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Adventsgeschichte 22. Dezember

Das venezianische Weinhorn

von Claudia Klingenschmid

Ich habe nichts gegen Weihnachten, nicht prinzipiell. Ich mag die Kugeln und das Glitzern, die leuchtenden Augen meiner kleinen Nichten, wenn sie ihre rosa Barbie-Campervans und Ponyhöfe aus dem Papier reißen und mir mit «Oh, genau das hab’ ich mir gewünscht! Danke, Onkel Luca!„ um den Hals fallen. Ich mag die Abendmesse im Dom von San Marco, das dicke Papier der handgedruckten Einladungskarten, das sanfte Licht, und wir in unseren langen Umhängen in Andacht dort, wo schon Generationen unserer Vorfahren auf die Knie gingen, um zur Jungfrau Maria zu beten. Ich mag es, mich mit meinen Kumpels nachher zu betrinken, von Bar zu Bar zu stolpern, bis nichts mehr offen hat, und wir mit der letzten Flasche Rotwein an der Riva warten, bis die Sonne aufgeht. So haben wir es schon zu Schulzeiten gemacht und so werden wir es auch machen, wenn wir alle verheiratet sind und Kinder haben und vielleicht auch noch, wenn wir alt und grau sind und doppelt so häufig wie jetzt ins Wasser pinkeln müssen. Es gibt also durchaus viele Dinge, die ich an Weihnachten mag.
Und ich mag Boote. Man kann wirklich nicht behaupten, dass ich keine Boote mag. Ich besitze selbst eines, bin seit meinem siebten Lebensjahr braves Mitglied des Ruderclubs Canottieri Querini, habe sogar ein paar Jahre täglich trainiert und auch beinahe eine Regatta gewonnen. Ich habe meine Freundinnen zum nächtlichen Picknick in die Lagune gerudert und den Gästen meiner Eltern mit dem Boot die Stadt gezeigt, ihnen die Geschichte erklärt und sie in die besonderen Kanäle gebracht, die man als Tourist sonst nicht sieht. Man kann mir wirklich nicht vorwerfen, ich hätte was gegen das Rudern, prinzipiell. Gut, ich gebe zu, als ich mit Football angefangen habe, wurde das Rudern vernachlässigt, aber man kann nicht alles machen und ich soll ja auch noch ein bisschen studieren, so ganz nebenbei. Rudern mag ich also wirklich auch.
Was ich nicht mag, ist die Kombination, das seit einigen Jahren in Venedig jährlich veranstaltete Weihnachtsmännerbootsrennen. Eine durch und durch bescheuerte Idee. Erwachsene Männer und Frauen, gut gebaute, kräftige Ruderer, ziehen sich ein rotes Santa- Klaus-Kostüm an und rudern auf ihren Booten um die Wette durch den Canal Grande. Wenn es einen Gipfelpunkt der Geschmacklosigkeit gibt, dann ist er hiermit erreicht. Natürlich, die Touris finden es super und das Stadtmarketing ist hellauf begeistert. Klar, gibt bunte Bildchen für die Zeitungen in einer ansonsten winterlich grauen Stadt. Hätte das meine Großmutter noch erlebt, die jeden Tag am Fenster ihres Palazzos stand und den Booten zusah, sie wäre auf der Stelle tot auf den Terrazzoboden gekracht. Zum Glück ist sie schon tot. Also nicht zum Glück, aber du weißt, was ich meine, zumindest braucht sie sich diese Verschandelung der Stadt nicht mehr anzusehen. Widerlich!
Und jetzt kommt’s. Meine Nichte, Laura, fünf Jahre alt. Ich war zu Besuch und frage sie, was sie sich zu Weihnachten wünsche, und sie schaut mich mit ihren Rehäuglein an und sagt: “Dass du das Weihnachtsmannrennen gewinnst.„
Luisa, ihre Schwester, acht, nickt und erklärt mir im ernsten Ton einer Klassensprecherin, dass Laura schon seit Wochen von nichts anderem spricht. Sie wünsche sich im Übrigen dieses Jahr gar nichts, wenn ich nur Laura diesen einen, so wichtigen Wunsch erfülle. Na super. Das kommt davon, wenn die Kinder zu früh mit Tonnen an Spielzeug überladen werden, dass sie mit acht schon alles haben und dann zu kleinen Erpressern werden. Was hätte ich denn tun sollen? Natürlich habe ich zugesagt, tapfer gelächelt und mir von meinen süßen Nichten dicke Umarmungen, die mich fast erwürgten, Yeah-Schreie direkt in mein Ohr und Wellen von wildem Gehopse abgeholt. Meine Schwester, der das Ausmaß der Katastrophe bewusst war, stand mit einem entschuldigenden Lächeln und einem Geschirrtuch in der Küchentür. Der Kindergarten sei schuld. Dort hätten sie Weihnachtsmänner malen müssen und die ganze Geschichte sei überhaupt erst aufgekommen. Die Väter von Sofia, Lara und Cecilia führen mit und da Roberto (der Mann meiner Schwester) überhaupt nicht rudern könne … – und das wäre auch für Laura überhaupt nie in Frage gekommen. Sie wäre heimgekommen und hatte diese fixe Idee, Onkel Luca, ihr geliebter Onkel Luca, würde für sie gewinnen. Meine Schwester reichte mir ein Glas Grappa. Ich leerte es in einem Zug, blickte auf den Kanal und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

Ich besorgte mir also ein Weihnachtsmannkostüm, meldete mich und mein Boot zur Regatta an und trainierte ein paar Tage lang auf meiner Lieblingsstrecke tief in der Lagune, hinter der Insel Sant Erasmo. Hier war die Luft besser als in der Stadt, wilde Vögel strichen über gelbliches Gras, das auf den seichten Landstreifen auf dem Wasser wuchs. Hier verschob sich der Übergang zwischen Land und Wasser ständig und nur der geübte Ruderer, der seit Jahren mit dieser Gegend Vertraute, bewegte sich durch diese Natur, ohne zu straucheln. Dies waren Venedigs unterirdische Mauern und viele Schiffe waren an ihnen zerbrochen. An den Gräsern hing Reif, der fast so aussah wie Schnee und die Wintersonne mit seinem Glitzern unterstützte. Ich dachte an Katja, die ich noch vor wenigen Wochen, im Oktober, durch die warme Nacht gerudert hatte. Sie studierte Biologie an der Universität Mainz und hatte die Vögel fotografieren wollen. Es gibt sogar ein Foto von uns, das sie später auf ihrem Instagram-Profil veröffentlichte mit den Worten:
“Ein herrlicher #sommernachmittag mit dem wunderbaren Luca. #venice #birdwatching.„
Das war alles, was übrig geblieben war von einem verheißungsvollen Nachmittag und einem romantischen Abend dieses ungewöhnlich heißen Oktobertages.

Am Tag der Regatta war ich schon um sechs Uhr wach. Ich rasierte mich, duschte und schlüpfte in Hose und Pulli. Bei Enrique an der Bar nippte ich an meinem Cappuccino und las die Schlagzeilen der Zeitung. Mein bester Freund Stefano war auch da, ebenso wie Riccardo und sein fröhlich hechelnder Hund Baxter.
“Morgen, Santa!„, begrüßte Riccardo mich spöttisch. Stefano grinste, Enrique verbarg seine Zahnlücken hinter der Kaffeemaschine.
Natürlich hatte sich die Nachricht von meiner Teilnahme an der bescheuerten Regatta schnell rumgesprochen, und da keiner meiner Kumpels Kinder oder kleine Nichten hatte, konnten sie sich für den Zirkus nicht erwärmen.
“Hör zu, Weihnachtsmann„, nahm mich Riccardo zur Seite, “ich hätte gerne ’ne Nauta Air 110 mit einer schicken Blondine drauf, plus Liegeplatz in Venedig, Saint Tropez und einigen Karibikinseln und für Baxter einen schönen Knochen.„
“Riccardo„, klopfte ihm Stefano auf die Schulter, “du würdest dich auf so einer großen Yacht doch nur verlaufen. Wünsch dir lieber einen neuen Fernseher. Deiner flimmert so, dass mir am Morgen noch der Schädel brummt.„
“Du musst ja nicht jeden Abend zu mir kommen. Kannst gerne zu Hause bleiben. Obwohl, bei deiner Alten würde ich auch den Flimmerfernseher vorziehen.„
“Ich muss los„, verabschiedete ich mich knapp und warf den Gazzettino auf einen der Tische. Ich war heilfroh, dass Stefano und Riccardo beide Jobs am Festland hatten und somit ausgeschlossen war, dass sie mich im Kostüm sahen.
Wieder zu Hause schlüpfte ich in meine Trainingsklamotten und wärmte mich eine Dreiviertelstunde auf, bevor ich erneut duschte und mein Weihnachtsmannoutfit samt Rauschebart anzog. Meine Schwester wollte mit Laura und Luisa um 11 Uhr am Ziel bei der Accademia-Brücke sein und mir zujubeln. Ich wünschte, ich wäre nicht so gutmütig gewesen und hätte einfach Nein gesagt, als ich mich im Spiegel betrachtete. Aber nun gab es kein Zurück. Ich sprang über die Balustrade, machte die Leinen los und ruderte in Richtung Canal Grande. Als ich gerade in den Rio Santa Marina einbiegen wollte, begann der Bart so zu jucken, dass ich es nicht mehr aushielt und kurz die Ruder hochzog. Da rast so ein Irrer mit seinem Motorboot an mir vorbei, mein Boot knallt gegen die Mauer und mich haut es volle Asche ins Wasser. Zum Glück war der Kanal nicht tief, ich konnte stehen, schrie dem Arschloch eine Million Schimpfwörter hinterher, aber natürlich war ich von oben bis unten klatschnass. Das Kostüm hing zentnerschwer an meinen Schultern, als ich mich mit letzter Kraft über die nahen Stufen aus dem Kanal schleppte. So eine verdammte Scheiße. Zum Glück war wenigstens meine Tasche im Boot geblieben und nicht ebenfalls komplett durchtränkt. Die Weihnachtsmannrobe war im Eimer und ich konnte unmöglich in diesem nassen Fetzen beim Rennen starten. Ich sah die enttäuschten Gesichter von Laura und Luisa vor mir und meine Schwester, die die nächsten Wochen wahrscheinlich kein Wort mehr mit mir reden und ihre Sprüche parat haben würde: “Genau wie dein Freund Stefano„, und “Schade, dass die Kids sich auf dich verlassen haben.„
Das mit dem nassen Kostüm würde sie mir bestimmt nicht glauben, sondern behaupten, ich hätte es verschlafen und suchte auch noch nach billigen Ausreden.
“Spar dir dein Gerede und geh einfach mit deinen Kumpels saufen„, hörte ich sie in meinem Kopf reden und dabei die Lippen beleidigt nach innen ziehen, sodass sich Kinn und Nase fast berührten.
Unter meinem Kostüm breitete sich eine Pfütze auf dem Steinboden aus, als ich so dasaß und überlegte, was jetzt zu tun war.
“Bist du der Weihnachtsmann?„, hörte ich eine Stimme hinter mir fragen.
Ich drehte mich um. Die Stimme gehörte zu einem etwa vierjährigen Mädchen mit einer glitzernden Prinzessin auf der Mütze. Ihre Hand wurde von einer jungen Frau gehalten, die mich etwas belustigt, aber mit dem schönsten Lächeln der Welt angrinste.
“Brauchst du Hilfe?„, fragte sie mich und strich ihre Haare zurück.
Ich hatte für einen Moment lang vergessen, dass ich in einem triefenden, roten Kostüm vor ihr saß und hörte sofort auf, sie anzustarren.
“Bist du der Weihnachtsmann?„, wollte die Kleine erneut wissen.
“Nein, ich bin Luca. Und du?„
“Maria„, sagte die Kleine selbstbewusst.
“Und wie heißt deine Babysitterin?„, fragte ich mit einem charmanten Lächeln, und war unglaublich stolz auf meinen Mut in Anbetracht meiner erbärmlichen Garderobe.
Ich schaute die Schöne an und war mir sicher, dass ihre Augen noch viel mehr glitzerten als die Prinzessin auf der Kindermütze. Zum Glück erwähnte ich diese Beobachtung nicht. He, Schätzchen, deine Augen funkeln stärker als die Glitzerprinzessin auf der rosa Kindermütze. Nein, eher nicht. Solche Gedanken für sich behalten, das hatte ich in den letzten Jahren gelernt. Überhaupt gingen meine Vergleiche meist total in die Hose, auch wenn mir immer so viele einfielen. Über Sterne wurde schon alles gesagt, und schwarze Oliven, Fische und ähnliches kamen definitiv nicht gut an, wenn es um strahlende Augen ging.
Das Kind lachte.
“Das ist doch meine Mama, nicht meine Babysitterin!„
Ich wollte “Du hast eine sehr schöne Mama„ oder etwas in der Richtung sagen, biss mir aber auch da auf die Zunge.
“Ich bin Anna„, sagte die Schöne.
Anna und ihre Tochter Maria, christlich gesehen machte das Sinn, vor allem zur Weihnachtszeit. Fehlte nur noch, dass Maria eine Puppe namens Jesus hatte. Ich wollte gerne fragen, wo denn Annas Mann war, der Vater von Maria, aber mir fiel nicht mehr ein, wie der in der Bibelgeschichte hieß. Josef war es nicht, das war der Mann von Maria, Maria und Josef, Anna und …
“Aber so schaut der Weihnachtsmann aus„, sagte Maria und deutete mit ausgestrecktem Finger auf mich.
“Es gibt heute ein Rennen», erklärte ihr ihre Mutter, »da fahren lauter Leute als Weihnachtsmänner verkleidet mit dem Boot.„
Genau, das stimmte! Das Rennen hatte ich völlig vergessen. Jetzt holte mich die gesamte Wucht der Gegenwart wieder ein: “Ja, Scheiße, ich wollte gewinnen, und dann kommt dieser Intelligenzallergiker mit seinem Boot … – Tschuldigung, das sagt man nicht. Also Scheiße, Scheiße sagt man nicht, und das andere auch nicht, hörst du, Maria. Tut mir echt leid.»
»Ich mag lieber Einhörner„, sagte Maria trocken.
Joachim, jetzt fiel es mir wieder ein, die Eltern von Maria: Anna und Joachim. Aber jetzt war es schon zu spät für den Witz. Das war typisch für mein Gehirn. Schlagkräftig, aber mit Anlaufschwäche. Ich war einfach etwas gestresst.
Auf Annas Uhr war es zehn nach zehn. Noch fünfzig Minuten bis zum Rennen. Das war zu knapp, um nach Hause zu rudern, für einen Weg brauchte ich mindestens dreißig Minuten, selbst wenn ich Gas gab.
“Wenn du willst, komm rauf. Ich kann dir was Trockenes zum Anziehen leihen.„
Sie hatte schon den Schlüssel in der Hand und zog das Kind nach. Ich schälte mich schnell aus dem Kostümlappen und ließ ihn in der Gasse liegen, machte mein Boot fest und schnappte meine Tasche. In Shorts und nassem Unterhemd schlich ich hinter ihr die Treppen hoch. Maria drehte sich immer wieder zu mir um.
“Ich kann dir mein Zimmer zeigen„, sagte sie.
Ich nickte.
Die Wohnung lag im zweiten Stock. Sie war hell und einfach eingerichtet. Den Bildern nach zu urteilen war Joachim wohl während der biblischen Reise verloren gegangen, die meisten zeigten Anna und Maria, im Wald, am Strand, in Florenz.
Anna drückte mir einen Stapel trockener Klamotten in die Hand und ich verschwand kurz im Bad. Ich sah bestimmt furchtbar aus in dem übergroßen Frauenpulli und Schlabberhosen, aber mein Sportsgeist war wieder geweckt. Ich wollte ein Rennen gewinnen und ich brauchte ein Kostüm.
“Du hast nicht zufällig irgendwo ein Weihnachtsmannkostüm rumliegen?„, fragte ich Anna, die Maria ein Glas Saft einschenkte.
Die Uhr in der Küche zeigte zwanzig nach zehn an. Noch vierzig Minuten. Es wurde knapp.
“Nicht dass ich wüsste.„ Anna überlegte ein bisschen. “Ich habe Stoff. Ich habe roten Stoff. Wann ist das Rennen?„
“Um elf.„
Sie ging ins Wohnzimmer und öffnete die Schiebetüre eines weißen Schranks, der vor Stoffen überquoll. Maria folgte uns und hielt das Glas vorsichtig vor ihrer Brust, um nichts zu verschütten. Anna bewegte ein paar Stoffstapel hin und her und kramte ein langes Tuch in Rot hervor.
“Das sollte gehen.„
“Du willst in dreißig Minuten ein Weihnachtsmannkostüm nähen?„, fragte ich etwas verzweifelt.
“Wird knapp, oder?„
“Unmöglich. Wir müssen uns was anderes einfallen lassen. Hast du irgendein Kostüm? Wenn ich nicht verkleidet bin, werde ich nicht zugelassen. Aber vielleicht tut’s auch ein Elf oder so was in der Art.„
Annas Armbanduhr tickte die Minuten unablässig weg, ich sah meine Felle davonschwimmen.
Maria, die bis dahin abwechselnd ihren Saft geschlürft und laut gerülpst hatte, riss plötzlich die Augen auf. Sie stellte das Glas auf den Tisch, rannte in ihr Zimmer und kam mit einem riesigen Einhornkopf im Arm wieder.
“Du kannst mein Kostüm haben„, sagte sie.
Das Einhorn war zumindest weiß und flauschig, es hatte eine lange Mähne und man trug es wie eine Mütze auf dem Kopf. Maria setzte es mir auf und der Spiegel sagte, dass ich aussah wie eine Mischung aus Weihnachtsfee, White Goth Punk und dem Rentier vor Santas Schlitten.
“Also jedenfalls schon ziemlich weihnachtlich„, befand Anna zufrieden.
Maria war begeistert. “Du bist das Weihneinnachtshorn, nein, ich meine das Weihnachtshorn, nein, das Wein …„
Sie fiel fast um vor Lachen, weil sie das Wort Weihnachts-Einhorn, das sie offenbar suchte, nicht aussprechen konnte.
“Sagen wir, Luca ist ein W-Einhorn„, meinte Anna.
“Jaaa!„ Maria war begeistert. “Ein Weinhorn, ein Weinhorn, ein wunderschönes Weinhorn.„
Es war zwanzig vor elf. Und ich musste auch noch zum Startpunkt rudern.
“Gut, Kopf ist erledigt, jetzt brauchen wir noch was für den Rest„, sagte Anna.
Sie hatte recht. Der Joggingpulli stand in krassem Kontrast zu meiner extravagant frisierten Mähne.
Sie riss mit einer kräftigen Bewegung die rote Stoffbahn durch, legte eine Kordel in ihre Mitte, und warf die eine Hälfte des Stoffes darüber. Sie führte ihre Bewegungen so gezielt, konzentriert und fließend aus, dass ich sie mir als Tänzerin auf einer großen Bühne vorstellte, wie ihr hunderttausende von Menschen zu Füßen lagen.
“Du siehst aus wie eine wunderschöne Tänzerin.„
Oh mein Gott, ich hatte es tatsächlich gesagt. Lass solche Vergleiche, Luca, sie gehen immer schief! Ich spürte, wie ich über beide Ohren rot anlief wie eine mexikanische Chili im Spätsommer. Sie schlug die Augen auf und stieß ein Lachen aus.
“Du hast eine gute Beobachtungsgabe. Ich bin Tänzerin.„
Tatsächlich, erst jetzt fiel mein Blick auf die Schwarz-Weiß-Bilder über dem Schreibtisch, die Tänzer in komischen Posen und leichten Kostümen zeigten. Ich hatte zu Tanz nichts zu sagen, kannte mich überhaupt nicht aus, vermutlich war auf einem der Bilder Nurejew, das wusste ich, dass der ein berühmter Tänzer war und vermutlich in keiner Tanz-Bildcollage fehlen durfte, aber ich wollte mich nicht in die Nesseln setzen. Ich dachte kurz darüber nach, etwas wie Du-hast-ja-auch-die-richtige-Figur-dafür zu sagen, aber das wäre so was von unangebracht gewesen. Ich hielt die Klappe und versuchte, sie mir nicht in einem engen Glitzerdings in der Umkleidekabine vorzustellen. Ich versuchte auch, mir nicht vorzustellen, wie sie sich umzieht nach der Aufführung und ihr Make-up entfernt, sodass ihr natürlicher Teint mit den kleinen Sommersprossen unter der Theaterschminke auftaucht und ich mich hinter einem Paravent in ihrer Garderobe verstecke, um sie heimlich zu beobachten. Und vor allen Dingen versuchte ich, mir nicht vorzustellen, wie sie mich schließlich entdeckt, aber nicht schreit, sondern Gefallen an mir findet, die Tür absperrt und sich ohne ein Wort unsere Lippen berühren.
“So, der Umhang ist fertig.„
Sie warf mir die rote Stoffbahn über, band sie vor meinem Hals mit der Kordel zu und klebte die Öffnung mit mehreren Streifen Tesa zu.
“Hält nicht ewig, aber für heute sollte es reichen.„
Die Stoffbahn war so weit, dass ich problemlos meine Arme unter dem Cape bewegen konnte, was beim Rudern nicht unwichtig war. Die Frau war genial. Ich fragte mich kurz, wie das ging, dass man ein Kind hatte und trotzdem Tänzerin war, ich meine, als Tänzerin, wenn man da schwanger wird, das ist doch eigentlich das Ende, oder? Aber auch das schien mir kein geeignetes Gesprächsthema und ich wollte auf keinen Fall irgendwie chauvinistisch rüberkommen.
Der Blick in den Spiegel überzeugte mich. Ich sah zwar definitiv nicht aus wie der Weihnachtsmann, sondern eher wie der Torhüter eines russischen Winterpalastes, aber es war ein Kostüm, es war weiß und rot und ich war mir recht sicher, dass sie mich damit starten lassen würden. Wenn es nicht als Weihnachtsmannkostüm durchging, bekam ich bestimmt zumindest den Mitleidsbonus.
Es war Viertel vor. Ich umarmte Anna, sog den Duft ihrer Haare ein und bedankte mich herzlich bei Maria für das Kostüm.
“Aber du bringst es mir wieder!„, sagte sie mahnend.
Ein großartiges Kind. Stimmt, ich musste ja quasi wiederkommen.
“Magst du mir deine Nummer geben? Dann bring ich es wieder vorbei„, sagte ich zu Anna.
Wir zückten unsere Handys und tauschten Nummern.
Dann raste ich die Treppen hinunter, sprang in mein Boot und gab alles, um rechtzeitig an der Startlinie zu sein.

Die anderen Weihnachtsmänner staunten nicht schlecht, als ich angerudert kam. “Posture is everything„, dachte ich und versuchte möglichst aufrecht zu stehen und cool dreinzuschauen, als ich mit meiner weißen Irokesenponyhaartracht und dem roten Cape eintraf. Keine Sekunde zu früh, ich war der Letzte, der auf der Teilnehmerliste noch nicht abgehakt war und Giorgio Colombo, der das Weihnachtsmännerrennen gemeinsam mit seinem Ruderclub veranstaltete, musterte mich von oben bis unten. Die anderen Männer, größtenteils Familienväter, die ich mehr oder weniger gut vom Sehen kannte, dachten wohl, ich wolle mich über das Rennen lustig machen, eine dieser Studentenwetten, die man im betrunkenen und zugekifften Zustand verliert, aber ich hatte keine Zeit und keine Lust, sie aufzuklären. Giorgio Colombo hingegen fand mich offensichtlich amüsant. Er blickte unter seinen weißen, buschigen Augenbrauen hervor und versetzte seinen runden Bauch durch heftiges Lachen in Vibrationen.
“Hohoho, na, das nenne ich mal originell. Sehr gut, Luca! Was bist du, der Weihnachtsmann aus der dritten Galaxie? Oder soll das irgendeine asiatische Actionfigur sein?„
Sein Bauch wippte immer noch, während sich sein Gesicht etwas entspannte und er meinen Namen abhakte.
“Na, jedenfalls ist es ein Kostüm, und in den richtigen Farben.„
Er beugte sich zu mir und zwinkerte: “Ich hab’ ja was übrig für die Jugend.„
Ich lächelte ein wenig angestrengt. Ich war völlig fertig von der Ruderei und der ganzen Aufregung, die sich nun erst langsam einen Weg in mein Bewusstsein bahnte. Meine Schulter schmerzte und mich fröstelte es plötzlich an den Füßen, weil ich ja barfuß war, was zum Rudern an sich gut war, aber nicht im Dezember und nicht im Wind auf dem Canal Grande.
Wir gingen alle auf Position und ich merkte bereits jetzt, dass ich Schwierigkeiten bekommen würde, das Rennen durchzuhalten. Die Strömung und der Wellengang waren auf dem großen Kanal viel stärker als in den kleinen Wassergassen, ich war aus der Übung und die Gedanken an Anna, die Tänzerin, raubten mir die Konzentration.
Der Startschuss fiel, ich tauchte meine beiden Ruder ein und drückte mich mit dem ganzen Körper nach vorn, um mein Boot in Bewegung zu kriegen.
Vermutlich hat jede Ruderart ihre eigenen Gesetze. Beim venezianischen Rudern, im Stehen, ist die beste Taktik, im Windschatten des schnellsten Bootes zu fahren und auf den letzten Metern zu überholen. Wer voranfährt, braucht zu viel Kraft, wer weiter hinten landet, bekommt in den vielen Unterwasserströmungen, die die Ruder erzeugen, keinen Halt mehr und kommt nicht vom Fleck.
Ich haute mich richtig rein und nach wenigen Zügen hatten wir die meisten der rund dreißig Boote hinter uns gelassen. Vor mir ruderte Gino, der Vater von Cecilia, und neben mir Vanessa aus dem Frauenruderclub der Pink Lionesses. Ich vergaß die Kälte, kurze Zeit später die Schmerzen in der Schulter und versuchte, an Laura und Luisa zu denken und ihre strahlenden Gesichter, wenn ich durch die Ziellinie fahren würde.
Das Wettrennen ging vom Rialto bis zur Accademia-Brücke. Keine weite Strecke, aber mir reichte es.
An den Ufern standen Schaulustige mit Kindern und Ballons und riefen uns zu, fotografierten und jubelten. Vielleicht lachten sie auch über mein Kostüm, aber ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Ich wollte gewinnen, für Laura.
Als ich sieben war, hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass mein Vater die Regatta storica gewann. Ich kann nicht mal genau festmachen, worum es mir ging. Um die Anerkennung der anderen Jungs in meiner Klasse? Um die Bandiera, wollte ich einfach nur stolz sein, dass ich so einen tollen Papa hatte? Er gewann und ich erinnere mich noch heute an die grenzenlose Glückseligkeit, die ich noch wochenlang in mir trug. Ich war so unfassbar stolz, sein Sohn zu sein. Einige Jahre später fragte ich meinen Vater, ob er nackt über einen Laufsteg laufen würde, wenn es für einen guten Zweck wäre. Und er antwortete nach kurzer Überlegung: “Ja, wenn es für einen guten Zweck wäre, würde ich das tun.„
Da war ich wirklich platt – mein Vater, aufgewachsen in einer der konservativsten Familien Venedigs, mit Geld und Ehre und der ganzen Vergangenheit im Nacken, würde sich sprichwörtlich die Blöße geben, wenn es um eine gute Sache ging. Das hatte selbst die Regatta in den Schatten gestellt und ich war sicher, dass er einer der unglaublichsten Menschen auf dieser Erde war. Ich werde diesen kleinen Augenblick nie vergessen und er treibt mir noch heute die Tränen der Anerkennung in die Augen, obwohl mein Vater schon lange tot ist.
Ich ruderte schneller. Ich wollte ihm zeigen, dass ich sein Sohn war. Ich wollte es ihm zur Ehre tun. Er sollte auch stolz sein auf seinen Luca, der seine Enkelinnen nicht fallen ließ, der für sie den Sieg holte, der sich von keiner Peinlichkeit dieser Welt aufhalten ließ. Ich würde gewinnen. Ich wusste es in diesem Moment.

Als ich durch die Ziellinie fuhr, jubelten auf der Brücke die Leute. Ich hörte auf zu rudern, ich atmete, ich hatte gewonnen. Vor meinem von Tränen belegten Blickfeld sortierten sich langsam wieder die Konturen, und als ich mich umdrehte und zur Brücke hinaufblickte, sah ich Laura und Luisa wild hüpfen und sich drücken und herzen. Meine Schwester weinte und lachte. Vielleicht erinnerte ich auch sie an unseren Vater, wer weiß. Daneben standen Anna und Maria und winkten mir zu.
Wenig später piepste mein Handy.
“Wir würden das Weinhorn gerne morgen zum Abendessen einladen, um seinen Sieg zu feiern„, stand in Annas Nachricht.
“Das Weinhorn ist weinverstanden», schrieb ich zurück. Nicht besonders originell, ich weiß, aber das war ich nun mal nicht. Anna schien mich trotzdem zu mögen. Und ich mochte sie auch, sehr sogar.

Über die Autorin

Claudia Klingenschmid, 1983 in Tirol geboren, studierte Psychologie, Theater und Literatur und war u.a. als Pantomime, KlinikClown und Strickguerrillera tätig. Nach Stationen in Rom, München, Durham/North Carolina und Venedig lebt sie gemeinsam mit ihrem Mann, dem Historiker Romedio Schmitz-Esser, und ihrer Tochter in Graz. Sie veröffentlichte Lyrik, Essays und ein Sachbuch über ihr Street-Art-Projekt „Die Rausfrauen“. 2016 erhielt sie den „RCB European Literature Prize“ für ihre Kurzgeschichte „Gemüse für die Ewigkeit“. Ihr erster Roman, „Parasit ToGo. Die geheimen Wirtschaften eines Urtierchens“, erscheint im Februar 2019.

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