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Vom Glück der Muße

Vom Glück der Muße

Anselm Bilgri
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Wie wir wieder leben lernen

„Eine Mischung aus Philosophie-Buch und Ratgeber. Es schlägt den Bogen von der Kunst der Muße, wie sie in der klassischen Antike zelebriert wurde, bis zu unserem Zeitalter der Beschleunigung.“ - Rhein-Zeitung

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Vom Glück der Muße — Inhalt

Wir kennen es alle: Junge Eltern, die zwischen Job und Familie einen Balanceakt vollführen. Menschen in der Lebensmitte, die neben den eigenen Kindern plötzlich auch pflegebedürftige Angehörige versorgen müssen. Manager, die eine 60 Stunden Woche absolvieren. Am Ende steht immer der Seufzer: Wann finde ich nur endlich wieder mal Zeit für mich! Dabei sind die ersten Schritte scheinbar einfach: innehalten, in sich hineinspüren, eine Atempause einlegen. Und doch: Es kann harte Arbeit sein, sich solche Freiräume zu erobern. Als langjähriger Benediktinermönch weiß Anselm Bilgri aus eigener Erfahrung, wie wir uns auch im Alltag Inseln der Muße schaffen können. Inseln, auf denen Kreativität, Sinnlichkeit und Lebensfreude wachsen können. Denn nur wenn wir ganz bei uns selbst sind, können wir uns auf eines der größten Abenteuer einlassen, das es gibt: ein glückliches Leben!

€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 13.10.2014
288 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-96818-8
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Leseprobe zu „Vom Glück der Muße“

Einleitung


Muße – das klingt altmodisch und verstaubt in unseren modernen Ohren. Angesagt dagegen sind Tempo, Effektivität und rascher Erfolg. Da bleibt keine Zeit, um zwischendurch Atem zu holen. Das kann man – hoffentlich – nach Beendigung des Berufslebens, im sogenannten dritten Lebensabschnitt. Und doch werden die Menschen allmählich immer mehr, die eine Sehnsucht danach entwickeln, innezuhalten und über ihr Leben und Arbeiten nachzudenken. Denen es plötzlich wichtig wird, sich zu fragen: Kann das alles sein? Was ist der Sinn meines Lebens? Wenn wir [...]

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Einleitung


Muße – das klingt altmodisch und verstaubt in unseren modernen Ohren. Angesagt dagegen sind Tempo, Effektivität und rascher Erfolg. Da bleibt keine Zeit, um zwischendurch Atem zu holen. Das kann man – hoffentlich – nach Beendigung des Berufslebens, im sogenannten dritten Lebensabschnitt. Und doch werden die Menschen allmählich immer mehr, die eine Sehnsucht danach entwickeln, innezuhalten und über ihr Leben und Arbeiten nachzudenken. Denen es plötzlich wichtig wird, sich zu fragen: Kann das alles sein? Was ist der Sinn meines Lebens? Wenn wir den Soziologen Glauben schenken können, wird es eine ganze Generation sein, die sogenannte Gen Y, die nicht mehr nur im Beruf ihre Lebensaufgabe sieht. Die nach 1985 Geborenen suchen ihre persönliche Freiheit nicht mehr nur im wirtschaftlichen Aufstieg, sondern in der Balance von Leben und Arbeiten. Freizeit, Familie und Freunde sind ihnen mindestens genauso wichtig wie Karriere und ein gefülltes Bankkonto. Dafür sind sie sogar bereit, ihre Arbeitszeit zu beschränken und damit finanzielle Einbußen hinzunehmen. Y, der Buchstabe wird englisch wie das Fragewort why ausgesprochen: „Warum?“, wird zur charakteristischen Haltung dieser Generation, die alle bisherigen, die Ökonomie feiernden Werte hinterfragt. Muße, ein alter Begriff, der auch die moderne Freizeit miteinschließt, wird zu einem neuen Wert, der nur wiederentdeckt werden muss.

Schon unsere Mitgeschöpfe, die Tiere, verbringen viel Zeit in Ruhe. Wiederkäuer müssen dies tun, andere Tiere auch. Den Winterschlaf kann man wohl nicht unter die „Muße“ rechnen, auch wenn der Schlaf eine der intensivsten Zeiten der Regeneration darstellt. Vielleicht zählt dazu das quasi absichtslose Spiel. Man braucht nur Gemsenkinder beim Umhertollen auf den Schneefeldern zu beobachten. Dies hat darüber hinaus auch einen Überlebenssinn, das Einüben von Körperbeherrschung, sozusagen tierischer Turnunterricht. Der Sport des modernen urbanen Menschen hat eine ähnliche Funktion. Das Rumliegen und Dösen kommt in der Fauna durchaus auch vor. Bei den Primaten sicherlich, bei anderen Tierarten wahrscheinlich mit Denken verbunden, meint Wulf Schiefenhövel vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Andechs.

Der Mensch hat diesen natürlichen Rhythmus von Anspannung und Entspannung im Lauf der Zeit zwar kultiviert und ritualisiert, aber im Zuge der Technologisierung und Industrialisierung weitgehend das rechte Gespür dafür verloren. In jüngster Zeit wird vermehrt das sogenannte Burn-out-Syndrom thematisiert. Obwohl sich die Medizin nicht ganz im Klaren ist, ob dieses Krankheitsbild als solches überhaupt schlüssig zu beschreiben ist, scheint es sich doch um eine Art Depression aufgrund eines Gefühls der Überforderung zu handeln. Manchmal kann es auch die Unterforderung sein, die dazu führt. Perfektionismus im Verbund mit der Beschleunigung des Arbeitstempos und einer Fehlerkultur, die immer einen Schuldigen sucht, können die Ursachen bilden für dieses Phänomen. Der Wirtschaft, die durch ihren Kostendruck am Anfang der Ursachenkette steht, entstehen durch den Ausfall von Arbeitskräften dann enorme Kosten. Man könnte verkürzt sagen: Das ökonomische Wachstum frisst seine Kinder. Schon vor einiger Zeit wurde daher im typischen Sprachjargon der Betriebswirte die „Work-Life-Balance“ als neue Forderung proklamiert. Ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeit und Leben. Wir glauben, dass diese Balance durch die Wiedergewinnung der Muße erreicht werden kann.

Wir, das sind meine Mitautoren, Nikolaus Birkl und Georg Reider, und ich. Seit mehreren Jahren bieten wir „Tage des Innehaltens“ für Führungskräfte an, die wir in Tagungshäusern mit historischer und spiritueller Ausstrahlung durchführen. Daraus erwuchs die Idee, unser Bemühen in die Form einer „Akademie der Muße“ zu gießen. Der Erfolg unseres Konzepts beruht wohl vor allem auf der Verschiedenheit unserer Ansätze, die auch in diesem Buch widergespiegelt wird. Dr. Nikolaus Birkl ist von Beruf Rechtsanwalt, es hat ihn immer interessiert, „wie Menschen ticken“. Deshalb absolvierte er Zusatzausbildungen in Psychologie und Systemtheorie. Heute ist er neben seiner Anwaltstätigkeit als Coach und systemischer Organisationsberater unterwegs. Ich bewundere darüber hinaus seine Disziplin beim Meditieren, das er in einer leicht angepassten Form des Zen praktiziert und wozu er die Teilnehmer unserer Kurse äußerst behutsam und gewinnend anleitet. Bei den Meditationskursen, die der Benediktiner Willigis Jäger auf dem Benediktushof im unterfränkischen Holzkirchen anbietet, hatte er den damaligen Franziskaner Dr. Georg Reider kennengelernt. Er gehörte zum Führungspersonal seines Ordens in Südtirol und Österreich und baute ein spirituelles Zentrum in seiner Heimat auf. Dort ist er heute als Seminarleiter für eine zeitgemäße und weltzugewandte Spiritualität tätig. Auch er qualifizierte sich durch eine psychotherapeutische Ausbildung in Psychosynthese. Dieser im deutschsprachigen Raum nicht sehr bekannte Therapieansatz wurde vom italienischen Arzt und Psychiater Roberto Assagioli in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt.

Ich selber habe mich schon in meiner Zeit als Benediktinermönch und Wirtschaftsleiter des Klosters Andechs in Oberbayern mit Führungsmodellen aus der Tradition der europäischen Kultur beschäftigt. Ganz besonders hat mich die Ordensregel Benedikts von Nursia inspiriert. Sie ist das älteste „Organisations- und Führungshandbuch“ des Abendlandes. Das Jahr ihrer Entstehung 529 n. Chr. gilt als das Ende der Antike und Beginn des christlichen Mittelalters. Ihr Motto „ora et labora“ steht am Anfang der Hochschätzung von Arbeit und Wirtschaften gegenüber dem Ideal der Muße in der griechischen und römischen Antike. Hier schließt sich der Kreis: Es gilt, den Wert, das Glück der Muße wiederzuentdecken, ohne unser hohes Arbeitsethos zu desavouieren. Denn die Balance ging im Laufe der Jahrhunderte verloren. Die Waagschale der Arbeit hat sich zu sehr zuungunsten der Muße nach unten geneigt. Und diese Unausgewogenheit hat die Tendenz, die Menschen krank zu machen an Leib und Seele.

Deshalb dieses Buch: Nikolaus Birkl bietet systemische Lösungsansätze für eine Zurückgewinnung der Muße in den verschiedenen Systemen und Beziehungen der Menschen, Georg Reider hat einen mehr psychologischen und spirituellen Ansatz, der die Weite und Tiefe des Selbst, den inneren Reichtum der Seele erfahren lässt. Ich selber kann mein Interesse für Geschichte und Philosophie nicht verleugnen. Ich glaube, dass unsere kulturelle Tradition viele Hilfen für das moderne Leben bereithält. Wir müssen diese Schätze nur heben. Ergänzt werden die Beiträge durch Interviews und Berichte, die Gerd Henghuber, Journalist und PR-Berater, erstellt hat. Es war uns wichtig zu zeigen, wie Menschen in verschiedenen Positionen ihren Weg der Muße finden und praktizieren. Dabei wird deutlich: Es gibt nicht das eine Patentrezept. Jeder muss für sich definieren, was für ihn Muße bedeutet. Eines ist allen Ansätzen gemeinsam: Es muss eine Zeit „procul negotiis“ (fern von Geschäften) sein, wie es Horaz in einem Gedicht kurz und prägnant ausdrückt. Eine Zeit, die nicht ökonomisch verzweckt sein darf. Um das erreichen zu können, gibt es zu jedem Kapitel im Buch auch Hilfen, die „Übungen der Achtsamkeit“, für die man sich ein kleines Zeitfenster der Muße freischaufeln muss. Eine Haltung der Muße zu erlangen geht nicht auf einen Schlag, sozusagen von heute auf morgen. Dies braucht Übung; Muße macht Mühe, wenn man sie konsequent als Teil des eigenen Lebens installieren will.

Wir mussten dabei das Rad nicht neu erfinden. Viele Autoren von der Antike bis zur Gegenwart haben sich mit diesem Thema schon beschäftigt. Direkte Anleihen werden durch Hinweise in Text oder Fußnoten kenntlich gemacht, die der Lesbarkeit halber am Ende des Buches aufgeführt werden. Die jedem der drei Autoren wichtigsten Vordenker und Ideengeber sind nochmals in einer kleinen kommentierten Literaturliste eigens zusammengestellt. Ihnen gilt unser Dank und Respekt. Ebenso wollen wir uns beim Piper Verlag bedanken für die hervorragende Betreuung, speziell bei unserem Verleger Marcel Hartges sowie bei Kristin Rotter, Ulrich Wank und Artur Bogdanowicz.

Den Philosophen des Altertums war eine Frage am wichtigsten: Wie kann ich ein glückliches Leben führen? Aus den verschiedenen Ansätzen entwickelten sich die verschiedenen Schulen, in denen die Antworten praktisch umgesetzt wurden, darunter der Garten des Epikur und die Akademie von Platon. Auch heute wollen die Menschen ein glückliches, gelingendes, ausgewogenes Leben führen. Warum gelingt es so selten? Was tun Menschen alles, um nicht glücklich zu werden? Oder anders gefragt: Was können wir tun, um das Leben gelingen zu lassen? Ein Weg dazu ist die Wiedergewinnung der Muße. Daher der ambitionierte Titel: Vom Glück der Muße.


München, Pfingsten 2014

Anselm Bilgri



1 Muße im Wandel der Geschichte


Auf welche Weise gaben sich die Menschen in früheren Zeiten der Muße hin? Und worin unterscheidet sich ihr Verständnis der Muße von unserer heutigen Auffassung? Der berühmte Humanethologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt wies schon vor vielen Jahren darauf hin, dass Menschen in traditionellen Gesellschaften „mußeintensiv“ gewesen seien, also nicht, wie unser modernes Klischee meint, permanent im Kampf ums Dasein steckten. Das blieb späteren Phasen der kulturellen und industriellen Revolution vorbehalten.

Wenn wir nun zu den Anfängen der Menschheitsgeschichte zurückgehen, dann besitzen die Höhlenmalereien des Cro-Magnon-Menschen neben einer religiösen sicher auch eine künstlerische Bedeutung. Auf jeden Fall aber beweisen sie, dass eine ganze Gruppe von Menschen sich mit einem nicht dem unmittelbaren Lebensunterhalt dienenden Zweck beschäftigen konnte. Die Beobachtung der Umwelt, die zu den anatomisch genauen Abbildungen von Tieren befähigte, brauchte eine Zeit, die später im historischen Altertum als Zeit der Muße definiert wurde.

Im alten Ägypten schätzte man die Muße als Lebenshaltung der Oberschicht. Die straffe Staatsorganisation und die Arbeitsteilung in einzelne Berufe ermöglichten vielen Menschen eine völlig neuartige Zeitgestaltung. Sie waren nicht mehr den Großteil des Tages damit beschäftigt, ihren Lebensunterhalt zu sichern, sondern verfügten über viel freie Zeit. Insbesondere die Oberschicht wurde durch eine große Dienerschaft von der Alltagsarbeit entlastet. In der Regel war in den vornehmen Gesellschaftsschichten das Familienoberhaupt ein wichtiger Beamter des Pharao. Diese Tätigkeit ließ neben den zahlreichen Feiertagen und Festveranstaltungen noch freie Zeit, in der die Familie an Vergnügungen und Zerstreuung denken konnte. Die Ägypter liebten es etwa, im Papyrusdickicht des Nils auf Entenjagd zu gehen, sich sportlich zu betätigen, Musik zu spielen, zu singen und zu tanzen. Unterschiedliche Geschicklichkeitsspiele waren bei Kindern weit verbreitet, ansonsten waren insbesondere bei Männern Brettspiele zur Unterhaltung beliebt, von denen es mindestens vier verschiedene Arten gab.

Aus dem mesopotamischen Kulturbereich stammt bekanntlich die Siebentagewoche, ein wesentlicher Bestandteil unserer heutigen Zeiteinteilung. Über das Judentum mit seiner strengen Beobachtung des wöchentlichen Ruhetags, des Sabbats, gelangte diese segensreiche Erfindung dann in das Christentum und von da in die moderne Welt.

Schon die alten Griechen blickten voller Bewunderung auf Ägypten mit seiner Tradition und auf Indien, durch Reiseberichte hatten sie von den dortigen Gymnosophen („nackten Weisen“) erfahren. In Indien hatte sich sehr früh durch den Hinduismus ein spiritueller Weg eröffnet, der die Meditation als wichtiges Mittel praktizierte und propagierte, um zum Selbst und zur Mitte zu gelangen. Das meditative Sprechen von Texten, körperliche Übungen, Atem- und Versenkungstechniken, asketisches Training durch weitgehenden Verzicht auf die Befriedigung körperlicher und geistiger Bedürfnisse; all das wurde lange vor dem Auftreten des christlichen Mönchtums in der vielfältigen spirituellen Welt Indiens gelebt. Die Praktizierenden werden als Gurus bezeichnet, die Praxis als Yoga. Auch hierfür braucht es Menschen, Räume und Zeiten, die frei dafür und nicht durch Erwerbstätigkeit besetzt sind.

Der Buddhismus gilt als Spezialform des Hinduismus. Siddhartha Gautama wollte als Mönch ganz frei werden von den Leidenschaften, die er als hinduistischer Prinz erfahren hatte. Nach neuesten Forschungen lebte er wie die großen griechischen Philosophen im 4. Jahrhundert v. Chr. Er erlebte nach jahrelanger Meditation ein „Erwachen“ und wurde dadurch zum Buddha, das eigentlich nichts anderes als „Erwachter“ bedeutet. Der Buddhismus ist von seinem Ursprung her eine Mönchsreligion, nur in der Gemeinschaft des Klosters kann er in Reinform gelebt werden. Die gewöhnlichen Gläubigen haben durch ihre Unterstützung der Klöster die Möglichkeit, ihr Karma zu beeinflussen und zu einer höheren Stufe der Wiedergeburt zu gelangen.

Als eine der wesentlichen Übungen des Buddhismus gilt die Achtsamkeitspraxis: Achtsamkeit (auch Bewusstheit, Vergegenwärtigung) ist die Übung, ganz im Hier und Jetzt zu verweilen, alles Gegenwärtige bewusst und nicht wertend wahrzunehmen. Diese Hinwendung zum Augenblick erfordert volle Wachheit, ganze Präsenz und eine nicht nachlassende Aufmerksamkeit für alle im Moment auftauchenden körperlichen und geistigen Phänomene. Dazu braucht es Zeiten der Muße, die sich vor allem in verschiedenen Formen der Meditation manifestiert. In einigen buddhistischen Gesellschaften ist es üblich, dass jeder junge Mensch eine Zeit lang im Kloster lebt und so die Bedeutung der Meditation und des Einhaltens von Mußezeiten erlernt.

China, das Land der Mitte, wurde neben dem Buddhismus und dem Konfuzianismus auch durch den Daoismus maßgeblich geprägt. Diese Drei Lehren haben auch über China hinaus wesentlichen Einfluss auf die Religionen und Geisteswelten der Menschen ausgeübt. Es ist zwar bis heute strittig, ob es sich dabei um Religionen oder Philosophien handelt, aber diese Unterscheidung ist wohl eine Methode des westlichen Denkens, das die Drei Lehren gar nicht in ihrer Eigentlichkeit zu beschreiben vermag. Was wir „Muße“ nennen, wird dort wohl eher mit dem Begriff „Achtsamkeit“ bezeichnet. Achtsamer Umgang mit sich selbst, den Mitmenschen, der belebten und unbelebten Umwelt bedarf jedoch stets einer Zeit des Innehaltens und des Sich-bewusst-Werdens.

Zum ersten Mal in das helle Licht der Geschichte tritt die Muße aber in der Kultur des alten Griechenlands. Die Griechen haben dafür ein Wort, das es zu einer überraschenden Karriere als Lehnwort im Deutschen gebracht hat. Muße heißt dort scholä und hat außerdem die Bedeutung Rast, Müßiggang und – Schule. Das Verbum scholazo macht es noch deutlicher, es bietet folgende Übersetzungsmöglichkeiten: Zeit haben, Muße haben, sich Zeit nehmen, sich einer Sache widmen, und von da weitet sich die Bedeutung zu „studieren“ und sogar „Unterricht erteilen“.

Wir modernen Menschen würden Schulunterricht und Muße nicht mehr in einen Bedeutungshorizont stellen, weder Schüler und Studierende noch deren Lehrer und Professoren. Doch noch im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätten es zumindest die Studenten der ersten Semester im Sinne des klassischen Altertums gesehen: Man pflegte damals die ersten zwei Studienhalbjahre zu „verbummeln“, sich in verschiedene Fächer einzuschreiben, überall ein bisschen hineinzuschnuppern, im geselligen Zusammensein mit den neu gewonnenen Kommilitonen die akademische Freiheit zu genießen, ehe man das Studium ernsthaft als Pflicht annahm und sich danach als Philister, das heißt als Spießbürger, seiner beruflichen Karriere widmete.

Aristoteles, der Systematiker unter den alten Philosophen, meinte, die Muße sei der Angelpunkt, um den sich alles drehe. Außerdem stellte er fest, wir seien eigentlich nur deshalb unmüßig, das heißt, wir arbeiten, um Muße zu haben. Dies erinnert an unsere moderne Frage: Lebst du, um zu arbeiten, oder arbeitest du, um zu leben? Er führt in seiner Politik, den Schriften zur Staatstheorie, einen interessanten Gedanken an: Es sei Aufgabe des Gesetzgebers, Ziel der Erziehung und Wille einer guten Herrschaft und des Staates, die Bedingungen für den Raum der Kontemplation, die nur in Muße geschehen könne, zu schaffen. Entsprechend sorge der Tyrann dafür, dass niemand Muße hat. Achtet die Erziehung nicht auf die Schaffung von Muße, so führt sie zu Knechtschaft. Sie muss aber begleitet werden von den Tugenden der Gerechtigkeit, der Mäßigung und der Weisheitsliebe (Philosophie), soll sie nicht in Übermut umschlagen. Im Umkehrschluss würde das bedeuten: Überall, wo Muße nicht möglich ist, herrscht Tyrannei, wird die Freiheit des Individuums und der Gesellschaft beschnitten.

Dies zu bedenken könnte gerade in unserer freiheitsliebenden, liberalen Zeit ein guter Ansporn sein, sich darum zu kümmern, dass wir die Muße nicht allzu leichtfertig der Tyrannei des von der Ökonomie bestimmten Mainstreams opfern. Für die Alten waren das Lernen und Lehren also eine Zeit der Muße: Sie war frei von dem Zwang, sich um den materiellen Lebensunterhalt zu kümmern. Damit war natürlich auch der soziale Unterschied markiert. Der Sklave, für alle Arbeiten in Haus und Hof zuständig, hatte wenig Muße, während der freie Bürger, vor allem wenn er adlig und wohlhabend war, voller Stolz darauf verwies, über ausreichend freie Zeit für die Muße zu verfügen. Arbeit, zumal körperliche, galt ihm als Zeichen der Unfreiheit.

Der Römer Seneca, zugleich Politiker und Philosoph, Erzieher des Kaisers Nero und schwerreich, hat einen kleinen Dialog verfasst mit dem Titel „Über die Muße“, in dem er seinem Verwandten Annaeus Serenus empfiehlt, sich aus dem öffentlichen Leben in die Muße zurückzuziehen und die Schriften hervorragender Männer zu studieren. In ihren Schriften forscht man über die Natur des Menschen, die Struktur der Welt und den Sitz der Götter. Zur Natur des Menschen gehört seiner Meinung nach nicht nur die äußere Tätigkeit, sondern auch die denkende Betrachtung, die Kontemplation. Für diese denkende Betrachtung, oder wie der Grieche Platon sagt, für die Schau der Dinge (griechisch: theoria), ist Muße die Grundbedingung. Das ist Sache der Philosophen. Sie sind in Freiheit und Muße aufgewachsen – Geschäfte und Dienstleistungen sind Sache der Handwerker (griechisch: banausoi). Daher kommt unser etwas negativ konnotiertes Herabschauen auf die Banausen, sie haben vor lauter Tätigsein keine Zeit für die Muße.

Der Geschichtsschreiber Sallust schildert zu Beginn seines berühmten Werkes über die Verschwörung des Catilina sehr anschaulich, wie das Verhältnis der Römer zu Erwerbsarbeit, politischer Karriere und Muße ausgesehen hat. Sallust war in jungen Jahren Anhänger Cäsars gewesen. Er scheint im Ausnützen seiner Machtpositionen nicht zimperlich gewesen zu sein. Nach der Ermordung seines Gönners beendete Sallust seine Laufbahn in Politik und Militär und begann, sich der Geschichtsschreibung zu widmen. Er schönt seine Motive, bringt aber die herrschenden Ansichten der römischen Gesellschaft damit umso deutlicher zum Ausdruck:

„Ich begab mich als ganz junger Mann zu Beginn, wie sehr viele, mit Eifer in die Politik, und dort stieß ich auf vieles, was mir zuwider war. Denn hier herrschten nicht Anstand, Zurückhaltung und Leistungsbereitschaft, sondern Unverschämtheit, Bestechlichkeit und Habgier. Auch wenn mein Geist, der schlechte Eigenschaften nicht gewohnt war, diese Verhaltensweisen verabscheute, wurde mein schwaches Alter, von Ehrgeiz verdorben, dennoch zwischen diesen Lastern festgehalten. Und obwohl ich mich im Charakter von den anderen unterschied, wurde ich nichtsdestoweniger durch denselben Ehrgeiz, der auch sie umtrieb, ein Opfer von Neid und übler Nachrede.

Sobald sich nun mein Geist von den vielen Notlagen und Gefahren erholen konnte und ich beschlossen hatte, mein Leben künftig fern von der Politik zu verbringen, hatte ich nicht die Absicht, die wertvolle Muße mit Trägheit und Nichtstun zu vergeuden oder aber mir meine Zeit durch sklavische Betätigungen wie Landwirtschaft oder Jagd zu vertreiben, sondern ich kehrte zu dem Unterfangen und zu der Beschäftigung zurück, von der mich mein verwerflicher Ehrgeiz abgehalten hatte, und beschloss, die Geschichte des römischen Volkes ... darzustellen.“

Für Sallust bedeutet Muße also, sich von den negativen Seiten des öffentlichen Lebens abzuwenden. Er schildert dieses als bestimmt von Korruption und Gier. Die Muße wird wertvoll, wenn sie mit Studien erfüllte Zeit ist, frei von knechtischer Arbeit, in die er neben der Landwirtschaft eigenartigerweise auch die Jagd einbezieht. Er kehrt zurück zu seiner eigentlichen Bestimmung – in seinem Fall die Geschichtsschreibung. Ein moderner Schriftsteller oder Geschichtswissenschaftler würde wohl den Kopf schütteln, wenn er seine Arbeit bei der Recherche und am Schreibtisch als Freizeitbeschäftigung geschildert bekäme. Für den antiken Menschen war dies die höchste Form der Muße – allerdings musste er damit auch nicht seinen Lebensunterhalt verdienen.

Cicero, von dem die meisten Schriften der römischen Literatur überliefert sind und der deshalb wohl von vielen geplagten Lateinschülern insgeheim verflucht worden ist, war der große Vermittler griechischer Philosophie bei seinen Landsleuten. Er hat viele Fachbegriffe ins Lateinische übersetzt. Mit den Griechen und wohl allen antiken Kulturen hatten die Römer die Pflege der Muße als Ausdruck des gesellschaftlichen Standesdenkens gemein – trotz ihrer Hochschätzung des Militärs und der rationalen Rechtsprechung.

Ciceros Landgut Tusculanum in der Nähe der Stadt Tusculum beim heutigen Frascati wurde geradezu zum Inbegriff dessen, was die Römer unter Muße verstanden. Die Gespräche und Diskussionen, die er mit seinen Freunden dort führte, veröffentlichte er in einem eigenen Buch, den Tusculanae disputationes. Das übergreifende Thema des in Dialogform verfassten Buches besteht in der Bewältigung des Schmerzes. Ein Lehrer und seine Schüler sprechen über den Tod, das Ertragen von körperlichem und seelischem Schmerz, die Beherrschung der Affekte und Leidenschaften durch die Vernunft und schließlich über das Generalthema der Philosophie der Alten: Wie kann ich ein glückliches Leben führen? Cicero gibt die Antwort: Ein sinnvolles Leben gelingt nur durch Beachtung der Tugenden.

In einem anderen seiner Bücher, De oratore, „Über den Redner“, prägt er gleich zu Beginn das geflügelte Wort otium cum dignitate (Muße mit Würde). Er zitiert sich in anderen Schriften mehrmals selbst mit diesem Ausdruck. Dabei kann dieser durchaus verschiedene Bedeutungen annehmen, etwa „ehrenvoller Ruhestand nach verdienstvoller Amtsführung“ und auch „ehrenvolle Zurückgezogenheit“. Beide Bedeutungen haben auch heute noch ihre Relevanz. Wer kennt nicht den Gruß der Rentner, die mit den erhobenen Händen wedeln als Hinweis auf den vollen Terminkalender der weiterhin gestressten Ruheständler? Es fällt vielen ehemals Berufstätigen schwer, in der Zeit der Pensionierung ein ausgeglichenes, ruhigeres Leben zu führen. Man ist derart vom Hetzen von Termin zu Termin während der Lebensarbeitszeit geprägt, dass es schwerfällt, davon loszulassen. Auch die Angst vor einer vermeintlich drohenden Bedeutungslosigkeit trägt dazu bei. Am Arbeitsplatz wurde man gebraucht, man hatte vielleicht seine Statussymbole wie Dienstauto, Büro und Sekretärin.

All das fällt mit dem Erreichen der Altersgrenze weg. Viele glauben, ins Leere zu fallen. Dann füllt man diese vermeintlich drohende Leere mit unzähligen Freizeitterminen. Das hat sehr viel damit zu tun, ob man seine Wichtigkeit, seine Würde (dignitas), aus sich selbst und seinem eigenen Selbstwertgefühl bezieht oder aus den Dingen, die im Berufsleben die nötige Unterstützung oder auch nur die Dekoration gegeben haben. Der Sozialpsychologe Erich Fromm hat das schon in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts in seinem Buch Haben oder Sein thematisiert. Woraus beziehe ich mein Selbstwertgefühl? Aus dem, was ich bin, oder aus dem, was ich habe? Aus meinem Inneren oder aus den Äußerlichkeiten, die ich mir als Attribute zugelegt habe?

Ciceros „ehrenvolle Zurückgezogenheit“ stellt eigentlich einen Widerspruch zu seiner eigenen philosophischen Grundüberzeugung dar. Er war Stoiker, und deren Ethik war erfüllt von einem strengen Pflichtbewusstsein: Jeder Bürger hat nach seinen Möglichkeiten seinen Beitrag zur gesellschaftlichen und staatlichen Organisation zu leisten. Für Cicero selbst hieß das, die Ämterlaufbahn der römischen Republik einzuschlagen. Er hatte es bis zum Konsul gebracht, einem der beiden höchsten Beamten des Gemeinwesens, in unserem Sprachgebrauch würden wir wohl sagen: Er war Regierender Bürgermeister. Seine große Leistung, von der er nicht müde wurde, sie auch immer wieder ins Bewusstsein zu rufen, war die Niederschlagung der Verschwörung des Catilina, der, um seine immensen Schulden loszuwerden und ein Verfahren wegen der Auspressung von Provinzbewohnern zu vermeiden, einen Staatsstreich plante. Cicero hielt seine berühmten Reden gegen Catilina im Senat und führte so dessen Vertreibung aus Rom und schließlich seinen Tod herbei. Also ein bewegtes Politikerleben. In den späteren Jahren war allerdings sein Stern gesunken. Enttäuscht zog er sich immer wieder auf seine Landgüter zurück, um seine philosophischen Schriften zu verfassen. Damit huldigte er eigentlich dem Ideal Epikurs, des Gründers der „gegnerischen“ Richtung der miteinander konkurrierenden Philosophenschulen.

Einer der epikureischen Grundsätze lautete: „Lebe im Verborgenen!“ Epikur fand ja nicht im Vermeiden der Affekte das glückliche Leben, sondern ganz im Gegenteil im Kultivieren der Lust. Damit meinte er aber nicht den Hedonismus, also das freie, ungezügelte Ausleben der Begierden, sondern das Vermeiden von Leiden. Einer der wichtigsten Wege zu einem glücklichen Leben war für ihn und seine Schüler die Zurückgezogenheit in seinem Garten, wo er mit seinem Freundeskreis seine philosophischen Ansichten diskutierte und eine Art Wohngemeinschaft bildete. Dazu gehörten, ganz ungewöhnlich für die Antike, auch Sklaven und Frauen. Dort und nicht im Streben nach Ehren und Ämtern im Staatswesen fanden Epikur und seine Anhänger die Erfüllung ihres Strebens. Immer wieder zitierte Cicero, obwohl Anhänger der Stoa, auch seinen Gewährsmann Epikur. Dessen Garten, mitten in Athen gelegen, scheint nachgerade ein Vorgänger des ciceronianischen Tusculums gewesen zu sein, wo man im trauten Kreis von Freunden und Schülern im Gespräch bei Wein und Gesang hohe Philosophie betreiben konnte, also all das, worunter der antike Mensch die Pflege der Muße verstand.

Eine untergegangene Form dieser mußevollen Gesprächs- und Trinkkultur bildete das symposion, das die Römer als convivium bezeichneten. Dabei lag man in Gesellschaft von einem guten Dutzend Freunden auf einer Kline, einem Ruhebett, auf den linken Arm gestützt. Die Liegen waren an den vier Außenwänden so angeordnet, dass die Sklaven die Feiernden gut bedienen konnten und jeder von allen gesehen und gehört werden konnte. Dem eigentlichen symposion ging das Mahl voraus. Zu Anfang erfolgte eine Libation, ein Trankopfer von Wein zu Ehren des Agathos Daimon, einer Schutzgottheit des Guten, das von Freudengesängen für den Gott begleitet wurde. Die Libation wurde aus einer besonderen Schale, die von den Gästen reihum weitergereicht wurde, vollzogen.

Zu kultivierten Festen gehörten auch Gedichte und Lieder sowie Rätselspiele, man suchte einander an Witz und Schlagfertigkeit zu übertreffen. Daneben übte man sich in Geschicklichkeitsspielen wie dem namentlich auf Sizilien populären kottabos, bei dem der Spieler in liegender Haltung mit dem Finger Weintropfen in eine Tasse schnipste, die an einem Stock oder Haken hing. Je später der Abend, desto ausgelassener wurde die Stimmung. Flötenspielerinnen, Tänzerinnen und Hetären, also gebildete Kurtisanen, waren die einzigen Frauen, die zugelassen wurden. Der Liebesgott Eros konnte durchaus sein Zepter schwingen.

Neben Cicero nimmt noch ein anderer Stoiker immer wieder Bezug auf den „Philosophen des Gartens“, wie Epikur auch bezeichnet wurde. Es handelt sich um den schon eingangs erwähnten Seneca. Neben seiner kleinen Schrift, die ausschließlich von der Muße handelt, nimmt er in verschiedenen seiner Werke auf die Muße Bezug. Von ihm sind 124 Briefe an seinen Freund und Schüler Lucilius erhalten, die eine Einführung in seine Philosophie darstellen. An vielen Stellen ermahnt er diesen, von seinem Streben nach Karriere und der Sorge um seinen Besitz abzulassen und sich vor allem um das zu kümmern, was einem Römer seines Standes gemäß sei, nämlich Zeit für die Muße zu haben. Am deutlichsten im 68. Brief, der gleich mit den Worten anhebt:

„Verbirg dich in der Muße, aber verbirg auch deine Muße vor anderen.“ Der Weise braucht nichts, um sich damit vor anderen zu brüsten, auch nicht sein Freisein für die Muße. Seneca charakterisiert dieses Freisein vom Wirken nach außen folgendermaßen: Es ist die den wahren Weisen nährende Muße, nämlich Verfügung über die eigene Zeit und Ruhe, die von keinen Tätigkeiten für die Öffentlichkeit gestört ist. Sie ist heilig, denn „ein Gott hat diese Muße erschaffen“. Näherhin ist „Muße ohne wissenschaftliche Beschäftigung der Tod und das Begräbnis eines Lebendigen“.

Nicht nur die Philosophen und Redner preisen die Muße, auch die Dichter nehmen sich ihrer an. Das Zitat bei Seneca, wo er die Muße als Geschöpf eines Gottes bezeichnet, findet sich bei Vergil, dem „Staatsdichter“ der Ära des Kaisers Augustus, in seinen Hirtengedichten. Ähnlich denkt und dichtet Horaz, sein Zeitgenosse. Im zweiten Gedicht der Epoden gibt er seiner Begeisterung für das Landleben durch die seither berühmten Worte „beatus ille, qui procul negotiis“ Ausdruck: „Glücklich der Mann, der fern von Geschäften, wie einst das Menschengeschlecht, die väterliche Scholle mit seinen Ochsen pflügt, frei von Schuldenlast; weder wird er als Soldat vom wilden Signal aufgescheucht noch vom grollenden Meer verängstigt, er meidet das Forum und die stolzen Paläste der Mächtigen.“

Hier sind alle Merkmale der römischen Auffassung dessen, was ein Leben in Muße behindert, aufgelistet: Wer so leben kann, braucht sich nicht um sein Vermögen zu kümmern und zu sorgen, der verzichtet auf die militärische Karriere, vermeidet die anstrengenden und ablenkenden Reisen, hält sich fern von Politik und Machtstreben. Allerdings wird, wie auch heute noch, das bäuerliche Leben sehr idealistisch dargestellt. Das ruhige und beschauliche Pflügen der Felder mit dem gemächlich dahintrottenden Ochsengespann war schon damals keinem vergönnt, am wenigsten den Feldsklaven, die oft genug gequält und profitträchtig ausgebeutet wurden. Dennoch scheint das Leben auf dem Lande „fern von der Stadt und den Geschäften“ zu allen Zeiten ein schönes Bild für die Sehnsucht der Menschen nach Ruhe und Beschaulichkeit darzustellen.

Fern von der Metropole Rom und ihrem geschäftigen Treiben musste auch der Dritte des poetischen Dreigestirns des augusteischen „Goldenen Zeitalters“ seinen Lebensabend verbringen. Ovid war von Kaiser Augustus nach Tomis am Schwarzen Meer verbannt worden. Die Gründe sind bis heute nicht genau bekannt. Man vermutet, dass dem sittenstrengen Kaiser die Liebeskunst, ein Gedichtband Ovids, nicht in sein Programm moralischer Erneuerung alter Römertugenden passte. Obendrein scheint der Dichter auch unabsichtlich in eine sittliche oder politische Affäre der Enkelin des Augustus verwickelt gewesen zu sein. Auf jeden Fall schickte man Ovid an die Ostgrenze des Reichs. Unfreiwillig musste er dort die ihm aufgezwungene Muße ertragen.

Er machte das Beste daraus, verfasste Klagelieder über die Härte seines Schicksals als Exilant und schickte seine Sammlung der „Briefe vom Schwarzen Meer“ in das Rom des Augustus-Nachfolgers Tiberius, der ihn trotzdem nicht zurückberief. Ovid schrieb sich das Exil trotz allen aus Langeweile herrührenden Kummers, der ein bisschen nach Wehleidigkeit klingt, schön. So heißt es im ersten Brief: „Muße nährt den Leib, auch der Geist erquickt sich in ihr; maßlose Mühe dagegen entkräftet beide.“ Muße dient der Erholung von Seele und Körper, die beide durch die Maßlosigkeit der Anspannung überanstrengt werden. Welcher moderne Leser wollte da nicht an die zunehmende Beschleunigung und den dadurch verursachten Stress denken?

Otium – Muße – war in der Antike die zu erstrebende Grundgröße. War sie durch das Eingebundensein in Staatsgeschäfte oder ökonomische Tätigkeiten nicht möglich, hatte man „nicht mehr Muße“, lateinisch: nec otium (nicht Muße). Daraus wurde ein Wort: negotium – Geschäft, Beschäftigung. Wir kennen es aus den modernen Sprachen: das englische negotiation, französisch négoce und italienisch negozio. Das Geschäft, die Arbeit, wir würden sagen: das Subsystem Wirtschaft, war zwar notwendig, hatte aber eigentlich nur den Zweck, das Wesentliche, nämlich die Muße, zu ermöglichen.

Anselm Bilgri

Über Anselm Bilgri

Biografie

Anselm Bilgri, geboren 1953, war bis 2004 Benediktinermönch, Cellerar und Prior des Klosters Andechs. Heute wirkt der "Gratwanderer zwischen Kirche und Welt" als Vortragender, Buchautor, Coach und Mediator. und ist Mitgründer der Akademie der Muße. Bei Piper erschienen seine Bücher "Finde das rechte...

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„Eine Mischung aus Philosophie-Buch und Ratgeber. Es schlägt den Bogen von der Kunst der Muße, wie sie in der klassischen Antike zelebriert wurde, bis zu unserem Zeitalter der Beschleunigung.“

Tages-Anzeiger

„Autor Anselm Bilgri, der auch als Coach und beredter Mediator unterwegs ist, ergänzt seine geschichtlichen, medizinischen und religiösen Ausführungen mit sehr persönlichen Muße-Erfahrungen und praktischen Übungen.“

Euro

„Kein esoterischer Firlefanz, sondern eine wissenschaftlich fundierte Reise durch Geschichte, Philosophie, Religionen und Meditation.“

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