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Adventsgeschichte 13. Dezember

Ich bin der Weihnachtsmann

von Ingo Bartsch

Es war keine gute Woche für Ransbach. Erst hatte seine Frau Schluss gemacht, weil sie von seiner Geliebten erfahren hatte. Dann hatte seine Geliebte Schluss gemacht, weil ihr der Mann fürs Leben ins Netz gegangen war. Nun kam er aus der Nachtschicht, und weil sich sowieso gerade Dinge veränderten, stopfte er seinen Blaumann nicht in die Waschmaschine, sondern in den Müll. Vier Jahre waren ja auch genug, genauso wie fünfzehn Jahre Ehe es gewesen waren.
Vier Jahre hatte ihm die Leiharbeitsfirma immer wieder den gleichen lausigen Jahresvertrag vorgelegt. Vier Jahre waren ihm im Dreischichtbetrieb die Metallspäne ins Gesicht geflogen, hatten sich zu Tausenden in seine Augen, seine Nasenschleimhäute und in seine Atemwege gebohrt. Vier Jahre war er in die große Bohrmaschine geklettert, hatte bei gefühlten neunzig Grad und im ätzenden Kühlflüssigkeitsregen die Bohrer ausgetauscht und hinterher draußen die Achsschenkel auf dem Förderband von den kleinen Metallstacheln befreit. Sie hatten ihm einen Schutzhelm gegeben, ein Plastikteil mit einem zerkratzten Visier. Er hatte es eine Stunde getragen, und es hatte ihn beinahe umgebracht. Sein Kopf hatte sich angefühlt wie in einem Pizzaofen und er hatte daraufhin beschlossen, lieber Metallspäne zu schlucken.
Doch damit war jetzt Schluss. Veränderung lautete das Gebot der Stunde. Ransbach legte sich neben die freie Hälfte ins Bett und fand zum ersten Mal seit vier Jahren nach einer Nachtschicht tiefen und erholsamen Schlaf. Am frühen Nachmittag frühstückte er ausgiebig: Toastbrot mit Bockwurst und Mayonnaise, dazu viel Kaffee und ein Bier. Mit 45 ein Rückfall ins Junggesellenleben. Gar nicht mal so schlimm, wie Ransbach feststellte. Nach dem Frühstück schrieb er seinem Chef bei der Leiharbeitsfirma per Whatsapp, dass er nicht mehr kommen werde. Nie wieder. Sie kannten das dort, ständig kamen Leute einfach nicht mehr zur Arbeit. Ransbach war wenigstens so höflich, Bescheid zu sagen. Er sah sich die Tagesschau auf dem Smartphone an. Die Welt hatte größere Probleme als er. Nach einem weiteren Bier ging er erneut schlafen.
Für die Suche nach einer neuen Frau konnte er sich Zeit nehmen. Arbeit allerdings musste schnell wieder her. Seine mickrigen Reserven würden bald aufgebraucht sein. Eine Scheidung stand bevor und eine Ex-Frau spitzte ihre Eckzähne, um ihn auszusaugen. Nach drei weiteren erfreulichen Junggesellentagen griff Ransbach zum Handy und meldete sich bei Mustafa. Sie hatten sich vor Jahren im Wartezimmer einer MPU-Beraterin kennengelernt. Mustafa arbeitete im Superkauf, dem lokalen Vollsortimenter, und ging dort einem wenig körperlichen Job nach. Der Superkauf war unkaputtbar und wurde immer gebraucht. Wie der Friedhof, bloß dass im Superkauf die Toten mit Einkaufswägen rumliefen. Und es wurde immer Personal benötigt. Mustafa textete zurück, Ransbach solle sich bei einem Erwin Schierse melden.
Noch am selben Tag saß Ransbach einem dieser Typen gegenüber, die weniger zu sagen hatten als ihre volltätowierten Unterarme. Schierse war jung und vollbärtig, von Strebsamkeit in eine leitende Position gespült. Er teilte Ransbach mit, es gäbe keine Vakanzen, allerdings einen befristeten Job.
„Was wäre das?“ fragte Ransbach.
„Weihnachtsmann“, nuschelte Schierse durch seinen Bart.
Ransbach merkte, dass er diesem Hipster alles aus der Nase ziehen musste. „Und das heißt?“
„Sie sind für eine Woche der Weihnachtsmann im Einkaufszentrum. Sechs Tage. Acht bis achtzehn Uhr.“
„Was kriege ich?“
„Acht Euro neunzig die Stunde.“
Das waren gerade mal ein paar Cent mehr als der Mindestlohn. Ransbach willigte ein.


~


Das Kostüm wurde in einer Plastikkiste aufbewahrt. Mantel, Bart und Mütze. Das Erbe des letzten Weihnachtsmanns. Wie die hinterlassene Kleidung eines Toten.
„Warum macht es der letzte Weihnachtsmann nicht wieder?“, erkundigte sich Ransbach.
Schierse hob die Schultern. Er hielt diese Bewegung für eine ausreichende Auskunft. „In dem Sack sind die Süßigkeiten. Ein Beutel enthält Schokoweihnachtsmann, zwei Schokokugeln und ein Päckchen Superkauf-Buntstifte. Pro Kind ein Beutel, nicht mehr.“
Ransbach nickte.
„Sie haben zwei Pausen. Eine halbe und eine ganze Stunde. Nehmen Sie die bitte nicht, wenn der Andrang groß ist.“
„Wann ist der Andrang groß?“
„Das merken Sie schon“, sagte Schierse. „Neben dem Aufenthaltsraum sind Spinde. Ziehen Sie sich dort um. Ich hole Ihnen einen Klappstuhl.“
Im Aufenthaltsraum drang die altbekannte Mischung aus Kaffeegeruch und menschlichen Ausdünstungen in Ransbachs Nase. Aufenthaltsräume rochen immer gleich. Fünf Frauen tummelten sich dort. Drei saßen am Tisch, der sechs Plätze bot. Eine rauchte am offenen Fenster. Die fünfte goss Kaffee in Tassen mit ausgeblichenen Aufdrucken. Ransbach wollte sich setzen.
„Da sitzt die Janine“, bemerkte eine knochige Mittfünfzigerin im weißen Metzgerthekenkittel.
„Sorry“, sagte Ransbach und ging einen Stuhl weiter.
„Das ist mein Platz“, sagte die Rauchende am Fenster.
Ransbach nickte. Er begriff. Alle Plätze besetzt. Er nahm eine Tasse aus dem Schrank und wollte sich Kaffee einschenken.
„Der ist für die Janine.“
„Okay“, sagte Ransbach. Er lehnte sich gegen die Wand und blickte ins Leere. Noch eine Viertelstunde bis Arbeitsbeginn. Die Viertelstunde verstrich. Die fünf Frauen saßen schnatternd am Tisch, tranken Kaffee, rauchten. Schließlich gingen sie. Eine Janine tauchte nicht auf.
Ransbach warf sich den Mantel um. Es war billiger, dünner Stoff, der sich elektrisch auflud. Vermutlich der gleiche Stoff wie der, aus dem Transportdecken waren. Vorne fehlten zwei Druckknöpfe, sodass sein Bauch den mintgrünen Pulli nach draußen drücken konnte. Der Bart stank nach Staub und kratzte im Gesicht. Die Mütze war zu groß. Sein Vorgänger musste einen Kopf gehabt haben so groß wie ein Medizinball. Ransbach nahm den Sack und ging zu seinem Platz. Er saß im Ausgangsbereich, gleich hinter den Kassen und auf Höhe eines Metzgerimbisses. Es roch angenehm nach Frikadellen. Auf der Lehne des Klappstuhls stand in ungelenker Handschrift: Eigentum Superkauf.
Warum er um diese Zeit bereits dort sitzen musste, begriff Ransbach nicht. Zwischen acht und neun begegneten ihm ganze zwei Kinder, die jeweils von ihren aufgekratzten Müttern aus dem Supermarkt gezerrt wurden, vermutlich, weil sie auf dem Weg in Schule oder Kindergarten in Zeitverzug waren. Ansonsten passierten ihn alte Leute, die ihn milde anlächelten, sofern sie ihn nicht ignorierten. Eine freundliche Dame sagte: „Ach, jetzt sitzt schon wieder der Weihnachtsmann im Superkauf. Wie doch die Zeit vergeht.“
Dann waren da noch die Handwerker, die sich am Metzgerimbiss mit Wurstbrötchen eindeckten. Es lief jedes Mal gleich ab. Sie sahen ihn, einer brachte seinen Spruch, dann folgte Gelächter. Wie in einer mäßigen Sitcom.
»Du hast ja ´nen großen Sack!«
Gelächter.
„Na, heut schon die Rute rausgeholt?“
Gelächter.
„Und nach Feierabend haben dann die Kassiererinnen Bescherung, was?“
Und so weiter.
Das erste Kind, das zu ihm kam, war ein bebrillter Junge im Kindergartenalter. Ransbach senkte seine ohnehin tiefe Stimme noch weiter, damit sie weihnachtsmännlicher klang. „Na, was wünschst du dir denn?“, fragte er.
„Das sage ich nur meinen Eltern, weil die kaufen es dann ja auch.“
Ransbach nickte, da war was dran. Er drückte dem Knaben einen Geschenkebeutel in die Hand. Sie verabschiedeten sich höflich voneinander. Die Prozedur war vom Vater des Jungen aus respektvoller Distanz beobachtet worden. Er nickte Ransbach freundlich zu, ehe er mit seinem Spross davonzog. Eigentlich ein ganz angenehmer Job, fand Ransbach.
Es folgte ein kleines Mädchen, vielleicht drei Jahre alt, das von seiner Mutter zum Weihnachtsmann geschleift wurde wie ein junges Tier zur Schlachtbank. Die Kleine flennte laut. Sie hatte offensichtlich Angst vor dem dicken Weißbart, der da plötzlich alarmrot auf einem Klappstuhl hockte und die vertraute Umgebung des Supermarktes entstellte. Ransbach wollte der engagierten Mutter einen pädagogischen Tipp geben, denn selbst er als Kinderloser sah, dass diese Nummer nicht gut für die Psyche des Mädchens war. Allerdings wurde er von dem Gekeife der Mutter unterbrochen, die das plärrende Kind an Ransbachs Seite befehligte, zwei Schritte zurückging und Fotos mit ihrem Smartphone schoss. Dabei fuhr sie das heulende Kind an, es solle doch mal freundlich gucken, das sei doch nicht zu viel verlangt. Als Ransbach dem traumatisierten Kind einen Beutel hinhielt, rannte es schreiend Richtung Ausgang, wurde schnell von seiner Mutter eingeholt und mit der Aussicht auf ein geschenkefreies Weihnachtsfest konfrontiert: „Andere Kinder wissen, wie man sich beim Weihnachtsmann zu benehmen hat!“
Gleich darauf verließ eine Vater-Tochter-Kombination den Kassenbereich, der Mann im schwarzen Rollkragenpulli schon etwas angegraut, sein Spross neugierig und mit leuchtenden Augen: „Papa, ich will zum Weihnachtsmann! Können wir zum Weihnachtsmann?“
Der Rollkragenmann blieb stehen. Er blickte das Kind empört an. „Der Weihnachtsmann“, begann er, „steht für die Kommerzialisierung christlichen Kulturguts. Er ist ein Maskottchen des westlichen Imperialismus mitsamt seinen geostrategischen Angriffskriegen und seiner Politik der Arroganz. Er repräsentiert den Coca-Cola-Konzern. Weißt du, wie viele Zuckerwürfel in einem Liter Cola sind?“
„Sechsunddreißig“, antwortete das Mädchen zerknirscht.
„Siehst du?“, sagte der Vater triumphierend. „Selbstverständlich werden wir nicht zum Weihnachtsmann gehen.“
Ransbach hatte immer gedacht, der Weihnachtsmann sei eine von allen respektierte und bewunderte Person. Ein gutmütiger Zauberopa, der Kinder glücklich machte, zerstrittene Eltern versöhnte und ganze ruinierte Familien reparierte; ein Haudegen, der mit Leichtigkeit ein Rentierrudel durch die verschneite Nacht dirigierte und der ganz nebenbei noch ein sozialer Unternehmer war, der kleinen, degenerierten Gnomen in abscheulichen grünen Trachten Arbeit gab. Schon am ersten Tag wurde Ransbach eines Besseren belehrt. Die Realität war, dass die einen den Weihnachtsmann behandelten wie eine Wachsfigur. Sie stellten ihre Kinder neben ihn und schossen Fotos, ohne auch nur Hallo oder Danke zu sagen. Die anderen verachteten ihn, weil er einen US-amerikanischen Migrationshintergrund hatte. Die meisten Kinder hatten entweder panische Angst vor ihm oder waren frech und aufdringlich und zogen an seinem Bart. Die wenigsten mochten ihn. Es war auch kein Wunder, denn die Schokolade, die er verschenkte, war eine mehlige Zumutung, und die Buntstifte waren geizig kurz. Auch seine Kollegen ließen ihn spüren, wer er war. Die Kassiererinnen schnitten ihn. Der Reinemachemann, der auf einer Putzmaschine durch das Kaufhaus fuhr, beschimpfte ihn auf Arabisch, als er nicht schnell genug mit Klappstuhl und Sack aus dem Weg ging. Und alles, was Schierse nach dem ersten Tag zu ihm sagte, war: „Sehen Sie zu, dass Sie morgen einen roten Pulli tragen. Der Weihnachtsmann hat keinen mintgrünen Bierbauch.“


~


Der geringste Andrang war zwischen acht und neun, und so beschloss Ransbach, seine halbstündige Pause in diesen Zeitraum zu legen. Er hörte sich eine Viertelstunde lang die üblichen Handwerkersprüche an, dann legte er Bart und Mütze auf den Klappstuhl, kaufte zwei Frikadellenbrötchen und einen Kaffee im Pappbecher und ging hinaus in den Nieselregen. Er setzte sich auf den Fahrradständer, der überdacht war, und frühstückte.
Nach ein paar Minuten kam Schierse raus. Er trug die Ärmel seines rosa Hemdes hochgekrempelt, damit man seine Unterarmtattoos sehen konnte.
„Der Fahrradständer ist für Fahrräder“, sagte er.
„Es regnet. Da kommt keiner mit dem Fahrrad. Ich hab sowieso noch nie Radfahrer hier gesehen. Hier kaufen nur Autofahrer ein.“
„Gehen Sie zum Frühstücken in den Aufenthaltsraum. Das ist eine Dienstanweisung, Herr Ransbach.“
„Meinetwegen“, murmelte Ransbach und begab sich in den Gestank von kaltem Kaffee und abgestandenen Existenzen. Es war ja nur für eine Woche.
Als er zu seinem Klappstuhl zurückkehrte, war sein Bart weg. Ransbach sah unter dem Stuhl nach und suchte das nähere Umfeld ab. Nichts.
„Den haben ein paar kichernde Mädchen mitgenommen“, rief eine der Kassiererinnen.
„Und Sie haben sie nicht zurückgepfiffen?“, fragte Ransbach fassungslos.
„Ich habe ja den Bart nicht unbeaufsichtigt liegengelassen“, entgegnete die Kassiererin schnippisch. „Hinten rechts, kurz vor den Getränken, sind die Regale mit dem Weihnachtszeug. Da sind auch Bärte.“
Ransbach durchquerte den gefühlt drei Kilometer langen Superkauf, stellte entsetzt fest, dass ein Bart elf Euro neunzig kostete, und spielte mit dem Gedanken, loszurennen und die Diebinnen zu suchen. Doch dann beschloss er, nach der Woche als Weihnachtsmann den Bart einfach zurückzugeben und sich das Geld erstatten zu lassen.
Der neue Bart roch nicht nach Moder, sondern chemisch. Er kratzte auch anders. Ransbachs Haut fühlte sich unter diesem Bart merkwürdig warm an, das Kratzen war weniger kratzig. Es war mehr ein großflächiger Juckreiz. Immer wieder suchte Ransbach das Personalklo auf, um sich das Gesicht mit kaltem Wasser zu waschen. Es wurde dadurch kaum besser. Bloß rückte nachmittags Schierse an, um ihn zu ermahnen, nicht ständig seinen Arbeitsplatz zu verlassen. Ransbach ließ die Rüge über sich ergehen, wie er auch die Fotosessions mit heulenden Kindern, die antiamerikanischen Anfeindungen intellektueller Erwachsener und den vom harten Klappstuhl schmerzenden Hintern über sich ergehen ließ. Er versuchte, ein guter Weihnachtsmann zu sein. Fragte Kinder, ob sie brav wären. Ob sie einen Wunschzettel schreiben würden. Meistens erntete er Schweigen. Hin und wieder antworteten Eltern, etwa: „Wenn Sie es wissen wollen, Linus-Konstantin könnte sich in der Schule ruhig mehr Mühe geben.“ Oder: „Du musst das nicht beantworten, Birte.“
Ransbach stellte fest, dass vom Weihnachtsmann kein Zauber mehr ausging, und dass ganz generell keine weihnachtliche Stimmung aufkam. Die Dekoration war lieblos und diente nur dazu, Ladenhüter in Szene zu setzen, von denen man sich erhoffte, sie würden im Weihnachtsgeschäft besser laufen. Der Weihnachtsbaum stand nicht prachtvoll im Zentrum des Foyers, sondern einige Meter neben Ransbach in der Ecke des Ausgangsbereichs. Er war einfallslos mit roten Kugeln und silbernem Lametta geschmückt. Je trauriger das alles auf Ransbach wirkte, desto größer wurde sein Weihnachtsmannstolz. Er war ein gutmütiger alter Kerl, der keinem was getan hatte. Er versuchte, nett zu den Leuten zu sein. Sie wertschätzten es nicht.
Ein Mutter-Vater-Sohn-Trio lief an ihm vorbei.
„Wer ist das?“, fragte der etwa vierjährige Knirps und zeigte auf den Weihnachtsmann auf dem Klappstuhl.
„Das ist ein Mann, der sich in der Schule nicht angestrengt hat“, antwortete sein Vater, und die Mutter unterstrich diese Worte mit einem angewiderten Blick.
„Ihnen auch eine besinnliche Adventszeit“, rief Ransbach der jungen Familie hinterher.
Im Superkauf herrschte ein Klima der Feindseligkeit. Kunden verzweifelten an der technischen Unerbittlichkeit der Selbstbedienungskassen, und auf dem Weg nach draußen entluden sie ihre Wut, für die die emotionslosen Automaten nicht empfänglich waren, auf den Mann in Rot: „Geh heim zu Trump“, sagte einer, und eine andere giftete: „Konsumterrorist!“
Einmal tauchte ein untersetzter Schnauzbärtiger neben Ransbach auf und bellte: „Der Pfandautomat funktioniert nicht!“
Ransbach erwiderte: „Ich bin hier nur der Weihnachtsmann.“
„Der Automat geht nicht, da steht eine lange Schlange und wartet! Wie lange sollen wir denn noch warten?“
„Hören Sie, Sie müssen sich an das Personal im Markt wenden. Ich bin nur der Weihnachtsmann.“
„Gleich kommt jemand“, rief eine der Kassiererinnen.
„Wer’s glaubt“, schnauzte der Schnauzbart und blickte Ransbach voller Zorn an. „Euer Laden ist ein schrecklicher Saftladen, ich werde hier sicher nicht mehr einkaufen!“
„Ihnen auch eine besinnliche Adventszeit“, sagte Ransbach. Es war inzwischen sein Standardsatz, den er auf die Pöbeleien und Anfeindungen der Kunden erwiderte. Er sagte diesen Satz häufiger als Was wünschst du dir denn zu Weihnachten? oder Hast du schon einen Wunschzettel geschrieben? Ungehaltene Erwachsene waren zahlreicher als freundliche Kinder. Und wenn sich ihre Wut nicht gegen der Weihnachtsmann richtete, dann gegen andere Protagonisten vom Rand dieser Gesellschaft: „Oh, der Weihnachtsmann mit einem Geschenkesack. Komm, Jeremy. Wollen mal sehen, ob die Flüchtlinge dir noch was übrig gelassen haben.“
Ransbach dachte zurück an seine Kindheit. Da war der Weihnachtsmann nur an einem Tag aufgetaucht, und es war auf dem Weihnachtsmarkt gewesen, inmitten von feierlicher Beleuchtung, Glühwein- und Zimtsternduft und festlicher Musik. Er war ein imposanter Kerl gewesen, dieser Siebzigerjahre-Weihnachtsmann, mit einem dicken, flauschigen Mantel, einem Bart, der vermutlich aus irgendeinem edlen Tierfell gewonnen worden war, und mit einem Sack voller sagenhaft leckerer Süßigkeiten wie Vanillekipferln, Lebkuchen und Mürbeteigplätzchen mit Marmeladenfüllung. Der Weihnachtsmann war immer von einer ganzen Traube Kinder umgeben gewesen. Sie alle sahen ihn ehrfurchtsvoll an: arme Kinder, reiche Kinder, dicke Kinder, dünne Kinder, kluge Kinder, dumme Kinder, blasse Kinder, dunkelhäutige Kinder, Raufbolde, Streber, Jungen, Mädchen, vom Kindergarten bis in die Anfänge der Pubertät, es war egal – vorm Weihnachtsmann waren alle gleich. Vorm Weihnachtsmann traten sie nervös von einem Fuß auf den anderen und warteten wie elektrisiert darauf, von ihm angesprochen und beschenkt zu werden. Und war man von diesem großen und großartigen Mann beschenkt worden, so ging man beseelt davon und wusste, dass man in diesem Moment mehr bekommen hatte als nur ein paar Süßigkeiten.
Dagegen heute. Heute saß der Weihnachtsmann an sechs Tagen auf einem Klappstuhl im Ausgangsbereich eines riesigen Supermarktes. Das Licht war kalt und von irgendwo unter der Zweckbaudecke drang eine überzogen heitere Männerstimme, die verkündete, dass diese Woche gemischtes Hackfleisch und Spülmaschinenentkalker im Angebot waren. Nur selten erkannte jemand, dass dieser weißbärtige Mantelträger ein universeller Heiliger war, der für ein Fest des Friedens und des Innehaltens stand; dass er ein gutmütiger, weiser Alter war, der einen einlud, eine kurze Auszeit zu nehmen von diesem Wahnsinn, der allerorten tobte. Stattdessen verspotteten und hassten sie ihn, sofern sie ihn nicht einfach ignorierten.
Weiter weg von Weihnachten als im Jahr 2018 konnte der Weihnachtsmann nicht sein.


~


Am vierten Tag machte Ransbach seine Frühstückspause daheim und trat seinen Dienst erst um halb neun an. Schierse knirschte wohl mit den Zähnen hinter seinem Vollbart, sagte aber nichts dazu. Ransbach befestigte den weißen Saum, der sich am unteren Rand seines Mantels zu lösen begann, mit einer Sicherheitsnadel. Mit der gleichen Methode machte er seine Mütze enger. Auf die Innenseite des Bartes hatte er Stoffreste geklebt. Jetzt konnte er das überteuerte Stück zwar nicht mehr zurückgeben. Doch diesen Preis zahlte er gerne dafür, dass sein Gesicht nicht mehr juckte. Fast schon zufrieden saß er auf seinem Klappstuhl – auch, weil er sich ein Sitzkissen mitgebracht hatte.
Drei Männer, jeder in der weiß-farbfleckigen Arbeitsuniform eines Malerunternehmens, deckten sich mit Wurstbrötchen ein. Einer drehte sich zu Ransbach um. Ein kahlköpfiges Scheusal, muskulös und mit einem halben Dutzend Piercings im Gesicht. Er sagte: „Na, Weihnachtsonkel, heute schon die Rute rausgeholt?“
„Ja. Aus deiner Frau, als wir fertig waren“, gab Ransbach zurück.
Der Kahlkopf wurde von seinen Kollegen ausgelacht, was ihm überhaupt nicht schmeckte. „Was hast du da gerade über meine Frau gesagt?“, kläffte er und fügte noch zwei wüste Schimpfworte hinzu. Dabei näherte er sich Ransbach bedrohlich.
Ransbach stand auf und bewaffnete sich mit dem Klappstuhl. Er war genauso groß wie sein Gegenüber. Ihm fehlten die aufgepumpten Muskeln. Dafür hatte Ransbach einen enormen Bauch. Es kam jedoch zu keinen Körperlichkeiten. Der Kahlkopf wurde von seinen Kollegen beruhigt und nach draußen gebracht. Er beleidigte noch Ransbachs Mutter und versprach, ihn fertigzumachen, wenn sie sich über den Weg liefen.
Um kurz vor zehn wurde Ransbach von einer verwitterten Alkoholisierten angebaggert, die sich zu ihm runterbeugte und vertraulich flüsternd fragte, ob es eine Weihnachtsfrau gebe. Sie roch nach Shampoo und Wein. Ransbach knurrte durch seinen künstlichen Bart, er sei glücklich verheiratet. Die Beschwipste ließ nicht von ihm ab. Sie säuselte O du Fröhliche in sein Ohr und legte ihre leicht zitternde Hand auf sein Bein.
„Hören Sie“, erboste sich Ransbach und nahm seinen Bart ab, „ich mache hier nur den Weihnachtsmann, ich bin nicht der Kaufhaus-Witwentröster. Wie wäre es, wenn Sie nach Hause gehen und mich meine Arbeit machen lassen?“
Sie hielt kurz inne. Doch statt von Ransbach abzulassen, stimmte sie Kommet Ihr Hirten an. Ransbach wollte noch deutlichere Worte finden, da fiel sein Blick auf eine vertraute Handtasche. Die Handtasche baumelte neben zwei bekannten Beinen, die vor ihm und der Betrunkenen stehenblieben. Schöne Beine. Sie ragten aus einem elfenbeinfarbenen Wintermantel und steckten in dunkelgrauen Stiefeletten.
„Selbst als Weihnachtsmann hast du Weibergeschichten am Laufen“, stellte seine frischgebackene Ex-Frau fest.
Ransbach wollte etwas erwidern. Aber was gab es schon zu sagen? Die Menschen machten Weihnachten kaputt. Es passte ins Bild, dass der Weihnachtsmann, bierbäuchig und bartlos, von einer Betrunkenen angebaggert wurde. Er sah seiner Ex hinterher und sehnte sich nach ihr. Er beschloss, sie abends anzurufen.
Der aufdringlichen Kundin bot er Schokolade und Buntstifte an. Sie sagte, das stünde nicht auf ihrem Wunschzettel. Ransbach entgegnete, die Zeiten seien vorbei, in denen der Weihnachtsmann Wünsche erfülle. Hackfleisch und Entkalker seien im Angebot, das müsse reichen, und sie solle sich um Himmels Willen ausnüchtern gehen. Und so ließ ihn die dritte Frau binnen kurzer Zeit sitzen. Ransbach war froh.
Nichtsdestotrotz erwies sich der vierte Tag als der schlimmste. Die Kinder waren besonders grausam, die Eltern besonders gehässig, und der Malergeselle vom Morgen kehrte spätnachmittags zurück, um Ransbach ein zweites Mal darauf hinzuweisen, dass er ihn fertigmachen würde. Schließlich verfügte noch ein plötzlich auftauchender Brandschutzbeauftragter, dass die Lichterkette am Kaufhausweihnachtsbaum ausgeschaltet werden müsse, da der Baum neben dem Schwarzen Brett stünde und somit ein Kaufhausbrand mit mehreren Dutzend Toten nicht ausgeschlossen werden könne. Am Ende blieb also nicht einmal mehr das spärliche Licht des Baums. Nur die Neonröhren erbrachen ihre Kälte auf den Mann auf dem Klappstuhl, der für den Mindestlohn versuchte, ein wenig Liebe zu verbreiten.
Gegen fünf Uhr nachmittags spuckte die Kassenschlange eine Frau in einem grotesken Wollkostüm aus, die einen Jungen an der Hand hielt wie einen Hund an der Leine. Der Knabe sah aus wie Michel aus Lönneberga. Seine Personensorgeberechtigte, oder wer auch immer sie sein mochte, wirkte auf Ransbach wie die studierte Schwester von Cruella De Vil aus dem Film 101 Dalmatiner, und er konnte die gesammelten Werke von Goethe und Mann in ihrem Manufactum-Eichenholzregal stehen sehen, während sie zu ihrem minderjährigen Opfer sagte: „Oh, sieh mal, der Nikolaus.“
„Ich bin der Weihnachtsmann“, sagte Ransbach.
Cruella zog überrascht ihre Augenbrauen nach oben; sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Requisite auf dem Klappstuhl sprechen konnte.
„Der Nikolaus hat sicher ein Geschenk für dich, Friedrich.“
„Ich bin nicht der Nikolaus.“
Sie sah auf Ransbach herab. Von oben nach unten. Vom Penthouse in die Senkgrube.
„Bei uns kommt der Nikolaus“, sagte sie mit Klangschalen-Vibrato.
Ransbach stand auf. Er schob den Klappstuhl ein Stück zur Seite. Er nahm einen tiefen Zug Kaufhausluft. Dann sah er diese Frau an. Bohrte seinen Blick in ihren. Den Bart nahm er nicht ab.
„Ich bin der Weihnachtsmann. Niemand sonst. Ich bin US-amerikanischer Staatsbürger. Why. Nuts. Mann. Kapieren Sie das? Ich bin der Weihnachtsmann!“
Die Frau lachte hysterisch und wollte sich an das Kind wenden, doch Ransbach ließ sie nicht.
„Der Weihnachtsmann, verstehen Sie? Noch mal: Ich. Bin. Der. Weihnachtsmann. Ich habe Trump gewählt und werde es wieder tun. Ich finde Schusswaffen gut. Ich mag Atomkraft. Ich baue Mauern. Ich fresse Burger bis ich an Herzverfettung krepiere, und meine Cola trinke ich mit viel Eis und einem Schuss Sirup, damit sie süßer ist. Ich fahre einen Pick-up und glaube daran, dass Gott Homosexualität heilen kann. Akzeptieren Sie mich bitte so, wie ich bin.“
Die Frau schaute Ransbach verblüfft an.
„Ich weiß“, fuhr Ransbach fort, „Sie mögen keinen Strom aus Atomkraft und Sie essen keine Burger, sondern Bioräuchertofu mit Grünkohl und Avocado. Sie mögen keine Waffen. Aber trotzdem. Hier – und ich meine damit hier, in diesem Kaufhaus -– kommt, zur Hölle, der Weihnachtsmann! Ich bin der Weihnachtsmann! Nicht Ihr freundlicher Nikolaus, der klimaneutrales und pädagogisch wertvolles Holzspielzeug an die Kinder ökologisch besorgter Spätgebärender verteilt, nein! Der gehört hier nicht her. Ich bin das, was Sie alle hier verdient haben. Ich bin der Spiegel dieser Gesellschaft. Und wenn Sie das nicht akzeptieren können, dann, Entschuldigung, lecken Sie mich am Sack. Sehen Sie sich diesen Klappstuhl an“, schimpfte Ransbach, „schauen Sie sich das an! Würde so der Nikolaus sitzen? Nein, das würde er nicht! Sagen Sie dem Jungen die Wahrheit. Nur der Weihnachtsmann lässt das mit sich machen, und ich wünsche Ihrem jungen Begleiter, dass er nie an den Punkt gelangen wird, an dem gebildete Leute behaupten, es würde ihn nicht geben.“
Eine Menge Leute hörten ihnen zu.
„Ich möchte den Filialleiter sprechen“, antwortete Cruella.
~
Am fünften Tag betrat Ransbach den Superkauf um kurz vor elf. Er schlenderte gemächlich durch das Labyrinth aus Regalen und füllte seinen Wagen mit allem, was es für ein gutes Weihnachtsessen brauchte. Eine leckere Weihnachtsgans, gefüllt mit Hackfleisch. Wie schön, dass Hackfleisch im Angebot war.
Nach der Predigt, die er Cruella de Vil gehalten hatte, hatte Schierse ihm mit sofortiger Wirkung gekündigt. Ein Weihnachtsmann, der die Kunden anpöbelt, das kann ich nicht gebrauchen, hatte Schierse gesagt. Ransbach hatte erwidert: Was Sie gebrauchen können sind drei Geister, die Ihnen zeigen, wie mies Sie hier mit dem Fest der Liebe umgehen. Und das war es dann gewesen.
Den Nachmittag verbrachte Ransbach mit Kochen. Er pfiff Weihnachtslieder. Es war die Vorfreude darauf, den morgigen Heiligabend mit seiner Ex-Frau zu verbringen. Sie hatte ihn angerufen, aus Sorge, er könnte zur Beute der Betrunkenen geworden sein. Sie würden sicher kein Paar mehr werden, oder erst wieder in einer fernen, noch nicht auszumalenden Zukunft. Aber sie begriffen, was Weihnachten bedeutete. Weihnachten, das war das Fest im Zeichen der Geburt Jesu. Und Jesus, das war ein besonnener Mann gewesen, der keinen Streit suchte, dem Feindseligkeit und Hass fremd waren, und der nichts weiter wollte, als dass die Menschen in Frieden miteinander lebten. Weihnachten war das Fest der Vergebung und der Versöhnung. Ein prachtvoll geschmückter Baum. Ein Teller mit himmlisch süßen Plätzchen. Eine Kirche voller Menschen, die mit Hingabe O du Fröhliche schmetterten. Und über allem ein besonders hell leuchtender Stern, der den Menschen den Weg wies: dem aufgebrachten Malergesellen, Cruella de Vil, der mysteriösen Janine, dem Reinemachemann, Friedrich und Jeremy, dem Brandschutzbeauftragten, der Betrunkenen, Schierse und Mustafa, Ransbach und seiner Ex, eben einfach allen.
Ho-ho-ho, dachte Ransbach. Er nahm einen Schluck Wein, und den zweiten gab er der Gans.

Über den Autoren

Ingo Bartsch, 38, ist Lesebühnenveteran und Veranstalter der Mainzer Lesebühne „die Leselampe“. Im April erscheint sein Debütroman bei Piper: eine schonungslose, schwarzhumorige Geschichte aus der Welt der Altenpflege. Ingo Bartsch lebt mit Frau und drei Töchtern bei Mainz.

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