meinte Yves mürrisch, „ nicht schon wieder eine. Je ne crois pas que je pourrais supporter encore une Mère Divine. “

Sie sprachen über etwas anderes als Brookes möglichen künftigen Anspruch auf Göttlichkeit, als Adam und Yves in Brookes Salon anlangten. Adams tintenschwarzes ungekämmtes Haar fiel auf sein flammend rotes Jackett, das wiederum seine breiten Hüften und schwarzen Hosen umloderte. Yves, dessen Jacke den gleichen Schnitt hatte, aber in wirbelnden Meeresfarben prangte, wirkte relativ besänftigend. Die beiden repräsentierten die Komplementarität von Türkis und Orange, die Vermählung von Feuer und Wasser, von Yin und Yang, von Rumi und Shams ; aber das wussten nur sie. Auf alle anderen wirkten sie wie Clowns.

Adam, der Kenneth zutiefst misstraute, näherte sich ihm zuerst. Er hatte kürzlich herausgefunden, dass Kenneth vor seiner Inkarnation als Möchtegernguru für eine Rockband als „ Ambience Director “ gearbeitet hatte, ein euphemistischer Titel, den er sich für seine Rolle als Zuhälter und Drogenkurier zugelegt hatte.

„ Hallo, Kenneth, wie lautet die Lektion des heutigen Abends ? “

„ Demut, Adam, und für dich ganz besonders. “

„ Oh “, sagte Adam und blickte sich im Raum um wie in einer öden Landschaft. „ Und wer lehrt Demut ? “

„ Das Leben “, antwortete Kenneth gelassen, „ wenn du offen dafür bist. “

„ Der Autoaufkleber hat gesprochen “, erwiderte Adam in gespielter Ehrfucht.

Yves kicherte und ließ sich vom schwarzen Butler ein Glas Champagner reichen.

Brooke war noch oben, als Adam und Yves eintrafen. Einige Gerüchte über die Angewohnheiten ihrer Mutter, von denen sie gehört hatte ( „ Sie lässt die Leute gerne warten “, hatte Mammy oft erzählt ), hatten sowohl der Scheuerbürste von Dr. Bukowskis Schweigen als auch der Laserchirurgie von Kenneths Lehren standgehalten.

Sie dachte über all die faszinierenden Menschen nach, die sie zum Essen eingeladen hatte, „ Gurus “, wie sie sie vor fünf Jahren vielleicht noch genannt hätte. Jetzt waren es einfach ihre engsten Freunde. Ein paar neue Gesichter gab es heute Abend, auch neue Namen. Ihre Sekretärin hatte eine Liste angefertigt und sie im Schlafzimmer gelassen, auf ihrem, wie Brooke es nannte, „ Behelfsschreibtisch “, den sie benutzte, wenn sie es weder in ihr Arbeitszimmer noch in ihr Büro oder in ihre Bibliothek schaffte. Unter anderem eine phantastische Umweltaktivistin, eine total faszinierende Irin, die sagte, man könne den Planeten retten, indem man in sämtlichen verwüsteten Regenwäldern Bambus pflanzte.

„ Es ist tatsächlich ziemlich wichtig “, hatte sie mit gönnerhaftem Lächeln zu Brooke gesagt. „ Wir reden hier über die Lungen unseres Planeten. “

Die Lungen des Planeten ! Unseretwegen bekam Mutter Erde Lungenkrebs. Zweifellos waren die Männer mit den Kettensägen und die Holzhändler starke Raucher. Die Art, wie die Menschen mit sich selbst umgingen, und die Art, wie die Menschen mit ihrer Umwelt umgingen, passten perfekt zusammen. Manche ihrer buddhistischen Freunde kannten sich mit so etwas ganz besonders gut aus. Gaia war die griechische Erdgöttin, und Gaya hieß das Dorf in Nordindien, wo Buddha Erleuchtung erlangt hatte. Na bitte ! Passte doch perfekt. Brooke taumelte weiter von Assoziation zu Assoziation.

Sie erwartete heute Abend auch einen Meeresbiologen, der entdeckt hatte, dass Wale an Aids litten. Eine aus dem Gleichgewicht geratene Welt gebar ständig neue Seuchen. Marburg, Ebola, Sin Nombre – ihre Sekretärin hatte sie notiert ; der Meeresbiologe war das erste Mal eingeladen, und sie hatte ihn beim Essen links von sich platziert –, entstanden aufgrund des ungebremsten Bevölkerungswachstums. Es war wie der alte chinesische Fluch : „ Mögest du in interessanten Zeiten leben “.

Brooke wusste, dass sie spät dran war, aber sie schaffte es nicht, vom Frisiertisch aufzustehen, sondern ließ all das Revue passieren, was inzwischen zu apokalyptischen Plattitüden geworden war, beinahe beruhigend in seiner Vertrautheit.

„ Sie lässt die Leute gerne warten “, vernahm sie schon wieder Mammys Stimme.

„ O Gott, ich werde noch wie meine Mutter ! “, kreischte sie wild auf, warf ihren Lippenstift hin und hob ihn hastig wieder auf. Ihr Gesicht war inzwischen fast so faltig wie das ihrer Mutter, damals, beim Tod ihres Vaters. In ihrem schlimmsten Streit hatte Adam sie eine „ menopausale Mystikerin “ genannt. Das wäre fast das Ende ihrer Freundschaft gewesen, doch nach einem langen Gespräch mit Kenneth über die Bedeutung des Verzeihens hatte sie extra für Adam ein Essen gegeben.

„ Dieser Mann ist der reinste Geisterfahrer. Dauernd rasselt er mit anderen Leuten zusammen “, sagte Kenneth, als er erfuhr, wem sie verzieh. „ Allerdings fühle ich mich, hm, um so geehrter “, fügte er beschwichtigend hinzu, „ zur Versöhnung beigetragen zu haben. “

Brooke riss sich vom Frisiertisch los, schnappte sich die Liste mit den neuen Namen, warf den Kopf zurück und rauschte aus ihrem Schlafzimmer, als habe der Spiegel sie auf eine Weise beleidigt, die man nur ignorieren konnte. Sie sorgte sich wegen der verspäteten Ankunft ihres Übernachtungsgasts Crystal Bukowski. Ja, Crystal war die Tochter des guten alten – wie sich herausstellte, mittlerweile verstorbenen – Dr. Bukowski, und sie hatten sich vor drei Wochen in New York bei einer faszinierenden Gesellschaft kennengelernt, veranstaltet von ein paar Leuten, die dem Dalai Lama sehr nahestanden.

Was für ein Zufall, hätte sie in den alten Tagen gesagt, aber heutzutage benutzte sie nur noch die G-Worte, Glück und Gleichklang. Crystals Mutter, so hatte ihr damals die Gastgeberin erzählt, war eine Patientin ihres Vaters gewesen. Nachdem sie ungewollt schwanger geworden war – und begriffen hatte, dass er zwar seine Familie nicht verlassen, sie aber bezahlen würde, damit sie seine Praxis nicht ruinierte –, war sie einer Reihe bizarrer Kulte beigetreten, mit der kleinen Crystal im Schlepptau.

Crystal hatte gerade eine sehr problematische Romanze mit einem Franzosen hinter sich, und Brooke hegte schon ganz fürsorgliche Gefühle für sie, obwohl sich an Adams rechter Seite eine hässliche Lücke auftun würde, wenn Crystal nicht bald auftauchte. Trotzdem besaß sie, als Dr. Bukowskis Tochter, eine Art ehrenhalber verliehenen Familienstatus. Wenn Dr. Bukowski auch kein schwarzer Diener war, so doch zumindest ein jüdischer Angestellter, dessen Familie größtenteils im Konzentrationslager ausgelöscht worden war und den sie während ihrer sieben Jahre währenden Analyse mit riesigen Geldsummen überschüttet hatte.

Sie hatten lange und genau hinschauen müssen, warum es ihr wohl solche Freude bereitete, verpasste Therapiesitzungen zu bezahlen. Es hatte sie in die Lage versetzt, an zwei Stellen gleichzeitig Geld auszugeben ; das passte gut, wenn man zwei Domizile hatte. Doch, er hatte ihr sehr geholfen, aber damals war sie noch ganz ichbezogen gewesen ; jetzt ging es ihr um die Welt. Aber sie bereute die Jahre bei Dr. Bukowski nicht. „ Wer den Himmel berühren will, muss mit beiden Füßen auf der Erde stehen “, sagte Kenneth immer.

Crystal Bukowski befand sich tatsächlich an Bord einer verspäteten Maschine aus New York und hatte keine Chance, rechtzeitig zu Brookes Dinner zu kommen. Aber sie flog ja sowieso nicht nach Kalifornien, um Brooke zu besuchen, sondern um am Dzogchen-Meditations-Retreat im Esalen Institute teilzunehmen.

Als sie sich ausmalte, wie sie ihrem Sitznachbarn eine Kettensäge durch den feisten Nacken zog, wusste sie, dass Esalen genau das war, was sie brauchte. Mit seiner abgrundtief dummen Visage, die nur aus den finstersten Inzuchttälern Kentuckys stammen konnte ( das Ergebnis von Blutfehden und Methylalkohol über Generationen hinweg ), seinem militärischen Bürstenhaarschnitt und den knallengen Jeans, die hoffen ließen, er möge der Letzte seiner Linie sein, war dieser Hinterwäldler aus der Hölle seit dem Start in New York auf seinem Sitz herumgerutscht, hatte sich ständig die Eier gekratzt und an seinen Hosen herumgezerrt. Normalerweise hätte sie wohl Zuflucht zu Kopfhörern und einer coolen Chanting-Kassette nehmen können, aber er stieß sie jedes Mal, wenn er sich kratzte, mit dem Ellbogen an, und so konnte sie an nichts anderes mehr denken.

Was wollte ihre Wut ihr sagen ? Dass sie Männern zurzeit mit Feindseligkeit begegnete ? Dass auch sie sich gern an den Genitalien gekratzt hätte ? Dass sie sich blöd vorkam, wie die Sache mit Jean-Paul gelaufen war ? Dass sie Schuldgefühle hatte, weil sie so rastlos umherzog, das überraschende Erbe ihres Vaters verprasste und jetzt die gleichen Selbsterforschungstrips unternahm wie ihre Mutter ? Ja, ja, ja, ja. Ihr Geist war mal wieder fleißig am Projizieren – sich selbst überlassen, brachte er eigentlich nicht viel mehr zustande –, aber sie hatte es so satt, sich ständig bei irgendetwas zu ertappen, sie wollte heute einfach nur der Aggression nachgeben, dem Hass, den sie auf den Kaliban an ihrer Seite empfand.

Crystal schloss die Augen und konzentrierte sich tief atmend auf ihr Hara, ihr Nabel-Chakra.

Sie versuchte, den Teil ihres Bewusstseins zu beruhigen, der ständig kleine analytische Spiegelchen aufblinken ließ. Schlimm genug, einen abwesenden Psychoanalytiker-Vater gehabt zu haben – musste sie sich da in einen französischen Philosophen verlieben, der gerade die Ausbildung zum Psychoanalytiker absolvierte ?

In der Annahme, er brauche einen Raketenstart, um in die Dimensionen jenseits seines rastlos tätigen Intellekts abzuheben, hatte sie Jean-Paul im vergangenen Monat überredet, mit ihr in die Wildnis zu gehen und bewusstseinsverändernde Drogen zu nehmen. Bei ihr setzten bewusstseinserweiternde Drogen den analytischen Tick außer Kraft, der ihr momentan den letzten Nerv raubte, und führten sie in jene Gefilde des immanenten, greifbaren, numinosen Sinns. Leider schienen das Meskalin und die magischen Pilze auf Jean-Paul den gegenteiligen Effekt zu haben.

Das Schlimmste war, was sich anschließend ereignet hatte. Irgendwo dort unten galoppierte Jean-Paul nun durch die Einöde eines Reservats in North Dakota und tat, als sei er ein Lakota-Krieger, was ja selbst den Lakota kaum gelang. Er lebte jetzt auf einer dieser Dritte-Welt-Müllhalden, die die amerikanische Regierung den indianischen Ureinwohnern angeboten hatte wie ein Straßenräuber, der seinem blutenden Opfer einen U-Bahn-Fahrschein hinwirft. Er hatte sich sogar mit der schriftlichen Bitte, seinen Namen in Little Elk zu ändern, an das französische Konsulat gewandt. Man hatte seiner Bitte nicht entsprochen.

Ihrem gemeinsamen Führer Robert die Schuld zu geben brachte nichts ; was konnte dieser aus einem Vorort von Sausalito stammende Junge dafür, der sich für die Reinkarnation eines Hopi-Ältesten hielt ? Für alle Fälle behauptete er, die Hopi stammten „ ursprünglich “ aus Tibet, damit hatte er sich in jeder Hinsicht abgesichert.

Letztendlich nahm sie die Schuld auf sich, weil sie Jean-Paul die bewusstseinsverändernden Drogen gegeben hatte. Als Anthropologe war er natürlich begeistert gewesen. Er hatte Huxley und Leary gelesen und so weiter ; er hatte in seinem Leben überhaupt viel gelesen, nur sonst hatte er eben kaum etwas getan.

Jean-Paul hatte sogar angefangen, ihr Vorträge über Wert und Funktion bewusstseinsverändernder Drogen in primitiven und höher entwickelten Gesellschaften zu halten, während sie in ihrem Cherokee mit Vierradantrieb von Moab nach Canyonlands fuhren – Robert hätte zweifellos einen Hopi mit Vierradantrieb gemietet, wenn es den gegeben hätte, obwohl er auf ihren diesbezüglichen Scherz hin gesagt hatte, er ehre „ das Volk der Cherokee “.

Die Augen immer noch fest geschlossen, die Arme fest an sich gepresst, außer Reichweite des Kalibans, spulte Crystal widerstrebend noch einmal den Film ihrer Reise mit Jean-Paul ab. Sie war das immer wieder durchgegangen, aber wie eine Zunge, die an einem eingeklemmten Essensrest herumpult, kehrte ihre Erinnerung ständig zu jenen Ereignissen zurück, in der Hoffnung, die Wahrheit des Geschehenen zu entfernen.

Fast im gleichen Moment unterbrach ein erneuter heftiger Stoß ihres Nachbarn Crystals Gedanken. Kaliban hatte gerade besonders heftig an seinen Jeans gezerrt. Wütend öffnete Crystal die Augen und starrte finster auf sein scheinbar gleichgültiges Profil. Sie war halb erleichtert über die Unterbrechung. Vielleicht hatte sie ja unbewusst bewirkt, dass er sie anstieß.

„ Es tut mir leid, dass ich auf meinem Sitz so viel bewege “, radebrechte ihr Nachbar.

Er war gar kein Hinterwäldler aus Kentucky, er war Schwede oder Deutscher.

„ Ich habe, äh, Problem mit Haut. Ich komme nach Kalifornien wegen Ärzte. “

„ O Gott, das tut mir leid “, sagte Crystal, Abbitte leistend und voller Mitgefühl. „ Hoffentlich finden Sie die nötige Hilfe ! “

„ Danke “, erwiderte er lächelnd. Er hatte eigentlich nette Augen, und ihr schien, als sehe sie darin den Schimmer schmerzlicher Erkenntnis, als habe er mitbekommen, was sie über ihn gedacht hatte.

Was für eine Lektion, dachte Crystal, als das Flugzeug in San Francisco landete. „ Was für eine irre Lektion “, murmelte sie im Bereich der Gepäckausgabe. Was für eine irre Lektion, dachte sie zufrieden im Taxi und nickte dankbar, ungläubig und verlegen.

Brooke hatte sich bezüglich ihrer Dinnerparty ein wenig entspannt. Moses reichte gerade Kräutertee, und alle schienen sich prächtig zu amüsieren. Die meisten waren ein bisschen betrunken oder high und stimmten einander in Punkten zu, über die sowieso längst Einigkeit herrschte ; planten neue Termine, um auf ihren jeweiligen Seminaren, Konferenzen, Workshops und Performances miteinander über die Rettung der Welt zu diskutieren. Brooke unterhielt sich mit Dave, dem Meeresbiologen. Sie hatte gerade ihre Liste derjenigen Seuchen heruntergespult, die aus ihren „ natürlichen Reservoirs “ – sie war sehr stolz auf diesen Ausdruck – auf das Umfeld des Menschen übersprangen. Leider hatte sie, da sie sich so viele Namen merken musste, die irische Umweltaktivistin mit einbezogen.

„ Ist das nicht grässlich, mit diesen Viren – Ebola, Marburg und O-Hara ? “, fragte sie und schüttelte betrübt den Kopf.

Dave schien den Fehler nicht zu bemerken.

„ Es gibt da eine Symmetrie “, sagte er und sah sie an. Sein sonnengebleichtes Haar umschloss sein Gesicht wie eine Klammer. „ Wir stehen in einer viralen Beziehung zu unserem Habitat und werden zum Habitat des Viralen. “

„ Aber ist das nicht so, als würde man sagen, Aids sei eine Strafe Gottes ? “, fragte Brooke, die zwar wusste, dass dies nicht stimmte, aber Lust hatte, den Quatsch aufzuquirlen, den die weißen Fundamentalisten verzapften.

„ Eigentlich nicht “, erwiderte Dave höflich. „ Es ist so, als würde man sagen : Was man sät, das wird man ernten. Karma ist nicht Vergeltung, sondern das, was ist. Auf einem anderen Level ist die Realität, in der wir leben, eine Funktion der Paradigmen, mit denen wir sie beschreiben. Die meisten dieser Paradigmen sind viel zu reduktionistisch. “

„ Aber liegt alldem nicht etwas zugrunde ? “ fragte Brooke fasziniert.

„ Doch, da ist die Energie, die die Gestalt der Materie, des Lichts und alles anderen annimmt. “

„ Aber ich möchte mir diesen Tisch nicht als Energiefeld vorstellen “, sagte Brooke und hob in gespieltem Schrecken die Ellbogen vom Tisch.

„ Warum denn nicht ? “; sagte Dave. „ Das ist doch cool. “

Ja, warum nicht ?, dachte Brooke. Sie lächelte Dave an. Dave lächelte sie an. Sie lernte so viel.

Adam stand auf, Tränen strömten ihm über die Wangen. Alle verstummten.

„ Die Wale haben Aids “, schluchzte er. Das hatte er erst eine halbe Stunde zuvor im Gespräch mit Dave erfahren – über Crystals leeren Platz hinweg –, es aber bereits als seine eigene Tragödie vereinnahmt. „ Was tun wir diesem schönen Planeten nur an ? “

Er hielt inne und rang sichtlich um Fassung.

„ Die Menschen in diesem Raum, eingeladen von … “ Etwas in ihm hätte gern gesagt „ der Madame Verdurin des New Age “, doch dann siegten der Wein und die Begeisterung, und er sagte: „ unserer Eleanor von Aquitaine “ …

Brooke, die mit „ Guidobaldo “ gerechnet hatte, war einen Moment lang irritiert, sah aber an den lächelnden Gesichtern, dass der Vergleich schmeichelhaft war. Sie musste für Adams Konversation eine Rechercheassistentin einstellen, ihre arme Sekretärin hatte schon genug um die Ohren.

„ Die Menschen in diesem Raum sind die einzigen Menschen, die die Welt noch vor der völligen Zerstörung bewahren können. Dies ist die wichtigste Versammlung, die in diesem Augenblick der Geschichte stattfinden konnte. Wir sind Zeugen einer neuen mystischen Renaissance, die darum kämpft, gegen alle Widrigkeiten und gegen jede Wahrscheinlichkeit im Schutt unserer sterbenden Zivilisation geboren zu werden, und es ist an uns – uns Gelehrten, Dichtern, Wissenschaftlern, Personen des öffentlichen Lebens, Dharmalehrern –, in die Welt zu ziehen und die Menschen wachzurütteln. “

Und dann begann er zu singen, strich mit den Fingerspitzen der einen Hand sein dichtes Haar zurück und legte die andere Hand aufs Herz.

„ Oh, ein Wort nur von Shams, und ich gäbe mit Freuden mein Leben hin “, schmetterte Adam.

Sein Leben ist vor mir, und durch seine

Liebe ist mein Herz rein geworden, meine Brust

hat alle Tugend eingesaugt.

Erhasche ich seinen Duft, wandle ich, wie auf Wolken

schwebend, seinen Pfad entlang.

Adam machte plötzlich eine verächtliche Handbewegung.

O Mundschenk, genug deines Weins, ich bin trunken

vom Wein aus seinem Becher.

Moses stand daneben und fragte sich, ob er Adam Kräutertee anbieten sollte. Er hatte in seinem Leben schon viele Menschen singen gehört und fand, Mr Frazer sollte Gesangsstunden nehmen und sich nach anderen Themen umsehen.

„ Ich hoffe, ich bin heute Abend gut bei Stimme “, sagte Adam über den matten Applaus hinweg.

„ Rumi ist der ideale Führer für unser Zeitalter “, fuhr er mit neuer pädagogischer Ruhe fort. „ Sein literarisches Genie ist dem Shakespeares vergleichbar, und sein spirituelles Genie ist so mächtig wie das von Christus. Er bringt uns die ewige Botschaft vom vollkommenen Sein und vom Feuer der verwandelnden Liebe. Und “, wechselte er plötzlich auf eine verstörend umgangssprachliche Ebene, „ er erinnert uns daran, dass wir unseren fetten Arsch hochkriegen und singen sollen. “

Ich bin der Feiglinge müde, will mit Löwen leben,

Mit Moses, nicht mit weinerlich wimmernden Memmen,

Ich will das Krakeelen der Trunkenen,

Ich will singen, wie die Vögel singen,

Ohne mich zu sorgen, wer wohl lauscht und was er denkt.

Obwohl Moses Miss Brooke grenzenlos ergeben war, zog er die Grenze, wenn man ihm öffentlich unsittliche Angebote machte, und verließ mit dezenter Empörung den Raum.

Adam nahm mit bescheidenem Lächeln wieder Platz, schwelgte aber bald im Luxus seiner neuen Qual.

„ Die Wale ! “, klagte er Kathleen O’Hara, wie ein Kind, dessen geliebtes Hündchen gerade überfahren wurde, und das sich in untröstlichem Schmerz zu seiner Mutter flüchtet.

„ Ja “, sagte Kathleen, instinktiv in mütterlichem Ton. Was für ein wunderbar sensibler Mann, dachte sie, der so mit seiner femininen Seite in Verbindung stand.

„ Es ist schrecklich, was wir den Ozeanen antun “, meinte sie. „ Sie sind unsere natürlichen Filtersysteme, die Nieren des Planeten. “

Adams Ansprache hatte alle in Verlegenheit gebracht. Angesichts der Vorstellung, dass sie hier die wichtigste Versammlung der Welt bildeten, und der extremen Verantwortung, die dies mit sich brachte, wollten alle nur noch nach Hause. Crystals Ankunft fungierte da nur noch als kleine Gegenströmung zur Flut des allgemeinen Aufbruchs. Als Moses sie ins Esszimmer führte, unterhielt Adam sich gerade aufgeregt mit Yves, Brooke und Kathleen über sein reges spirituelles Leben. Er kam sich charmant vor, wie meistens, wenn er die angstvolle Hysterie abgelegt hatte, die ihn oft peinigte.

„ Crystal, mein Schatz, wir haben dich beim Dinner vermisst “, sagte Brooke.

„ Sie haben wirklich ein wundervolles Dinner verpasst “, fügte Adam hinzu und erhob sich.

„ Tut mir leid “, sagte Brooke zu Crystal. „ Als mir klar wurde, dass die Maschine Verspätung hat, war deine Telefonnummer in meinem Gepäck im Frachtraum. “

Brooke stellte sie den anderen Gästen vor.

„ Sie müssen der leere Platz zu meiner Rechten gewesen sein “, meinte Adam.

„ Form ist Leerheit, und Leerheit ist Form “, sagte Crystal wie ein indischer Guru. Adam Frazer war in der alternativen Szene eine kleine Berühmtheit, und sie wollte ihn beeindrucken. Ich kann es nicht lassen, warf sie sich selbst vor, der Beifall einflussreicher Männer ist mir immer noch wichtig. „ Letztlich ist beides eins “, flötete sie.

Adam lachte. „ Da ich noch nicht vollständig erleuchtet bin, ziehe ich diese wunderbare Illusion der nüchterneren vor, die ich während des Essens hatte. “

„ Sie treiben im rastlosen Meer des Samsara “, sagte Crystal und schüttelte traurig den Kopf. „ Wenden Sie Ihr Bewusstsein wieder der Quelle zu “, drängte sie, den großen Poonjaji zitierend.

„ Adam “, mahnte Yves, der den Verdacht hatte, Adam amüsiere sich mit jemand anderem, „ es wird spät. “

„ Oh, Liebster, bist du müde ? “, fragte Adam. „ Dann gehen wir natürlich sofort nach Hause. “

„ Brooke, es war ein wunderbarer Abend ! “, sagte Kathleen.

„ Hier ist das, worüber wir gesprochen haben “, meinte Brooke halbwegs diskret und drückte Kathleen ein Kuvert in die Hand. „ Für die Stiftung. “

„ Für die Lungen des Planeten “, erwiderte Kathleen zwanghaft.

Als die anderen gegangen waren, brachte Brooke Crystal persönlich in eins der Gästezimmer hinauf. Das war doch viel gemütlicher, als sie mit Moses hinaufzuschicken. Brooke setzte sich auf das kleine Sofa am Fußende des Betts, hieß Crystal herzlich willkommen und bat sie, sich hier während ihres Aufenthalts in San Francisco wie zu Hause zu fühlen.

Crystal war gerührt und gleichzeitig leicht betrübt, denn die Orte, an denen sie gelebt hatte, waren immer nur kurz ihr Zuhause gewesen, oft unter den prekären Umständen der Gastfreundschaft. Natürlich hatte sie schon lange das Paradox verinnerlicht, sich ohne ein Zuhause zu Hause zu fühlen, und versuchte die klebrige Befriedigung, Eigentum zu besitzen, als Bestechung zu sehen, der man edelmütig widerstand. Im Gegensatz zu Erinnerungen, auf denen die Tropenluft der Nostalgie lastet, waren ihre Erinnerungen von flüchtigerer Art, flüchtig wie die über den Boden huschenden Schatten der Stare, aber sie konnten hohe Töne erzeugen, ganze Städte evozieren, ganze Stimmungen, ganze Gedankengänge und Gefühlsabläufe, so unermesslich und unvermittelt präsent wie der Geruch des Meeres.

Brookes eigenes beschädigtes Heimatgefühl führte zu beinah exzessiver Gastfreundschaft, aber letztlich waren dann beide Frauen durch das Willkommensritual gerührt.

„ Wie du weißt, muss ich am Sonntag nach Esalen “, sagte Crystal, „ ich werde also eigentlich nur morgen hier sein. “

„ Oh, das hätte ich Adam sagen sollen “, meinte Brooke. „ Er hält dort nächste Woche einen Vortrag über Rumi. Es vergeht keine einzige Woche, in der er nicht irgendwo Vorträge über Rumi hält “, lachte sie. „ Du musst unbedingt Verbindung zu ihm aufnehmen, jetzt, wo ihr euch kennengelernt habt. Ich fände es unerträglich, zwei Freunde am gleichen Ort zu wissen, die sich nicht kontaktieren. “

Edward St Aubyn

Über Edward St Aubyn

Biografie

Edward St Aubyn wurde 1960 in England geboren und wuchs dort und in Südfrankreich auf. Er ist Vater von zwei Kindern und lebt in Notting Hill, London. Als Schrifsteller etablierte er sich bislang vor allem mit der Melrose-Saga unter den großen englischen Autoren seiner Zeit. Ihr Anfang, »Schöne...

Pressestimmen
Westfalenpost

„Es ist allzu leicht, sich lustig zu machen über die Gurus und Jünger der New-Age-Bewegung. Aber es ist zugleich auch unwiderstehlich. Und dass Edward St Aubyn in seinem Roman ›Am Abgrund‹ nicht widerstanden hat, ist erfreulich. Weil sein Roman [...] von großer Komik ist.“

literaturkritik.de

„St Aubyn spürt zielsicher auf, wie Menschen vor ihren eigenen Widersprüchen fliehen, wird jedoch niemals zynisch. Wegen seines trockenen Humor sind seine Romane niemals trocken, sondern stets unterhaltsam.“

Süddeutsche Zeitung

„Bei all seiner genüsslichen Spöttelei ist ›Am Abgrund‹ ein sehr warmherziger Roman.“

Bayern 2 - Diwan

„Edward St.Aubyn gehört zu den besten Stilisten der englischen Gegenwartsliteratur. Seine luzide, leuchtende Prosa, deren klares Licht an einen Kristall erinnert, scheint in diesem Roman in den warmen Farben eines Kaleidoskops. ›Am Abgrund‹ ist St.Aubyns heiterstes Buch, denn bei aller funkelnden Ironie bleibt sein tiefes Verständnis der "condition humaine" und die Sympathie für seine Figuren stets spürbar, und man legt den Roman leicht berauscht, ja angeheitert aus der Hand.“

Literaturblog Günter Keil

„Ein exquisites Lesevergnügen für anspruchsvolle Genießer und milde Zyniker.“

Augsburger Allgemeine

„Ein exquisites Lesevergnügen für anspruchsvolle Genießer und milde Zyniker.“

Nürnberger Nachrichten

„Wer zu diesem Buch greift, sollte einige Tage Auszeit einplanen. Man kommt von dieser Wahrheit nicht mehr los.“

Der Spiegel

„Der unerschrockene St Aubyn, seiner Erzähllust und Brillanz so sicher wie je, stürzt sich hier in eine wilde Erlösungstragikomödie mit rundum verzweifelten Zeitgenossen (...) - der Leser aber fühlt sich durch Erheiterung erleuchtet.“

Gießener Anzeiger

„All die Schamanen und Glücksprediger nimmt der Sprachmagier aufs Korn, der für seine brillante Formulierungskunst zu recht hochgelobt wird. (...) Tragisch ist an dieser Story nichts, saukomisch trifft es schon viel mehr.“

buchlesetipp.blogger.de

„Mit bösartigem Zynismus nimmt der englische Autor eine ganze Generation von Esoterikern auf die Schippe und das mit so viel Witz und schwarzem Humor, dass es eine Freude ist.“

Stern

„Eine Odyssee durch tantrischen Sex und Selbstfindungsblabla. Urkomisch und bitterböse.“

Badische Zeitung

„Herrlich hinterfotzig macht Edward St Aubyn sich über die Heilsucher her und die Weltenretter mit ihren bunten Pullis und den sechzehn Formen der Leere.“

Frankfurter Rundschau

„Unter dem Sprachfluss der Reichen, Schönen, Jungen, Naiven Schmarotzenden - liegt die feine Ironie Edward St. Aubyns. Er dreht der Realität esoterisch-raunender Unterhaltungen, wie er sie sicher gehört hat, eine Umdrehung weiter.“

Dresdner Morgenpost

„Herrlich spöttisch“

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