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Ein Lehrer bereist die Herkunftsländer seiner Schüler

Ein junger Lehrer und seine ungewöhnliche Weltreise

In Jan Kammanns Klassenraum kommen Schüler aus verschiedensten Nationen zusammen – aus Lebenswelten und mit Weltanschauungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die ihn oft vor Rätsel stellen. Also fasst der Lehrer einen Plan: Er will mehr über die Herkunft seiner Schüler wissen, will erfahren, wie ihre Heimat war. Und so nimmt er sich ein Sabbatjahr und zieht los: zu einer ungewöhnlichen Weltreise, die ihn prägen, bereichern und verändern wird.

Ein deutsches KlassenzimmerEin deutsches KlassenzimmerEin deutsches Klassenzimmer

30 Schüler, 22 Nationen, 14 Länder und ein Lehrer auf Weltreise

Jan Kammann unterrichtet Englisch und Geographie in einer internationalen Vorbereitungsklasse in Hamburg. Im Klassenraum kommen Schüler aus über zwanzig Nationen zusammen – aus Lebenswelten, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Eines Tages ist ihm klar: Er will mehr über ihre Herkunft wissen und kennenlernen, was für sie bis vor Kurzem ihre Heimat war. Kammann nimmt sich ein Sabbatjahr und zieht los; im Gepäck jede Menge Tipps, Adressen und Reiseempfehlungen seiner Schüler. Er erlebt den Alltag in Kuba, Nicaragua und Kolumbien, Südkorea, China, Russland, im Kosovo, in Albanien, Armenien, Iran und Ghana. Unkonventionell und warmherzig erzählt er vom Lehrersein heute. Und von der Welt, in der er selbst ein Jahr lang zum Schüler wird.

Prolog: Sommer 2015

Hamburg – Sofia
Nach den letzten Ferien erschien Raina drei Tage zu spät in der Schule. Zu ihrer Entschuldigung führte sie die abenteuerliche Rückfahrt mit dem Bus aus Bulgarien an. Sie berichtete von Pannen, endlosen Umwegen durch die deutsche Provinz und der Müdigkeit, die sie nach der fast zweitägigen Fahrt erfasst hatte.
An einem sonnigen Morgen, es ist der erste Tag der Sommerferien, sitze ich selbst in einem bulgarischen Bus mit Ziel Sofia. In der Schule habe ich mir einen Spaß daraus gemacht, Raina zu warnen, dass ich ihre Ausrede selbstverständlich überprüfen werde. Schulpflichtverletzungen seien schließlich kein Kavaliersdelikt. Sie sagte, eine Busreise würde sie mir nicht unbedingt empfehlen, wohl aber Erholungsurlaub in den zentralbulgarischen Bergen oder am Schwarzen Meer. Ich war noch nie auf dem östlichen Balkan, und sicher würde mir eine solche Reise helfen, die Lebenswelt Rainas besser zu verstehen – und dazu gehört natürlich, dass ich Bus fahre.

Neben mir richtet Konstadin sich für die Fahrt ein. Er hat belegte Brote dabei und Süßigkeiten, die er in die Tasche am Sitz vor ihm stopft. Eingestiegen ist er zusammen mit mir am Hamburger ZOB in den fast leeren Bus. Er sitzt am Gang, ich am Fenster. „Es wäre doch angenehmer für uns beide, wenn wir jeweils eine ganze Bank nehmen. Platz genug haben wir ja“, sage ich. Er schaut mich amüsiert an und klärt mich auf, dass der Bus schon noch voll werden wird. Würden wir jetzt umziehen, müssten wir später wieder alles umräumen, und das sei doch viel zu umständlich. Dann bringt er seine Lehne in die Liegeposition, atmet tief durch und beginnt, sich von seinen Strapazen zu erholen.
Sieben Monate hat er auf Baustellen in ganz Norddeutschland gearbeitet, nun ist er auf der Heimreise nach Plewen in Nordbulgarien. Diese Reise hat er schon öfter gemacht, und deshalb weiß er, wie unberechenbar der Fahrplan ist. Anders als ich wundert Konstadin sich nicht über den Busfahrer, der schon kurz hinter den Elbbrücken die Autobahn wieder verlässt und uns über die Landstraßen der norddeutschen Tiefebene bis in das Dorf Hülseberg irgendwo im Elbe-Weser-Dreieck chauffiert. Hier halten wir auf einem Erdbeer- und Spargelhof. Gerade als ich mich frage, warum wir diesen umständlichen Umweg genommen haben, und ratlos aus dem Fenster schaue, kommt ein Grüppchen junger Frauen auf den Bus zu. Die Tür geht auf, alle steigen ein. Es herrscht gelöste Urlaubsstimmung. Es ist Mitte Juli, die Pflück- und Stechsaison ist zu Ende.
Die Fahrt geht weiter. Hier und da halten wir in kleinen Dörfern und sammeln weitere gut gelaunte Menschen ein. Ihnen ist es egal, dass wir schon über drei Stunden unterwegs, aber noch keine hundert Kilometer von Hamburg entfernt sind, als wir bei Soltau auf die A7 biegen. Bis Sofia sind es von hier noch ungefähr 2000 Kilometer. Bis Kassel geht es jetzt schneller. Hier fahren wir wieder von der Autobahn ab, kreuzen durch die halbe Stadt und finden in einem Gewerbegebiet eine kleine Gruppe Bauarbeiter, die fröhlich schwatzend zusteigt. Obwohl noch in Nordhessen, sind wir doch schon in Bulgarien. Alle Passagiere sind gut drauf, halten Small Talk auf Bulgarisch, es stellt sich ein Gefühl von Nachhausekommen ein. In Bayreuth steigt Studentin Natalie zu. Sie sitzt direkt vor mir, und es ist sehr praktisch, dass sie da ist, weil sie fließend Deutsch und Englisch spricht. Der Bus wird mit jedem Stopp voller und voller, und je länger die Fahrt dauert, desto mehr bekomme ich das Gefühl, auf einer Klassenfahrt zu sein. Meine Mitreisenden fragen sich allerdings, weshalb ich daran teilnehme. Sie wollen wissen, warum ich mir diese dreißigstündige Bustortur antue. Völlig untypisch für einen Deutschen, sagen sie. Diejenigen, die nach Bulgarien kämen, würden schließlich alle fliegen. Und das auch nicht nach Sofia, sondern direkt an die Schwarzmeerküste.
Ich erkläre ihnen meinen Plan: Ich bin Lehrer an einer Hamburger Schule, wo ich Schüler ehemaliger Internationaler Vorbereitungsklassen unterrichte. In diesen Klassen haben die Kids für ein Jahr Deutsch gelernt, erfolgreich eine Prüfung absolviert und befinden sich nun, kurz vor dem Übergang in Klasse 11, auf dem steinigen Weg in Richtung Schulabschluss. In meiner Klasse gibt es gleich zwei Schülerinnen aus Bulgarien, eine von ihnen ist Raina, die nach den Ferien immer zu spät kommt und die Schuld den Busfahrern gibt. Außerdem empfehlen beide Bulgarien als schönes Reiseziel. Sie schwärmen von Gastfreundlichkeit, ursprünglichen Landschaften und wunderschönen Stränden mit Sonnenscheingarantie. All dies möchte ich gerne kennenlernen.
Konstadin schaut mich verblüfft an. Wahrscheinlich fragt er sich, was mit diesem Deutschen nicht stimmt. Entweder sitzt neben ihm ein völlig verrückter Kontrollfreak oder einer, der nicht weiß, was er mit seiner Zeit anstellen soll. Oder beides. Dann lacht er laut auf, haut mir mit der flachen Hand auf den Oberschenkel und bietet mir Käsebrot und Süßigkeiten an.
Die Fahrt dauert und dauert. Nach Bayreuth kommen wir nach Erlangen, Nürnberg, Regensburg, Passau und Wien. In jeder Stadt nimmt der Fahrer weite Umwege in Kauf, um noch mehr Leute einzusammeln. Es ist jetzt mitten in der Nacht, und die Neuankömmlinge wirken, als hätten sie schon Stunden am Straßenrand gewartet. Die versprochene Ankunftszeit in Sofia ist auf diese Weise auf keinen Fall zu schaffen. Irgendwo kurz vor der ungarischen Grenze wird dann auch Konstadin ungeduldig. Lauthals beschwert er sich beim Busfahrer über Missmanagement und beschwört deutsche Tugenden. In Germania gebe es so etwas wie einen Zeitplan, man würde so eine Fahrt anders und vor allem besser organisieren.
Mittags in Ungarn steht die erbarmungslose Sonne auf dem Bus. Es ist unerträglich heiß, und obwohl die Fahrt jetzt schneller geht, weil keine neuen Passagiere mehr zusteigen, ist von der anfänglichen Urlaubsstimmung nicht mehr viel übrig. Apathie und Langeweile machen sich breit, die schnurgerade und fast leere Autobahn durch die ungarische Puszta wird zur Geduldsprobe.
Am späten Nachmittag überqueren wir endlich die Grenze nach Serbien. Je näher wir der bulgarischen Grenze kommen, desto lauter wird das Heimatbashing. Die fröhliche Stimmung ist endgültig gekippt. Nichts funktioniert, alles marode, Politiker korrupt. Als dann noch, nach mittlerweile 38-stündiger Fahrt, der Bus ausgerechnet auf der Zielgeraden kurz vor Sofia schlappmacht, ist das Gezeter groß. Katastroph! Unter großen Anstrengungen und im Schweiße ihres Angesichts gelingt es den Fahrern nach etwa zwei Stunden schließlich doch, den altersschwachen Motor wieder zum Laufen zu bringen.
Der Unmut der Fahrgäste ist durchaus berechtigt, wie ich finde: Es ist mittlerweile vier Uhr morgens, und viele haben ihre Anschlussmöglichkeiten in die Provinz verpasst. Sie richten sich auf dem Bahnhofsvorplatz ein, strecken sich lang aus mit ihrem Gepäck als Kopfkissen. Völlig zermürbt und kaputt von der Fahrt stehe auch ich am Bahnhof und denke an Raina. Auch sie muss von hier noch weiterfahren. Fast 500 Kilometer bis nach Dobritsch in Nordostbulgarien. Ich weiß jetzt: Ihre Fehlzeiten sind unbedingt zu entschuldigen. Nach über vierzig Stunden Busfahren brauche ich jetzt dringend den empfohlenen Erholungsurlaub in den Bergen und am Schwarzen Meer.

Nach drei Tagen Regeneration in Sofia fühle ich mich bereit, wieder in einen Bus zu steigen und mich dorthin auf den Weg zu machen. Zwei Wochen später fliege ich von Varna zurück nach Hamburg. Beim Blick aus dem Fenster gehe ich im Geiste meine Klassenliste durch. Wie wäre es, ich würde noch etwas weiter über meinen Hamburger Tellerrand blicken? Mich noch viel länger in fremden, mir bislang unbekannten Ländern und Gesellschaften aufhalten?
Afghanistan, Ghana, Spanien, Italien, Rumänien, Kosovo, Russland, Kolumbien, Nicaragua, Südkorea, Polen, Kroatien, Mazedonien, Armenien, Kasachstan, Iran, Albanien, Griechenland, die Schweiz und die Ukraine.
Diese Länder fallen mir ein. Ich würde die Lehrerrolle für eine Weile aufgeben und selbst wieder Lerner sein. Der Gedanke elektrisiert mich.

Hamburg
Im nächsten Schuljahr bereiten sich die Schüler auf den mittleren Abschluss vor, und ich plane meine Reise-Auszeit. Dafür beantrage ich ein Sabbatjahr, welches nur Tage später bewilligt wird. Welch Freude! Besonders praktisch ist, dass ich gewissermaßen täglich direkt an der Quelle sitze, um Ratschläge, Hinweise und Tipps zu bekommen, wie sie nur von echten Kennern, von Einheimischen eben, zu erhalten sind. Was muss ich unbedingt sehen, was darf ich auf keinen Fall auslassen, was unter keinen Umständen tun? Im Englischunterricht fordere ich meine Klasse 10d auf, mir Reiseführer für ihre Heimatländer zu basteln inklusive kleiner Sprachführer, damit ich wenigstens auf Begrüßungen reagieren und etwas zu essen bestellen kann. Wieder einmal wird mir klar, was für eine kognitive Leistung es eigentlich ist, Deutsch zu lernen und nur drei Jahre später eine Abschlussprüfung zu schreiben. In einem Farsikurs, den ich in der Volkshochschule belege, komme ich selbst an meine Grenzen. Mehrfach werde ich ermahnt, doch bitte die Hausaufgaben zu machen, sonst würde das nichts werden mit Small Talk im Iran.
Sprechen wollte ich Farsi, oder besser Dari, wie der afghanische Dialekt heißt, eigentlich in Kabul. Im ersten Schulhalbjahr habe ich viele Kontakte angebahnt und Möglichkeiten ausgelotet, nach Afghanistan zu reisen. Das Land sollte die erste Station auf der Reise zu meinen Schülern werden. Ich sprach mit NGOs, Journalisten, einer Lehrerin an der Deutschen Schule in Kabul und musste nach einiger Zeit einsehen, dass es schwierig werden würde, das Land als Zivilist zu besuchen. Als Tanims Vater mich dann warnte und bat, Abstand von dieser Idee zu nehmen, gab ich endgültig auf. Eines Tages, versprach er mir, werde er mich nach Afghanistan einladen. Aber zunächst müsse er ganz in Deutschland ankommen und sein Heimatland sich beruhigen. Das verstehe ich gut. Ich wünsche ihm, dass seine Vision von Afghanistan Realität wird, in der er wieder als Bauingenieur Schulen planen kann, ohne dafür mit Waffen bedroht und vertrieben zu werden. Ich werde meine Reise im Iran beginnen und auch dort sicher auf Afghanistan treffen, versichert mir Tanims Vater.
In der Schule sind in diesem Jahr Englischkurse für die Internationalen Vorbereitungsklassen hinzugekommen. Neben Deutsch werden auch die Kernfächer unterrichtet, damit der Übergang in die Regelklassen möglichst reibungslos verläuft. Es sind alle Niveaustufen dabei, von Anfängern bis hin zu native oder near-native speakers. Letztere fallen unter meine Obhut, was für meine Pläne großartig ist. Potenziell kommen mit diesem Kurs folgende Länder als Ziele hinzu:
China, Syrien, Neuseeland, Jordanien, Japan, Weißrussland, Norwegen, Indien, Dänemark, USA, Türkei, Serbien, Nigeria, Somalia, Sudan, Pakistan, Taiwan, Ecuador, Kanada, Sierra Leone, Großbritannien, Frankreich, Norwegen und Eritrea.
45 Länder innerhalb eines Jahres zu besuchen ist wohl ein bisschen viel. Ich bleibe der 10d treu, schließlich geht es mir um mehr als nur die Stempel im Pass. Trotzdem erhalte ich auch von diesem Kurs viele Reiseführer. Bei der Vorstellung der kleinen Hefte sind alle beeindruckt von der unfassbaren Vielfalt: Alle Kontinente außer der Antarktis kommen in diesem Raum in ausgesprochener Harmonie zusammen. Ich finde das regelrecht fantastisch und merke, wie viele unterschiedliche Weltanschauungen hier versammelt sind und wie viel wir voneinander lernen können. Ich bin kein Freund des großen Pathos, aber diese Stunden fernab der bildungsbehördlichen Curricula sind wirklich bewegend.
Am Ende des Schuljahres bestehen alle die Abschlussprüfungen. Die Nervosität war groß, die Erleichterung ist nun umso größer. Mich freut besonders, dass die meisten ihre Schulkarriere in Deutschland bis zum Abitur fortsetzen. Ich ziehe meinen Hut vor der 10d. Wenn ich mir vorstelle, meine Eltern wären mit mir als dreizehnjährigem Teenager in den Iran oder nach Russland gezogen und ich hätte dort mit sechzehn oder siebzehn eine Abschlussprüfung auf Farsi oder Russisch bestehen müssen – es ist nicht unwahrscheinlich, dass ich kläglich gescheitert wäre. Zum Glück bin ich heute über zwanzig Jahre älter und weiß, was ich tue. Es ist Zeit aufzubrechen.
Als Erstes in den Iran. Ich bin sehr gespannt, ob nicht trotz mangelhafter Hausaufgabenmoral in der Volkshochschule ein paar sinnvolle Floskeln hängen geblieben sind, die mir den Start erleichtern. Der Konsulatsmitarbeiter in Hamburg, der mir eines Morgens ein vierwöchiges Visum in den Pass geklebt hat, reagierte auf mein freudiges „Sobh be kheyr“ (Guten Morgen) völlig emotionslos mit einem sehr trockenen „Good Morning“. Ernüchternd. Nach Ablauf des Visums werde ich den Iran dann Richtung Norden nach Armenien verlassen, um von dort über Georgien auf den Westbalkan zu gelangen. Das Kosovo und Albanien wurden in meiner Klasse stets als spannende Reiseziele gepriesen. Mein Weg zurück nach Hamburg führt mich durch Italien und Polen, und dann, zu Beginn der kalten Jahreszeit, wartet meine Freundin Luisa am Flughafen auf mich, in den Händen unsere Reiseführer für Kuba, Nicaragua und Kolumbien. Das ist der Plan. Später soll es über den Pazifik und mit der Eisenbahn zurück nach Hause gehen. Und ich will unbedingt Ghana bereisen. Mal sehen, Zukunftsmusik. Erst mal los.



Teil 1

Iran
In meinem Reiseführer steht: Iran is a beautiful country. Just go and find out for yourself!
Ich habe gedacht, das steht da, weil Bahram, der Schüler, der das geschrieben hat, keine wirkliche Lust hatte, einen ausführlichen Reiseführer für seinen Lehrer zu verfassen. Womöglich stimmt das sogar, aber ich unterstelle wohlwollend, dass er genau wusste, was er tat, denn eigentlich sind diese zwei Sätze das Einzige, was man über eine Reise in das Land wissen muss. Jede Vorbereitung ist sinnlos, da das, was man gehört oder gelesen hat, sowieso nicht deckungsgleich ist mit der Realität, auf die der Einzelne trifft. Im Iran gibt es ganz viele parallel existierende Realitäten, von denen ich einige entlang der Städte, die mir der Reiseführer ohne präzise Ausführungen vorschlägt, kennenlerne. Bahram hat also geradezu philosophische Umsicht bewiesen.
Zunächst einmal ist da der offizielle Iran, der einen am Flughafen Imam Khomeini empfängt. Der namengebende Revolutionsführer ist es auch, der streng und überlebensgroß von einem Plakat auf die Reisenden in der Ankunftshalle herabschaut und sie in der Islamischen Republik begrüßt. Bei seinem Anblick kommt mir der Gedanke, dass die iranische Revolution ein Marketingproblem hat. Würde ihr Führer etwas gütiger gucken und nicht wie das fleischgewordene Böse, wäre das Image dieser Islamischen Republik vielleicht nicht ganz so miserabel. Andererseits symbolisiert er absolute Macht im Namen Allahs – ein netter Gesichtsausdruck ist da vielleicht irreführend und setzt falsche Signale.
Auch alle Banknoten, die ich bald nach meiner Ankunft vor dem Flughafen tausche, werden geziert von seinem grimmigen Antlitz. Wie viele Khomeinis ich denn wolle, fragt der windige Devisenhändler grinsend und hebt den Namen des toten und doch omnipräsenten Führers spöttisch hervor. Da der Iran vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnitten ist, Ausländer also nur bar bezahlen können, entgegne ich: „Viele“, und halte ihm einen Teil meines Reisebudgets in Euro hin. Er zählt und zählt und überreicht mir irgendwann einen fast ziegelsteingroßen Batzen Geld. Ich bin Khomeini-Millionär! Die Inflation der letzten Jahre führte zu irrwitzigen Beträgen, mit denen die Iraner jeden Tag hantieren. Ein paar Rial, so heißt die Währung offiziell, stecke ich lässig wie ein Local in meine Hemdtasche, den Rest in verschiedene Depots in meinem Gepäck.
Eine andere Realität der Stadt ist, dass sie an ihren Abgasen zu ersticken droht. Der Verkehr ist wahnsinnig und raubt jedem Neuankömmling die Sinne. Wäre ich Verkehrsminister, ich würde unbedingt leise schnurrende Elektromotorräder subventionieren, um den Höllenlärm, besonders verursacht von Zweirädern, erst einmal auf die vierrädrigen Vehikel zu reduzieren. Parallel dazu müsste es natürlich massive Investitionen in das öffentliche Nahverkehrsnetz geben, auf das schon heute viele Menschen ausweichen und das entsprechend voll ist. Dieser Umstand führt mich an meinem ersten Tag in Teheran in zwei weitere Realitäten des Landes. Die der Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum und die der legendären Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Menschen:
In Teheran gibt es zwar ein funktionierendes U-Bahn-Netz, das allerdings nicht ausreicht, um alle Stadtteile miteinander zu verbinden. Viele Tunnel mehr müssten gegraben werden für all die Pendler und Reisenden. Das ist auch geplant, bis zu deren Fertigstellung dauert es aber noch. Bis dahin müssen sich die Teheranis mit Expressbussen zufriedengeben. Diese Busse haben Extraspuren auf den Stadtautobahnen und freie Fahrt. Eigentlich eine gute Idee, nur reicht ihre Kapazität nicht aus.
Bei meinen Versuchen, einen Expressbus zu besteigen, scheitere ich kläglich. Resigniert stehe ich an der Haltestelle im Bereich für Männer und sehe Bus um Bus vor meiner Nase wegfahren. Ich habe einfach keine Chance, in eines der hoffnungslos überfüllten Gefährte einzusteigen. Es ist erstaunlich, auf wie wenig Raum sich so viele Menschen pressen lassen, denke ich noch, als mich der für die Haltestelle zuständige Fahrkartenkontrolleur anspricht und an die Hand nimmt. Er will mir helfen, im nächsten Bus einen Platz zu ergattern. Dazu bugsiert er mich in den Bereich der Haltestelle, der eigentlich ausschließlich für Frauen reserviert ist, und drängt mich bei Ankunft des Busses durch die Tür. Die mitreisenden Damen gucken verblüfft, als ich die Geschlechtertrennung im öffentlichen Personennahverkehr zwangsläufig aufhebe. Der Kontrolleur schiebt mich immer weiter in Richtung Fahrer bis ganz nach vorne und weist auf einen Platz direkt neben dem Mann am Lenkrad. Darauf nehme ich Platz, der Bus fährt an, und ich traue mich nicht, mich umzudrehen. Unmittelbar hinter mir wähne ich lauter Frauen in schwarzen Tschadors, die mich missmutig und übellaunig anstarren, und dahinter, eingepfercht in ihrem Abteil, die Männer, in deren Verdrängungswettkampf um ein bisschen Platz ich so erbärmlich versagt habe. Unsicher schaue ich stur geradeaus durch das Fenster, als mich von hinten eine sanfte Stimme anspricht. Ich drehe mich um und blicke in erheiterte Gesichter, die mich, umrahmt von Kopftüchern, allesamt aufmunternd lächelnd anschauen. Sogar eine alte Frau, deren moralinsauren Blick ich besonders gefürchtet hatte, wirft mir ein warmes „Welcome to Iran“ zu.
Die sanfte Stimme gehört Behnaz, einer Künstlerin, wie sich später herausstellt. Ich habe ihr im Bus auf ihre Nachfrage meine Telefonnummer gegeben, sie ein paar Tage später getroffen und so weitere iranische Realitäten kennengelernt: die der Paranoia, der Kreativität und der Verzweiflung, wenn man sich nicht dem System anpassen kann und will, und wer kann das schon, wenn man nicht das tun darf, was man gerne macht.
Behnaz treffe ich in ihrem Atelier im Norden der Stadt, wo die besser gestellten Tehranis wohnen. Hier oben in den südlichen Ausläufern des Elburs-Gebirges weht ein frisches Lüftchen, der Verkehr ist nicht ganz so übel, und man kann manchmal den Horizont sehen. Das Beverly Hills Teherans sozusagen. Wie in Kalifornien mangelt es auch hier nicht an frischen Ideen. Behnaz zeigt mir ihr letztes Projekt, in dem sie sich kritisch mit der Verschleierung von Frauen auseinandersetzt. Sie kann es nicht ertragen, dass Frauen, insbesondere solche aus konservativen Familien, sich von einem Stück dunklen Stoffs knechten lassen müssen. Der Tschador mache Frauen unsichtbar, sagt sie, und führe zu enormer Verunsicherung ihrer Trägerinnen, die sie nie wieder abschütteln könnten. Warum denn nicht alle so luftige Kopftücher tragen wie sie, will ich wissen, und ob es eine offizielle Vorgabe gibt. Mir ist nämlich schon aufgefallen, dass es ganz unterschiedliche Auslegungen der öffentlichen Kleiderordnung gibt. Das hänge allein von der Erziehung und der Situation zu Hause ab, erklärt sie. In konservativen Familien ist ab dem Teenageralter Tschador angesagt, in offeneren Haushalten wie dem ihren wird der schwarze Stoff durch farbenfrohe Hidschabs ersetzt. Hauptsache, in der Öffentlichkeit sind das Haar und der Nacken bedeckt, dafür sorgt die Sittenpolizei, über deren Präsenz sich alle im Klaren sind und die die Regeln je nach Bedarf mal strenger und mal weniger streng auslegt.
Die Sittenpolizei sorgt auch dafür, dass Behnaz ihre Kunst nicht im öffentlichen Raum ausstellen darf und im Internet nur unter falschem Namen unterwegs ist. Geld verdienen mit dem, was sie am liebsten macht, ist also nicht drin. Das geht nur im Ausland, und da will sie hin, wie so viele andere auch. Das Problem mit dem Ausland ist allerdings ein Visum – und, noch viel wichtiger, im Ausland stoße sie mit ihrem Anliegen wohl auf großes Verständnis, für die eigentlichen Adressaten bleibe ihre Kunst aber weiterhin unsichtbar.
Auf meinem Rückweg durch die Stadt achte ich verstärkt auf die Art, wie Frauen sich in Teheran kleiden. Mir fallen ganz unterschiedliche Variationen von Kopfbedeckungen auf, ich erkenne konservative Familien und freiheitsliebende Individualistinnen, und mir wird klar, wie viel Mut es braucht, die Grenzen der Regeln auszuloten. Beim Anblick eines Mädchens, das ein Iron-Maiden-Shirt trägt, abgewetzte Chucks und einen Nasenring, kombiniert mit einem lax im Nacken hängenden Schal, denke ich an meine Schüler und ihre oft hilflosen Versuche zu provozieren. In Deutschland gar nicht so leicht, meinen Kollegen und mir ringt höchstens plötzliche Vollverschleierung eine Reaktion ab, in Iran ist die Wahl der Garderobe im öffentlichen Raum ein Drahtseilakt und ein hochpolitisches Statement, das im schlimmsten Fall körperliche Maßregelung nach sich zieht. Oh Iran, warum tust du deinen Frauen das an?

Afghanistan im Iran: Seekers of Knowledge
Die Schule mit dem ambitionierten Namen Seekers of Knowledge liegt nicht in Afghanistan. Sie liegt in den westlichen Randbezirken der iranischen Hauptstadt Teheran. Hier unterrichten engagierte Ehrenamtliche aus der Stadt Flüchtlingskinder aus dem benachbarten Afghanistan, die im Iran keinen Anspruch auf den Besuch einer staatlichen Schule haben. Schätzungsweise zwischen zwei und drei Millionen Einwanderer aus dem Nachbarland leben im Iran, genaue Zahlen kennt niemand. Auch in zweiter Generation bekommen die Afghanen keinen Zugang zu Bildung und damit auch nicht zum regulären Arbeitsmarkt, selbst die Kinder der vor Jahrzehnten Geflüchteten haben also keine Aussicht darauf, jemals ein geregeltes Leben im Iran führen zu können.
Ich wurde von Reza, einem der Ehrenamtlichen, eingeladen, ihn in der Schule zu besuchen und zu sehen, wie er und seine Kolleginnen den circa 250 Schülerinnen und Schülern Englisch beibringen. Die über zweistündige Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch den mörderischen Verkehr des Fünfzehn-Millionen-Molochs Teheran ist nervenzerfetzend und wahnsinnig anstrengend. Alle Kollegen nehmen diese Tortur regelmäßig auf sich, was allein schon große Anerkennung verdient. Rezas Kolleginnen, an diesem Tag Anahita und Azadeh, sind mit demselben Feuereifer dabei wie Reza selbst. Sie wollen den Menschen ein Stück ihrer Würde zurückgeben und wenigstens für ein Mindestmaß an Bildung sorgen.
Wie im Iran üblich, werden die Schüler auch bei den Seekers of Knowledge getrennt nach Geschlechtern unterrichtet. Alle haben Uniformen an, die Jungs dunkelblaue Hosen und ein hellblaues Hemd, der Dress der Mädchen wird mit einem taubenblauen Kopftuch abgerundet. Bei Anahita geht es heute für die ganz kleinen Jungs um das lateinische Alphabet. In dem viel zu kleinen Raum drängen sich bis zu drei Schüler auf einer Schulbank, es ist heiß, der Ventilator rattert. Der Reihe nach werden Schüler nach vorne gerufen, um dort Buchstaben an die Tafel zu schreiben. Das ist nicht so einfach, es scheitert oft schon daran, dass die Stifte nur schlecht funktionieren, aber auch an nicht gemachten Hausaufgaben und fehlendem Arbeitsmaterial zu Hause.
Es sei sowieso schon ein kleines Wunder, dass die Eltern ihre Kinder überhaupt hierherschickten, sagen die Lehrerinnen, schließlich müssen die Kids oft zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Die Väter verdingen sich als Tagelöhner auf dem Bau, in der Gastronomie, auf Teherans gigantischem Basar und überall dort, wo sonst noch billige Arbeitskräfte gebraucht werden, während sich ihre Kinder durch übervolle U-Bahnen und Busse quälen oder sich durch den dichten Verkehr schlängeln, beladen mit schweren Plastiktaschen, um daraus allerlei Billigware wie Selfiesticks, Kopfhörer oder auch Plüschtiere zu verkaufen. Auf meinem Weg zur Schule habe ich einen Jungen gesehen, der rote Pappnasen verkaufte. Ein zynisches Bild. Das sind oft die Kinder der Einwanderer aus Afghanistan, bestätigt Anahita. Unter solchen Umständen bekommen Hausaufgaben, ja Schulbesuche insgesamt einen ganz anderen Stellenwert.
Der Unterricht geht weiter, bis Suleiman über das kleine e stolpert. Er schafft es nicht, den Buchstaben für die Lehrerin zufriedenstellend an die Tafel zu bringen. Nervös trippelt er von einem Fuß auf den anderen, seine Mitschüler lachen. Ich kann ihn ganz gut verstehen: In dem Sprachkurs zur Vorbereitung auf diese Reise und zum besseren Verständnis meiner Hamburger Schüler habe ich versucht, des persischen Alphabets Herr zu werden. Bei meinen unbeholfenen Schreibversuchen wurde ich oft von meinem gestrengen Lehrer gerügt: „Am besten lernt man durch Wiederholung“, sagte er dann und forderte mich auf, immer weiter das persische Wort für Wasser (āb) in mein Heft zu schreiben: اب, اب,اب
Eine halbe Seite später war mein kalligrafischer Ausdruck dann in den Augen des nach Perfektionismus strebenden Lehrmeisters in Ordnung, und es ging weiter mit baba (Papa). Dann baradar (Bruder). Es ist gar nicht so einfach, ein fremdes Alphabet zu lernen. Mich haben schon die zwei simplen Buchstaben a und b an den Rand der Verzweiflung gebracht.
Bohrende Ermahnungen bleiben Suleiman heute erspart. Anahita korrigiert und beendet die Stunde. In der Pause stellt Reza mir Shabana vor. Sie ist neunzehn und die beste Schülerin der Seekers of Knowledge. Sie spricht hervorragend Englisch, und so kommen wir ins Plaudern. Ihre Geschichte erinnert mich sehr an die der Schüler, die ich aus meiner Hamburger Schule kenne: geflohen mit ihrer Familie aus Afghanistan vor Krieg, Terror, Chancen- und Arbeitslosigkeit, in den Iran gekommen über die grüne Grenze zu Pakistan mithilfe eines Schleppers. Gelandet ist Shabana schließlich in diesem trostlosen Vorort Teherans, wo sie mit vielen anderen Leidensgenossen aus ihrem Heimatland lebt.
In Anbetracht der Situation hier kann ich verstehen, warum die Eltern meiner Schüler sich entschlossen haben, weiterzuziehen oder, und auch das gibt es oft, ihre Kinder alleine loszuschicken, um später selbst nachzukommen, wenn die Umstände es zulassen.
Dass diese Situation schwer zu ertragen ist, weiß auch Reza, und der iranische Staat weiß es auch. Das Bildungswesen sei zwar insgesamt gut, aber die Kapazitäten reichten schlicht nicht aus, erzählt Reza. Der Iran hat selbst große Probleme, das Land kann diese Aufgabe nicht alleine stemmen. Als Zeichen des guten Willens beschloss das Bildungsministerium in diesem Jahr, allen Flüchtlingen aus Afghanistan im schulpflichtigen Alter den Zugang zu staatlichen Schulen zu ermöglichen. Ein Lippenbekenntnis, passiert ist bisher nichts, die Seekers of Knowledge haben mehr Zulauf denn je.
Auch Shabana weiß all das und ist verzweifelt. Sie sagt, selbst wenn sie jetzt noch eine iranische Schule besuchen dürfte, würde sie doch nie für eine Uni zugelassen werden. Sie wollte immer Ärztin werden, um später den Menschen in Afghanistan zu helfen. Sie weiß, dass sich dieses Ziel hier nicht erreichen lässt, und deshalb fragt sie vorsichtig, ob es vielleicht eine Möglichkeit gebe, nach Deutschland zu kommen.
Auf diese Frage hätte ich vorbereitet sein müssen. Ich kann sie nicht beantworten. Hilflos suche ich nach einer passenden Antwort, wissend, dass es für Menschen wie Shabana wohl nahezu unmöglich ist, legal nach Deutschland einzureisen. Sie ist neunzehn, hat keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung. Mir bricht es das Herz. Gerne würde ich ihr von den Erfolgsgeschichten der afghanischen Schüler an meinem Hamburger Gymnasium erzählen, die eine ähnliche Biografie haben wie sie: von Stipendien für Eliteinternate und bestandenen Prüfungen, von Zugangsberechtigungen für deutsche Unis, von Familiennachzug und Arbeitserlaubnissen für die Eltern. Doch das tue ich nicht, ich will sie nicht ermutigen, die Flucht nach Westen fortzusetzen. Denn ich kenne auch die Geschichten derer, die nicht so viel Glück hatten. In denen geht es um lebensgefährliche Überfahrten, langes und bleiernes Warten in vorübergehenden Unterkünften in verschiedenen europäischen Ländern, Suizidversuche aus Heimweh und Einsamkeit, um Familientragödien, Depressionen und permanente Angst vor Abschiebung. Aber auch davon erzähle ich nichts. Ich sage nur, dass es dieser Tage für Flüchtlinge aus Afghanistan schwer möglich sei, in Deutschland überhaupt anzukommen.
Shabana ist enttäuscht. Zu Recht. Da kommt jemand den weiten Weg aus Deutschland, nur um ihr diese Nachricht zu überbringen. Es ist unfair, dass ein offenbar sehr talentiertes, weltoffenes und intelligentes Mädchen nicht die Chancen erhält, die für mich selbstverständlich waren und die für alle deutschen Schüler selbstverständlich sind.
Was also tun? Reza verspreche ich, mich nach meiner Rückkehr nach Deutschland um Stifte zu kümmern. Außerdem bin ich zuversichtlich, dass meine Schule noch ein paar Englischbücher entbehren kann. Ich befürchte allerdings, dass ein paar Stifte und ein paar Bücher Menschen wie Shabana nicht zum Bleiben bewegen werden. In ihren Augen funkelt Entschlossenheit. Sie wird ihr Schicksal nicht einfach so akzeptieren, sie wird alles daran setzen, herauszukommen aus diesem tristen Teheraner Randbezirk, und es woanders auf der Welt versuchen. Auch hat sie keine Zeit, darauf zu warten, dass sich die Bedingungen in ihrer Heimat bessern. Sie will leben, und deshalb wird sie allen Schwierigkeiten und Gefahren zum Trotz ebenfalls aufbrechen und ihr Glück in Westeuropa suchen. Wer kann es ihr verdenken? Ich jedenfalls nicht. Ach, Iran, Afghanistan und der Rest der Welt. Irgendwie müssen wir gemeinsam eine Lösung finden.

Defizitorientierung
Die Basare des Iran sind schlicht wundervoll. In labyrinthartigen Gängen und Hallen befinden sich Hunderte kleine Stände, die alles, was der Mensch zum Leben braucht, und noch ein bisschen mehr, grell illuminiert in ihren Auslagen zum Kauf anbieten. Diese Orte des Handels und der sozialen Zusammenkunft sind oft jahrhundertealt und haben sich einen besonderen Zauber bewahrt. So auch in Kashan, einer kleinen Stadt am Rande der Dasht-e Kavir, einer der trockensten Wüsten der Welt. Man kann sich vorstellen, wie schon zu Zeiten der Seidenstraße hier Waren begutachtet wurden, bei Tee und Shisha hart gefeilscht wurde und es nach zähen Verhandlungen am Ende doch zu einem Geschäftsabschluss kam.
Eine vollkommen authentische Erfahrung – so würden Reiseanbieter in ihren Prospekten werben. Aber es stimmt tatsächlich. Während ich da so sitze bei einem Tee in einem bauchigen Gläschen, beobachte ich die Kashaner Bevölkerung dabei, wie sie ihre alltäglichen Einkäufe erledigt, und freue mich darüber, dass es eine Welt gibt, die nicht dominiert wird von den Marken großer Ketten und Einkaufszentren. Tee trinken vor einem Lidl-Markt ist sicher langweiliger. In Iran dagegen ist man auf einem Basar nie lange allein, erst recht nicht Tee trinkend. Zu mir gesellt sich Emran, ein arbeitsloser Soziologe. Solche Abschlüsse führen im Iran selten zu Jobs oder gar zu finanziellem Erfolg, sagt er und lacht bitter. Das ist eine Sache, die Deutschland und der Iran gemein haben, antworte ich, warte aber vergeblich auf eine Reaktion. Seinen Lebensunterhalt verdient er zurzeit mit Gartenarbeiten in Hotels und schaut kurz sorgenvoll drein, findet aber schnell seine gute Laune wieder, als er über den großen persischen Dichter Hafis (1315 – ca. 1390) zu sprechen beginnt. Zu seiner Zeit konnte man mit den schönen Künsten glänzen, das gute Leben mit seinen Genüssen war hoffähig, nachzulesen in den Werken Hafis’, in denen es um Alkohol, verliebte Schwärmereien und Sinnlichkeit geht. Mit Hafis kann ich noch etwas anfangen, ich hatte sogar von Goethes huldvoller Zuneigung zu ihm gelesen. Nicht so sehr allerdings mit Omar Chayyām, dessen Werk Emran mir als Nächstes ans Herz legt. Er schaut enttäuscht, als er feststellt, dass ich den Namen dieses bedeutenden Universalgelehrten aus dem 11. Jahrhundert nicht kenne. Plötzlich fühle ich mich elend und ignorant. Bezogen auf Europa ist das in etwa so, als hätte ich noch nie von Leonardo da Vinci gehört, wie ich später bei einer Recherche feststelle.
Dies nehme ich mal als Metapher für den Umgang Europas mit dem Iran insgesamt. Wenig bis gar nicht kommen die Errungenschaften dieser großen Kultur in unserem Leben vor. In der Schule hören wir höchstens rudimentär von persischen Schriftgelehrten, Astrologen und Naturwissenschaftlern, und in der Uni muss man schon Iranistik studieren, um von bedeutenden persischen Menschen und deren Leistungen zu erfahren. Das ist kein besonders wertschätzender Umgang mit einer so bedeutenden Kulturnation wie dem Iran, denke ich schuldbewusst, als Emran nachlegt und mich mit den Sozialtheorien Max Webers konfrontiert, dem kategorischen Imperativ Immanuel Kants und seiner Faszination für Carl Friedrich Gauß und Sigmund Freud. Er kennt sich auch noch mit den Werken großer deutschsprachiger Intellektueller und Denker aus, er vereint das Beste aus allen Welten, bewundere ich ihn und fühle mich selbst sinnlos und oberflächlich. Bis eben hatte ich gedacht, für eine Reise in den Iran reiche es aus, sich knapp mit dem Koran auseinanderzusetzen, einen Film von Abbas Kiarostami zu schauen und die Reiseführer meiner Schüler zu lesen. Eben nicht! Schlagartig wird mir klar, dass ich nicht besser bin als all diejenigen, deren Iranbild sich auf fundamentalistische und amerikahassende Ajatollahs beschränkt. Vielleicht noch ein bisschen schlimmer, denn ich gebe vor, großes Verständnis für die Lage der Menschen im Land zu haben. Aber eigentlich habe ich keine Ahnung, was mich schlicht zu einem Heuchler macht. Iran, was soll ich sagen, du hast mich entlarvt!
Als ich im Nachhinein über das Gespräch nachdenke, wird mir besonders klar, wie schwierig es für meine Schüler sein muss, die Inhalte deutscher Schulbücher zu durchdringen. Vor allem in Fächern wie Geschichte und Politik ist es nicht nur die Fachsprache, die ihnen zu schaffen macht, sondern es sind ebenso die für jeden Deutschen geläufigen Namen wie Bismarck, Ludwig Erhard oder Helmut Schmidt, die sie vor große Rätsel stellen. Hinter diesen Namen verbergen sich Konzepte, Ideen und Weltanschauungen, die für jeden Muttersprachler leicht zugänglich sind – allein schon durch die Vertrautheit der Namen. Das wird schwieriger, wenn der Name nichts auslöst, wie mir am Beispiel Ali Shariatis bewusst wird, eines iranischen Revolutionärs, der zu Zeiten des Kalten Krieges von sich reden machte, als er einen dritten Weg neben Kapitalismus und Kommunismus propagierte.
Auch von ihm sprach Emran, und ich habe viele Anläufe gebraucht, um ihn endlich bei Google zu finden, weil ich mir nur den ungefähren Klang seines Namens hatte merken können. Ich nehme mir vor, den Denkern der Welt mehr Wertschätzung entgegenzubringen, indem ich mich mit ihnen auseinandersetze, sie vor allem auch in der Schule thematisiere und sie gemeinsam mit den Schülern mit den wichtigen Persönlichkeiten aus deutschen Lehrplänen abgleiche. So bekommen wir dann alle ein besseres Gespür für die großen Zusammenhänge.
Zurück im Kashaner Teehaus äußert Emran noch einen interessanten Gedanken. Wir sind mittlerweile angelangt bei der hohen Arbeitslosigkeit im Land und der Frustration, die viele Schul- und Uniabgänger empfinden, wenn sie verzweifelt versuchen, einen Job zu finden. Ob es hilfreich wäre, wenn die noch immer wirksamen Sanktionen vollends aufgehoben würden, frage ich. Emrans Antwort ist überraschend: Einerseits könnte das zumindest für einen kleinen Aufschwung sorgen, andererseits auch große Probleme verursachen. Zunächst würden die Basare verschwinden und durch Einkaufszentren wie überall auf der Welt ersetzt werden. Dadurch würde der Iran einen Teil seiner kulturellen Identität verlieren, seine Städte würden gesichtslos werden durch die Präsenz der ewig gleichen Shoppingmalls. Außerdem, und das darf man nicht unterschätzen, hängen viele Millionen Arbeitsplätze von den Basaren im ganzen Land ab. Diese würden dann verloren gehen, verdrängt von finanziell potenten Westfirmen. Die stolzen Bazaaris plötzlich Angestellte bei H & M, Carrefour oder Lidl! Unvorstellbar. Deshalb seien auch alle Händler sehr konservativ. Nicht so sehr aus religiösen Gründen, sondern in erster Linie, weil sie ihr Geschäft schützen wollten. Iran, du stolzes Land.
Ich verlasse Kashan mit einem Zug nach Yazd. Auf beiden Seiten die endlose Ödnis der Wüste, im Abteil ein amüsantes Gespräch mit zwei Zugbegleitern. Sie wundern sich, weshalb es Touristen gibt, die freiwillig in diese unattraktive Mondlandschaft reisen, und machen ihre Witze über die Schlichtheit von Mensch und Natur in dieser Gegend. Kurz vor der Ankunft am Zielort bin ich fast geneigt, ihnen recht zu geben, so reizarm wurde der Blick aus dem Fenster nach anfänglicher Wüsteneuphorie.
Dass die Gegend aber alles andere als schlicht ist, erfahre ich schon bald von Amir. Mir ist schon aufgefallen, dass sich scheinbar zufällige Begegnungen mit Menschen vor Ort schnell zu einer Art Verkaufsgespräch für Fahrt- und Reiseleiterdienstleistungen aller Art entpuppen. So war es auch bei ihm, und ich gehe ihm mehr oder weniger absichtlich auf den Leim, weil er charismatisch und lustig ist und offenbar weiß, wovon er spricht. Wir fahren also gemeinsam zum geheimnisvollen Turm des Schweigens, wie eine ehemalige zoroastrische Bestattungsanlage vor den Toren der Stadt genannt wird. Der Zoroastrismus, der vorislamische Glaube in Persien, sei keineswegs verschwunden, erklärt mir Amir auf der Fahrt. Neben kleinen Gemeinden in Iran selbst, in Indien, aber auch in den USA und Europa sei vieles vom zoroastrischen Glauben in alle anderen Religionen übergegangen. Die Maxime der Zoroastrier sei: Gutes tun, Gutes denken und Gutes sprechen – und dies finde sich unbestreitbar in allen Weltreligionen wieder. Man denke nur an die Zehn Gebote der Christen oder das Karma der Hindus. Auch die europäischen Aufklärer hätten im Prinzip nichts weiter als diese drei Leitgedanken formuliert. Es gehe sogar noch weiter, fährt Amir fort. Sogar durchaus spektakulär, wie ich finde, denn der Zoroastrismus hat Eingang in unser aller Sprachgebrauch gefunden. Der eine Gott, auch Zoroastrier sind Monotheisten, heißt Ahura Mazda. Und ebendiesen Ahura finden wir heute als Ausdruck von Freude in vielen Sprachen wieder. Hurra! Hooray! Hurrah! Ob Mazda von Japanern für den Namen einer Automarke geklaut wurde, kann Amir mir leider nicht sagen. Möglich sei das aber durchaus, überlegt er nachdenklich.
Interessant geht es weiter, als wir schließlich den Turm oder eher die Türme des Schweigens erreichen. Es sind zwei, wie schon aus der Ferne zu erkennen ist. Die Türme waren für die Riten der Zoroastrier von zentraler Bedeutung. Ihr Glaube sieht vor, dass die Erde, auf der wir leben, auf keinen Fall beschmutzt werden darf. Schon gar nicht darf sie von den Körpern der Toten kontaminiert werden, und deshalb musste man sich etwas Besonderes einfallen lassen: Die Türme sind eigentlich natürliche Berge, deren Gipfel flach sind. Hier wurden die Überreste der Verstorbenen von Totenwächtern abgelegt und damit den Geiern überlassen. Die Knochen, die übrig blieben, wurden dann Löchern auf dem Gipfel übergeben, immer noch weit genug weg vom Boden, auf dem wir leben. Bis in die Sechzigerjahre hinein wurde diese Praxis an diesem Ort durchgeführt, klärt Amir mich auf. Dann wurde sie verboten.
Es folgt ein weiteres Beispiel für meine grenzenlose Ignoranz, denn ich wittere in meiner lehrerhaften Defizitorientierung sogleich die Diskriminierung religiöser Minderheiten. Amir lacht laut auf. Er möchte mal sehen, wie lange deutsche Behörden es dulden würden, wenn plötzlich eine Religionsgruppe darauf käme, ihre Toten an Wildtiere zu verfüttern. Da ist was dran, Ordnungs- und Gesundheitsämter wären dieser Idee sicher nicht besonders zugeneigt. So ist es auch hier, das Verbot hatte ausschließlich hygienische Gründe, schließlich ist die Stadt im Laufe der Zeit immer näher an den Turm des Schweigens herangewachsen. Außerdem müsse ich doch wohl zugeben, dass das alles mehr als ekelig sei, diese Riesenvögel dabei zu beobachten, wie sie Fleischfetzen und Innereien aus den Kadavern rissen und sie dann noch permanent über der Stadt kreisen zu sehen, wissend, dass ihre einzige Nahrungsquelle tote Menschen seien. Ich gebe Amir recht, besonders, als mir auffällt, dass tatsächlich kein einziger Aasfresservogel zu sehen ist, und er bestätigt, dass die Geier kurz nach dem Verbot ganz aus der Gegend verschwunden sind. Als natürliche Nahrungsquelle eignet sich die Dasht-e Kavir nämlich nicht. Oh Mann, Iran, wie oft willst du mich noch blamieren. Heute bestatten die Zoroastrier ihre Toten übrigens in oberirdischen Gruften auf eigens angelegten Friedhöfen.

Abbas Normal Farmer
Zwischen Yazd und Schiras befinden sich viele Täler im Zagros-Gebirge. In einem dieser Täler liegt Bavanat, ein kleiner Bezirk inmitten eines Gebietes, das bis heute von Nomaden bewohnt wird. Nicht weit von der Bezirksstadt entfernt befindet sich das Dorf von Abbas Barzegar, Abbas Normal Farmer, wie er sich selbst nennt. Seine Geschichte ist wirklich erstaunlich und einigermaßen unwahrscheinlich, fast schon fantastisch und gerade deshalb erzählenswert. Seine Legende geht so:
Zu einer Zeit, als Abbas am Boden zerstört war, nicht wusste, wie er seine Familie ernähren sollte mit den paar Walnüssen und Trauben, die auf seinem Grund wuchsen, und dem bisschen Getreide, das er dem kargen Boden abringen konnte, und schon aufgeben wollte, geschah es: Es klopfte an der Tür. Draußen war es dunkel und stürmisch, und es regnete. Abbas wunderte sich, wer um diese späte Stunde bei diesem Wetter noch Einlass begehrte. Fast hätte er die Tür nicht aufgemacht, aus Angst, Missmut und Lustlosigkeit. Er tat es doch, und sein Leben nahm eine unglaubliche Wendung.
Vor seiner Tür standen zwei Motorradfahrer. Sie waren den weiten Weg aus Deutschland gekommen und nun in der Gegend von Abbas Normal Farmer von schlechtem Wetter überrascht worden. Ihnen war kalt, sie waren müde und hatten Hunger. Gott würde es glücklich machen, wenn ich den beiden helfe, dachte Abbas und bereitete den beiden eine Nachtstatt, während seine Frau ihnen ein Abendessen servierte. Zufrieden, satt und ausgeschlafen setzten die beiden sich am nächsten Morgen auf ihre Motorräder und fuhren davon. Abbas wollte kein Geld für seine Gastfreundschaft, doch die Reisenden bestanden darauf, ihm eine Aufwandsentschädigung dazulassen. Es war eine für Abbas ungeheuer hohe Geldsumme. So viel, wie er sonst nicht in einem Monat verdient.
Ein paar Tage später nur klopfte es wieder an der Tür von Abbas Normal Farmer. Skeptisch öffnete er auch diesmal und erblickte eine größere Gruppe Menschen. Sie kämen aus Yazd, sagten sie und eröffneten ihm, dass dort zwei Motorradfahrer von seiner Gastfreundschaft und dem guten Essen in seinem Hause berichtet hätten. Das wollten sie nun auch probieren und hätten deshalb einen Fahrer engagiert, damit sie in sein Dorf hätten gelangen können. Zu seiner Verblüffung kamen diese Menschen wieder aus Deutschland. Wieder bereitete er ein Lager für die Nacht und seine Frau ein üppiges Abendessen. Die Gruppe war begeistert und reiste am nächsten Tag nach einem Frühstück wieder ab, nicht ohne ihm eine noch beträchtlichere Geldsumme dazulassen. Abbas begann, Licht am Ende des dunklen Tunnels zu erkennen, durch den er sich so lange hatte schleppen müssen.
Der Fahrer der Gruppe fuhr nun regelmäßig nach Bavanat zu Abbas Normal Farmer. Er war auch kein Fahrer mehr, sondern Reiseleiter, und er war umso erfreuter, als er erfuhr, dass Abbas’ Frau eine Nomadin gewesen war, bevor sie ihn geheiratet hatte. Nomadische Kultur ist für Touristen aus dem Westen besonders exotisch, die kennen sie nicht und wollen deshalb gerne sehen, wie Nomaden so leben, wusste der Reiseleiter aus Yazd. Also organisierte Abbas Normal Farmer kurze Ausflüge in die Lager der Nomaden mit seinem neuen Auto. Die Touristen waren begeistert und noch begeisterter davon, dass sie bei ihm zu Hause traditionell nomadisches Essen bekamen. An Abbas’ Tür klopfte es jetzt fast täglich.
Das alles passierte zu Beginn der Zweitausenderjahre, und Abbas weiß, dass er sich nur an folgenden Grundsatz halten muss: I’m happy, you’re happy, God is happy! Denn solange Menschen sein Haus glücklich verlassen, werden andere kommen, um auch glücklich zu sein. Sind sie das, lassen sie Geld da, was wiederum Abbas glücklich macht und andere Dorfbewohner, die dann für Abbas arbeiten können und dafür gut bezahlt werden. Sein Erfolg wäre wohl nicht möglich gewesen ohne die Bescheidenheit, die er sich bewahrt hat: Noch heute sei er nur Abbas Normal Farmer, der andere Menschen glücklich machen will, sagt er, wissend, dass Touristen Normal Farmer lieber mögen als Special Farmer.
Dennoch grenzt es an ein Wunder, dass er, und da ist er durchaus glaubwürdig, noch immer Abbas Normal Farmer ist, denn seine Geschichte wird noch fantastischer. Seine heute siebzehnjährige Tochter Zahra erzählt sie uns, während sie vor einem Schrein steht, in dem Gegenstände aus aller Welt, die die Gäste der Familie als Geschenke mitgebracht haben, aufbewahrt sind.
Als lokale Fernsehsender von Abbas’ Erfolg erfuhren, besuchten sie ihn und drehten einen Beitrag über seine Familie, die Touristen und die Nomadenkultur im Zagros-Gebirge. Plötzlich kamen auch iranische Touristen und waren genauso begeistert wie einst die deutschen Motorradfahrer. Abbas Normal Farmer konnte den Rummel nicht fassen, plötzlich war er so etwas wie eine Berühmtheit, und es sollte sogar noch besser kommen. Eines Tages erhielt er eine Einladung nach Teheran. Er, Abbas Normal Farmer, der nicht an einem einzigen Tag seines Lebens eine Schule besucht hatte, sollte in die Hauptstadt reisen, um dort Interviews zu geben und vor wichtigen und gebildeten Leuten zu sprechen. Er wurde begleitet von Zahra und ihrer kleinen Schwester, die, in traditionelle nomadische Gewänder gehüllt, mit auf der Bühne standen. Nach diesem Auftritt dachte er, nun könne nichts mehr kommen, der Gipfel sei endgültig erreicht. Doch weit gefehlt, plötzlich wollte sogar der Präsident ihn und seine Töchter treffen. DER PRÄSIDENT! IHN! ABBAS NORMAL FARMER! Und dazu kam es dann auch, zu sehen auf einem Foto, das Zahra und Abbas zusammen mit dem damaligen Staatsoberhaupt Mahmud Ahmadinedschad zeigt.
Zusammen mit meiner eigenen kleinen Reisegruppe bin ich einigermaßen fassungslos über diese Geschichte, die schier kein Ende nimmt, von Höhepunkt zu Höhepunkt eilt und von der wir bis zu unserer Ankunft im Dorf gar nichts wussten. Wir haben gedacht, wir machen Stopp in einem Dorf zwischen Yazd und Schiras, essen und übernachten bei einem normalen Farmer und gelangen mit etwas Glück noch in das Gebiet der Nomaden. „It’s magic“, dass wir gerade hier gelandet seien in dieser endlosen Weite der iranischen Wüsten, sagt Abbas. Seine Geschichte geht noch weiter.
Zahra führt uns in einen neuen Bau auf dem Grundstück der Familie. Er entpuppt sich als ein Museum. Die Exponate beschäftigen sich ausschließlich mit dem ungewöhnlichen Aufstieg der Familie, sind aber allein schon dann sehenswert, wenn man weiß, wie es überhaupt zu diesem Museum kam:
Der Präsident fand, dass Abbas Normal Farmer ein ganz famoser Botschafter seines Landes sein würde. Und so sandte er ihn ins Ausland zu Reisemessen und Tagungen. Auf diesen Reisen lernte Abbas so einiges über die Menschen, die ihn seit einigen Jahren täglich besuchten. Zum Beispiel erfuhr er in der Schweiz, dass die Menschen dort ihren Hunden Namen geben und die Tiere wie Familienmitglieder behandeln. Bei seiner Rückkehr erhielten auch seine Hunde Namen und stiegen von reinen Nutztieren zu Freunden der Familie auf. Ihm selbst gefällt das, den Touristen umso mehr. I’m happy, you’re happy, God is happy! In Deutschland machte er Bekanntschaft mit der Begeisterung der Menschen für biologische Landwirtschaft. Seine Landwirtschaft ist sowieso schon immer biologisch gewesen, trotzdem betont er seitdem bei jeder Gelegenheit, dass bei ihm alles organic sei. I’m happy, you’re happy, God is happy! Und in Paris hatte er den Eindruck, dass die ganze Stadt ein einziges Museum sei mit lauter Besuchern aus aller Welt. Also brauchte auch er ein Museum für die Menschen aus aller Welt. Nur, was darin ausstellen? Na klar, die Geschichte seines eigenen Aufstiegs. I’m happy, you’re happy, God is happy!
Seitdem die Motorradfahrer an seine Tür klopften, sind fast sechzehn Jahre vergangen, dennoch versprühen Abbas Normal Farmer und seine Familie eine derart positive Energie, dass man ihn durchaus auch auf Motivationslehrgängen für ausgebrannte Großstädter auftreten lassen könnte. Zweifellos ist sein Geschäftssinn grandios, aber auch sein Mantra und Markenzeichen I’m happy, you’re happy, God is happy zeigt nach all den Jahren keine Abnutzungserscheinungen und verleiht ihm eine Leichtigkeit, die jedem Start-up-Unternehmer von ganz alleine zu großem Erfolg verhelfen würde. Auch in der Schule werde ich diese Geschichte sicher erzählen. Vielleicht gelingt es mir sogar, Abbas Normal Farmer einzuladen und ihn vor der Schule sprechen zu lassen, um Schüler mitzureißen und sie zu ermutigen, niemals aufzugeben. Oh Iran, du erzählst große Geschichten.

Widersprüche
Mit dem Schrein Schah Tscheragh befindet sich eine bedeutende Pilgerstätte für schiitische Muslime in Schiras. Hier liegen die sterblichen Überreste Amir Ahmads und Mir Muhammads, beide Brüder des im Iran ungeheuer wichtigen Imam Reza, einer der zwölf Imame und Anhänger Alis. Wörtlich sind die Schiiten (Shiat Ali) die Jünger Alis, der das Erbe des Propheten nach dessen Tod im Jahre 632 hätte antreten sollen und dem die zwölf Imame folgten. Alle Muslime zu einen, so argumentierten sie, dazu sei nur ein Blutsverwandter des Propheten Mohammed, dessen Neffe Ali war, in der Lage. Die Sunniten sahen das anders. Sie installierten den in ihren Augen geeigneteren Kandidaten Abu Bakr, ein Weggefährte, jedoch kein Verwandter Mohammeds, an der Spitze des Kalifats. Ali und seine Anhänger fühlten sich zurückgesetzt, harrten aber weiter geduldig ihrer Chance. Im Jahre 656 wurden sie belohnt, das Glück über das Kalifat währte jedoch nur kurz. Unruhig wurde es so richtig, als Ali nur fünf Jahre nach Übernahme des Amts ermordet wurde.
Die zwölf Imame, darunter Imam Reza, versuchten nun, die in ihren Augen legitime Herrschaftsfolge wiederherzustellen. Dabei kam es schließlich zu einem blutigen Hinterhalt in der irakischen Stadt Kerbela, in dem Imam Hussein, ein Enkel Mohammeds, der nun das Kalifat führen sollte, ums Leben kam. Der Schmerz darüber war und ist immens, die schiitische Gemeinde wartet seither auf den zwölften Imam, Muhammad al Mahdi, den Erlöser, der im Verborgenen auf seine Rückkehr wartet, um dann, endlich, alle Muslime zu versöhnen. Die elf übrigen Imame und Märtyrer fanden ihre letzte Ruhe an verschiedenen Orten, verstreut im ganzen Orient, die heute alle bedeutende Pilgerstätten gläubiger Schiiten sind. Herausragend ist natürlich Kerbela, der Ort des Leidens und des Verrats, an dem sich die sterblichen Überreste Imam Husseins befinden und der heute im Einzugsgebiet sunnitischer Extremisten liegt. Die haben hier in der jüngeren Vergangenheit übelste Massaker an schiitischen Pilgern verübt. Kerbela und auch Nadschaf, eine weitere wichtige Pilgerstätte im Irak, sind für schiitische Iraner zwar nicht außer Reichweite, aber doch sehr gefährliche Wallfahrtsorte.
Der Schrein in Schiras ist sicher, beherbergt mit den Brüdern eines der zwölf Imame aber auch nur die B-Prominenz der schiitischen Märtyrer. Davon ist nichts zu spüren, zum donnerstäglichen Bittgebet ist die Stimmung und die Atmosphäre in der gigantischen Anlage überwältigend. Es herrscht ein lebendiges Treiben sowohl im Innern des Schreins als auch unter freiem Himmel auf dem ausgedehnten Innenhof. Der Innenbereich ist angenehm klimatisiert und strahlt mit seinen reich verzierten Kuppeln eine ungeheure Erhabenheit aus. Dazu kommt das Licht, das sich durch die bunten Bleiglasfenster in allen Farben des Regenbogens bricht und, man kann es nicht anders sagen, die Besucher verzaubert.
Zu einer besonders sinnlichen Erfahrung wird der Aufenthalt im Schrein durch das Barfußlaufen – man schwebt wenige Meter über weichen Teppich, um dann vom kalten Marmor wieder geerdet zu werden. Schaut man sich um, blickt man in glückselige Gesichter, alle scheinen ergriffen von der Magie des Ortes und von der Freude darüber, dass sie diese Erfahrung mit so vielen anderen teilen dürfen.
Ich fühle mich erinnert an die Atmosphäre auf Techno-Musikfestivals, und so weit weg ist der Gedanke wohl auch nicht, wie mir nach Verlassen des Schah Tscheragh klar wird. Vor dem Besuch wurde mir erklärt, dass sich bei Berührung des Schreins alle negative Energie in positive umwandelt, alle Last abfällt und sich alles leicht und schwerelos anfühlt. Genauso ist es in den heiligen Tanzhallen westlicher Technofestivals, wenn sich die Energie von Tausenden bündelt zu einer wunderbaren Quelle großen und kaum zu fassenden Glücks. Mir ist soeben am eigenen Leib plausibel geworden, weshalb der Islam, wahrscheinlich Religionen insgesamt, so große Anziehungskraft besitzt und frenetische Begeisterung entfesseln kann. Alles eine Frage der Inszenierung.
Begeistert erzähle ich von dieser Erfahrung im Hostel. Unter meinen Zuhörern ist auch Ehsan, Tourist aus Isfahan, der eine ganz andere Sicht auf die Dinge hat und schon glaubt, mich vom Konvertieren abhalten zu müssen. Zu meinem Erstaunen erklärt er, dass der Iran ein nicht besonders religiöses Land sei, die Menschen dort aber ironischerweise unter einem Regime leben müssten, das durch die Religion seine Macht legitimiere. Sicher gebe es viele traditionelle und gläubige Familien, besonders auf dem Land, wie er betont. Die Mehrzahl der Menschen habe mit dem Islam aber genauso wenig am Hut wie die inzwischen so säkularen Europäer mit dem Christentum. Ich weiß nicht, woher er diese Zahl nimmt, aber er behauptet, dass die Moscheen überall im Land, auch auf den Dörfern, an normalen Tagen mit kaum mehr als zwanzig Prozent ausgelastet seien. Die Leute haben andere Sorgen und machen sich andere Gedanken, sie wollen nicht lammfromm dem örtlichen Ajatollah huldigen und sich von ihm richten und gängeln lassen.
Es ist nämlich so, wie ich am selben Tag in einer Medrese, also einer Koranschule, von einem leibhaftigen Ajatollah erfuhr, dass Männer, die in seinen Rang aufsteigen wollen, dies durch ein jahrzehntelanges Koranstudium tun können. Ajatollah ist lediglich der Titel, der dies bezeugt. Das Äquivalent der Sunniten ist der Mullah, klärte er mich noch auf. Diese Würdenträger erfüllen ganz verschiedene Rollen in ihren Gemeinden. Sie sind zum einen Lehrer, er selbst unterrichtet zurzeit 250 Schüler in Theologie, Philosophie und islamischem Recht, aber auch in Naturwissenschaften und Mathe. Dies alles geschieht auf Arabisch, der Sprache des Korans. Außerdem erstellen die Ajatollahs Rechtsgutachten, sogenannte Fatwas, im Namen des Korans. Bei dem Stichwort Fatwa läuten bei mir die Alarmglocken, weil mir sofort Salman Rushdie einfällt, der wegen angeblicher Ketzerei mit einer solchen belegt wurde und seither um sein Leben fürchtet. Ganz so krass sind die Fatwas, die der Ajatollah sonst so ausspricht, nicht, vielmehr sind es Gutachten im Namen des Korans, die den Menschen seiner Gemeinde in bestimmten Situationen helfen sollen. Wie verhalte ich mich richtig im Namen des Herrn? Eine Fatwa legt aber auch das Strafmaß für eine bestimmte Missetat fest. Der Ajatollah ist also Lehrer, Gutachter und Richter in Personalunion. Weiterhin ist er für den Erhalt seiner Medrese verantwortlich und bittet mich sogleich um eine kleine Aufmerksamkeit.
Genau das sei es, was die meisten Menschen nicht wollten, sagt Ehsan. Die Ajatollahs seien furchtbar arrogant und herablassend. Verständlicherweise, wenn einem den ganzen Tag huldvolle Ehrerbietung entgegengebracht wird und Menschen devot und unterwürfig um Rat fragen. Am schlimmsten seien die Träger von schwarzen Turbanen, denn sie stehen angeblich in direkter Linie zum Propheten Mohammed, wie ich erfahre. Weiße Turbane sind darunter angesiedelt, ihre Träger sind nicht verwandt, sie haben sich ihr Amt durch das Studium erworben, können aber auch zu hohen Würdenträgern aufsteigen und fallen ebenso durch Überheblichkeit auf.
Ich erkenne große Parallelen zu den christlichen europäischen Kirchen, besonders zur katholischen, deren Repräsentanten sich in der Vergangenheit ja auch gerne maßlos und arrogant zeigten. Das Problem des iranischen Regimes sei es, sagt Ehsan, dass es mithilfe der Religionswächter mitunter ausgesprochen brutal auf die Einhaltung der Regeln pochen könne, jedoch könne es die Menschen nicht in die Moscheen prügeln und sie zwingen, sich vor ihrem Ajatollah in den Staub zu werfen. Deshalb sei es letztlich nur eine Frage der Zeit, bis der Spuk ein Ende habe; in der gegenwärtigen Situation allerdings, mit lauter Krisen rund um den Iran herum und mit den Erfahrungen der brutalen Niederschlagung der regierungskritischen Proteste 2009, könne das noch etwas dauern.
Das ist wirklich interessant. Ich kann nur erstaunt nicken, als Ehsan abschließt, dass der Islam nur eine Ideologie zum Machterhalt der Eliten sei und dass es wohl doch jedem selbst überlassen sein solle, was er oder sie glauben möchte – solange es auf dem alten zoroastrischen Prinzip vom guten Handeln, Denken und Sprechen beruhe, welches sich sowieso im Kern in jeder Religion wiederfinde. Finde ich auch, das Göttliche liegt in jedem Einzelnen von uns, was sollen also all der Mummenschanz, die Rechthaberei und das Gerede von der einen Wahrheit, deren selbst ernannte Inhaber immer wieder zu mörderischen Höchstleistungen auflaufen? Andererseits habe ich heute auch erfahren, wie verlockend diese Inszenierungen sein können und wie einfach es wohl ist, sich diesem Spiel einfach hinzugeben, sodass ich den Tiefgläubigen gar nicht mit aufklärerischen Slogans wie „Bediene dich deines Verstandes“ kommen wollte. Solange sie Frieden darin finden und nicht das heilige Wort mit dem Schwert verbreiten, ist doch alles gut. Oh Iran, du bist voller Widersprüche.

„Khoda Hafez“ – Tschüss, Iran
Isfahan, nesf-e jahan, Isfahan ist die Hälfte der Welt. Dieses alte Sprichwort kennt jeder im Iran. Was damit gemeint ist, wird sofort klar, wenn man die Stadt betritt. Sie ist überwältigend mit ihren reich verzierten Moscheen, den fantastischen Parks, den weitläufigen Plätzen und großartigen Brücken. Im Zeitalter der Safawiden zwischen 1501 und 1722 wurde sie als Hauptstadt immer weiter ausgebaut und verschönert. Schah Abbas holte Mitte des 16. Jahrhunderts 30 000 der talentiertesten und besten Handwerker und Künstler seines Reiches in die Stadt. Zum Erlesensten gehörte damals die sagenhafte Handwerkskunst der Armenier. Sie sollten seine Stadt weiter verschönern – eine zweifelhafte Ehre, denn als Christen wollten sie gar nicht ins muslimische Isfahan kommen, also zwang der Schah sie kurzerhand und verschleppte sie. Das zumindest sagen die Armenier; die Iraner sagen, die Künstler seien freiwillig gekommen, angelockt von den Möglichkeiten der Stadt. Die Frage ist heute noch ungeklärt.
Was man mit Bestimmtheit sagen kann, ist, dass das Werk aller Beteiligten durchaus gelungen ist. Auch der Stadtteil Neu-Jolfa, benannt nach der Stadt an der heutigen aserbaidschanisch-iranischen Grenze, aus der die Armenier ursprünglich stammten, ist wunderschön.
Was das alles so wunderschön macht, ist natürlich die spektakuläre Architektur, aber eine noch viel größere Rolle spielt, wie die Einheimischen dieses Setting mit Leben füllen. Nicht nur in Isfahan, sondern im ganzen Land drängen zu Sonnenuntergang Menschen aller Altersgruppen in die Parks und Plätze, um das Leben miteinander zu genießen. Die Picknicks sind üppig, alles ist dabei, von Köfte und Salaten über süßes Gebäck bis hin zu Tee, heiß und kalt.
Ich wiederhole mich, wenn ich sage, dass man im Iran ständig und überall eingeladen und in Gespräche verwickelt wird, doch so ist es auch in Isfahan. Ehe ich mich versehe, sitze ich auf einer Decke zusammen mit Omid und seiner Familie. Ich probiere dies und jenes, spiele Fußball mit seinen kleinen Geschwistern und genieße den Abend. Dabei verstehe ich, was meine Schüler aus dem Iran, aber auch aus arabischen Ländern meinen, wenn sie sagen, sie würden die Draußenkultur vermissen. Die gibt es zwar auch im Sommer am Timmendorfer Strand, in St. Peter-Ording oder in den Parks der Stadt, aber eben nicht so und schon gar nicht so sichtbar, so offen und einladend. Und schon gar nicht mit dieser generationenübergreifenden Leidenschaft und solcher Liebe zum Detail. Das ist etwas, was das Leben in Deutschland grundsätzlich vom Leben hier unterscheidet. Einerseits mag es seine Vorteile haben, dass wir kein ganz so intensives Verhältnis zu unseren Eltern haben – das macht freier –, aber andererseits merke ich gerade in diesem Moment, während ich zusammen mit acht Menschen aus drei Generationen auf einer Decke sitze, wie viel uns durch die Distanz zu unseren Familien wiederum fehlt. Macht mehr Picknick, Leute, und ladet fremde Menschen einfach so auf eure Decken ein! Der Iran stimmt mich ganz romantisch! Meine eigenen Eltern werden beim Lesen dieser Zeilen wahrscheinlich ob ihres individualreisenden Sohns mit den Augen rollen. Sei’s drum – lasst uns ein Picknick machen, wenn ich wieder zu Hause bin!
Die Guidebooks meiner Schüler führen mich weiter nordwärts. In Täbris mache ich nur einen kurzen Stopp und tue der Stadt damit wahrscheinlich unrecht, komme auf dem Weg zur Grenze aber vorbei am großartigen Urmiasee, der einen ähnlich hohen Salzgehalt aufweist wie das Tote Meer, weil er in den letzten Jahren – man muss wohl von einer Umweltkatastrophe sprechen – ein Vielfaches seiner Größe durch Trockenheit und versiegende Zuflüsse eingebüßt hat. Während ich in dem salzigen Wasser ohne Anstrengung auf dem Rücken treibe, bemerke ich durch meine abendländische Sonnenbrille eine Kuriosität, die mich aufschauen lässt: Frauen nehmen voll verschleiert ein Bad und haben dabei einen Heidenspaß. Nur mühsam gelingt es mir, den Impuls zu unterdrücken, sofort aus dem Wasser zu waten und ein Foto von der Szene zu machen. Dann fällt mir auf, dass das im Iran völlig normal ist und ich sicher noch weitere Gelegenheiten bekommen werde, dieses für mich so exotische Treiben fotografisch zu dokumentieren. Obwohl: Völlig normal ist das nun auch wieder nicht. Das wäre der Fall, wenn die Frau aus Frankreich, die in diesem Moment am Strand steht, in Ermangelung eines Burkinis einfach auf ihren Bikini zurückgreifen könnte, ohne Schwierigkeiten zu bekommen. Ach Iran, das musst du wirklich mal mit deinen Frauen besprechen!
Nach dem Bad geht es weiter nordwärts nach Jolfa, nach Alt-Jolfa sozusagen, das heute nicht mehr von Armeniern bewohnt wird, und von dort aus entlang des Aras-Flusses, der die Grenze zu Nachitschewan, einer autonomen Teilrepublik Aserbaidschans, und später zu Armenien markiert, auf beiden Seiten flankiert von hohen Bergen in Richtung Norduz, dem Grenzort.
Rasul, der Fahrer, ist lässig entspannt. Wir machen ausgiebige Teepausen am Ufer und lassen die biblische Landschaft auf uns wirken. Nicht weit weg, auf türkischem Territorium, liegt der Berg Ararat, auf dem Noah seine Arche anlandete. Das kann aber nicht der Grund dafür sein, weshalb im Laufe der Geschichte immer wieder Armeen, mal von Norden, mal von Süden kommend, den Fluss überquerten, um die Reiche ihrer Herren auszudehnen: Perser, Griechen, der Mazedonier Alexander der Große, Römer, Mongolen, Osmanen und später noch Russen, Engländer und Amerikaner – sie alle konnten sich nicht so recht über den Verlauf der Grenze einigen. Auch heute ist sie auf beiden Seiten schwer bewacht, ständig kommen wir an Wachtürmen vorbei, und es begegnet uns Militär. Dann erreichen wir Norduz.
Als ich den Iran verlasse, schon in dem Moment, als mir der Grenzbeamte den Abschiedsstempel in den Pass drückt, fühle ich mich seltsam leer. Ist da nicht noch viel mehr, das sich zu entdecken lohnt, viel mehr Fragen, die sich diesen kultivierten Menschen bei Tee und Gebäck stellen ließen? Mehr unterschiedliche Sichtweisen, Meinungen und Weltbilder, die mir bisher verborgen geblieben sind? Ich merke, wie einnehmend das Land ist mit all seinen Facetten und auch mit seinen Trugbildern, mit seiner Herzlichkeit, Gastfreundschaft und seinen Ritualen. Schon jetzt bin ich ihm ungemein dankbar, dass es mir all diese Einblicke gewährt hat, die mir noch lange zu denken geben werden und die meine Sicht auf die Dinge ganz sicher verändert haben. Oh Iran, ich bin überwältigt von dir und recht entzückt und werde wiederkommen, so Gott will.

„Am Ende des Schuljahres bestehen alle die Prüfungen. Die Nervosität war groß, die Erleichterung ist umso größer. Ich ziehe meinen Hut vor der 10d.

Wenn ich mir vorstelle, meine Eltern wären mit mir als dreizehnjährigem Teenager in den Iran oder nach Russland gezogen und ich hätte dort mit sechzehn oder siebzehn eine Abschlussprüfung auf Farsi oder Russisch bestehen müssen … Nicht unwahrscheinlich, dass ich kläglich gescheitert wäre.

Zum Glück bin ich heute über zwanzig Jahre älter und weiß, was ich tue. Es ist Zeit aufzubrechen.“


Jan Kammann

„Die Welt ist in Bewegung. Aus den unterschiedlichsten Gründen ziehen Menschen von A nach B. Viele von ihnen gezwungenermaßen, verfolgt von Krieg und Elend, gar von Hunger bedroht, andere auf der Suche nach Arbeit und Wohlstand und wieder andere streben nach Selbstverwirklichung. Allen gemein ist, dass sie irgendwann irgendwo den Entschluss gefasst haben, aufzubrechen.

In den letzten drei Schuljahren kamen diese weltweiten Bewegungen für mich zusammen in einem einzigen Raum: im Klassenzimmer der 10d eines Hamburger Gymnasiums. Hier unterrichtete ich als Klassenlehrer Schüler aus 22 Nationen.“

>> Zum Blog von Jan Kammann 

Worum geht es in Ihrem Buch?
Es geht um Vielfalt. Sowohl um die Vielfalt in der Welt, als auch die Vielfalt, die ich in meiner Hamburger Schule jeden Tag erlebe.

In meiner Klasse, die nach drei Jahren zur Abschlussklasse 10d wurde und der ich während eines Sabbatjahres anderthalbmal um die Welt gefolgt bin, habe ich im Laufe der Zeit Schülerinnen und Schüler aus 22 verschiedenen Nationen begrüßen dürfen. Das war für mich persönlich eine oft geradezu fantastische Erfahrung, wenn mir Details aus Weltgegenden aus erster Hand berichtet wurden, die ich sonst nur aus der Zeitung oder dem Fernsehen kenne:

Was für eine Sprache spricht man dort, wie funktioniert Schule in deinem Heimatland oder auch ganz simpel, was ist dein Lieblingsessen oder wie ist das Wetter dort gerade? Besonders die Sprache war immer wieder eine Herausforderung, denn die Schülerinnen und Schüler müssen im deutschen Unterricht fachlich bestehen in einer Sprache, die nicht ihre Muttersprache ist.

Das kenne ich selbst aus meiner Zeit als Lehrer in China, wo mir am Anfang viele Dinge rätselhaft erscheinen und die mir erst nach und nach klarer wurden. In Hamburg habe ich mich bei der Volkshochschule für einen Farsi-Kurs angemeldet, um nochmal wirklich nachvollziehen zu können, wie schwierig es eigentlich ist, eine neue Sprache einschließlich anderer Schrift und kulturellen Unterbau lernen zu müssen. Der Unterschied zwischen mir und den Kids war, dass ich mich im Gegensatz zu ihnen jederzeit frei entscheiden konnte, den Kurs abzubrechen, wenn mir alles zu viel wurde. Sie konnten das nicht – es stand zu viel auf dem Spiel.

Gute Noten und Abschluss sind enorm wichtig für sie. Meine Schülerinnen und Schüler aus dem Iran und aus Afghanistan haben mir trotzdem beim Vokabeln lernen geholfen.

Es geht also um Vielfalt in unseren Klassenzimmern Zuhause und um die Schwierigkeiten, mit denen die Newcomer sich ab und an quälen.

Es geht aber auch darum, was wir in Deutschland von der Welt lernen können, es wagt also einen Blick über den Tellerrand hinaus. Das ist dann die zweite Dimension des Buches. Nämlich, dass es viele Dinge gibt, die mir nicht wirklich bekannt waren und die es dennoch wert sind, auch in deutschen Schulen thematisiert zu werden.

Zum Beispiel die Erkenntnisse des Universalgelehrten Omar Khayam, eine Art persischer Leonardo da Vinci, der bis heute großen Einfluss auf die iranische Kultur hat, genauso wie der Dichter Hafiz, vom dem sich schon Goethe hat inspirieren lassen, aber der, aus unerfindlichen Gründen, aus unserem Alltag/Lehrplänen völlig verschwunden ist. Auch spannend für mich sind die Abhängigkeiten, die unser aller Leben auf dem Globus bestimmen und die mir kaum klar waren. Zum Beispiel hat der Krieg der kolumbianischen Drogenmafia gegen die eigene Bevölkerung unmittelbar mit unserem Reichtum zu tun, oder das deutsch-israelische Verhältnis, das in Armenien als beispielhaft für den Umgang mit Kriegsverbrechen gilt. Das sind nur zwei Beispiele von vielen, die meinen Blick auf die Welt verändert haben. Als Geograph ist auch die natürliche Beschaffenheit der Welt von Bedeutung.

An dieser Stelle möchte ich nur Nicaragua hervorheben: In dem kleinen mittelamerikanischen Land gibt es eine ungeheurere Artenvielfalt und eine Vielzahl von aktiven Vulkanen, die sich entlang der Pazifikküste aufreiht wie eine Perlenkette. In dieser Hinsicht ist das Land wie eine große Exkursion in einem Geographiestudium. Mir war es eine helle Freude. Auch dies ist nur ein Beispiel, mindestens genauso spannend in dieser Hinsicht sind die Mongolei und Russland. Und auch damit beschäftigt sich dieses Buch.


Wie sind Sie auf die Idee zu Ihrer Reise gekommen?
Die Idee kam mir auf einer Reise nach Bulgarien. Dorthin bin aufgebrochen mit dem Bus vom Hamburger ZOB, nachdem mir eine Schülerin, die nach den Ferien immer wieder Tage zu spät zum Unterricht erschien, mit dem Hinweis, die Busverbindung nach Sofia seien so schlecht. Sie hatte Recht, wie mir schnell klar wurde.

Natürlich bin ich nicht nur dorthin gefahren, um sie zu kontrollieren, sondern in erster Linie aus Abenteuerlust und weil sie mir immer so vorgeschwärmt hatte von ihrem Heimatland und der Herzlichkeit der Menschen dort. Auch, was das angeht, hatte sie Recht. Auf der Rückfahrt bin ich im Geiste meine Klassenliste durchgegangen und habe mir ausgemalt, was für spannende Welten sich hinter jedem einzelnen Namen verbergen.

Von welchen Ländern erzählen Sie in Ihrem Buch?
In alle Länder habe ich es in einem Jahr nicht geschafft. Im „ Ein deutsches Klassenzimmer“ erzähle ich aus dem Iran, Afghanistan im Iran, Armenien, Kosovo, Albanien, Italien, Polen, Kuba, Nicaragua, Kolumbien, Südkorea, China, der Mongolei, Russland und Ghana.

Welches Land hat Sie am meisten überrascht? Welche Begegnungen haben Sie am meisten beeindruckt?
Schwierig. Eigentlich alle. Seit meiner Rückkehr spreche ich sicher am häufigsten über den Iran, weil er immer wieder die Schlagzeilen dominiert, aber das, was dann dort steht, mit der Realität der Menschen oft nur wenig gemein hat. Auch das kleine Kosovo hat mich in jeder Hinsicht positiv überrascht.

Besonders beeindruckende Begegnungen habe ich in russischen Zügen irgendwo in Sibirien gemacht, wo sich mein Russlandbild vollständig verändert hat und sicher auch in Ghana zu Hause und unterwegs in Cape Coast mit Sister Mary, die Kindern in Not hilft. Mit ihr zusammen war ich dort mehrere Tage unterwegs und muss sagen, dass das mitunter ziemlich intensiv war und mir bis heute zusetzt. Und auch dies gehört zu dieser Erfahrung: Sie hat mir einen Einblick in ihre Welt gestattet und ich konnte wieder gehen. Sie selbst und erst recht die Kids vor Ort können das nicht. Und wenn sie es doch tun, wartet große Mühsal auf sie.

Was haben Sie aus Ihren Reisen in Bezug auf Integration gelernt? Wie kann man die Kulturen zusammenbringen?
Durch Verständnis für einander, das man nur aufbringen kann, wenn wir uns offen und auf Augenhöhe begegnen. Seit dieser Reise versuche ich in meinem Alltag in der Schule noch mehr als zuvor, jede Wertung rauszunehmen. Kulturen sind verschieden, aber nicht besser oder schlechter. An ganz vielen Stellen können wir voneinander profitieren, anstatt uns argwöhnisch zu beäugen. Denn im Prinzip sind unserer Grundbedürfnisse doch alle gleich, da wäre es doch gelacht, wenn wir uns nicht auf einen gemeinsamen Nenner einigen könnten.

Wer sollte Ihr Buch lesen?
Das Buch ist bestimmt interessant für Menschen, die im weitesten Sinne mit Bildung zu tun haben, und ganz sicher auch für alle, die gerne reisen, Lust auf Abenteuer haben, über ein neugieriges Wesen verfügen und der Welt aufgeschlossen gegenüberstehen.

Fotos: Jan Kammann, Luisa Wolff

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