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Jeanne Rubner
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Was wir aus Fehlern unseres Gehirns lernen können

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Verrückt — Inhalt

Wie kommt es, dass kleinste organische Störungen unser Leben so sehr verändern können? Antworten liefern die Gehirne von Kranken: von Menschen mit Schizophrenie, Autismus oder Depression, von Parkinsonkranken, Demenzkranken oder Schlaganfallpatienten. Die aktuelle Hirnforschung studiert die Ausfallerscheinungen unseres Gehirns und kommt auf diesem Wege zu neuen Erkenntnissen darüber, wie das gesunde Gehirn funktioniert. Was haben unsere Gefühle mit unserem Gehirn zu tun? Wie lernen wir? Warum vergessen wir? Wie altert das Gehirn? Kann es sich selbst reparieren? Ausgehend von konkreten Krankheitsfällen gibt Jeanne Rubner einen Überblick über die neuesten Forschungsergebnisse und liefert eine leicht verständliche Einführung in die komplexe Welt unserer Gehirne.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 06.10.2014
304 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-96815-7
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Leseprobe zu „Verrückt“

Einleitung:

Die Vermessung des Gehirns



Vor vielen Jahren klingelte bei mir frühmorgens das Telefon. Am anderen Ende war meine Freundin Paola. Sie wohnte damals bei uns, nachdem sie und ihr Freund sich getrennt hatten. Paola war aufgelöst und schrie in den Hörer, man habe sie eingesperrt. Erst nach einer Weile verstand ich, was passiert war. Paola rief vom Bezirkskrankenhaus Haar aus an, dem großen psychiatrischen Krankenhaus am Rand von München, das heute Isar-Amper-Klinikum heißt. Die Polizei hatte sie dorthin gebracht, weil sie mitten in der Nacht vor [...]

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Einleitung:

Die Vermessung des Gehirns



Vor vielen Jahren klingelte bei mir frühmorgens das Telefon. Am anderen Ende war meine Freundin Paola. Sie wohnte damals bei uns, nachdem sie und ihr Freund sich getrennt hatten. Paola war aufgelöst und schrie in den Hörer, man habe sie eingesperrt. Erst nach einer Weile verstand ich, was passiert war. Paola rief vom Bezirkskrankenhaus Haar aus an, dem großen psychiatrischen Krankenhaus am Rand von München, das heute Isar-Amper-Klinikum heißt. Die Polizei hatte sie dorthin gebracht, weil sie mitten in der Nacht vor der Tür ihres Exfreundes lauthals randaliert hatte. Sie verlangte, dass er ihr die Wohnungstür öffnete, wollte ihn zwingen, mit ihr zu reden. Um sie loszuwerden, rief er die Polizei.

Ich bin sofort nach Haar gefahren. Der junge diensthabende Arzt war sehr verständnisvoll und erklärte mir, was geschehen war. Paola hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt, das Haus zu verlassen, und die Beamten hatten sie kurzerhand nach Haar gebracht. Meine Freundin hatte vermutlich das erlitten, was man früher einen Nervenzusammenbruch nannte und heute – nach dem international gültigen Schema für Krankheiten IDC – eine „akute Belastungssituation“. Die Betroffenen, so erklärte mir der Arzt, reagierten auf eine persönliche Krise mit Phasen von Wut und Aggression. Sie erlebten aber auch Bewusstseinsstörungen und verhielten sich ungewohnt. Paola zum Beispiel war in den Wochen vor ihrem Zusammenbruch regelrecht aufgedreht gewesen; sie hatte ständig Dinge gekauft, die sie nicht brauchte, zum Beispiel ein Kaffeeservice für zwölf Personen. Jetzt verstand ich warum. Zum Glück zeigte sich Paola nach einer Nacht in der Aufnahmestation der psychiatrischen Klinik einsichtig. Der Arzt empfahl ihr, eine Psychotherapie zu machen, und entließ sie. Ich habe Paola inzwischen aus den Augen verloren, gemeinsame Freunde aber erzählten mir, dass sie verheiratet ist und Kinder hat und dass es ihr gut geht.

Bis zu dem denkwürdigen Besuch in Haar hatte ich nie über psychische Krankheiten nachgedacht. Damals ist mir bewusst geworden, wie schnell jeder von uns in eine Situation geraten kann, in der er oder sie als „verrückt“ abgestempelt wird. Ab in die Psychiatrie. Ich habe verstanden, dass Krankheit nicht nur ein gebrochenes Bein, ein Tumor oder eine Lungenentzündung ist, sondern dass auch das Gehirn krank sein kann. Und wie kostbar geistige Gesundheit ist, denn viele Krankheiten des Gehirns sind weitaus schwerwiegen-der und belastender als eine Krebserkrankung oder ein Magengeschwür. Sie verändern unsere Persönlichkeit, unser Denken, unseren Geist.

Und sie betreffen viele Menschen, mehr als uns im Alltag auffällt. Das gebrochene Bein sieht man. Auch die kurzen Stoppelhaare der Kollegin nach ihrer Chemotherapie gegen Brustkrebs. Einen Menschen aber, der an einer manischen Depression leidet, erkennt man nicht auf Anhieb, sofern er oder sie die Krankheit mit Medikamenten im Griff hat. Wann immer ich Freunden, Bekannten und Kollegen von diesem Buchprojekt erzählte, hörte ich: „Meine Mutter leidet an Schizophrenie“, „Mein Großvater hat Alzheimer“ oder „Meine beste Freundin ist depressiv.“ Ist es nicht so, dass jeder von uns von Krankheitsfällen aus dem Familien- und Freundeskreis berichten kann?


Die Biologie des Geistes

„In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Biologen sich auf das Erbgut konzentriert, in der ersten Hälfte des 21.Jahrhunderts hat sich der Schwerpunkt zu den Neurowissenschaften verlagert, und insbesondere zur Biologie des Geistes.“ So beginnt das erste Kapitel des wichtigsten Lehrbuchs über das Gehirn, „Principles of Neural Science“, dem Standardwerk für angehende Mediziner in den USA, herausgegeben von dem Nobelpreisträger und Gedächtnisforscher Eric Kandel. Es gilt als Bibel der Neurowissenschaften und liegt heute in der fünften Auflage mit gut 1700 Seiten vor. „Wir müssen die Vorgänge verstehen“, schreibt Kandel, „mit denen wir fühlen, wahrnehmen, lernen, handeln und erinnern.“

Allerdings stehen die Gehirnforscher vor noch größeren Herausforderungen als die Genetiker. Die Bausteine des Gehirns, die Nervenzellen, sind ungleich komplizierter als ein Abschnitt der Erbsubstanz, der nach festgelegten Regeln in Proteine übersetzt wird. Das Erbgut des Menschen besteht aus nur wenigen 10000 Genen, während das Gehirn etwa 100 Millionen Nervenzellen enthält. Jede dieser Zellen funktioniert zwar nach ähnlichen Regeln, ist aber trotzdem eine eigenständige Einheit, deren Output – das elektrische Signal – davon abhängt, wie viele und welche chemische Botenstoffe sich in ihrem Inneren befinden. Jede Zelle ist überdies bis zu zehntausendfach mit anderen verknüpft: Man schätzt, dass es im Gehirn etwa zehn Billionen Kontaktstellen, auch Synapsen genannt, gibt.

Angesichts dieser Komplexität wissen Hirnforscher heute schon eine ganze Menge. Angefangen mit den Nervenzellen. Ihre Arbeitsweise ist bekannt, insbesondere welche biochemischen und physikalischen Prozesse ablaufen, bevor eine Zelle ein elektrisches Signal aussendet. Heute kann man die Signale von ein paar Hundert Zellen gleichzeitig messen, indem man sehr feine Drähte, sogenannte Mikroelektroden benutzt. Die neue, phantastische Methode der Optogenetik ermöglicht es sogar, einzelne Zellen zu sehen: Man macht die Zelle durch einen gentechnischen Trick lichtempfindlich und beobachtet sie dann mithilfe von Licht.

Auf der mikroskopischen Ebene haben die Gehirnforscher große Fortschritte gemacht. Auch die makroskopische Ebene ist heute in vieler Hinsicht gut verstanden. Die Anatomie des Gehirns ist weitgehend entschlüsselt. Man weiß, welche Bereiche welche Aufgaben übernehmen. Bildgebende Verfahren erlauben es, einen Blick unter die Schädeldecke des lebenden Gehirns zu werfen. Insbesondere die Kernspinmethode ist perfektioniert worden – mittlerweile sind Forscher so weit, dass sie sogar größere Bündel von Nervenfasern, die zwischen Hirnregionen verlaufen, sichtbar machen können.

Die Verbindungsmuster zu kennen, ist enorm wichtig. Denn, wie man heute vermutet, beruhen viele Krankheiten des Gehirns auf fehlerhaften Verschaltungen. Um das festzustellen, hat man präzise Karten der Verschaltungsmuster, sogenannte Konnektome entwickelt, in Anlehnung an die genetische Karte, das Genom. Im April 2014 haben Wissenschaftler des Paul-Allen-Instituts für Gehirnforschung in Seattle im US-Bundesstaat Washington das erste Konnektom des Gehirns eines Säugetiers veröffentlicht: eine Nachbildung der Fasern der 75 Millionen Zellen eines Mäusegehirns. Jeder kann die Karte im Internet anschauen.

Doch trotz dieser Fortschritte bleibt eine Kluft zwischen der unteren Organisationsebene – der Nervenzellen – und der oberen Organisationsebene, der spezialisierten Regionen bestehen: Über die mittlere Ebene der kleineren und größeren Zellverbände ist wenig bekannt. Welchen Code benutzen Gruppen von Nervenzellen, um beispielsweise zu signalisieren, dass sie einen Buchstaben auf dieser Seite erkannt haben? Und was genau muss dann passieren, damit aus den einzelnen Buchstaben ein Text wird? Wie „sprechen“ die Millionen von Nervenzellen, die daran beteiligt sind, diesen Text zu lesen, miteinander? Nach welchen Regeln das Gehirn arbeitet, wie es die Welt in seinem Inneren so abbildet, dass neue Erfahrungen und gespeichertes Wissen eine Einheit werden, wie wir zukünftige Handlungen planen – all das verstehen wir noch nicht einmal in Ansätzen. Dabei sind das die wirklich interessanten Fragen, sagen Wissenschaftler wie der Münchner Biologe und Direktor am Max-Planck-Institut für Neurobiologie Alexander Borst: Wie wir denken und fühlen, warum wir uns an manche Dinge erinnern, wie wir lernen. Darüber wissen wir bis heute wenig.

Diese Lücke im Verständnis der Neuronenschaltkreise wirkt sich fatal aus für Menschen, deren Gehirn nicht gesund ist. Denn sie führt dazu, dass die Fortschritte bei der Behandlung von Gehirnkrankheiten dürftig ausfallen und häufig eher zufällig zustande gekommen sind wie beispielsweise die Entdeckung der Neuroleptika oder Antidepressiva in den Fünfzigerjahren.

Vermutlich ist bei hochkomplexen Krankheiten mit vielen Symptomen wie Schizophrenie und Depression auch mehr als nur ein Nervennetz gestört. Außerdem gibt es unterschiedliche Ursachen, die zu ähnlichen Symptomen führen: Depression ist nicht gleich Depression. Anders aber als bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Infektionen, die eindeutig durch hohen Blutdruck oder Viren verursacht werden, fehlen bei vielen neurologischen und psychiatrischen Krankheiten die Hinweise auf eine bevorstehende Erkrankung. Es fehlen die Biomarker, also neurophysiologische oder molekularbiologische Anzeichen für die Krankheit. Weder Gentests noch bildgebende Verfahren können derzeit helfen, Gehirnkrankheiten möglichst früh und möglichst exakt zu diagnostizieren. Das macht es so schwierig, Medikamente zu entwickeln, die an den Ursachen ansetzen.


Was Krankheiten über das Gehirn erzählen

Auf der ersten Seite von „Principles of Neural Science“ findet sich eine Abbildung, die man in einem Buch über das Gehirn nicht unbedingt vermuten würde. Es handelt sich um einen Papyrus aus dem 17. Jahrhundert vor Christus, der aber vermutlich die Kopie eines doppelt so alten Textes ist. Ein Sammler hatte die Rolle im 19. Jahrhundert in einem Souvenirladen in Luxor erstanden. Später wurde er entziffert und es stellte sich heraus, dass diese Hieroglyphen zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit das Wort Gehirn erwähnen. Auf dem Papyrus sind 48 Fälle von Verletzten beschrieben, was ihnen widerfuhr und wie man sie behandelte. Fall Nummer 6 zum Beispiel hatte einen Schlag auf den Schädel bekommen und konnte nicht mehr geradeaus schauen. Patient Nummer 22 war an der Schläfe verletzt und konnte nicht mehr sprechen.

Die alten Ägypter müssen das ziemlich komisch gefunden haben. Sie glaubten nämlich, dass das Herz die Quelle des Lebens sei, aus der Intelligenz und Gefühle geboren würden. Mit ihren Beobachtungen aber haben sie etwas getan, was auch heute noch von großem Wert ist: Sie haben Verletzungen des Gehirns interpretiert, für die damalige Zeit eine regelrecht revolutionäre Herangehensweise. Seitdem hat man aus den Ausfällen des Gehirns viele Erkenntnisse gewonnen. Zum Beispiel wie Sprache funktioniert. Der Pariser Neurologe Paul Broca hat im 19. Jahrhundert Patienten beobachtet, die nicht mehr sprechen konnten, und nach ihrem Tod ihre Gehirne seziert. Bis heute sind Sprachstörungen, die sogenannten Aphasien, wichtig, um zu verstehen, wie das Gehirn Buchstaben verarbeitet oder Wörter interpretiert.

Für die Betroffenen sind die Ausfälle dramatisch, Forschern aber bieten sie ungeahnte Einsichten über die Vorgänge unter der ansonsten schwer durchdringbaren Schädeldecke. Das gilt selbst im Zeitalter der bildgebenden Verfahren wie Computer-, Kernspin- oder Positronenemissionstomografie. Die Bilder, die diese Methoden liefern, ermöglichen zwar einen Blick in das lebende Gehirn, aber sie sind noch viel zu ungenau und werden häufig überschätzt.

Um zu verstehen, wie Sprache, mathematisches Können und die Planung von Handlungen entstehen, muss man daher Menschen untersuchen, die Defizite haben: Menschen, die nicht sprechen, die soziale Kontakte vermeiden; Menschen, bei denen die negativen Gefühle die Oberhand gewonnen haben, die an übertriebener Angst leiden oder Stimmen hören. Auf diese Patienten sind die Gehirnforscher angewiesen. Sie helfen ihnen, besser zu verstehen, was im Gehirn schieflaufen kann beziehungsweise wie das Gehirn funktioniert, wenn es gesund ist.

Dieses Buch trägt zusammen, was die Wissenschaft aus den Ausfällen des Gehirns lernt. Es beschreibt aber nicht nur, wie Gefühle entstehen, wann Nervenzellen elektrische Signale feuern oder warum die meisten Kinder sprechen können. Es erzählt auch von Menschen, die an Krankheiten des Gehirns leiden und was sie dabei empfinden. Es versucht, sich in sie hineinzuversetzen und zu beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn das Gedächtnis allmählich verloren geht, wenn die Traurigkeit überhand nimmt oder wenn jeder Passant auf der Straße zur Bedrohung wird, weil er die eigenen Gedanken lesen kann.

Die Ausfälle des Gehirns zu erforschen soll auch dabei helfen, psychische Krankheiten endlich als das einzuordnen, was sie sind: körperliche Leiden. Wer an Depression, Schizophrenie oder Alzheimer leidet, ist doppelt gestraft. Er oder sie kämpft mit schweren Symptomen, die das tägliche Leben beeinträchtigen, und noch dazu mit der Stigmatisierung, „geistig“ oder „seelisch“ krank zu sein. Krankheiten des Gehirns sind uns suspekt.

Leider hilft selbst Aufklärung wenig gegen diese Vorurteile. Leipziger Forscher haben untersucht, wie sich die Einstellung gegenüber psychisch Kranken in den vergangenen 20 Jahren verändert hat. Damals wie heute lehnt ein Fünftel der Befragten Menschen mit Depressionen als Nachbarn oder Arbeitskollegen ab. Menschen mit Schizophrenie sind noch schlechter dran. Mehr als die Hälfte der Befragten wollen keinen Umgang mit einem Betroffenen haben. Darunter leiden häufig auch die Angehörigen, die ohnehin enorm belastet sind.

Ein Teil der Vorurteile rührt sicher von den Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus, in der Menschen mit Behinderungen oder psychischen Krankheiten misshandelt, weggesperrt und vielfach umgebracht wurden. Einer meiner Gesprächspartner für dieses Buch, ein Alzheimer-Patient, muss sich heute noch von seiner 90-jährigen Mutter anhören, dass man „so etwas nicht hat“ und dass „solche Leute“ damals beseitigt worden wären. Aus dieser menschenverachtenden Haltung spricht die Sehnsucht nach einem Menschen ohne Makel. Doch den gibt es nicht.


Alles ist organisch

Das Gehirn ist zwar ein außergewöhnliches Organ, aber es ist Teil des Körpers und auf vielfältige Weise eng mit den anderen Teilen verbunden. Psyche und Geist beruhen auf biologischen Vorgängen im zentralen Nervensystem und oft auch im übrigen Körper. Angst zum Beispiel spüren wir im Magen und umgekehrt kann eine körperliche Erkrankung wie Krebs eine Depression auslösen.

Wenn wir laufen lernen, wandeln sich Verschaltungen, aber auch Angst entsteht, weil Nervenschaltkreise sich verändern. Biologische und psychische Aspekte unseres Verhaltens sind nicht, wie man lange Zeit dachte, unterschiedliche Ausprägungen des Geistes. Es macht daher auch wenig Sinn, zwischen „organischen“ und „funktionellen“ Geisteskrankheiten zu unterscheiden. Sie stammt noch aus dem 19. Jahrhundert, als Pathologen Gehirne unter dem Mikroskop untersuchten. Bei Demenz oder Multiple Sklerose fanden sie sichtbare Schäden, bei anderen Krankheiten nicht. Diese bekamen dann das Etikett „funktionell“. Seitdem moderne bildgebende Verfahren zeigen, dass auch die traditionellen psychiatrischen Krankheiten auf Fehlern im Gehirn beruhen, ist eine solche Differenzierung nicht mehr haltbar. Alles, was wir tun oder erfahren, verändert Nervennetze, indem sich Verbindungen zwischen Nervenzellen verstärken oder abschwächen und weil sich der Stoffwechsel im Gehirn wandelt. Jeder Sinnesreiz, jedes Gefühl, jedes gelernte Wort hinterlässt eine Spur im Gehirn. Alles ist organisch.

Auch soziale Interaktionen verändern das Gehirn. Deswegen ist es kein Gegensatz, wenn Menschen mit einer Gehirnkrankheit eine Psychotherapie machen oder Medikamente nehmen. Auch eine Verhaltens- oder Gesprächstherapie wirkt sich auf Verschaltungen im Gehirn aus, wie Forscher des Hanse-Wissenschaftskolleg in Bremen in einer großen interdisziplinären Studie nachgewiesen haben. Und die Erklärung von Gehirnkrankheiten allein durch schlechte Umwelteinflüsse oder gestörte Familienbeziehungen hat lediglich zu Schuldzuweisungen geführt. Dass zum Beispiel Kinder autistisch werden, wenn ihre Mütter nicht liebevoll genug mit ihnen umgehen, oder dass ein herrischer Chef, der Stress am Arbeitsplatz macht, eine Depression verursachen kann.

Seitdem das menschliche Erbgut entschlüsselt ist und viele Gene bekannt sind, die Krankheiten verursachen, werden vermehrt Gene als Auslöser von Beschwerden vermutet. Inzwischen weiß man allerdings, dass auch Erlebnisse und Erfahrungen die Aktivität von Genen beeinflussen und Verhaltensstörungen bis hin zu regelrechten Krankheiten auslösen können. Das hat eine enorm wichtige Folge. Es bedeutet nämlich, dass der vermeintliche Gegensatz zwischen Erbgut und Umwelt, zwischen angeboren und gelernt, künstlich ist. Umweltfaktoren können Gene verändern. Andersherum kann unsere genetische Ausstattung uns empfindlicher machen gegenüber bestimmten Umwelteinflüssen.

Epigenetik heißt dieses Phänomen, was so viel bedeutet wie oberhalb der Gene, weil Molekülgruppen an der Doppelhelix der Erbsubstanz DNS hängen: Die Abschnitte im Erbgut können unterschiedlich „ausgelesen“ oder übersetzt, manchmal auch stillgelegt oder aktiviert werden, ohne dass sich die Abfolge der Eiweißbausteine verändert. Es kommt gewissermaßen zu einer „Mutation light“, einer zeitweiligen Genveränderung, die aber weitreichende Folgen haben kann, weil sich der Bauplan der Proteine verändert. Sehr häufig handelt es sich um chemische Markierungen, etwa Molekülgruppen, die am Strang des Erbsubstanzmoleküls DNS hängen.

Epigenetische Veränderungen spielen vermutlich eine wichtige Rolle bei Gehirnkrankheiten. Sie beeinflussen zum Beispiel, wie das Gehirn auf Drogen oder chronischen Stress reagiert. Sie können erklären, warum bei manchen Menschen Stress eine Depression auslöst, bei anderen nicht – selbst wenn es sich um eineiige Zwillinge handelt. Inzwischen vermuten Forscher, dass viele Gehirnkrankheiten durch epigenetische Veränderungen im Erbgut ausgelöst werden.


Was wissen wir darüber, was passiert, wenn das Gehirn aus dem Lot gerät? Wenn Botenstoffe, Synapsen, Nervenzellen, Fasern nicht mehr richtig arbeiten? Und was verrät uns das darüber, wie das Gehirn funktioniert? Diese Fragen versucht das Buch zu beantworten. Es will einen Überblick geben über die Mechanismen, die es uns ermöglichen zu denken und zu fühlen, von der mikroskopischen Ebene der Botenstoffe bis zu der makroskopischen Ebene der Gehirnregionen.

Das erste Kapitel beschäftigt sich mit Multiple Sklerose, einer Krankheit des Nervensystems, bei der die körpereigenen Zellen die Schutzschicht der Nervenfasern attackieren. Signale werden nicht mehr richtig weitergeleitet, am Ende sind die Betroffenen gelähmt. Wie funktioniert die Signalübertragung im Gehirn? Und was machen dabei die sogenannten Gliazellen, von denen man lange Zeit dachte, sie würden nur das Nervengewebe stützen?

Für Kapitel 2 habe ich eine junge Frau getroffen, die seit ihrer Kindheit an Epilepsie leidet. In ihrem Gehirn spielen Nervenzellen verrückt und es kommt zu einer ungewöhnlich heftigen elektrischen Aktivität. Wie misst man die elektrischen Ströme des Gehirns? Wie werden elektrische Signale von einer Zelle zur anderen über die vielen Kontaktstellen weitergeleitet? Oder auch gehemmt – was ebenso wichtig ist für ein gesundes Gehirn.

Das Gehirn ist aber nicht nur ein elektrisches Organ. Zahlreiche chemische Botenstoffe in den Synapsen sorgen dafür, dass Signale übertragen werden. Wenn zu wenig eines bestimmten Botenstoffes im Gehirn vorhanden ist, hat das fatale Folgen. Kapitel 3 klärt über Parkinson auf. Die Betroffenen leiden an einem Mangel an Dopamin. Tief in ihrem Gehirn, in den sogenannten Basalganglien, sterben Nervenzellen ab, die den Botenstoff produzieren. Worin liegt die Ursache und welche Rolle spielen chemische Botenstoffe im Gehirn?

Für Eltern ist es ein Schock, wenn ihr Kind behindert ist. Oft sieht man es nicht gleich wie bei vielen autistischen Kindern. Vermutlich beruht Autismus auf einer Entwicklungsstörung, durch die sich die Schaltkreise beim Embryo nicht richtig ausbilden. Wie Nervennetze wachsen und wie das Gehirn aufgebaut ist, davon handelt Kapitel 4.

Anschließend begeben wir uns zu der Gehirnkrankheit der alternden Gesellschaft: Alzheimer. An ihrem Ende wissen die Patienten nicht mehr, wer sie sind. Was dabei im Gehirn passiert, erklärt Kapitel 5, ebenso wie wir lernen und warum wir ohne Gedächtnis nicht leben können.

Auch Gefühle sind notwendig zum Überleben. Störungen wie Depressionen oder Angstzustände sind Erkrankungen des Gehirns, deren Ursachen noch nicht verstanden sind. Vermutlich kommt es zu einer Fehlsteuerung von Botenstoffen und Stresshormonen sowie einer Fehlfunktion bestimmter Hirnbereiche. Kapitel 6 beschreibt, wie das Gehirn Gefühle verarbeitet und welche Rolle das limbische System spielt.

Thema von Kapitel 7 ist die Schizophrenie. Bei dieser Krankheit interpretiert das Gehirn Sinneseindrücke falsch und konstruiert sich eine eigene, irreale Welt. Wie erkennen wir mit den Sinnen unsere Umgebung? Dabei spielt die Verschaltung von Nervenzellen eine ganz wichtige Rolle und die ist bei Schizophrenie-Patienten gestört.

Wenn wir uns in den Finger schneiden, wächst die Haut wieder zusammen. Schäden im zentralen Nervensystem dagegen heilen nicht, wie das dramatische Beispiel von Menschen mit einer Verletzung der Wirbelsäule zeigt. Sie sitzen ihr Leben lang im Rollstuhl. Und doch ist das Gehirn flexibler als lange Zeit angenommen. Nach einem Schlaganfall können zum Beispiel andere Hirnbereiche die Aufgaben der geschädigten Region übernehmen. Von Schlaganfall-Patienten mit Sprachausfällen hat man auch viel darüber gelernt, wie das Gehirn Sprache versteht und selbst erzeugt. Davon handelt Kapitel 8.

Eine der spannendsten und zugleich schwierigsten Fragen der Gehirnforschung lautet: Wie entsteht Bewusstsein? Eine befriedigende Antwort fehlt bis heute, aber Wachkoma-Patienten geben Hinweise darauf, welche Bereiche des Gehirns notwendig für ein bewusstes Empfinden sind. Inzwischen weiß man zudem, wie Kapitel 9 beschreibt, dass Menschen im Wachkoma nicht immer ganz ohne Bewusstsein sind. Das bedeutet auch, dass Ärzte und Pfleger in Zukunft anders mit diesen Patienten umgehen müssen.

Das Schicksal der Menschen, die ich für dieses Buch getroffen habe, berührt mich zutiefst. Ihre Krankheitsgeschichten zeigen, wie glücklich sich jeder schätzen kann, dessen Gehirn gesund ist. Sie lehren uns aber auch, wozu das Gehirn fähig ist. Ich lade Sie ein auf eine Reise durch das Gehirn – mit all seinen Schwächen und Stärken.

Jeanne Rubner

Über Jeanne Rubner

Biografie

Dr. Jeanne Rubner, Jahrgang 1961, promovierte in Biophysik an der TU München über ein Thema aus der Gehirnforschung. Von 1991 bis 2012 arbeitete sie bei der Süddeutschen Zeitung, heute leitet sie die Redaktion Wissen und Bildung aktuell beim Bayerischen Rundfunk.

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