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Adventsgeschichte 18. Dezember

The stars are brightly shining

von Petra Dalquen

„Kannst du das noch mal wiederholen?“ Katharina streckt kämpferisch ihr Kinn nach vorne und aus ihren Augen, die Max herausfordernd ansehen, funkeln ihn Mordgelüste an. Die acht jungen Leute und der Fahrer des Minibusses schnappen hörbar nach Luft, als Max wiederholt, was sowieso alle beim ersten Mal schon verstanden hatten.
„Yep! Kann ich. Ich habe gesagt, wir wollen den Losern mal zeigen, wie man stilvoll Weihnachten feiert, wie man’s richtig krachen lässt“, und zur Bekräftigung seiner Worte gibt er der Kiste unter seinem Sitz einen Tritt, dass die Champagnerflaschen darin gefährlich klirren. Seine Sprache ist leicht verwaschen, sodass man darauf schließen kann, dass er die erste Flasche bereits angebrochen in seiner Umhängetasche verstaut hat.
Katharina unterdrückt ihr Bedürfnis, ihn aus dem Kleinbus rauszuschmeißen, allein schon wegen der Tatsache, dass er selbst diese Fahrt mitfinanziert und außerdem, weil die Menschen in den Bergen nach den verheerenden Bränden des letzten Sommers dringend der Spenden bedürfen, die sie selbst ihren sogenannten „Freunden“ mit viel Überredungskunst und großem Zeitaufwand aus den Rippen geleiert hat.
Sie knallt ihre Tasche unter den Sitz hinter dem Fahrer und gibt ihm das Zeichen zum Losfahren. „Idiot“ und „So ein Arschloch“ flüstert sie so laut, dass alle es hören können.
„Na ja, war vielleicht ein bisschen exaggerated, aber irgendwie hat er ja auch recht.“ Ben flegelt sich neben Katharina auf den Sitz, verknotet seine langen Beine und legt einen Fuß rücksichtslos auf sein Knie, sodass sein 200 € teurer Sneaker zur Hälfte auf Katharinas Oberschenkeln zu liegen kommt. Eine Wolke seines dekadenten Dufts, der zu neunzig Prozent aus animalischem Schweißgeruch zu bestehen scheint, hüllt sie ein und nimmt ihr den Atem.
„Sieh dich doch mal hier um, sie hausen in uralten Häusern, die feucht und schimmelig sind, und die keine vernünftigen sanitären Anlagen haben. Ich wette, in so einigen Hütten liegen die Hühner und die Katzen einträchtig auf Stühlen und Tischen herum.“
Im Spiegel über dem Armaturenbrett sieht sie, dass der junge, portugiesische Fahrer sie ansieht und den Kopf schüttelt. Er hat ja recht, sie sollte solche dummen Sprüche einfach ignorieren.
„Wieso redest Du eigentlich immer diesen deutsch-englischen Mischmasch? Du verbringst, seit du ein Hosenscheißer warst, deine Ferien hier in diesem Land und kannst keinen Brocken Portugiesisch? Dann entscheide dich doch für eine einzige Sprache und spar dir deine pseudo-weltmännische Angeberei“, kann sie sich dann doch nicht verkneifen, stopft sich die Kopfhörer ihres Smartphones in die Ohren und schließt ihre Augen.
Im Bus beginnt die Stimmung sich aufzuheizen. Sie haben alle irgendwelche Getränke dabei und das Gelächter ist so ausgelassen wie bei einer coolen Beach Party. Was ist nur mit ihr los?, fragt sich Katharina. Sonst genießt sie doch die Gesellschaft von Ben und den anderen, vor allem die von Ben, er ist witzig und klug, obwohl seine Bemerkung eben nicht darauf schließen lässt. Er ist aber auch ein verwöhntes Kind steinreicher Eltern, ewiger Student und Weltenbummler. Wie übrigens die meisten hier, außer den beiden Mädels, die seit dem letzten Event einfach in der Clique hängengeblieben sind. Und außer ihr selbst, die allerdings schon seit ihren Teeniezeiten meistens im Sommer mit der Clique abhängt und die fröhlichen Aspekte des Lebens genießt, die außerhalb dieser vier Monate nicht unbedingt ihr Leben prägen. Katharina hat früh schon ihre Eltern verloren und muss selbst für ihren Unterhalt sorgen. Der Umstand, dass sie hier in Portugal von frühester Jugend an bereits Englisch und Portugiesisch lernen musste, hat ihr zu einem relativ sicheren Job an der Rezeption eines eleganten Hotels verholfen.
„Hey, das ist ja krass!“ Ben schubst sie an und zeigt auf die Eukalyptusbäume am Straßenrand, deren Rinde normalerweise in Streifen herunterhängt und theatralisch im Wind flattert. Jetzt sind davon nur noch verkohlte Fragmente übrig, die wie überdimensionale drohende schwarze Finger anklagend in den Himmel zeigen.
»Wart´s ab, das ist ja erst der Anfang, in spätestens fünf Minuten siehst du das ganze Ausmaß der Katastrophe.«
Katharina denkt mit Entsetzen an den Tag am Ende des letzten Sommers zurück, als sie mit einer Kollegin hochgefahren war nach Monchique, zwei Tage nachdem die Feuerwehr angab, die katastrophalen Brände unter Kontrolle zu haben. Zunächst einmal. In aller Eile hatten sie einige Kisten mit Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens, mit Toilettenartikeln und Lebensmitteln zusammengesammelt, um nicht mit leeren Händen dort oben anzukommen, wo die Feuerlawine den Menschen ihre Häuser, ihre Felder, teilweise auch ihre Tiere, ihre Lebensgrundlage genommen hatte. Im Jahr davor hatten weiter im Norden bei den Bränden mehr als 70 Menschen auf tragische Weise ihr Leben verloren.
Ihre Kollegin hatte unterwegs beim Anblick der total zerstörten Natur eine Panikattacke bekommen und sie waren kurz davor gewesen, wieder umzukehren. Hunde und Katzen liefen ziellos auf der Straße umher, Hühner flatterten und gackerten aufgeregt am Straßenrand. Ein Schäfer kam ihnen mit seiner Herde und der Hundemeute auf dem Weg Richtung Küste entgegen und brachte sich und seine Tiere in Sicherheit.
In Katharinas Bauch wird es ganz kalt, wenn sie an die Menschen denkt, die ihnen als erste begegnet sind. Zu zehnt oder zwölft standen sie am Rande einer kleinen Ansiedlung ohne Schutz vor der sengenden Sonne beieinander, von den Bäumen standen nur noch verkohlte Strünke, alles war von einem Ascheteppich überzogen, wie in einer Mondlandschaft. Ihre Gesichter, Haare und Hände waren schwarz gefärbt, die Klamotten angesengt und zerrissen, der Ausdruck ihrer Augen stumpf, verzweifelt und resigniert. Drei kleine Kinder lagen zusammengekringelt auf einer Decke unter einem verkohlten Baum, über den notdürftig eine zerrissene Plastikplane gespannt war, und schliefen. Katharina und ihre Kollegin sind ausgestiegen und alle sind sich einfach nur schluchzend und voller Verzweiflung in die Arme gefallen. Alle Häuser und Nebengebäude des Minidorfes waren bis auf die Grundmauern abgebrannt, beißender Brandgeruch lag in der Luft und zwischen den Trümmern loderten immer wieder Flammen auf. Diese Menschen hier hatten nichts mehr, nur noch das, was sie am Leibe trugen. Katharina ist sich heute noch ihrer Gefühle von grenzenlosem Mitleid, Hilflosigkeit, aber auch von Scham bewusst, die sie in diesem Moment überfluteten. Scham bei der Erinnerung an eine Situation einige Tage zuvor, als sie mit ihrer Freundesclique bei Musik und ausgelassener Stimmung am Pool einer Luxusvilla entsetzt und zunächst sprachlos erlebte, wie Max, der Möchtegernschauspieler, theatralisch mit den Armen in den Himmel wies, der von einem grauen Ascheschleier überzogen die Sonne bis auf ihre blutrot erscheinenden Umrisse verbarg, und deklamierte: „Und jetzt müssen wir auch noch selbst den Dreck wieder aus dem Pool fischen, der Poolservice kommt heute ganz sicher nicht mehr.“ Das Feuer hatte sich zum ersten Mal in all den Jahren ausgebreitet und war bedrohlich bis auf circa zehn Kilometer Entfernung von der Küste näher gerückt. Auch darüber hatte Max Witze gerissen und gesagt: „Bis zu uns kommt das schon nicht und wenn, retten wir uns in den Pool.“ Alle hatten sie genickt und blöde gelacht, doch keiner der anwesenden Freaks dachte auch nur im Entferntesten an die Menschen und die Tiere, die dort oben in den Bergen, in eben diesem Moment, ihre Existenz und vielleicht sogar ihr Leben verloren. Keiner dachte an die Helden der Feuerwehr, die ihr Leben riskierten, um Mensch und Natur zu retten, die Tag und Nacht im Einsatz waren und die sich einfach vor Erschöpfung auf die Erde fallen ließen und schliefen, wenn die grenzenlose Müdigkeit sie überfiel. Und plötzlich hatte Katharina die Wut gepackt und die Worte waren nur so aus ihr herausgesprudelt, sie hatte geschrien und geweint, ein Tablett mit Champagnergläsern auf dem Boden zertrümmert, ihre mitleidslosen Kumpels beschimpft und ihnen die Freundschaft gekündigt.
Ein winziges, verstecktes Lächeln erscheint jetzt in ihren Mundwinkeln, als sie an die erstaunt erschrockenen Blicke denkt, mit denen die Jungs und Mädels sie, die ewig Freundliche, Gelassene, betrachtet hatten. Wie ein Samenkorn war in diesem Augenblick ein Gedanke in ihr angelegt worden, der gekeimt und innerhalb kurzer Zeit zu einer kleinen kräftigen Pflanze herangewachsen war, sich zu einem Hilfsprojekt entwickelt und der sie heute hierhergebracht hatte. In den vergangenen drei Monaten war es ihr und ihren mittlerweile zahlreichen Helfern gelungen, so viel Geld aufzutreiben, dass zusammen mit der Spende der sogenannten „Freunde“ bis jetzt sechs gebrauchte Wohnwagen angeschafft werden konnten, die den Ärmsten der Armen ein Dach über dem Kopf in dem bevorstehenden Winter bieten konnten. Ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber ein Anfang. Und es waren überall an der Algarve ähnliche Hilfsprojekte entstanden, ursprünglich eine Art Nachbarschaftshilfe, die weitere Trailer, Werkzeuge aller Art, warme Kleidung, Stromaggregate, Heizdecken, Möbel einsammelten und heranschafften, die sich aber im Verlauf der letzten Wochen zu einer beachtlichen Effizienz entwickelt hatten.
Die eingetretene ungewohnte Stille im Bus hinter ihrem Sitz kommt Katharina unerträglich laut vor, sie schreit förmlich in ihren Ohren, denn sie enthält wahres und ungeschminktes Entsetzen. Die Schultern des Fahrers vor ihr beben und Katharina legt tröstend ihre Hände darauf. Beim Blick aus den Fenstern auf die verbrannte Erde, die verkohlten Gerippe der Bäume und Sträucher und auf die zerstörten, geborstenen Mauern einer ehemals intakten Dorfgemeinde sind auch die ausgelassensten unter den jungen Menschen stumm geworden. Und es wird noch viel dramatischer kommen, je weiter sie sich dem Gipfel nähern.
„Halt doch da vorne mal kurz an, José, ich glaube wir könnten uns alle mal die Beine vertreten“, schlägt sie dem Fahrer mit einem Blick in seine rot geränderten, in Tränen schwimmenden Augen im Spiegel vor. Er kann in dieser Verfassung auf keinen Fall weiterfahren.
„Hey, wie cool, Picknick in verräucherter Mondlandschaft, hicks!“ Mona, die sich statt auf ihrem teuren Elite Campus in England lieber auf den angesagtesten Golfplätzen dieser Welt herumtreibt, ist voreilig aufgestanden und torkelt durch den Gang, als der Bus in einen Seitenweg einbiegt. Max fängt sie auf und zieht sie lachend auf seinen Schoß. „Nicht so eilig, Süße, kannst wohl das Fotoshooting in dieser verrotteten Landschaft gar nicht abwarten!“
„Ihre Tattoos und ihr Gothic Style passen jedenfalls mega zu dem Aschehaufen da draußen.“ Lukas streckt Katharina, die sich umgedreht hat und ihn wütend anstarrt, herausfordernd die Zunge heraus. Der Schock über den Ausblick hat nicht sehr lange angehalten. Zumindest bei den Hartgesottenen.
Doch Katharina sieht auch Entsetzen in einigen Augen, als sie alle ausgestiegen sind. Sie begleitet José, den kräftigen Portugiesen, zu einem Baumstumpf etwas abseits und bietet ihm ihr Wasser an. Der junge Hüne hockt sich völlig aufgelöst auf den Boden und kann gar nicht aufhören zu weinen, schluchzend erzählt er, dass er das Ausmaß der Katastrophe zum ersten Mal sähe, er habe sich nicht hier hoch in die Berge getraut, er hätte gewusst, dass er die Realität nur schwer verkraften würde. So viele, so herrlich unbeschwerte Sommer seiner Kindheit habe er hier oben bei Verwandten verbracht. Immerhin die seien von den letzten Bränden verschont geblieben.
Charlene, die aparte Schweizerin, hat sich neben José gesetzt und streichelt ihm den breiten Rücken. Katharinas Herz fliegt ihr zu, sie ist so erleichtert, dass offensichtlich doch nicht all ihre Freunde so empathielos sind. Auch Ben und Tobias haben sich von dem Grüppchen um Max distanziert, sie peitschen mit kleinen Stöcken verbrannte Blätter von Buschgerippen und nippen hin und wieder an ihren Bierflaschen.
Als Katharina sieht, wie José unter Tränen zärtlich über die verkohlte Erde streicht, kann auch sie ihre Tränen nicht zurückhalten. „Schau doch, José, hier sprießen schon wieder neue Pflänzchen“, und tatsächlich, Katharina traut selbst ihren Augen kaum, unterhalb der Baumstümpfe, inmitten der Asche der verbrannten Pflanzen, blitzt das intensivste, schillerndste Grün, das sie je gesehen hat. In der Zwischenzeit hat es einige Male geregnet und die Baumruinen schlagen inmitten der sie umgebenden schwarzen Kulissen neu aus, ein strahlendes Wunder der Auferstehung der Natur!
José sieht so verloren aus, dass Katharina ein liebevoll verschnürtes Päckchen aus ihrem Rucksack zieht und es ihm in die Hand drückt. „Hier, das sind Tomatensamen, die ich gezogen habe! Pflanz sie ein, gieß sie mit meinem Wasser und in drei Monaten kommst Du wieder hier herauf. Du wirst sehen, bis dahin hat sich die geschändete Natur wieder erholt und zeigt uns, dass sie im Gegensatz zu uns Menschen die Folgen unserer Umweltsünden überleben wird.“
„Hey, Katharina, wie ist denn jetzt der Plan, wann geht’s denn endlich weiter?“ Sie hatte die Ungeduld ihrer Freunde schon die ganze Zeit gespürt, außer der verbrannten Erde gab es ja nichts zu sehen. Sie hatten mit ihren Smartphones fotografiert wie die Wilden und es würden einige grandiose Fotos dabei sein. Diese düstere, bizarre, fast komplett schwarz-weiße Berglandschaft, die Hügelkette im Hintergrund, gesäumt mit Baumskeletten, in Verbindung mit dem strahlendblauen Himmel weckte heftige Emotionen. „Jetzt gleich, ihr könnt schon einsteigen, wir kommen sofort“, winkt sie ungeduldig ab. Sie kommen ihr vor wie eine Gruppe rotznäsiger, pubertierender Schüler, die sich hormongesteuert und aggressiv durchs Leben provozieren.

Als sie im Bus ihren Rucksack schließen will, fällt ihr Blick auf die anderen Geschenkpäckchen in der Seitentasche. Sie hat nicht nur Samen verschiedener alter Tomatensorten dabei, sondern von so vielen Gemüse- und Kräutersorten, wie sie seit ihrem ersten Besuch in den Bergen hat auftreiben können. Ein Geschenk. Ihr Weihnachtsgeschenk für Miguel. Fünf Jahre hatte er gebraucht, um die Erde für seine Experimente vorzubereiten, um die gesammelten alten Samen zu säen, um erste Erfolge zu verzeichnen. Und dann war mit einem Mal alles, einfach alles, zerstört und vernichtet. In seinen liebevoll angelegten und gepflegten Beeten, die zum ersten Mal in diesem Jahr überquollen von gesundem, biologisch einwandfreiem Gemüse, fanden sich nur noch Kohlereste, die beim Berühren knirschend auseinanderrieselten. Katharina hatte die ungeweinten Tränen und die Trauer in Miguels dunklen Augen gesehen, doch beim Abschied, als er ihre Hand einen zögerlichen Moment zu lange in seiner gehalten, als er ihr einige aufgeregt stolpernde Herzschläge zu lange in die Augen geschaut hatte, wusste sie, dass er nicht aufgeben, dass er seine Träume von einer biologischen Obst- und Gemüseplantage weiterträumen und sein Projekt irgendwann verwirklichen würde. Als sie, so wie man etwas daher sagt, um zu trösten, jedoch nicht auf die Tränendrüsen drücken möchte, etwas flapsig gesagt hatte: „Asche ist doch ein hervorragender Dünger“, hatte er gelacht, sie zum Abschied geschnappt, hochgehoben, sie durch die Luft gewirbelt und ihr einen winzigen Kuss hinters Ohr gehaucht.
„Bitte komm wieder“, hatte er geflüstert und deshalb beschleunigt sich jetzt ihr Herzschlag, denn in etwas mehr als einer Stunde wird sie Miguel hoffentlich wiedersehen.

Die Fahrt zur verabredeten, abgelegenen Stelle weit nördlich des Berges Picota in der Serra de Monchique ist mühsam. José hat seine liebe Not, aber er ist ein erstklassiger Fahrer und bewältigt das unwegsame Gelände mit steilen Anstiegen und abschüssigen, schmalen Pfaden mit viel Geschick. Die Sonne steht schon tief und in der Dämmerung färbt sich der Himmel, der zwischen den Baumstümpfen aufblitzt, immer wieder neu, immer wieder anders. Die Farben wechseln von hell- zu dunkelorange, von hell- zu dunkelviolett. Die Sonne inszeniert ihren Abgang an diesem letzten Tag vor Weihnachten mit ausgesuchter Dramatik, der Sonnenball ist riesengroß und von einem tiefen, samtenen, leuchtenden Blutrot.
Ben hat seinen kleinen Zauberwürfel-Lautsprecher an sein Smartphone angeschlossen und Katharina ist ihm dankbar, dass er wenigstens portugiesische Musik geladen hat. Ihre Mitfahrer sind still geworden, sie dösen alle etwas schlapp vor sich hin, bis plötzlich nach einer Wegbiegung der Blick frei wird auf eine Ansammlung von Trailern, die im Kreis in der Nachbarschaft von drei niedrigen, halb verbrannten Häusern angeordnet sind, die immerhin noch ein Dach aufweisen können. Zwei Männer in farbverschmierten Klamotten sind dabei, einem alten Bauwagen einen frischen Anstrich zu verpassen.
Die Begrüßung ist stürmisch, eine kleine Menschenansammlung hat sich gebildet, es wird gewinkt, gerufen, Arme werden geschwungen, mehrere kleine Kinder stürmen in den Bus, bevor Katharina und mit ihr ihre Truppe aussteigen kann. Sie werden erwartet und der Empfang ist überwältigend in seiner Herzlichkeit.
Katharina wandert von Arm zu Arm und die vielen Beijinhos, die Wangenküsschen, lassen ihr Herz vor Freude hüpfen. „Das sind meine Freunde und das hier sind…“ Sie versucht, alle einander vorzustellen. Maria Fatima. Jorge. Francisco. Andreia. Olinda. Aurelio. Manuel. Mafalda. Carlos. Amalia. Batista…Namen schwirren durch die Luft. Gelächter. Beijinhos. Hände werden geschüttelt, auf Rücken geklopft.
„Wie können die nur so fröhlich sein?“, flüstert Charlene ihr ins Ohr, doch Katharina kann ihr gerade nicht antworten, sie hat vergessen zu atmen, ihr Herz vergisst für einen Moment zu schlagen. Miguel. Er steht auf dem kleinen Feldweg zwischen den Häuschen, sein Fahrrad in der Hand. Er hat sie vermisst, hat ihr Wiedersehen herbeigesehnt, möchte sie jetzt am liebsten in die Arme nehmen, durch die Luft wirbeln, sie küssen…All das sagen ihr seine dunklen Augen und ihre Füße setzen sich wie von selbst in Bewegung, ein Schritt nach dem anderen und dann legt er seine Arme um sie und die Welt versinkt für eine kleine Weile und lässt die Schmetterlinge in ihrem Inneren Loopings schlagen.
„Schaut, schaut, unsere Eisprinzessin taut gerade mächtig auf.“ Laut und spöttisch, fast gehässig donnert Max’ „Bühnenstimme“ über den Platz, alle drehen sich zu den beiden um und die Schmetterlinge in Katharinas Bauch fliehen, als hätte sie ein Schwall eiskalten Wassers getroffen. Doch Miguels Arm legt sich ein wenig fester um ihre Schulter. „Wenn du ein Problem damit hast, können wir gerne darüber reden“, erwidert er Max mit ebenso lauter Stimme. Er nimmt Katharinas Hand in seine und geht mit ihr zusammen auf ihn zu. „Ich bin Miguel, und wer bist du?“ Er lächelt ihn freundlich an und Max schaut hektisch in die Runde. „Hallo, ich bin Max, zukünftiger Oscar-Gewinner und Star am deutschen Filmhimmel“, krächzt er nicht sehr überzeugend und verdrückt sich zu Lukas und den beiden Mädels, die albern kichern und ihn anhimmeln. Sie wissen ja auch nicht, dass es mit Max’ Schauspielkünsten bisher mal gerade zu einem Auftritt in einer TV-Werbeaktion für Joghurt und einer Werbeanzeige in der Apotheken-Umschau für Hühneraugenpflaster gereicht hat.

„Reicht das olle Ding denn aus für alle Wohnwagen?“ Ben und Tobias stehen vor einem recht großen, verrosteten Generator, der heftig vor sich hin klackert. Ben ist skeptisch und verdreht die Augen. „Als ob gerade er von so was eine Ahnung hätte“, denkt Katharina. Der alte Jorge, Kleinbauer und Bewohner eines der Häuschen, erklärt ihnen, wie die Stromversorgung mit diesem und einigen kleineren Geräten auf diesem Platz funktioniert. Schwer vorstellbar bei dem wirren Kabelsalat. „Das müsste man mit modernen, neuen Geräten doch so hinkriegen, dass ihr nachts hier wenigstens schlafen könnt, der macht ja einen Höllenlärm“, Tobias tritt mit seinem ausgelatschten Sneaker gegen die schnaufende, rumpelnde Maschine. Charlene, die herangeschlendert ist, weist ihn leise darauf hin, dass die Menschen hier alles verloren haben. „Was für ein Quatsch, so viel Geld hat man doch immer, das kostet doch nicht die Welt.“ Charlene schüttelt den Kopf. „Das sagt einer, der noch nie einen Finger gerührt hat und sich auch in hundert Jahren noch von Papi sponsern lässt.“ Der alte Jorge lächelt weise vor sich hin und schweigt.

Katharina räumt zusammen mit José die Kiste mit Spielsachen aus dem Bus. Sie überlässt es dem jungen Mann, die Sachen an die Meute von Kindern aller Altersstufen, die vor Begeisterung wild durcheinanderschreit, zu verteilen. Sie sieht, dass ihm das Spaß macht, er kann sich sogar schon wieder ein kleines Lächeln abringen. Miguel winkt ihr von Weitem zu, er möchte ihr seine Unterkunft zeigen. „Wow! Und das hast du alles selbst gebaut?“ Aus zusammengeschnorrten Einzelteilen hat er einen Anbau an einen Wohnwagen gebaut, in dem er für sich alleine ist und alles hat, was er braucht, sogar ein kleines Waschbecken, das er aus Kanistern mit Wasser füllt. „Du bist talentiert und hast Fantasie.“ Wie süß, seine dunkle Haut hat einen rosigen Schimmer bekommen. Spontan streichelt sie ihm zart über die stoppelige Wange und errötet selbst, als er ihre Hand festhält und ihre Fingerkuppen küsst. Sie spürt wieder ein zartes Flattern wie von Schmetterlingsflügeln hinter ihrem Brustbein.
Die Frauen haben mittlerweile auf zwei zusammengerückten Tischen ein einfaches Buffet aufgebaut. Katharina hat Tränen in den Augen, als sie sieht, wie jede der Frauen etwas beisteuert. Salat, Käse, verschiedene Würste, Brot. Ein Bohnengericht blubbert leise köchelnd auf einem etwas größeren Grill. Sie scheinen hier eine Art Gemeinschaftsküche im Freien eingerichtet zu haben.
„Guckt doch mal, in all dem Chaos hier stehen sogar Blumenpötte rum“, gibt jetzt Mona ihren Senf dazu. Schon erstaunlich, dass ihr das bei all ihrer Oberflächlichkeit auch aufgefallen ist. Und wirklich grünt und blüht es trotzig gegen die triste, deprimierende Umgebung an, in alten, rostigen Eimern, in halben Plastikflaschen und allen möglichen Gefäßen wachsen alle möglichen bunten Blumen- und Kräutersorten in einer verschwenderischen Üppigkeit.
Aber so war das Zusammentreffen doch überhaupt nicht geplant gewesen. Katharina wollte doch mit ihren Freunden zusammen für Essen und Trinken sorgen. Max hat ja auch einen riesigen Picknickkorb besorgt, allerdings hatte er anders als geplant lauter teure Luxusdelikatessen eingepackt. Nur, Max hat seine Kisten unauffällig hinter einem der alten rostigen Kühlschränke abgestellt, die neben dem Grill stehen. Was ist denn mit ihm los? Plant er noch einen Extraauftritt? Katharina bekommt es mit der Angst zu tun. Sie hatte schon mehrmals an diesem Nachmittag das Gefühl, dass es ein Fehler war, diese Zusammenkunft zu organisieren. Katharina möchte auf keinen Fall, dass die Menschen hier in ihrer Würde verletzt werden.
„Weißt du, was der kleine Angeber noch so vorhat, was für Plattheiten und Peinlichkeiten er noch auf Lager hat?“ fragt sie Ben, der sich gerade mit Manuel zusammen die Wohnwagen angesehen hat.
„Mach dir mal keinen Kopf, ich werde ihn mir noch mal vorknöpfen. Hast Du übrigens mal gesehen, wie viele Leute da zusammen in einem Wohnwagen hausen und schlafen? Ich kann das kaum glauben.“ Ben läuft kopfschüttelnd davon und hilft Manuel, mehrere Campingstühle, verwitterte Korbsessel und umgedrehte Getränkekästen mit Kissen in einem Kreis aufzustellen. Ein großer Stapel Wolldecken liegt bereit, denn seitdem die Sonne sich verabschiedet hat, sind die Temperaturen drastisch gefallen. Na ja, es ist Winter, ein Tag vor Weihnachten. Toll, dass man überhaupt noch draußen sein kann.
Ganz plötzlich ist es dunkel geworden. Aurelio entzündet ein Holzfeuer in einer riesigen Eisenschale und Katharina wuchtet einen Karton mit Marmeladengläsern aus dem Bus. Miguel hilft ihr, sie mit Teelichten zu füllen, sie anzuzünden und in der Runde zu verteilen.
„Nein, das machst du auf keinen Fall!“ Ben redet heftig auf Max ein, der wie immer wild gestikuliert. Lukas, Tobias und Charlene nicken und ereifern sich ebenfalls. „Oh Gott, was hecken die nur wieder aus!“, doch als Miguel sie sanft auf einen Stuhl drückt, ihr fürsorglich eine Decke umhängt und sich neben sie setzt, vergisst sie alles um sich herum und überlässt sich der Wärme von Miguels Hand, die ihre hält und dieser prickelnden Ahnung, dass etwas Neues, etwas Wunderschönes seinen Anfang genommen hat.
Millionen hell glitzernde Sterne, ein prallvoller XXXL-Mond am Himmel, zahllose Kerzen und Windlichter und das flackernde Holzfeuer beleuchten die Gesichter der Menschen, die leise flüsternd zusammensitzen. Die Luft ist frisch und von einer Klarheit, die den Stimmen irgendwie mehr Resonanz verleiht. Die einfachen, aber sehr schmackhaften Speisen sind ratzfatz verputzt, Franciscos Rotwein ebenso, und zuletzt hat der alte Jorge zur Feier des Tages seinen selbstgebrannten Feigenschnaps kredenzt, mild und fruchtig – eine wahre Kostbarkeit.
Auf dem Grill blubbert jetzt ein großer Topf mit Rotweinpunsch. Alle halten sie die warmen Gläser in ihren vor Kälte klammen Händen und atmen genüsslich den Duft nach Orangen, Zimt und Nelken ein, als Carlos eine Gitarre aus seinem Trailer holt und kurze Zeit darauf zauberhafte Gitarrenklänge durch die Nacht schweben. Carlos’ raue Stimme singt einen portugiesischen Text und nach und nach fallen zuerst die Männer leise mit ihren tiefen sehnsuchtsvollen Stimmen ein. Als die ersten klaren Frauenstimmen erklingen und der alte Jorge eine Mundharmonika aus seiner Tasche zieht und die Gitarre begleitet, stellen sich die feinen Härchen auf Katharinas Armen und Beinen auf und hinter ihrem Brustbein flattert es zart…Sehnsucht und Melancholie bestimmen die Magie dieses Augenblicks. Miguel hat seinen Arm um ihre Schulter gelegt und sie kuschelt sich genießerisch in seine wärmende Nähe.
Plötzlich sind es Weihnachtslieder und Englisch, Portugiesisch und Deutsch verbindet die bekannten Melodien auf geradezu wundersame Weise. Da! Eine Stimme schwingt sich auf und alle anderen nehmen sich zurück. Ein tiefer, volltönender, ausgereifter Bariton mit einem wundervollen Timbre – Holy Night. Es ist Max und sein Vortrag ist die Krönung dieser zauberhaften und mystischen Nacht. Der Nacht vor dem Heiligen Abend.

„Es war wie Weihnachten zuhause. Früher, als wir alle noch zusammenlebten.“
Max durchbricht die verbindende und friedliche Stille im Bus, in der jeder in sich selbst, in seine Gedanken und Empfindungen versunken ist.
„Ich konnte unseren zusätzlichen Scheck und auch den Champagner und den Fresskorb nicht überreichen, irgendwie hat sich das dann plötzlich falsch angefühlt. So können sie morgen noch mal zusammen feiern und du kannst ihnen nach Weihnachten, wenn du wieder zu ihnen hochfährst, sagen, dass wir noch mal zwei Wohnwagen kaufen werden, das haben wir vorhin so besprochen.“
Ein breites Lächeln überzieht Katharinas Gesicht und sie glaubt zu spüren, dass es den anderen ebenso ergeht, denn die Luft ist plötzlich so weich und so prickelnd, so voller Energie. Sie denkt an Miguel und an das Versprechen in seinen Augen.
„Ist gut, Max“, sagt sie leise. „O Holy night, the stars are brightly shining…“ stimmt sie an und alle fallen ein, als hätten sie darauf gewartet – in der Dunkelheit der Nacht vor dem Heiligen Abend.

Über die Autorin

Petra Dalquen pendelt mit ihrem Mann seit vielen Jahren zwischen einer hessischen Kleinstadt und einem malerischen Fischerdorf an der Algarve, im Süden Portugals. Sie ist zertifizierte Yogalehrerin und ihr 2016 veröffentlichter Debütroman spielt vor der farbenprächtigen Kulisse Südindiens. Ihre Liebe zu Portugal, zu dem Land und den Menschen, spiegelt sich in ihrem zweiten Roman „Über uns nur die Farben des Himmels“ wider.

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