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Todesspur (Hannover-Krimis 4)

Susanne Mischke
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Kriminalroman

„Spannend und lebensnah (…) mit einer Menge Humor.“ - Neue Presse

Alle Pressestimmen (2)

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Todesspur (Hannover-Krimis 4) — Inhalt

Ein scheinbar leichter Fall – im schlechtesten Viertel Hannovers wird die Leiche eines 15-Jährigen aus gutem Hause gefunden. Doch spätestens mit dem Auftauchen einer zweiten Leiche wird klar, dass es sich nicht um einen einfachen Raubmord handelt. Kommissar Bodo Völxen folgt den verzweigten Fährten, die sich zwischen den Kneipen des Steintorviertels und den Luxusvillen Waldhausens zu verlieren scheinen. Jede Minute ist kostbar, denn der Täter hat sein drittes Opfer bereits im Visier.

€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 11.06.2013
336 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-30318-7
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€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 05.10.2011
320 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-95225-5
Download Cover

Leseprobe zu „Todesspur (Hannover-Krimis 4)“

Halb vier, Stella ist auf dem Nachhauseweg von ihrer Arbeit, und wie üblich ist sie um diese Zeit schon ziemlich voll. Der Monatserste liegt noch nicht lange zurück, und ein Gast im Rocker war spendabel gewesen. Mitkommen auf eine Nummer wollte er aber nicht. Das erlebt Stella inzwischen zu oft: Die Männer sind nicht mehr scharf auf sie, sondern geben ihr aus Mitleid einen aus. Aber zum Glück sind nicht alle so, manche finden sie immer noch sexy, und für eine Frau, die auf die fünfzig zugeht, hat sie noch immer eine sensationelle Figur. Bei diesem [...]

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Halb vier, Stella ist auf dem Nachhauseweg von ihrer Arbeit, und wie üblich ist sie um diese Zeit schon ziemlich voll. Der Monatserste liegt noch nicht lange zurück, und ein Gast im Rocker war spendabel gewesen. Mitkommen auf eine Nummer wollte er aber nicht. Das erlebt Stella inzwischen zu oft: Die Männer sind nicht mehr scharf auf sie, sondern geben ihr aus Mitleid einen aus. Aber zum Glück sind nicht alle so, manche finden sie immer noch sexy, und für eine Frau, die auf die fünfzig zugeht, hat sie noch immer eine sensationelle Figur. Bei diesem Gedanken öffnet sie den Reißverschluss ihrer Kunstpelzjacke und befühlt ihre Brüste unter der straff gespannten Polyesterbluse. Vor Jahren schon hat sie sie vergrößern lassen, eine lohnende Investition, der Meinung ist sie noch heute. Ein Windstoß faucht durch die Unterführung der Kopernikusstraße und veranlasst sie, den Reißverschluss rasch wieder zu schließen. Sie schlägt den Kragen hoch und stöckelt auf ihren weißen Lackstiefelchen weiter. Ihre Beine, die von einem Minirock und Netzstrümpfen in Szene gesetzt werden, können sich sehen lassen, das muss sogar Niko zugeben, der sonst immer behauptet, sie wäre eine abgetakelte Schnapsdrossel und ihre beste Zeit läge zwanzig Jahre zurück. Es sind feste, lange Beine, die den Kerlen die Augen aus den Höhlen getrieben haben, damals, als sie noch Stripperin gewesen ist. Das waren noch schöne, einträgliche Zeiten. Heutzutage, das kam neulich im Fern­sehen, gibt es schon Kurse an der Volkshochschule, in denen Büromiezen das Strippen beigebracht wird. Zum Lachen ist das, wenn es nicht so traurig wäre!

Stellas richtiger Name lautet Heidrun Bukowski. Bukow­ski wie der amerikanische Schriftsteller, von dem sie aber nie etwas gelesen hat, denn Lesen war nie so ihr Ding. Stundenlang auf Buchstaben zu starren macht sie ganz hibbelig, schon in der Schule konnte sie das nicht leiden, weshalb sie sie nach acht Jahren verließ. Sie schlug sich als Bedienung durch, posierte in Peepshows und strippte in den Bars des Steintorviertels. Mit neunzehn heiratete sie besagten Bukowski, einen Kneipenbesitzer. Der Mann war wesentlich älter als sie. Er war außerdem nett und großzügig und wollte in erster Linie jemanden haben, der da war, wenn er spätnachts nach Hause kam. Aber genau damit hatte Heidrun ein Problem gehabt. Wenn sie sehr betrunken war, dann erzählte sie ihm beim Nachhausekommen, mit welchem Typen sie gerade ge­vögelt hatte. Fünf Jahre lang ging das so, dann warf ihr Mann sie schließlich raus, ohne einen Pfennig Geld. Von da an nannte sich Heidrun „Stella“, denn sie beschloss, ihr Hobby zum Beruf zu machen. Eine Zeit lang war sie ­unbestritten die heißeste Nummer auf der Ludwigstraße. Aber die Konkurrenz in der Messestadt war auch damals schon groß, und Stella wurde nicht jünger. Lange her, das alles.

Den Straßenstrich und die Drogen hat sie schon vor Jahren hinter sich gelassen, nur vom Suff kommt sie nicht los. Jetzt tun ihr die Füße weh, und der Heimweg kommt ihr endlos lang vor.

Geschafft! Stella ist jedes Mal froh, wenn sie die Unterführung hinter sich gelassen hat. Sie hat keine Angst vor der düsteren Röhre, aber unter den Gleisen des stillgelegten Güterbahnhofs stinkt es elend nach Pisse, und man muss aufpassen, dass man nicht in Taubenscheiße tritt. Nein, dies hier ist keine Gegend für eine Lady, die allein zu Fuß unterwegs ist. Früher, erinnert sie sich, gab es über dem Tunnel, auf der Westseite der Gleise, mal einen Puff. Aber dort hat sie nie gearbeitet, das war nicht ihre Kragenweite, so eine Bretterbude.

Kein Mensch ist unterwegs, und schon wieder fängt es an zu nieseln. Kurz nachdem sie in die Emil-Meyer-Straße eingebogen ist, hört sie, wie sich ein Wagen nähert. Scheinwerferlicht versilbert die Pfützen. Stella bleibt un­ter einer Straßenlaterne stehen, öffnet die Jacke, streckt ihr Spielbein vor und drückt das Kreuz durch. Man weiß ja nie. Doch das Auto rauscht an ihr vorbei, und die Reifen lassen einen Vorhang aus Wasser in die Höhe schießen.

„Verdammte Drecksau“, kreischt Stella und schüttelt die Faust hinter dem Wagen her, ehe sie sich das kalte ­Gemisch aus Wasser und Straßenstaub aus dem Gesicht wischt. Irgendwie hat diese Situation etwas Symbolisches, denkt sie in einem Anfall von Selbstmitleid. Genauso verläuft mein Leben: Die anderen ziehen an mir vorbei, und mir bleibt eine Handvoll Dreck.

Stellas Eltern hatten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs aus Pommern fliehen müssen und waren in einem Auffanglager auf dem Mühlenberg, im Süden Hannovers, gelandet. Ihre Mutter klagt noch heute über „das Gesindel“, mit dem sie sich dort herumschlagen musste. Ende der Fünfziger wurde ein Teil der Leute vom Mühlenberg dann in den Stadtbezirk Nord umgesiedelt. Die neu gebauten Wohnblocks in Hainholz boten mehr Komfort als die Baracken auf dem Mühlenberg, und ihre Eltern freuten sich über die 47 Quadratmeter große Wohnung in der Bömel­burgstraße. Heidruns Vater arbeitete als Elektriker bei der Conti in Vahrenwald. Er verschwand, als sie vier war. Ihre Mutter schlug sich als „Haushaltshilfe“ durch, zumindest sollten ihre Tochter und die Nachbarn das ­glauben. Stellas Mutter lebt noch immer in dem Block im Bömelburgviertel, aber die Nachbarn sind andere ge­worden. „Ausländergesindel“, laut ihrer Mutter. Stella be­sucht sie ein Mal die Woche, dann trinken sie zusammen eine halbe Flasche Dornkaat, die Stella mitbringt. Stella kehrt nicht gerne an den Ort ihrer Kindheit zurück. Hainholz und ganz besonders das Bömelburgviertel gelten als sozialer Brennpunkt, da nützen auch die gut gemeinten Sozial- und Kulturprogramme wenig. Allerdings hat sie es selbst lediglich ein paar Straßenzüge weiter gebracht, und das auch nur, weil Niko die Miete für die langweilige Dreizimmer-Genossenschaftswohnung in der Straße Auf dem Dorn von seiner Frührente bezahlt.

Stella beobachtet, wie die grellen Schweinwerfer scharf nach rechts schwenken. Wo will der denn hin, zum Musikzentrum? Um diese Uhrzeit dürfte dort alles wie aus­gestorben und das Tor geschlossen sein. Kein Gig dauert schließlich bis früh um halb vier, schon gar nicht am Sonntagabend. Oder will der in die Hüttenstraße einbiegen? Da wird sich der Arsch aber mächtig wundern, da geht’s nämlich nicht weiter, tote Hose dahinten, finito. Früher war das anders. Da war die Straße im Schatten der Gleise gut für allerhand Aktivitäten, die die Öffentlichkeit nichts angingen. Auch Stella hat vor der Kulisse der maroden, graffitibeschmierten Lagerschuppen schon so manches schnelle Geschäft erledigt. Inzwischen gehört das Grundstück der Spedition Schenker, die keinen Verkehr jeg­licher Art auf ihrem Gelände duldet, und die schmale Straße, die am Bahndamm entlangführt, ist mit Eisengittern abgesperrt.

Die Scheinwerfer sind jetzt nicht mehr zu sehen. Wenn der Kerl wüsste, was er versäumt, wäre er garantiert nicht so einfach an ihr vorbeigezischt! Stella kramt in ihrer Handtasche nach einer Zigarette, findet jedoch keine. Stimmt, sie hat ja die letzten drei schon von ihrem Gönner schnorren müssen. Die Wirkung der Drinks aus dem ­Rocker lassen nun schlagartig nach, sie merkt, wie ihre Laune in den Keller sinkt. Wäre der Typ nicht vollkommen besoffen auf dem Tresen eingeschlafen, er hätte ihr bestimmt noch ein Taxi spendiert. Der wusste, was man einer Dame schuldig ist. So aber … Seufzend greift sie nach dem Flachmann, nimmt einen kräftigen Schluck, schraubt ihn wieder zu und setzt sich in Bewegung. Weit hat sie es ja nicht mehr. Doch schon nach wenigen Schritten wird die Straße erneut von zwei Lichtkegeln erhellt.

„Hab ich’s nicht gesagt? Dahinten ist Ende der Fahnenstange“, murmelt Stella und schirmt ihre Augen ab, um nicht geblendet zu werden. Ein Gedanke durchzuckt sie: Hat der Fahrer vorhin den unfreundlichen Zuruf gehört? Gibt’s jetzt etwa Stress? Aber immerhin hat der mich von oben bis unten eingesaut, das werde ich dem schon ver­klickern, dass ihn das was kostet. Ihre Hand krallt sich um die Tränengas-Sprühdose in der Tasche ihres Polyester-Nerzes. Aber der Wagen zieht in hohem Tempo an ihr vorbei. Stella schaut ihm nach, dann geht sie weiter und murmelt im Takt ihrer Absätze, die auf das Pflaster einhacken: „Ha Ix zwoneun-sechsfünf, Ha Ix zwoneun-sechsfünf …“ Das Sicheinprägen von Autokennzeichen ist eine alte Gewohnheit aus der Zeit, als sie in der Herschelstraße gestanden hat, und funktioniert auch noch im Suff. Vielleicht sollte sie dem Kerl eine Rechnung schicken, Reinigung und so. Ja doch, das sollte sie tun.


Der Mann, der durch die Schwingtür der Bar tritt, hält das vereinbarte Erkennungszeichen – eine zusammengefaltete Süddeutsche Zeitung – in der Hand. Es ist Fernan­do Rodriguez! Er trägt seine unvermeidliche Lederjacke, einen Dreitagebart und wie üblich zu viel Gel in seinen schwarzen Schmalzlocken, die er neuerdings färbt. Betrug, denkt Jule. Diese Partnervermittlung ist der schiere Betrug. Fernando kommt auf sie zu und grinst. Jule springt auf. In diesem Moment ertönt die Filmmusik von Star Wars, sie ist lauter als der dezente Jazz im Oscar’s, lauter als das Lachen von Völxen und Oda, die von der Galerie aus ungeniert zu ihr hinunterblicken, und lauter als die Stimme von Jules Mutter, die neben Jule sitzt und sagt, sie solle sich gefälligst nicht so anstellen, sie, Cordula Wedekin, würde Fernando sehr sexy finden.

Die Star-Wars-Musik hört nicht auf. Star Wars? Jule fährt in die Höhe. Auf der Glasplatte ihres antiken Nachttischchens vibriert und musiziert ihr Mobiltelefon. Den Klingelton hat ihr Fernando vor ein paar Tagen runter­geladen. Noch immer halb benommen drückt sie auf die grüne Taste.

„Frau Wedekin?“

„Ja?“

„Meike Klaasen vom KDD. Man hat mir gesagt, dass Sie Bereitschaftsdienst haben.“

Der Kriminaldauerdienst. Jule wird schlagartig wach. „Richtig. Was gibt es denn?“

„Männliche Leiche in Vahrenwald, Emil-Meyer-Straße Ecke Hüttenstraße. Ein Jugendlicher. Es sieht nach einem Gewaltverbrechen aus, die Spurensicherung ist schon verständigt. Tut mir leid, dass ich Sie so früh stören muss.“

Jules Blick fällt auf die Anzeige ihres Radioweckers. 6:47 Uhr. „Sie stören gar nicht. Im Gegenteil.“

Eine hastige Dusche und einen rasch hinuntergestürzten Kaffee später steuert Jule ihren Mini durch die er­wachende Stadt. Es nieselt. Was für verrücktes Zeug man doch träumt. Sigmund Freud hätte sicherlich seinen Spaß daran gehabt, genau wie Oda Kristensen, wenn ich ihr davon erzählen würde. Aber gegenüber einer Frau, die Psychologie studiert hat, behält man solche Träume besser für sich, und auch Fernando sollte tunlichst nie davon erfahren.

Das Oscar’s hat Jule während der vergangenen Monate zwei Mal besucht, immer mit Leonard. Seit mit ihm Schluss ist, war sie nicht mehr dort, obwohl sie die Bar in der Georgstraße sehr gerne mag. Im Moment gibt es aber niemanden, mit dem sie dorthin gehen könnte.

Jule ist froh, dass ihr Exgeliebter zum LKA gewechselt ist und sie nicht mehr befürchten muss, ihm auf der Dienststelle über den Weg zu laufen. Ob die Tatsache, dass Hauptkommissar Völxens Hund ebenfalls Oscar heißt, etwas mit dem Schauplatz ihres Traums zu tun hat, fragt sich Jule, während sie die Vahrenwalder Straße verlässt und am Conti-Gelände vorbeifährt. Zwei Ecken weiter sieht sie schon die Streifenwagen. Sinnlos zucken die Blaulichter durch den fahlen Morgen und spiegeln sich im nassen Asphalt. Jule parkt ihren Wagen und folgt zu Fuß dem letzten Abschnitt der Straße, die vor einer hohen Mauer endet. Dahinter liegt die Gleisharfe des ehemaligen Hauptgüterbahnhofs Weidendamm und Möhringsberg, die seit den Sechzigerjahren immer mehr verkommt. Bemühungen, die riesige Güterhalle vor dem Verfall zu bewahren und der gesamten Brachfläche neues Leben einzuhauchen, scheitern seit Jahren am fehlenden Geld. Jule weiß darüber Bescheid, seit sie vor zwei Wochen ihre Mutter zu einer Vernissage am Weidendamm begleitet hat. In Berlin oder Hamburg wäre aus der Halle schon längst eine Kunstgalerie oder Ähnliches geworden, hat der eine Gast, ein Architekt, beklagt, und seine Gesprächspartnerin bemerkte naserümpfend, es wäre typisch für Hannover, sich zwölf Hektar Industriebrache mitten in der Stadt zu leisten.

Rechts vor der Mauer liegt das Musikzentrum, Jule ist dort schon auf Rockkonzerten gewesen. Das Tor der Einfahrt steht offen, eine Handvoll Leute stehen davor wie Pilze und starren auf die andere Straßenseite, auf einen von einer Plane verhüllten Körper. Er liegt vor einem verwilderten, mit Eisengittern umzäunten Grundstück, das zu einem Lagerhaus gehört.

Eine junge Frau, weizenblond und hochgewachsen, kommt Jule entgegen. Zum Glück ist Fernando nicht hier, denkt Jule. Mit seinen knapp eins fünfundsiebzig würde er neben dieser friesischen Hünin sofort wieder Komplexe kriegen.

„Frau Wedekin? Meike Klaasen, wir haben telefoniert.“

„Guten Morgen. Wer ist der Tote?“

„Ein Jugendlicher, mehr wissen wir nicht. Keine Papiere, kein Handy. Es sieht sehr nach einem Überfall aus. Das musste ja mal so weit kommen.“

„Wie meinen Sie das?“

„Lesen Sie keine Zeitung? Hier in der Gegend treibt sich zurzeit eine Bande jugendlicher Intensivtäter herum. Vor zwei Wochen haben sie am helllichten Tag einen erwachsenen Mann verprügelt und ausgeraubt.“

Jule erinnert sich an den Artikel. Darin stand auch, dass der Stadtteil Hainholz ein Problembezirk wäre. Zwar gibt es inzwischen von verschiedenen Seiten Bemühungen, Kunst und Kultur in dieses Viertel zu bringen und es so vor der Verwahrlosung zu retten, aber bei einigen Bewohnern scheinen die Maßnahmen offenbar nicht zu greifen. „Das hier ist doch noch Vahrenwald, oder?“, vergewissert sich Jule.

„Macht jetzt auch nicht den Riesenunterschied“, winkt Meike Klaasen ab.

„Wer hat den Toten gefunden?“

„Ein Holzlieferant, der die Behindertenwerkstätten da drüben beliefert.“ Meike Klaasen deutet hinter sich, auf ein lang gestrecktes Gebäude neben dem Musikzentrum. Überall auf dem Hof stehen Container mit Holz, das von den Werkstätten zurechtgesägt und als Brennholz verkauft wird. „Er wollte hier parken, weil er etwas zu früh dran war, da hat er ihn gesehen.“

Jule macht ein paar Schritte auf die mit Graffiti bemalte Mauer zu. Die Straße, die vor der Mauer am Bahndamm entlangführt, ist wenige Meter hinter der Kreuzung mit einem Metallgitter versperrt. Müll liegt davor. „Wo ist der Mann jetzt?“

„Schon wieder weg.“

„Wie bitte?“

„Er müsse gleich zur Arbeit, hat er gesagt, ins VW-Werk Stöcken. Das mit dem Holz ist nur sein Nebenjob. Wir haben seine Personalien und die Handynummer.“

„Und wer sind die da?“ Jule betrachtet die kleine Gruppe Schaulustiger, die noch immer regungslos vor dem Tor ausharrt. Ein älterer Mann hält sich eine Bier­flasche an die Schläfe, als hätte er Migräne.

„Die meisten gehören zu den Werkstätten. Sind aber alle erst später dazugekommen, ich habe sie schon befragt und ihre Personalien aufgenommen. Keiner von ihnen kennt den Toten“, antwortet Meike Klaasen und tritt von einem Fuß auf den anderen, als müsse sie einem dringenden Bedürfnis nachgehen. „Kann ich dann los? Ich habe seit einer Stunde Feierabend.“

„Ja, sicher. Danke fürs Warten.“

Rolf Fiedler, der Leiter der Spurensicherung, ist mit fünf Mann hier. Sie haben bereits angefangen, den Fundort zu vermessen und auszuleuchten. Alle arbeiten konzentriert, und auch die vier Streifenpolizisten, die das Gelände sichern, stehen mit angespannten Mienen da. Kaum jemand sagt etwas, und wenn doch, dann wird leise gesprochen, als befände man sich in einer Kirche. Ein Leichenfund ist selten eine fröhliche Angelegenheit, aber es gibt dennoch Situationen, in denen die Beamten vor Ort schon mal den einen oder anderen makabren Scherz machen oder einen dummen Spruch loslassen. Dies hier lässt jedoch keinen unberührt. Auch Rolf Fiedlers Gruß fällt knapp und verhalten aus, während er Jule ein Paar Latexhandschuhe reicht und die Plane von der Leiche nimmt. Der Junge liegt leicht gekrümmt auf der rechten Seite, die Beine sind angezogen, die Hüfte zeigt nach oben, der linke Unterarm schwebt knapp über dem Boden, die Finger der linken Hand sind gespreizt, als wolle er nach etwas greifen. Leichenstarre, erkennt Jule. Er dürfte etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre alt sein. Ein hübsches Gesicht: hohe Stirn, kräftige Nase, blaue Augen, gleichmäßige Züge. Der Mund steht leicht offen, die Oberlippe ist aufgeplatzt, das blonde Haar blutverschmiert. Jule zieht die Handschuhe an, beugt sich hinunter und hebt vorsichtig den Kopf an. Haare, Blut, Knochen. Die Wange ist zerkratzt und schmutzig. Jemand hat diesem Jungen den Schädel eingeschlagen. Jule sieht sich um, sucht nach Spuren eines Kampfes. Sie betrachtet Hände und Unterarme des Toten. Keine sichtbaren Abwehrverletzungen. Er trägt ein kurzärmeliges T-Shirt mit einer Comicfigur auf der Brust, Jeans und Sneakers.

Vorsichtshalber durchsucht sie noch einmal die Hosentaschen des Toten, aber die Kollegin Klaasen hat nichts übersehen. Warum hat er keine Jacke an? Es ist doch unwahrscheinlich, dass er bei dieser Kälte ohne Jacke unterwegs war. Hat man sie ihm gestohlen, samt Handy, Papieren und Portemonnaie? Ist er deshalb tot, ist ein Raubüberfall außer Kontrolle geraten? Die Jeans, die er trägt, ist eine Nobelmarke, und die Retro-Sneakers stammen bestimmt auch nicht von KiK. Seine Zähne sind auffallend ebenmäßig, hier war ein guter Kieferorthopäde am Werk. Jule wird das Gefühl nicht los, dass dieser Junge nicht hierher passt. Was hatte er hier verloren? Hat er gestern Abend ein Konzert im Musikzentrum besucht? Jule bemüht ihr iPhone und stellt fest, dass dort gestern Abend keine Veranstaltung stattgefunden hat.

Ob es wohl eine Vermisstenmeldung gibt? Warten schon irgendwo verzweifelte Eltern auf Nachricht, oder ahnen sie noch gar nicht, dass sich in Kürze ein Schatten auf ihr Leben legt, der nie wieder weichen wird?

Jules Bruder starb mit vier Jahren an Meningitis. Sie kann sich nicht an ihn erinnern, denn als er starb, war sie noch ein Baby, aber dennoch ist der tote Bruder ein allgegenwärtiger Begleiter ihres Lebens. Vielleicht war er auch der Grund, warum Alexa Julia Wedekin über zwanzig Jahre lang eine brave, folgsame, ehrgeizige Tochter gewesen ist. Sie hat Ballettstunden genommen und Klavier gespielt, genau wie ihre Mutter, und dank ihrer Intelligenz und ­Disziplin hat sie mühelos ein Einser-Abitur hingelegt und Medizin studiert, ganz nach dem Willen ihres Vaters, Jost Wedekin, einem Professor für Transplantationschirurgie an der MHH, der Medizinischen Hochschule Hannover. Erst nach vier Semestern hat sie sich endlich auf ihre eigenen Wünsche besonnen, hat das Studium hingeworfen und ist zur Polizei gegangen. Eine Entscheidung, die man ihr zu Hause sehr übel genommen hat. Noch heute wünscht sich Jule diesen toten Bruder ins Leben zurück. Bestimmt hätte er die Erwartungen ihrer Eltern besser erfüllt als sie. Ihre Mutter ist jedenfalls davon überzeugt, das weiß Jule genau. Ausgerechnet jetzt, beim An­blick die­ses toten Jugend­lichen, fällt Jule wieder ein, was sie seit Tagen erfolgreich verdrängt: den Anruf ihres Vaters, letzte Woche. Seine neue Lebensgefährtin – Anfang dreißig, Ärztin – ist schwanger. Im Februar soll das Kind zur Welt kommen, kurz vor Weihnachten wolle man heiraten. Verrückte Welt, denkt Jule. Anstatt dass ich ihm eröffne, dass er Großvater wird, was der natürliche oder zumindest traditionelle Lauf der Dinge wäre, erzählt mir mein Vater, dass ich einen Halbbruder oder eine Halbschwester bekomme. Und da wundere ich mich noch über Albträume!


Der Himmel über dem Deister ist von so einförmigem Beton­grau, als würde sich das Wetter nie wieder ändern. Bodo Völxen verteilt das letzte Stück Zwieback gerecht an seine vier Schafe. Amadeus, der Schafbock, hält sich ­demonstrativ am anderen Ende der Weide auf. Seit es Oscar gibt, spielt er oft den Beleidigten. Der Terriermischling nutzt jede unbeobachtete Minute dazu, die Schafe kläffend im Kreis herumzujagen, und auf den Bock hat er es besonders abgesehen. Eigentlich müsste die kleine Herde längst begriffen haben, dass der Köter nur Krawall macht und ihnen nichts tut. Aber es sind eben Schafe. Eine Spezies, die nicht gerade für ihre Intelligenz bekannt ist. Völxen mag die Tiere trotzdem. Es hat etwas Medita­tives, ihnen beim Fressen, Schlafen und Wiederkäuen zuzu­sehen. Liegt es am Herbst, dass er in leicht melancholischer Stimmung ist? Eine Windbö reißt ein paar vertrocknete Blätter vom Apfelbaum und kräuselt das Wasser in der vollen Regentonne, die neben dem Schafstall steht. Es hat die ganze Nacht leicht geregnet, und auch jetzt nieselt es noch.

„Dad, was machst du hier so früh?“

Umgekehrt wäre die Frage berechtigt gewesen, Wanda zählt weiß Gott nicht zu den Morgenmenschen dieser Welt. Dagegen steht Völxen sehr oft bei Sonnenaufgang, wenn ihn seine Kreuzschmerzen nicht mehr schlafen lassen, am Zaun der Schafweide, um die Ruhe zu genießen und über alles Mögliche nachzudenken. „Schäfchen zählen“, antwortet Völxen.

„Verstehe.“ Wanda stützt ihre Unterarme ebenfalls auf den Zaun, und zu zweit beobachten sie, wie der Boden­nebel aus dem Gras aufsteigt.

„Irgendwie werde ich es vermissen“, meint Wanda nach einer Weile.

Nachdenklich betrachtet Völxen einen krummen Nagel, der in einem der Bretter steckt, und nickt kaum merklich.

Noch diese Woche wird Wanda in eine Studenten-WG ziehen, nächste Woche fangen die Vorlesungen an: Phi­losophie und Mathematik. Immer wieder haben sich seine Frau Sabine und er in letzter Zeit gegenseitig versichert, dass es Zeit für Wandas Auszug wäre, dass man sich schon auf die nun einkehrende Ruhe im Haus freue und Han­nover-Linden schließlich nicht aus der Welt, sondern keine zwanzig Minuten Autofahrt entfernt sei. Trotzdem weiß Völxen schon jetzt, dass er seine Tochter schrecklich vermissen wird, und im Stillen hofft er, dass sie jedes Wochenende mit einem Berg Wäsche nach Hause kommt.

„Warum bist du schon so früh auf?“, fragt er.

„Wir müssen doch unsere Demo vorbereiten.“

„Demo?“ Noch nicht einen Tag studiert, aber schon demonstrieren gehen.

»Hast du es schon wieder vergessen? Wir wollen da­gegen protestieren, dass Menschen Tiere essen, heute Mittag, am Kröpcke, direkt vor dem Mövenpick.«

Seit einem halben Jahr lebt Wanda streng vegetarisch, schon fast vegan, nur die Eier vom Nachbar Köpcke isst sie noch, weil sie dessen Hühnerschar glücklich wähnt, wo­mit sie wohl recht haben mag. Besonders, was den Hahn angeht.

„Du magst es doch auch nicht, wenn Leute Lammfleisch essen.“

„Stimmt“, gesteht Völxen und denkt sich: Aber eine Currywurst …

Obwohl er es nicht laut ausgesprochen hat, hält ihm Wanda bereits einen Vortrag, den soundsovielten, der stets darauf hinausläuft, dass Fleisch essen verantwortungslos, barbarisch und ungesund ist. Nach einer Weile schaltet Völxen auf Durchzug, auch wenn er sich dafür ein wenig schämt. Sie hat ja recht, aber es ist ihm einfach noch zu früh für weltanschauliche Dispute.

„… also einverstanden? Dad? Papa!“

Völxen sieht sich Wandas fragenden Augen gegenüber. Er hat nicht mitbekommen, was sie von ihm will, wahrscheinlich ein Eingeständnis, dass Schwarzwälder Schinken „voll assig“ ist oder Ähnliches. Um nicht zugeben zu müssen, dass er ihr nicht zugehört hat, sagt er „Ja“. Dass Wanda daraufhin triumphierend die Faust ballt, gefällt ihm gar nicht, aber ehe er der Sache nachgehen kann, hört er die Stimme seiner Frau.

„Bodo, ich muss los. Ich komme heute erst um fünf nach Hause. Nimmst du den Hund mit?“ Sabine steht mit ihrem Klarinettenkoffer in der einen und dem Autoschlüssel in der anderen Hand vor der offenen Garage.

„Warte!“ Völxen schlappt in seinen Gummistiefeln durch das feuchte Gras. Vor der Veranda blühen noch ein paar späte Rosen, und der Wein rankt sich feuerrot an einer der hölzernen Stützen hinauf.

„Um fünf“, wiederholt er. „Ja, hm. Dann muss ich ihn wohl mitnehmen. Wanda muss ja die Welt retten.“

Seit September gibt Sabine wieder mehr Klarinettenstunden und Vorlesungen an der Musikhochschule. Angeblich, weil das Studium ihrer Tochter so viel Geld zu verschlingen droht – „Allein diese Studiengebühren!“ –, aber Völxen hat den Verdacht, dass Sabine damit vorsorglich die Lücke füllen will, die Wanda hinterlassen wird, auch wenn Sabine das nie zugeben würde. „Ich bin keine von diesen Klammermüttern, irgendwann müssen Kinder einfach flügge werden“, pflegt sie zu sagen.

Oscar aber fühlt sich definitiv einsam, wenn niemand im Haus ist, und will man ausgeweidete Kissen, zerrupfte Teppiche und angenagte Stuhlbeine vermeiden, dann lässt man ihn besser nicht allein zurück. Für die Erlaubnis, den Hund mit ins Büro nehmen zu dürfen, hat Völxen beim Vize­präsidenten ganz schön schleimen müssen, was ihm zuwider war, aber letztendlich unumgänglich, wollte er verhindern, was Sabine Oscar angedroht hat, falls der noch ein einziges Mal einen Einrichtungsgegenstand beschädigt: einen Zwinger im Garten.

„Oder musst du heute nicht zum Dienst?“, fragt ­Sabine mit einem Blick auf die Uhr. Es ist fast halb acht. Normalerweise sitzt Völxen um diese Zeit schon in der S-Bahn. Aber im Moment gibt es keinen Todesfall, der ihn und seine Leute in Atem hält, also kann man sich schon mal ein bisschen mehr Zeit lassen. Entschleunigung. Darüber hat er dieser Tage einen Artikel gelesen, der ihm ganz und gar aus der Seele sprach.

„Doch, doch. Ich fahr gleich los.“ Er küsst seine Frau auf die Wange, sie steigt in ihren Golf und fährt davon. Völxen legt die zwei Kilometer bis zur Bahnstation täglich mit dem Fahrrad zurück, damit er Bewegung hat, während seine Frau für dieselbe Strecke das Auto nimmt. Trotzdem ist sie eindeutig die Schlankere von ihnen beiden.

„Na komm, du Mistvieh“, sagt er zu Oscar. Sie gehen ins Haus, Völxen streift sich die Gummistiefel und den Friesennerz ab. Im Bad rasiert er sich sorgfältig mit dem Rasiermesser seines Großvaters, an dem er sehr hängt. Dieses Mal geht die Sache glimpflich aus, er muss nur zwei kleine Schnitte medizinisch versorgen. Montag. Letzte Woche war es ruhig, nur zwei Altenheimleichen, bei denen ein übereifriger junger Notarzt „Todesursache unbekannt“ auf dem Totenschein angekreuzt hatte. Wenn es nach Völxen ginge, könnte es genauso bleiben.


Jule macht mit ihrem Handy ein paar Fotos von der Leiche. Zwar wird es eine Menge detaillierter Aufnahmen von der Spurensicherung geben, aber ihr ist es lieber, eigenes Material zur Hand zu haben.

Danach ruft sie Hauptkommissar Völxen an. Ihr Chef befindet sich offenbar in der S-Bahn, die ihn von seinem Wohnort am Deister in die Landeshauptstadt befördert, Jule erkennt das sirrende Geräusch, das die Bahn beim Anfah­ren macht. Völxen antwortet, er wolle sich den toten Jungen selbst ansehen, man solle unbedingt alles so lassen, wie es ist, er wäre in fünfzehn Minuten da.

„Soll ich Dr. Bächle anrufen?“, fragt Jule.

„Danke, das mache ich lieber selbst. Sie wissen ja, manchmal ist er ein wenig konventionell und möchte von mir persönlich gebeten werden. Ist die Spusi schon da?“

„Die sind schon heftig am Arbeiten.“ Sie legt auf und überlegt, ob sie auch Fernando herbitten soll. Sie entschließt sich, es sein zu lassen. Wenn Völxen ihn hier­haben möchte, wird er es ihm schon selbst sagen. Sie ist dabei, den Toten wieder zuzudecken, als sie hinter sich das Klicken einer Kamera hört. Es ist keiner von Fiedlers Mitarbeitern, wie sie zunächst vermutet hat, sondern Boris Markstein von der BILD-Hannover. Jule hat Mühe, ihre Verblüffung zu verbergen. Marksteins bisher schulterlanges, stets fettig wirkendes, mausbraunes Haar ist ratzekahl geschoren, eine schwarze Balkenbrille teilt das Wieselgesicht. Im ersten Moment hat Jule den Reporter tatsächlich nur an seinem langen, tief geschlitzten Trenchcoat erkannt, der zu seinem Markenzeichen geworden ist und in dem er wahrscheinlich eines Tages eingesargt werden wird. Auch die obligaten Cowboystiefel sind noch da und sein typisches Haifischgrinsen. „Einen wunderschönen guten Morgen, Frau Kommissarin. Sind Sie heute ganz alleine hier? Wo ist denn der symphatische spanische Kollege?“

Jule ist wirklich nicht in Stimmung für Marksteins ­Geschwätz, aber sie beherrscht sich. Erst kürzlich hat der Polizeipräsident angemahnt, man möge sich um ein entspanntes Verhältnis zur örtlichen Presse bemühen, also antwortet sie: „Falls Sie Oberkommissar Rodriguez meinen – er ist deutscher Staatsbürger und schläft aus.“ Dein Glück, denkt sie dabei, denn Fernando und den Reporter verbindet eine tiefe, aufrichtige Abneigung. Sobald die beiden aufeinandertreffen, brechen sie in Rüdengekläff aus, und es kam sogar schon zu Handgreiflichkeiten – ausgehend von Fernando, das muss man leider zu­geben. Aber Präsident hin oder her, eine Bemerkung zu Marksteins neuer Frisur muss erlaubt sein: »Wette ver­loren oder Läuse?«

Markstein schüttelt betrübt den Kopf. „Frau Wedekin, ich bin entsetzt. Damals, als Sie in Völxens Dezernat anfingen, waren Sie noch ein richtig nettes Mädchen, und jetzt sind Sie eine Zynikerin geworden, genau wie Ihre Kollegin, Frau Kristensen.“

„Das stimmt nicht“, antwortet Jule. „Oda Kristensen hätte Sie gleich gefragt, ob Sie Krebs haben.“

Das Dauergrinsen weicht mit einem Schlag aus Boris Marksteins Gesicht, er sieht sie kurz erschrocken an, dann senkt er den Blick.

Jule spürt, wie sie rot anläuft. Verdammt! Womöglich hat er ja wirklich … „Verzeihen Sie. Ich … ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten.“

„Reingefallen! Das kommt davon, wenn man so frech ist.“

„Markstein, Sie sind wirklich ein … ein …“ Allein ihre großbürgerliche Erziehung bewahrt Jule davor, auszusprechen, was sie von Boris Markstein und seinen Scherzen hält.

„Sie sehen reizend aus, wenn Sie so rot werden“, säuselt der Reporter. „Aber was haben Sie nur immer alle gegen mich? Ich mache meinen Job, Sie machen Ihren, that’s it. Wir sollten mal zusammen was trinken gehen, um unsere zwischenmenschlichen Beziehungen zu vertiefen. Wie wäre es gleich heute Abend in Harry’s New York Bar im Sheraton?“

Du lieber Himmel, denkt Jule entsetzt, jetzt werde ich schon von Markstein angebaggert! „Wissen Sie, Herr Markstein, in meiner knappen Freizeit gehe ich ausschließlich meiner Lieblingsbeschäftigung nach.“

„Und die wäre?“

„Die Vermeidung des Kontaktes mit Ihresgleichen.“

»Wenn es Ihnen guttut, dann fühle ich mich jetzt ­gekränkt.«

Jules bernsteinfarbene Katzenaugen sehen den Journalisten prüfend an. „Sie haben doch nicht etwa vor, das Foto dieses toten Jugendlichen zu drucken, oder?“

„Nein, ich hänge es mir zu Hause übers Bett. Ich steh auf so was.“

„Herr Markstein, bitte! Denken Sie doch mal an seine Eltern!“

„Wer sind denn seine Eltern?“

„Das wissen wir im Augenblick noch nicht.“

„Ein Bild in unserem Blatt könnte dabei helfen.“

Jule gibt ein wütendes Schnauben von sich. Der Reporter streicht über seine neue Glatze und lenkt ein: „Wenn ich wirklich so ein Arschloch wäre, wie Sie denken, dann würde ich jetzt sagen: ›Nur, wenn Sie mit mir was trinken gehen.‹ Aber so bin ich gar nicht. Nein, wir bringen nur ein Foto von der Leiche unter der Plane, einverstanden?“ „Danke. Ich nehme das gedachte Schimpfwort wieder zurück.“

„Was wissen Sie denn schon über den Jungen?“

„Er hat schwere Schädelverletzungen, keine Papiere und kein Handy.“

„Das wurde sicher längst abgezogen. In dieser Gegend hier … Die Bronx von Hannover, wie wir immer sagen.“

„Wer wir? Wir von der BILD?

»Wir von der Nordstadt. Ich bin da drüben aufge­wachsen.« Seine rechte Hand deutet nach Westen, über die Gleise hinweg. „Direkt am Engelbosteler Damm. Man wagte sich schon damals besser nicht hier rüber. Die Schulenburger Landstraße war die Grenze, jedes Mal, wenn wir im Hainhölzer Bad waren, gab’s unterwegs was aufs Maul.“

„Und wann war dieses ›damals‹?“, fragt Jule. Marksteins Alter ist schwierig zu schätzen. Über vierzig ist er allemal, nur wie viel?

„In den Achtzigern. Ich bin ’72 geboren, also achtunddreißig“, antwortet der Reporter erstaunlich aufrichtig. „Sagen Sie nicht, Sie hätten mich älter geschätzt.“

„Nicht doch. Dieser Haarschnitt verjüngt Sie ungemein.“

„Wir wissen noch was über den Jungen“, meint Markstein geheimnisvoll.

„Und das wäre?“

„Ein Rechter war er jedenfalls nicht.“

„Wie kommen Sie darauf?“

Markstein stützt die Hände in die Seiten: „Frau Kommissarin, jetzt enttäuschen Sie mich aber. Haben Sie sich denn sein T-Shirt nicht angesehen?“

„Doch.“ Es war ein grünes T-Shirt mit einem Storch darauf, erinnert sich Jule, die die Leiche in Marksteins Gegen­wart nicht noch einmal aufdecken möchte. „Was ist damit?“

„Haben Sie das Hitler-Bärtchen auf dem Storchenschnabel nicht bemerkt?“

„Nein“, muss Jule zugeben. „Ich habe meine Aufmerksamkeit mehr der Tatsache gewidmet, dass ihm jemand den Schädel eingeschlagen hat.“

„Das ist ein Storch-Heinar-T-Shirt. Das ist ein Label, das wiederum Thor Steinar verarscht. Und Thor Steinar …“

„… wird gern von Neonazis getragen, danke. So sehr hinterm Mond lebe ich nun auch wieder nicht“, unterbricht ihn Jule, die sich ärgert, dass ihr ausgerechnet Markstein auf die Sprünge helfen muss. „Wissen Sie zufällig, ob es in Vahrenwald oder Hainholz eine rechte Szene gibt?“, fragt Jule den Reporter. Vielleicht wurde der Junge ja wegen seines T-Shirts totgeschlagen.

Markstein schüttelt den Kopf. »Es gibt eine überschaubare Szene in der Südstadt, aber der Norden Hannovers – also die Nordstadt, Vahrenwald und Hainholz – ist tradi­tionell fest in der Hand von Punks und Autonomen, besonders die Nordstadt. Rechte haben da ein schweres Standing. Und hier, in Vahrenwald und Hainholz, leben außerdem jede Menge Türken, Afrikaner, Araber – das ist definitiv nicht der Ort, an dem sich Neonazis ungestört tummeln könnten, und gar von einer ›Szene‹ ist mir nichts bekannt. Eher finden Sie in der Hainhölzer Schrebergartensiedlung noch ein paar Alt-Nazis, aber das ist jetzt nur eine böse Vermutung von mir.« Gelegentlich klingt Markstein recht vernünftig, findet Jule, und der Repor­ter fährt fort: „Die Nordstadt selbst hat sich seit den Chaostagen ganz gut gemacht, finde ich. Liegt wohl an der Nähe zur Uni, und die Punks kommen halt auch langsam in die Jahre und wollen es ein wenig gediegener haben. Aber Hainholz und Vahrenwald …“ Markstein verdreht die Augen. »Das ist an manchen Ecken echt hardcore. Schauen Sie sich bloß mal die Gegend um den still­gelegten, vernagelten Hainhölzer Bahnhof herum an. Auf der Schulenburger Landstraße gibt es kaum noch normale Geschäfte, nur noch Halal-Food und Wasserpfeifen. Jetzt wollen sie in Hainholz eine ›Grüne Mitte‹ schaffen und einen Kulturtreff. Bin mal gespannt, ob das was ändert. Übrigens, dahinten kommt Ihr Chef«, unterbricht der Journalist seinen Vortrag. „Und der Polizeihund ist auch dabei, wie putzig.“

Von Weitem nähert sich Hauptkommissar Völxens massive Gestalt im Schlepptau von seinem Jagdhund Oscar, der ihm erwartungsvoll voraneilt, die Nase am Boden wie ein Staubsauger.

„Vielleicht ziehen Sie es ja doch in Erwägung, irgendwann mal mit mir was trinken zu gehen?“, hakt Markstein nach und versucht sich vergeblich an einem bettelnden Hundeblick.

„Einen Kaffee vielleicht. Tagsüber – wenn ich mal frei habe“, hört sich Jule sagen und denkt dabei: Jetzt ist es so weit, jetzt begehst du schon Verzweiflungstaten.


Den Motorradhelm in der Hand hastet Fernando Rodriguez den Flur der Dienststelle entlang, denn Völxen schätzt es nicht, wenn man zu spät zum Morgenmeeting kommt. Doch als er dessen Büro betritt, muss Fernando zu seiner Überraschung feststellen, dass noch niemand auf dem Sofa Platz genommen hat. Auch die Besucherstühle, Völxens orthopädischer Schreibtischsessel und der Hundekorb sind verwaist. Kann es sein, dass sie im neuen Seminar­raum sitzen? Der Raum, für den Völxen lange gekämpft hat, verfügt über genug Platz für zwanzig Personen und eine komfortable technische Ausstattung, aber alle finden ihn ungemütlich und benutzen ihn deshalb nur für Vernehmungen und Zusammenkünfte, an denen Staatsanwälte, Leute vom LKA oder Kollegen aus anderen Dezernaten teilnehmen. Dieser Tage bearbeiten sie jedoch keinen Fall, der diesen personellen Aufwand erfordern würde. Vielleicht hat Völxen deshalb das Meeting ganz ausfallen lassen. Fernando macht kehrt und geht in sein Büro, das er sich mit Jule Wedekin teilen muss. Auch hier ist kein Mensch. Seltsam, aber immerhin eine Gelegenheit, sich an Jules Weingummis zu vergreifen. Dann wirft er einen Blick in Oda Kristensens Büro. Ihre schwarze Handtasche steht auf dem Aktenschrank, aber von ihr selbst ist nichts zu sehen, und es liegt auch noch kein Ziga­rillo im Aschenbecher. Er will gerade Jule anrufen, als die Abteilungssekretärin seinen Namen ruft.

„Es gibt doch noch Leben auf diesem Planeten“, stellt Fernando erleichtert fest. „Guten Morgen, Frau Cebulla. Wo sind die denn alle?“

„Ein Leichenfund, mehr weiß ich auch nicht. Aber Sie sollen ins Büro des Vizepräsidenten kommen.“

„Ich? Wann? Wieso?“

„Jetzt sofort. Warum, weiß ich auch nicht. Haben Sie wieder was ausgefressen?“

Genau diese Frage stellt sich auch Fernando, während er am Aufzug vorbei die Treppen hinabgeht. Es ist fast so, wie wenn seine Mutter ihn mit strenger Stimme bei seinem vollen Vornamen ruft, anstatt ihn „Nando“ zu nennen: Auto­matisch bekommt er ein schlechtes Gewissen. Er überlegt, ob er in den letzten Wochen gegen irgendeine Dienstvorschrift verstoßen hat, aber es fällt ihm nichts Nennenswertes ein. Er hat niemanden verprügelt und auch nicht damit gedroht, er hat schon lange keine Tür mehr eingetreten oder aufgebrochen, zumindest nicht, ohne einen Durchsuchungsbeschluss in der Tasche zu haben, er hat sexistische Äußerungen gegenüber Kolleginnen weitgehend vermieden und ist nicht mit dem Dienstwagen durch die Stadt gerast – weder mit noch ohne Blaulicht. Seine Verhöre wurden hart, aber korrekt geführt, die Protokolle einigermaßen zeitnah verfasst. Man kann beinahe sagen, dass er in Völxens Dezernat lammfromm geworden ist. Was also kann der Vize von ihm wollen? Warum redet nicht erst sein Chef mit ihm? Lässt Völxen ihn ins offene Messer laufen?

Er geht über den Hof auf das Nachbargebäude zu, das über hundert Jahre alte Polizeipräsidium, in dem sich unter anderem auch die alten Verwahrzellen befinden. Auch die hat Fernando schon von innen kennengelernt, aber das ist zwanzig Jahre her, damals war er fünfzehn und ist beim Verticken gefälschter Fußballtickets erwischt worden. Fußballtickets! Er ärgert sich, dass er für diese Saison keine Dauerkarte gekauft hat. Die Roten unter Trainer Slomka sind so gut wie noch nie, der Ivorer Ya Konan schießt ein Tor nach dem anderen. Das hat niemand geahnt, am allerwenigsten er, nach der letzten, verkorksten Saison im Schatten des Selbstmordes von Torwart Robert Enke.

Vielleicht ist es ja gar nichts Unangenehmes. Vielleicht steht ein Lehrgang an, vielleicht wird er zum Hauptkommissar befördert. Könnte doch sein. Obwohl Völxen neulich meinte, da wäre weit und breit keine Planstelle in Sicht. Aber vielleicht in einem anderen Dezernat? Der Optimist in ihm bricht durch, er sieht seine Kollegen schon bei Prosecco und Schnittchen im Büro des Vize stehen.

Die Sekretärin des Vizepräsidenten begrüßt ihn mit den Worten: „Da sind Sie ja.“ Ihre Miene ist undurchdringlich, als sie ihn bei ihrem Chef anmeldet und ihn dann in das geräumige Büro winkt. Der Vize ist nicht ­allein. Eine Dame sitzt am Konferenztisch: Barbourkostüm, Seidenschal, elegante Pumps, dezentes Make-up. Keine Polizistin, nie und nimmer, registriert Fernando sofort. Vielleicht gehört sie zum Innenministerium, dort ist diese Sorte eher zu finden.

Der Vizepräsident kommt Fernando entgegen, wünscht einen guten Morgen und schüttelt ihm die Hand. Dann weist er mit großer Geste auf die Dame. »Darf ich vorstellen: Frau Dr. Böger – Oberkommissar Fernando Rodri­guez.«

Frau Dr. Böger ist ebenfalls aufgestanden, mit ihren hohen Absätzen überragt sie Fernando um ein kleines Stück. Ihre Hand fühlt sich kühl und glatt an, der Händedruck ist wohldosiert. „Freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Rodriguez“, sagt sie, während sie ihn unverhohlen intensiv mustert.

„Angenehm“, murmelt Fernando.

Der Vize weist auf einen freien Stuhl, und Fernando setzt sich hin. Auch Frau Dr. Böger nimmt wieder Platz, die Beine apart gekreuzt. Noch immer sieht sie Fernando an, als stünde er zum Verkauf.

Der fühlt sich unbehaglich. Was wollen die beiden von ihm? Ihn etwa für einen Undercover-Einsatz gewinnen? Ehe Fernando in Völxens Dezernat für Todesermittlungen und Delikte am Menschen gekommen ist, hat er ein Jahr lang für das Rauschgiftdezernat verdeckt ermittelt. Was anfangs so cool und abenteuerlich klang, erwies sich als nervenaufreibender Kampf gegen eine übermächtige Hydra und hing ihm bald zum Hals heraus.

Die Sekretärin bringt ein Tablett mit zwei Kaffeetassen und einer Schale Kekse herein. Wieso nur zwei Tassen? Kriege ich keine?, fragt sich Fernando. Als die Sekretärin wieder verschwunden ist, rückt der Vizepräsident endlich mit der Sprache heraus: „Frau Dr. Böger kommt von der renommierten Werbeagentur Böger & Storm, die den Auftrag für die neue Imagekampagne des Innenministeriums erhalten hat. Alles Weitere erklärt Ihnen Frau Dr. Böger am besten selbst.“ Er steht auf. „Ich möchte mich entschuldigen, ich muss leider zu einem kurzfristig angesetzten Meeting ins MI. Frau Dr. Böger – wir telefonieren!“ Er reicht ihr die Hand, nickt Fernando kurz zu und lässt seine Besucher allein zurück.

„Herr Rodriguez, haben Sie Lust, das neue Gesicht der Polizei Niedersachsens zu werden?“ Die Frage kommt ohne Umschweife und wird begleitet von einem gewinnenden Lächeln.

„Was für ein Gesicht?“

»Es geht, wie gesagt, um eine Imagekampagne. Es soll deutlich werden, dass die Polizei in der Mitte der Gesell­schaft verankert ist. Es werden in ganz Niedersachsen ­Plakate platziert, es werden Flyer in Klubs, Kneipen und Geschäften ausliegen, dazu kommen entsprechende Radiospots und ein Trailer im NDR-Fernsehen. Der Zweck dieser Kampagne ist, das Ansehen der Polizei im Allge­meinen zu heben, sie nicht als anonymen Apparat darzustellen, sondern sie sozusagen ›menschlich‹ zu machen, in­dem wir dem Begriff ›Polizei‹ ein Gesicht geben, oder auch mehrere.« Fernando kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ein Gesicht also. Aber warum seines? Wer hat ihn vorgeschlagen? »Unter anderem sollen dadurch junge Menschen, die aus Familien mit Migrationshin­tergrund stammen, verstärkt für den Polizeidienst angeworben werden. Bei bestimmten Bevölkerungsschichten gilt es nämlich leider nach wie vor als ›uncool‹, zur Polizei zu gehen. Auch das wollen wir mit dieser Kampagne ändern.«

„Soviel ich weiß, gibt es bei der hiesigen Polizei an die neunzig Leute mit ausländischen Wurzeln“, hält Fer­nando dagegen.

„Ja, hier in der Stadt mag das Problem nicht so groß sein. Aber auf dem Land, in den Kleinstädten, da gibt es kaum einen Türken, der …“

Fernando unterbricht die Frau: „Ich weiß nicht, was man Ihnen erzählt hat, aber ich darf Sie darüber aufklären, dass meine Familie aus Sevilla stammt, was auf der iberischen Halbinsel liegt. Der Vater meiner Mutter war ein angesehener Stierkämpfer.“ Das ist nicht einmal ge­logen, in der Küche und im Laden seiner Mutter hängen noch die Plakate hinter Glas, die Stierkämpfe ankündigen, und auf die seine Mutter ungemein stolz ist. „Wenn Sie einen Vorzeigetürken brauchen, dann schlage ich Özgül vom Rauschgiftdezernat vor.“

Frau Dr. Böger ist jedoch nicht so leicht aus der Fassung zu bringen, sie stößt ein leises, glucksendes Lachen aus. „Nein, Herr Rodriguez, Sie sollen nicht der Vorzeigetürke werden. Und Özgül vom Rauschgift kommt überhaupt nicht infrage, der hat Pickel und so ein albernes Bärtchen.“ Sie tippt sich bei diesen Worten an ihr zartes Kinn.

Fernando muss grinsen. „Den Bart weiter oben, und du siehst aus wie Adolf“, hat er seinen Exkollegen neulich aufgezogen. Er nimmt einen Schluck Kaffee, der deutlich besser schmeckt als Frau Cebullas Maschinengebräu. Ob Völxen wohl von dieser Sache weiß? Normalerweise sieht der Erste Hauptkommissar es nicht gerne, wenn Fotos von Leuten seines Dezernats in der Presse erscheinen. »Es ist besser für einen Kripobeamten, wenn nicht jeder sein ­Gesicht kennt«, pflegt er zu sagen. Andererseits wird sich Völxen nicht offen gegen den Vize stellen, also wird er wohl einverstanden sein müssen. Imagekampagne. Fer­nando möchte lieber gar nicht wissen, was dieser Spaß kostet. Dabei gäbe es wirklich dringendere Anliegen: mehr Personal, digitale Funkgeräte … Wäre der Vize noch hier, würde Fernando ihm das unter die Nase reiben, aber die Dame von der Werbeagentur ist dafür die falsche Adresse. „Warum nehmt ihr keine Models für den Job?“, will Fer­nando wissen.

„Das wäre wohl nicht ehrlich, oder?“

Fernando verschluckt die Frage, seit wann Werbung etwas mit Ehrlichkeit zu tun hat.

Frau Dr. Böger lächelt ihn kokett an. „Außerdem brauchen wir keine Models. Wie ich sehe, ist bei der Polizei durchaus brauchbares Material vorhanden.“

Fernando muss zugeben, dass ihm ihre Anfrage schmeichelt. Immerhin ist er schon Mitte dreißig, hat sogar schon erste graue Haare, denen sein Friseur Ali neuerdings mit einer Tönung zu Leibe rückt.

„Bis wann muss ich das entscheiden? Ich würde gerne noch mit meinem Vorgesetzten darüber sprechen.“ Nicht, dass ihm Völxen hinterher seinen landesweit bekannten Kopf abreißt.

„Ich habe für heute um achtzehn Uhr das Fotostudio gebucht. Die ersten Plakate sollen noch in dieser Woche angebracht werden.“

„Ganz schön kurzfristig“, wundert sich Fernando.

„Ja. Um die Wahrheit zu sagen: Wir hatten schon einen Kandidaten, aber letzte Woche wurde der Kollege vom BKA für einen Undercover-Einsatz angeworben. Da trifft es sich nicht so gut, wenn sein Gesicht im ganzen Land zu sehen ist.“

Ein wenig kränkt es Fernando, dass er nur die zweite Wahl ist, doch andererseits hat sie gerade ein bemerkenswertes Detail zur Sprache gebracht: Wenn erst sein Foto überall hängt, dann kann man ihn nie mehr als verdeckten Ermittler einsetzen – was in seinen Augen einen Vorteil darstellt. Aber davon einmal abgesehen: Sein Gesicht im ganzen Land! Damit lässt sich bei Frauen bestimmt gehörig punkten. Und nicht nur das. Womöglich ist das der Anfang einer Karriere als Model, vielleicht entdeckt man ihn fürs Fernsehen! Im Geiste sieht er sich schon an der Seite von Frau Furtwängler vor der Kamera stehen. Ach, Unsinn, was will er an ihrer Seite? Er wird sie ablösen! Immer­hin ist die Gute nun auch schon Mitte vierzig …

„Herr Rodriguez? Wie sieht es nun aus?“, reißt ihn die Stimme von Frau Dr. Böger aus seinen Planungen.

„Okay, meinetwegen. Wenn mein Dienststellenleiter damit einverstanden ist.“

„Wunderbar.“ Frau Dr. Böger strahlt ihn an. „Der hat sicher nichts dagegen, Ihr Vizepräsident meinte recht geheimnisvoll, er schulde ihm noch einen Gefallen.“ Sie steht auf, und Fernando springt aus dem Sessel und öffnet ihr galant die Tür, während er überlegt, womit Völxen beim Vize so sehr in der Schuld steht, dass er seinen, Fernandos, Kopf dafür opfert. Beschwingt folgt er Frau Dr. Bögers Absatzgeklapper, das im Flur widerhallt. Irre, das alles! Er muss sofort Ali anrufen und dann muss er sich heute noch rasieren, und seine Mutter muss ihm das weiße Leinenhemd bügeln …

Vor dem Portal verabschieden sie sich, aber ehe Frau Dr. Böger geht, sagt sie zu Fernando: „Eins noch: keine Veränderungen bis zum Fototermin. Die abgewetzte Lederjacke und der zerknitterte Hemdkragen sind genau richtig, und auf gar keinen Fall dürfen Sie sich rasieren. Dieser Dreitagebart sieht sehr sexy aus, den wollen wir unbedingt drauf haben.“


Gibt es etwas Traurigeres auf der Welt als einen toten jungen Menschen, der im Regen liegt? Hauptkommissar Völxen steht unter einem Schirm mit dem Werbeaufdruck einer Pharmafirma, den er von Dr. Bächle geliehen bekommen hat, und sieht den Männern vom Erkennungsdienst und dem Rechtsmediziner bei der Arbeit zu. Die seine wird in Kürze beginnen, und ihm graut davor. Tote Kinder rühren an die Urinstinkte, daran gewöhnt man sich nie. Im Augenblick ist dem Kommissar die Gesellschaft seines Hundes etwas peinlich, obwohl sich das Tier dem Anlass entsprechend benimmt. Die trübe Stimmung seines Herrn widerspiegelnd sitzt der Terrier mit hängendem Kopf, die Ohren auf Halbmast, neben Völxen unter dem Schirm. Vielleicht ist er aber auch nur wasserscheu. Hinter der Absperrung spricht Jule Wedekin mit einem Herrn, der eine Bierflasche in der Hand hält. Gut, dass Jule hier ist und nicht Oda Kristensen, denkt Völxen. Seiner langjährigen Kollegin würde es garantiert genauso gehen wie ihm: Sie müsste beim Anblick dieses Jungen unwillkürlich an ihre Tochter denken, und vermutlich würde auch sie sich dafür schämen, dass sie trotz allen Mitgefühls gleichzeitig froh ist, dass es das Kind anderer Leute getroffen hat und nicht das eigene.

Dr. Bächle klappt gerade seinen Koffer zu und tritt unter der großen Plane hervor, die die Spurensicherer über dem Fundort aufgeschlagen haben, um ihn vor den immer wiederkehrenden Regenschauern zu schützen. Einer davon hat zum Glück den Reporter Markstein vertrieben und auch die Schaulustigen von vorhin sind nicht mehr zu sehen. Die Straße wurde abgesperrt. Kommis­sarin Wedekin hat ebenfalls bemerkt, dass Dr. Bächle die Leichenschau fürs Erste beendet hat, und nähert sich.

„Und?“, fragt Völxen, der allmählich fröstelt, den Rechtsmediziner, dessen Augen ihn heute besonders kritisch mustern.

„Hajo, Schädelfraktur. Der berühmte schtumpfe Gegenschtand.“ Bächle berührt seinen Hals. „Sie ham do ebbes hänge!“

Völxen wischt sich eilig den Klopapierfetzen weg und fragt: „Wie lange ist er schon tot?“

Dr. Bächle, der dem Hauptkommissar gerade bis zum Kinn reicht, brabbelt etwas von einem „Reizschdromgerät“ das nicht reagiert hat, von „Kerntemperatur“ und »Um­gäbungstemperatur« und meint dann: „Acht Schtund’ mindeschtens.“

„Aha. Und höchstens? Ich meine, können es auch zehn Stunden sein, oder zwölf?“

„Hajo. Sogar no’ mehr – unter Umschdänd.“

„Genauer können Sie es nicht sagen?“

Dr. Bächles ausgeprägte Stirnfurchen vertiefen sich, als er den Kommissar grimmig ansieht und meint: »Werter Herr Hauptkommissar, wir sind hier nicht bei CSI-Han­nover

„Ja, aber ein bisschen exakter …“

Doch der Doktor ist offenbar nicht in der Stimmung für Spekulationen. „Ja, Himmel, Arsch und Zwirn, jetzt land mi halt z’erscht obduziere’! I meld mi dann scho’, sobald i ebbes G’nau’s woiß.“ Er hebt die Hand zum Gruß und geht die Straße hinunter. Sein strubbeliges Haar, das ihm im Institut mittlerweile den Spitznamen Dr. Einstein eingebracht hat, leuchtet weiß wie ein Vollmond durch den grauen Morgen.

„Dr. Bächle, Ihr Regenschirm“, ruft Völxen ihm nach.

„Schenk I Ihne’!“, antwortet der Doktor und stapft weiter zu seinem Wagen, den er vor der Absperrung geparkt hat.

»Hat wenigstens der Herr mit der Bierflasche etwas ­Erhellendes zu berichten gewusst?«, fragt Völxen Jule. Die schüttelt den Kopf. „Er meint nur, der Junge wäre nicht aus der Gegend. Er behauptet, er würde sie alle kennen.“

Völxen versucht sein Glück bei Rolf Fiedler. Die hagere Gestalt im weißen Schutzanzug lehnt am VW-Transporter der Spurensicherung und gießt Pfefferminztee aus einer Thermoskanne in einen Styroporbecher. „Möchten Sie auch?“

„Nein, danke“, lehnt Völxen ab. „Was wissen Sie denn schon?“

Fiedler schnaubt. „Dieser verdammte Regen! Was soll man da noch finden?“

Miserable Spurenlage also. Das hat man gern am Montagmorgen.

Fiedler nimmt einen Schluck Tee und sagt dann: »Keine Kampfspuren, wenig Blut neben der Leiche, ich denke, er wurde hertransportiert. Vielleicht sollte er auf das Bahn­gelände, hinter einen der alten Lagerschuppen, und das Vorhaben scheiterte an der Absperrung der Hüttenstraße.«

„Schon möglich.“ Völxen schlägt der Geruch des Pfefferminztees auf den Magen. „Gibt’s Reifenspuren?“

„Nein, nirgends. Wie denn auch, auf dem Pflaster?“

Der Nieselregen geht in ein Tröpfeln über, Völxen schlägt den Kragen seiner Jacke hoch. Scheißwetter. Scheißfall.

In seiner Manteltasche klingelt das Telefon. Oda Kristensen. Als das Gespräch beendet ist, winkt er Jule heran. „Wir fahren ins Dezernat. Es gibt eine Vermisstenmeldung, die auf den Jungen passt. Die Eltern sind schon bei Oda. – Danke, Fiedler.“

„Keine Ursache. Ich beneide Sie nicht.“

Völxen seufzt nur und trottet mit seinem Hund los, zu Jules Wagen. Es ist einer dieser Tage, an denen er sich wünscht, er wäre Bauer geworden, so wie sein Großvater.

Susanne Mischke

Über Susanne Mischke

Biografie

Susanne Mischke wurde 1960 in Kempten geboren und lebt heute in Wertach. Sie war mehrere Jahre Präsidentin der „Sisters in Crime“ und erschrieb sich mit ihren fesselnden Kriminalromanen eine große Fangemeinde. Für das Buch „Wer nicht hören will, muß fühlen“ erhielt sie die „Agathe“, den...

Pressestimmen
Neue Presse

„Spannend und lebensnah (…) mit einer Menge Humor.“

Cosmopolitan

Susanne Mischke ist die deutsche Krimikönigin.

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