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Dienstag, 22. Oktober 2013 von


Begebenheit in einer sterbenden Stadt

Eine Kurzgeschichte zu Tobias O. Meißners DIE SOLDATEN

Es war der fünfte oder sechste Tag, nachdem die Atemluft sich in Gift verwandelt hatte.
Niemand in der Stadt Chlayst hatte sich vorher Gedanken darüber gemacht. Was Luft ist. Woraus sie besteht. Was sie bedeutet. 
Bis sich die Luft gegen alles Lebendige kehrte. Und jeder Atemzug war, als würde man rotglühende Nadeln in sich hinein schlürfen.
Die ganz kleinen Kinder und die Alten starben zuerst.
Sie röchelten, liefen blau an, erstickten unter Zuckungen und bewegten sich nicht mehr. Am Anfang dachte jede Familie noch an einen ganz persönlichen Schicksalsschlag. An ein Unheil, nur für sie gemacht. Sie irrten sich. Das Unheil war nicht wählerisch und machte zwischen reich und arm, Oberstadt und Hafenviertel, Mann und Frau, Hautfarben und Lebenswegen überhaupt keinen Unterschied.
Als nächstes verendeten die Tiere. Alle. Die Singvögel, die panisch gegen die Stäbe ihrer Käfige flatterten. Katzen und Hunde. Das Nutzvieh. Die Sperlinge, die frei in den Bäumen schliefen. Selbst die Ratten schleppten sich nach oben auf die Straßen und hauchten ihr Leben aus, Schaum zwischen den Zähnen.
Dann starben die ersten jungen Erwachsenen. Ebenfalls mit Schaum zwischen den Zähnen. Die Augen flehend verdreht. Panik brach aus.
Die flüchtend nach außen Drängenden und die plündernd nach innen Vorstoßenden gerieten aneinander. Brände griffen um sich. Einige Menschen schleuderten Fackeln in Häuser. Um zu vernichten, zu vergessen, mit Feuer zu bestatten, einen Krankheitsherd an der Ausbreitung zu hindern, das Böse zu verbrennen oder was sich an Begründungen auch immer finden ließ. Die Küstenstadt Chlayst verwandelte sich in ein rußiges Labyrinth, in dem hinter jeder Abzweigung Tote, Sterbende und Verwüstung lauerten. Und nur die Garde hielt noch dagegen und löschte die Feuer. Ein kleiner Haufen männlicher und weiblicher Uniformierter gegen eine gesamte vom Wahn der Todesangst befallene Stadt.

Der junge Soldat, der hier geboren worden war, atmete schwer. Seine Kehle rasselte wie eine Ankerkette auf Kies.
Die Straße vor ihm war von seltsamen Schwaden verunziert, Schwaden, die sich bewegten wie klagende und kriechende Gespenster.
Er bekam keine Luft mehr. Jeder weitere Atemzug gebärdete sich, als wollte er sein letzter werden. Wo waren seine Kameraden? Waren sie nicht zu dritt gewesen? Hatten sie nicht einen Befehl erhalten? Was sie tun sollten? Was sie eigentlich tun sollten in einer Stadt, in der nichts mehr zu retten war?
Er taumelte gegen eine Tür, die nur angelehnt war, und fand sich am Boden liegend auf einem Webteppich wieder. Der Teppich hatte ein hübsches Muster aus Blumen und Gräsern. Es gab keine Blumen und Gräser mehr in Chlayst, alles verdorrte unter dem Gift, aber die Farben des Teppichs wirkten schön und beruhigten. Hier drinnen war es kühl und rein. Die Gespensterschwaden waren noch nicht bis hierhin vorgedrungen. Mit seinen Füßen trat der junge Soldat im Liegen die Tür hinter sich zu, um die Schwaden in die Irre zu führen. Es war dämmerig hier drinnen. Entweder fensterlos, oder mit schweren Tüchern verhängt. Es roch nach Verwelktheit und nach schrumpeligen Äpfeln.
Der junge Soldat atmete und sammelte langsam Kraft. Dann zog er zumindest seinen Oberkörper an einem Tisch in die Höhe. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass er in dem Raum nicht alleine war.
An dem Tisch saß eine alte Frau, die gerade beim Essen war. Sie trug ein schlichtes, ausgebleicht geblümtes Hauskleid, und hatte vor sich eine Suppenschale stehen, den Löffel in der Hand. Mit gesenktem Kopf lächelte sie den schwankenden jungen Mann an.
„Glaubst du denn wirklich, sie schützt dich, mein Junge?“, fragte sie mit schnarrender Stimme.
Er verstand sie nicht sofort. „Sie schützt mich? Wer schützt mich?“
Die Alte deutete schwach mit dem Löffel auf ihn. „Die Uniform.“
„Die Uniform? Mich schützen?“
„Ja. Denn warum sonst denkst du, du könntest das hier überleben? Alle anderen verrecken. Schlagen wie die Singvögel gegen ihre Gitterstäbe und gleiten dann gerupft zu Boden. Und du läufst hier herum mit nichts weiter an als dieser Uniform.“
Der junge Soldat blickte an sich herunter. Die Uniform der Stadtgarde von Chlayst. Sie sah matter aus denn je. Irgendetwas hatte sich wie ein schmieriger Belag über den sonst so polierten Brustpanzer und das Stadtwappen gelegt. Die Schwaden. Sie klebten an ihm. Er führte sie mit sich, wohin immer er auch ging.
„Wir … wir haben einen Befehl erhalten …“, versuchte er zu erklären.
„Wer wir?“
„Ich und meine Kameraden …“
„Wo sind deine Kameraden?“
„Ich … ich weiß es nicht. Wir sind wohl getrennt worden …“
Die Alte lachte leise. „Welchen Befehl habt ihr erhalten?“
„Ich … weiß … auch das nicht mehr genau. Irgendetwas am Hafen. Etwas sollte … gelöscht werden. Ein Brand oder eine Ladung, ich weiß es nicht mehr. Damit … damit …“
„Damit?“
„ … damit nicht das ganze Viertel in … Mitleidenschaft gezogen wird …“
„Aha. Ein ganzes Viertel. Wie anrührend. Die gesamte Stadt ist doch längst verloren. Hier lebt nichts mehr außer der zutiefst verwurzelten Furcht und der Hoffnungslosigkeit. Was tut ihr also noch hier, ihr viel zu jungen, armen Geschöpfe?“
„Menschen … retten.“
„Du kannst dich doch selbst kaum noch auf den Beinen halten.“




Das stimmte. Der Soldat merkte, dass seine Knie ihm noch immer nicht gehorchen wollten. Wie ein Gelähmter hievte er sich auf den Stuhl der alten Frau gegenüber.
„Hier, iss. Kräftige dich“, sagte sie und schob ihm ihre Suppenschale hin. Ihren Löffel hatte sie in die Schale gelegt.
Soll ich etwa ihren Löffel benutzen?, fragte sich der Soldat. Warum bietet sie mir keinen eigenen an? Er stützte den Kopf in beide Hände, starrte die Suppenschale an und versuchte Zeit zu gewinnen, denn alles drehte sich ihm.
Nachdenken. Sich entsinnen. Sich wiederfinden. Seinen Weg in diesem Labyrinth zurückzuverfolgen und weiterzuspinnen. Wohin er eigentlich gehen sollte. Wo seine Kameraden abgeblieben waren. Ob ihnen etwas zugestoßen war. Wo die Garnison stand. Wie er dorthin zurückfinden konnte, um noch einmal nachzufragen, sich zwar den Unmut seines zu Tode erschöpften Vorgesetzten zuziehend, aber dennoch. Dennoch besser, als völlig in die Irre zu gehen.
Die Dunkelheit in dem Raum machte ihn schläfrig. Mit einem Kopfschütteln kämpfte er gegen die Müdigkeit an.
Als er wieder aufblickte, sah er, dass der Eintopf in der Schüssel nicht nur erkaltet, sondern bereits verrottet war. Die alte Frau, die ihm gegenübersaß, war längst tot. Ihr schmerzhaft verzerrtes Gesicht vergilbt.
Der junge Soldat war nicht einmal besonders überrascht.
„Bin ich auch tot?“, fragte er sich mit einem traurigen Lächeln. „Bin ich ebenfalls schon gestorben?“
Niemand antwortete ihm. Kein Vorgesetzter erklärte ihm die Lage und den Auftrag. Er musste ganz allein einen Weg finden. Dort draußen, in der Stadt seiner Eltern, seiner Kindheit, der Perle der Ostküste, Chlayst, dem lieblichen, alten, unlängst verstorbenen Chlayst, in dem die vertrauten Straßen sich verformt zu haben schienen zu einem Tummelplatz der Gespenster.
Er kämpfte sich auf seine Beine zurück und verließ das Haus, hinaus in die Schwaden, irgendwo dorthin, wo zumindest früher immer das Meer zu finden gewesen war.


Die Soldaten
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Roman

Die Festung Carlyr ragt über weites, unbekanntes Feindesland. Hinter ihren Mauern bedeutet ein einziger Fehler den Tod. Um nach einer gewaltigen Niederlage neue Soldaten auszubilden, wird Leutnant Fenna nach Carlyr versetzt. Doch der Norden hat seinen eigenen Schrecken zu bieten. Im verbrannten Land jenseits der Festung verbergen sich die Affenmenschen, die schon einmal einen großen Feldzug zum Scheitern gebracht haben. Und als Fenna zusammen mit der unerfahrenen Akademieabsolventin Loa Gyffs seine Kompanie ins Land der Feinde führt, entdeckt er, dass die Wüste ein weitaus gefährlicheres Geheimnis birgt.

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