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Verteilungskampf

Verteilungskampf

Marcel Fratzscher
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Warum Deutschland immer ungleicher wird

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Verteilungskampf — Inhalt

„Wohlstand für alle“ – das ist seit Ludwig Erhard das Credo der deutschen Politik. Doch Deutschland ist an seinem Ideal gescheitert: In kaum einem Industrieland herrscht eine so hohe Ungleichheit – in Bezug auf Einkommen, Vermögen und Chancen. Die Investitionen sinken, die Abhängigkeit vom Staat nimmt zu, die soziale Teilhabe nimmt ab. Der Verteilungskampf wird härter. Verantwortlich dafür ist primär die hohe Chancenungleichheit, die Menschen davon abhält, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Fratzscher zeigt, wie die Politik die Chance der Zuwanderungswelle nutzen kann und was sie tun muss, um die Spaltung der Gesellschaft abzuwenden.

€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 01.09.2017
272 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-30972-1
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Leseprobe zu „Verteilungskampf“

Einleitung – Wohlstand für wenige
Das Erhard ’sche Ziel „Wohlstand für alle“ ist heute nur mehr eine
Illusion. Deutschlands soziale Marktwirtschaft, wie wir sie über
sieben Jahrzehnte gekannt haben und in der die soziale Sicherung
aller Bevölkerungsgruppen gewährleistet war, existiert
nicht mehr. In der deutschen Marktwirtschaft wird mit gezinkten
Karten gespielt – wirklichen marktwirtschaftlichen Wettbewerb
gibt es immer weniger.
Die neue deutsche Marktwirtschaft zeigt ihr wahres Gesicht in
einer stark zunehmenden Ungleichheit. In kaum einem Industrieland
der [...]

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Einleitung – Wohlstand für wenige
Das Erhard ’sche Ziel „Wohlstand für alle“ ist heute nur mehr eine
Illusion. Deutschlands soziale Marktwirtschaft, wie wir sie über
sieben Jahrzehnte gekannt haben und in der die soziale Sicherung
aller Bevölkerungsgruppen gewährleistet war, existiert
nicht mehr. In der deutschen Marktwirtschaft wird mit gezinkten
Karten gespielt – wirklichen marktwirtschaftlichen Wettbewerb
gibt es immer weniger.
Die neue deutsche Marktwirtschaft zeigt ihr wahres Gesicht in
einer stark zunehmenden Ungleichheit. In kaum einem Industrieland
der Welt sind vor allem Chancen , aber auch zunehmend
Vermögen und Einkommen ungleicher verteilt als in Deutschland.
Diese Ungleichheit stellt nicht nur ein gesellschaftliches,
sondern ein massives wirtschaftliches Problem dar. Sie schwächt
unser Wachstum, verhindert mehr Investitionen und bessere
Jobs. Dieser Schaden ist eine Realität, die Deutschland vor riesige
Herausforderungen stellt.

Deutschland, das Land der Ungleichheit
Deutschland ist heute eines der ungleichsten Länder in der industrialisierten
Welt. Warum ist nicht sofort off ensichtlich. Die
Fakten sind wie Puzzleteile, die auf den ersten Blick nicht zu -
sammenpassen wollen. Als Erstes zeigt sich das „Vermögens -
Puzzle“: Deutschland ist ein reiches Land, mit einem Pro-Kopf-
Einkommen , das zu den höchsten der ganzen Welt gehört. Und
Deutschland ist Sparweltmeister – in kaum einem Industrieland
sparen sowohl Bürger als auch Unternehmen einen so hohen Anteil
ihres Einkommens . Logisch wäre also, dass die Menschen in
Deutschland dank hoher Einkommen und hoher Sparquote auch
hohe private Vermögen aufbauen können, um ihren Wohlstand
für die Zukunft zu sichern und Vorsorge zu betreiben.
Die Realität sieht jedoch anders aus: Das Vermögen vieler
Deutscher ist erheblich niedriger als das ihrer Nachbarn. Es zählt
zu den niedrigsten in ganz Europa und ist weniger als halb so
groß wie das anderer Europäer. Zum Vermögen zählen Geldvermögen,
Finanzanlagen, Immobilien , Wertsachen, Versicherungen
und Betriebsvermögen. Ihr Wert ist in den Portfolios vieler
deutscher Bürger in den vergangenen 15 Jahren gesunken. Wie
passen diese Fakten zusammen ? Wie kann es sein, dass in einem
Land, das wirtschaftlich so erfolgreich und stark ist, die Menschen
über so wenig Vermögen und private Absicherung verfügen
? Wie kann es sein, dass die Menschen in Deutschland mehr
verdienen und mehr sparen als viele Nachbarn, aber dennoch
weniger Vermögen aufbauen ?
Gleichzeitig sind die Vermögen höchst ungleich verteilt. In keinem
anderen Land der Eurozone ist die Vermögensungleichheit
höher. Die ärmere Hälfte unserer Bevölkerung verfügt praktisch
über gar kein Nettovermögen . Falls die Menschen Vermögenswerte
besitzen, sind Schulden und andere Verpfl ichtungen mindestens
ebenso groß. Bei den ärmsten 20 Prozent sind die Schulden
sogar größer als die Vermögenswerte . Diese Bürger sind
netto verschuldet. Aber auch an der Spitze der Vermögenspyramide
ist Deutschland extremer als seine Nachbarn: In kaum
einem Land in Europa besitzen die reichsten 10 Prozent der Be -
völkerung größere Vermögenswerte . Die Vermögensungleichheit
ist in Deutschland fast genauso groß wie in den USA .
Das zweite Puzzle ist das „Einkommens -Puzzle“. Nicht nur bei
den Vermögen , auch bei Löhnen und Einkommen ist das „Soziale
“ der deutschen Marktwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten
in den Hintergrund getreten. Die Schere zwischen hohen
und niedrigen Einkommen im Land klaff t immer weiter auseinander.
Rund die Hälfte der deutschen Arbeitnehmer musste zu -
sehen, wie ihre Löhne in den vergangenen 15 Jahren an Kaufkraft
verloren. Den Verlust mussten die Arbeitnehmer mit den
niedrigeren Löhnen hinnehmen. Nur die mit den höchsten Löhnen
konnten sich über deutliche Zuwächse freuen.
Nicht nur die Kaufkraft ist gesunken, auch die Arbeitseinkommen
der meisten Arbeitnehmer sind nur schleppend angestiegen,
auch da in Deutschland ungewöhnlich viele Menschen in prekärer
Beschäftigung sind oder – oft unfreiwillig – in Teilzeit arbeiten.
Deutschland gehört zu den Industrieländern mit der höchsten
Ungleichheit der Markteinkommen . Der deutsche Staat versucht,
diese hohe Ungleichheit durch Steuern und fi nanzielle Umverteilung
wieder auszugleichen – allerdings nur mit begrenztem Erfolg.
Die Ungleichheit bei Löhnen , Markteinkommen und verfügbaren
Einkommen ist in den vergangenen Jahrzehnten deutlich
angestiegen. Nach 2005 wurde dieser Anstieg durch die starke
Zunahme der Beschäftigung zwar gebremst. Hohe Erträge erzielten
in Deutschland aber vor allem solche Bürger, die große Be -
triebs- oder Finanzvermögen einsetzen konnten. Und so spiegelt
sich die steigende Ungleichheit auch in einer starken Zunahme
der Armutsquote wider – vor allem ältere und sehr junge Menschen
sind zunehmend von Armut bedroht –, wie auch in einer
abnehmenden Generationengerechtigkeit . Denn bereits beim Be -
rufseinstieg ist die Ungleichheit der heutigen jüngeren Generationen
in Einkommen und Vermögen deutlich höher, als das in
der Vergangenheit der Fall war.
Das dritte Puzzle ist das „Mobilitäts -Puzzle“. Menschen mit
niedrigem Einkommen und einem geringen Vermögen schaff en
es ungewöhnlich selten, sich fi nanziell deutlich zu verbessern
und „sozial aufzusteigen“. Ein ähnliches Beharrungsvermögen
fi ndet sich bei den hohen Einkommen und großen Vermögen :
Wer es einmal geschaff t hat, ein gutes Einkommen und hohes
Vermögen zu erreichen, hat in Deutschland viel größere Chancen
als in anderen Ländern, diese Position auch beizubehalten. Die
Gefahr eines Abstiegs ist viel geringer als im Durchschnitt der
OECD-Länder. Am stärksten ausgeprägt ist dieser Stillstand der
sozialen Verhältnisse bei den oberen und den unteren 10 Prozent,
also beim reichsten und beim ärmsten Zehntel der Bevölkerung.
International außergewöhnlich ist auch die starke Wechselwirkung
zwischen Einkommen und Vermögen : Die vermögenden
Bürger sind auch die mit den hohen Einkommen . Wer hat, dem
wird gegeben.
Diese geringe Mobilität wirkt auch über Generationen hinweg:
In kaum einem anderen Land beeinfl usst die soziale Herkunft
das eigene Einkommen so stark wie in Deutschland. In kaum
einem anderen Land bleibt Arm so oft Arm und Reich so oft
Reich – über Generationen hinweg. Die Hälfte des Einkommens
eines Arbeitnehmers in Deutschland wird durch das Einkommen
und den Bildungsstand der Eltern bestimmt. Kinder reicher
Eltern dürfen also nicht nur auf große Erbschaften oder Schenkungen
hoff en, sie haben auch deutlich bessere Chancen, selbst
ein überdurchschnittliches Arbeitseinkommen zu erzielen. Kinder
aus einkommens- und vermögensschwachen Haushalten
schaff en es nur selten, sich deutlich besser zu stellen als die
Eltern. Diese bereits geringe Mobilität hat in den vergangenen
Jahrzehnten sogar noch abgenommen.
Einer der größten Verlierer dieser Entwicklung ist die deutsche
Mittelschicht . Es sind die Menschen in der Mitte der Gesellschaft,
deren Jobs in Gefahr sind, deren Löhne schrumpfen, die
nur geringe Möglichkeiten haben, Vorsorge zu betreiben und
Vermögen aufzubauen. Es sind die Menschen, die bislang das
Rückgrat einer jeden Wirtschaft und Gesellschaft bilden – auch
unserer.
Die Ungleichheit in Deutschland hat viele Gesichter. Frauen ,
Bewohner ländlicher Regionen, Ostdeutsche , Migranten , Menschen
aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien, Alleinerziehende, Alte und Kinder – sie alle sind deutlich schlechter
gestellt. Vor allem belastet der deutsche Staat den Faktor Arbeit
unverhältnismäßig stärker mit Steuern und Abgaben als den Faktor
Kapital – der internationale Vergleich zeigt dies überdeutlich.
Deutschland ist schon lange kein Land mehr, das „Wohlstand für
alle“ bietet. Aus dem „Wohlstand für alle“ ist ein „Wohlstand für
wenige“ geworden.

Ist Ungleichheit ein Problem?
Aus ökonomischer Perspektive ist Ungleichheit in Einkommen
oder Vermögen erst einmal weder gut noch schlecht. Viele Menschen
empfi nden Ungleichheit als einen Mangel an Gerechtigkeit.
Andere halten Ungleichheit für ein gerechtes Resultat von
über- oder unterdurchschnittlicher Leistung oder schlicht für
natürlich gegeben. Jeder Mensch hat ein anderes Verständnis davon,
wie eine gerechte Verteilung aussehen sollte.
Dieses Buch beschreibt die Lebensverhältnisse der Menschen
bezüglich der Ungleichheit von Einkommen , Vermögen und Chancen
, analysiert die Ursachen und Auswirkungen dieser Ungleichheit
auf Deutschland, seine Einwohner, seine Wirtschaft und
seine Zukunftsaussichten. Viele wissenschaftliche Studien belegen,
dass eine gewisse Ungleichheit in Einkommen und Vermögen
ein normales und zum Teil auch wünschenswertes Resultat
einer Marktwirtschaft ist. Aus einer wirtschaftlichen Perspektive
ist dosierte Ungleichheit in dem Maße wünschenswert, in dem
sie freie Entscheidungen der Menschen refl ektiert. Ein Teil einer
jeden Ungleichheit kommt durch Mut und Geschick einiger weniger
zustande, die hohe Risiken für sich selbst eingehen, um wirtschaftlich
und fi nanziell Erfolg zu haben. Davon profi tieren viele,
denn solche Menschen schaff en Beschäftigung und damit auch
Wohlstand für viele.
Eine Marktwirtschaft muss Erfolg honorieren, so dass Menschen
den Lohn für ihre Mühen ernten können. Dies führt zwar
zu einer ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen,
setzt jedoch wichtige Anreize für andere, den gleichen oder einen
ähnlichen Weg zu gehen, um somit auch den Wohlstand der ge -
samten Gesellschaft zu vermehren.
Ungleichheit wird zu einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
Problem, wenn sie nicht mehr die freien Entscheidungen
der Bürger widerspiegelt, sondern eine marktwirtschaftliche
Ordnung, in der viele Menschen ihre Talente nicht nutzen können
und kein fairer Wettbewerb herrscht. In einem solchen Land
werden die Produktivität und das Wachstum der Volkswirtschaft
geschwächt. Genau dies ist in Deutschland der Fall: Wissenschaftliche
Studien belegen, wie stark die Ungleichheit in Einkommen
und Vermögen in Deutschland unsere Wirtschaft und
ihre Leistungsfähigkeit schädigt. Beschäftigung, Einkommen und
Wachstum könnten weit höher sein. Die OECD schätzt, dass
durch den Anstieg der Einkommensungleichheit seit den 1990 er
Jahren die deutsche Wirtschaftsleistung heute um 6 Prozent ge -
ringer ist.
Diese Ungleichheit erhöht die Armut . Sie lässt die soziale und
politische Teilhabe im Land schwinden und auch die Vorsorge der
Menschen. Sie verschlechtert die Gesundheit und dämpft die
Lebenszufriedenheit, verstärkt die Abhängigkeit vieler Bürger
vom Staat und liefert Zündstoff für zunehmende soziale Konfl
ikte. Keine Demokratie hat das Ziel, allen Menschen gleiche
Vermögen , Einkommen und Beschäftigung – also den gleichen
Output – zu garantieren. Aber jede Demokratie will Chancengleichheit
bieten. Ungleichheit wird dann zum sozialen Problem,
wenn sie Chancen und soziale Teilhabe einschränkt. Wenn sie
dann noch die politische Teilhabe reduziert, wird sie zur Gefahr
für die Demokratie selbst.
Ein zu hohes Maß an und bestimmte Ausformungen von Un -
gleichheit sind enorm schädlich – sowohl für die Marktwirtschaft
als auch für die Gesellschaft. Wenn die Hälfte der Deutschen
praktisch auf keinerlei Vermögen zurückgreifen kann, können
abgehängte Menschen auch kaum Investitionen in ihre Zukunft
tätigen. Sie können wichtige Bildungs- und Berufschancen nicht
wahrnehmen, keine eff ektive Vorsorge für Alter und Krankheit
betreiben. Hohe Ungleichheit provoziert einen harten Verteilungskampf
innerhalb einer Gesellschaft, der den Wohlstand verkleinert.
Dieser Verteilungskampf zeigt sich in vielen Aspekten –
beispielsweise in einer übermäßigen Lobbyaktivität , der enormen
Bedeutung spezifi scher Interessenvertretungen und einer ineffi -
zienten Wirtschaftspolitik . Der Konfl ikt bindet produktive Kräfte,
die dann nicht der Erhöhung des gemeinsamen Wohlstands zur
Verfügung stehen. Der Verteilungskampf verunsichert Unternehmen
und Bürger, weshalb sie weniger in die Zukunft investieren
und die Wachstumsaussichten durch die geringen Investitionen
weiter verschlechtern.
Der Verteilungskampf ist kein Nullsummenspiel. Umverteilung
verursacht immer auch Kosten, weil sie selten effi zient ist
und die Verhaltensanreize für die Bürger verändert. Aber eine
smarte Umverteilung kann den Wohlstand der gesamten Gesellschaft
verbessern, wenn es ihr gelingt, diejenigen Menschen ins
Wirtschaftsleben zu integrieren, denen diese Gelegenheit bisher
nicht gegeben war.
Deutschlands Problem ist aber nicht, dass der Staat heute nicht
genug umverteilt . Er verteilt tendenziell eher zu viel um. Steuern
und Abgaben sind außergewöhnlich hoch im internationalen
Vergleich. Mehr Umverteilung ist keine Lösung. Im Gegenteil:
Der deutsche Staat sollte eher weniger umverteilen , dafür aber
die Umverteilung effi zienter gestalten, um die wirklich Bedürftigen
zu erreichen. Die Verteilungspolitik in Deutschland ist sehr
ineffi zient und schaff t es zu selten, der Gesellschaft und Wirtschaft
als Ganzes zu nutzen. Ein großer Teil der Umverteilung
heute geschieht im Interesse und zum Nutzen einiger weniger.
Viel zu viel wird heute von Bessergestellten zu den gleichen Bessergestellten
umverteilt .
Die größte Schwäche und das größte Scheitern der deutschen
Politik und Gesellschaft aber ist es, dass wir es nicht schaffen,
eine bessere Chancengleichheit für die Menschen zu gewährleisten.
Die hohe Ungleichheit der Chancen hindert viele Menschen
in Deutschland daran, ihre Fähigkeiten voll zu entwickeln und
den größtmöglichen Nutzen aus ihnen zu ziehen – zu ihrem eigenen
Wohl und zum Wohl unserer Gesellschaft. In kaum einem
Land haben Kinder aus einem sozial schwachen, bildungsfernen ,
ausländischen und von einem alleinerziehenden Elternteil ge -
prägten Umfeld so schlechte Chancen, ihre Talente zu entwickeln,
wie in Deutschland. Fast nirgendwo anders verfügen Frauen über
schlechtere Aufstiegschancen im Beruf und werden in der Bezahlung
so benachteiligt.
„Wirtschaftliche Freiheit“ ist unter solchen Bedingungen nicht
viel mehr als eine leere Worthülse und das Privileg einer immer
kleineren wirtschaftlichen und sozialen „Elite“. Das Schicksal
vieler Deutscher ist bereits im Kindesalter besiegelt. Den schwächsten
40 Prozent der Deutschen wird die Chance genommen, ihr
wirtschaftliches Schicksal selbst bestimmen zu können.

Unsere Zukun" sperspek! ve verschlechtert sich
Die Ungleichheit bei Chancen , Einkommen und Vermögen ist in
den vergangenen Jahrzehnten auch global deutlich gestiegen, in
Deutschland jedoch deutlich stärker als im Schnitt. Vieles deutet
langfristig auf eine Fortsetzung oder sogar Beschleunigung dieses
Trends hin. In einigen Bereichen gibt die Globalisierung der
Ungleichheit Auftrieb, in anderen ist es die Ungleichheit selbst,
die die Grundlage legt für neue Ungleichheit – wie im Bildungsbereich
: Die Reichen profi tieren von ihren größeren Investitionen.
Der Abstand und damit die Ungleichheit in Einkommen , Vermögen
und Chancen vergrößern sich. Die weniger Gebildeten verlieren
den Zugang zu Jobs, werden ärmer, investieren weniger in
Bildung , können schlechter Vorsorge betreiben und Chancen
nutzen – die Ungleichheitsspirale gewinnt an Fahrt. Die Ungleichheit
wird weiter steigen, mit all ihren negativen Konsequenzen für Wirtschaft und Gesellschaft – wenn die Politik nicht
sehr bald eine Kehrtwende vollzieht, das Problem erkennt und
wirtschaftspolitische und gesellschaftspolitische Maßnahmen
er greift, um diesem Trend entgegenzuwirken.
Der Prozess der Globalisierung wird voranschreiten. Einige
glauben an seine Verlangsamung, da die Wirtschaft bereits in so
vielen Bereichen grundlegend global geworden ist. Aber es sprechen
viele Gründe für eine weitere Beschleunigung. Mit der Digitalisierung
und einer Informations- und Kommunikationstechnologie
, die für geringe Kosten immer mehr Menschen immer
schneller verbindet, spricht vieles für ein schnelleres und engeres
Zusammenwachsen der Weltwirtschaft. Diese Globalisierung mag
nicht mehr in erster Linie auf den Handel von Gütern fokussiert
sein. Aber der globale Handel und Austausch in fast allen Dienstleistungsbereichen
werden sich beschleunigen und immer mehr
auch riesige Länder wie China und Indien in die globalen Märkte
integrieren.
Gerade für Deutschland sind die Chancen, aber auch die Risiken
der Globalisierung enorm. Deutschland ist eine der off ensten
Volkswirtschaften weltweit. Kaum ein Land hat so stark von der
Öff nung Chinas und anderer Schwellenländer profi tiert. Dies
bedeutet jedoch auch, dass ein Verlust der Wettbewerbsfähigkeit
vor allem die schwächsten deutschen Arbeitnehmer teuer zu stehen
kommen könnte. Deutsche Unternehmen stehen in immer
stärkerem Wettbewerb nicht nur mit Unternehmen in Industrieländern,
sondern vor allem in Ländern wie China , dessen Bildungssystem
sich deutlich verbessert hat, das über eine hohe
Innovationsfähigkeit verfügt und letztlich auf viele Marktsegmente
drängt, in denen deutsche Unternehmen heute (noch)
führend sind.
Die zunehmende Globalisierung wird jedoch weiterhin vor
allem den Menschen mit hohen und ausgesuchten Qualifi kationen
zugutekommen. Der Anstieg der prekären Beschäftigung
wird sich wohl weiter fortsetzen. Die Natur der Arbeit ändert sich
stark und erfordert immer mehr Flexibilität, was gerade den
Menschen mit guten Qualifi kationen helfen wird. Politikmaßnahmen,
wie die Einführung eines Mindestlohns , zielen auf die
Symptome dieses Phänomens ab, können die Ursachen der steigenden
Ungleichheit jedoch nicht aufhalten, schon gar nicht
be heben. Vor allem die Jobs der Mittelschicht sind von dieser
Entwicklung bedroht und werden immer stärker unter Druck
kommen. Eine weitere Schwächung der Mittelschicht wird daher
alle drei beschriebenen Dimensionen der Ungleichheit weiter
verstärken.
Th omas Pikettys wichtigste Th ese, dass die Rendite auf Kapital
langfristig stärker steigt als die auf den Faktor Arbeit, bedeutet
eine Zunahme der Ungleichheit in Einkommen und Vermögen .
Dieser Prozess wird zumindest aus zwei Gründen vor allem
Deutschland deutlich härter treff en als andere Länder. Zum
einen weil die Vermögensverteilung in Deutschland so ungleich
ist, fast die Hälfte der Deutschen über praktisch kein Nettovermögen
verfügt und somit nicht von einer hohen Rendite auf Vermögen
profi tieren kann. Der zweite Grund ist die in Deutschland
so geringe Chancengleichheit und damit die hohe Abhängigkeit
von Einkommen und Vermögen . In einer Gesellschaft, in der die
Menschen mit den höchsten Vermögen auch die größten Einkommen
erzielen, haben diejenigen mit wenig Einkommen und
Vermögen praktisch keine Chance, mitzuhalten oder gar aufzuholen
– besonders wenn sich Vermögen über Generationen in
denselben Familien konzentriert und gesellschaftliche Gruppen
zementiert.

Marcel Fratzscher

Über Marcel Fratzscher

Biografie

Marcel Fratzscher ist Wissenschaftler, Autor und Kolumnist zu wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Themen. Er ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) - eines der führenden und unabhängigen Wirtschaftsforschungsinstitute und think tanks in Europa - und...

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