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Open Mike 2015 – Die Lektorenperspektive

Dienstag, 10. November 2015 von Anvar Čukoski


Während auf der Bühne der erste Text vorgetragen wird, hustet es im Foyer dermaßen erschütternd, als habe der Open Mike 2015 gleich seinen ersten Todesfall zu vermelden, noch bevor ein Großvater in einer der Erzählungen das Zeitliche hätte segnen können. Aber darum können wir uns nicht kümmern, denn wir sind hier, um die interessentesten Stimmen der neuesten deutschsprachigen Literatur zu hören; wir sind hier, um in den Pausen die Gespräche mit all den netten KollegInnen aus den anderen Verlagen, Agenturen und Zeitungsredaktionen zu führen, die wir eigentlich schon vor drei Wochen während der Frankfurter Buchmesse geführt haben; wir sind hier, um mit Bockwurst, Laugenstange und Kaffee den Kater zu vertreiben. Es ist ernst.

Der Open Mike, der nicht nur aus Mangel an Konkurrenz als einer der wichtigsten Wettbewerbe für angehende Schriftstellerinnen gilt, ist ein Pflichttermin – auch für Lektoren. Entweder man sitzt selber in der Vorjury und hat aus 600 Einsendungen die 20 tollsten Prosaisten und Lyriker ausgewählt, oder man sitzt im Zuschauerraum und beschwert sich über die Auswahl der Kollegen. Man tut das lautstark und leidenschaftlich, übermüdet und unermüdlich.

Nein, ich reise nicht an, weil ich glaube, ich könnte hier den Gewinner des deutschen Buchpreises des nächsten Jahres sehen (vielleicht in 10 Jahren). Und ich höre auch nicht stundenlang zu, weil die vorgetragenen Erzählungen es aufnehmen könnten mit Erzählungen von Alice Munro, Ernest Hemingway oder Terézia Mora (die in diesem Jahr in der Jury saß). Aber ich glaube daran, hier einen neuen Ton zu hören. Eine überraschende Perspektive eröffnet zu bekommen, zu einem Gedanken inspiriert zu werden, den ich vorher nicht hatte. Darum liebe ich den open mike: während ich im Verlag oft mit einem überkritischen und auf die Schwachstellen eines Textes konzentrierten Blick lesen muss, kann ich mich hier entspannt zurücklehnen und eine Erzählung als gelungen betrachten, wenn mich nur ein einzelner Satz interessiert. Diese Form des konstruktiven Lesens, die auch Wiebke Porombka in ihrer Besprechung des diesjährigen Wettbewerbs betont hat, ist der vielleicht reinste, weil vom sonst immer irgendwie auch kapitalistischen Fokus befreiteste, Lesemodus, zu dem ein Lektor nach ein paar Jahren Verlagserfahrung noch gelangen kann.

Man darf und muss sich zwischendurch also langweilen und die Augen verdrehen, lästern und den Bundesliga-Liveticker checken. Man darf einen Leseblock schwänzen oder für fünf Minuten einnicken.

Man darf sogar einen Hustenanfall haben und dabei fast das Bewusstsein verlieren. Aber man darf dann nicht aufhören zu atmen, und man darf nicht aufhören zuzuhören. Man muss einen Schluck Wasser trinken, man muss die nächste Seite der Anthologie aufblättern und dann muss man auch im nächsten Jahr wieder zum open mike fahren.

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