Lieferung innerhalb 1-3 Werktage
Bezahlmöglichkeiten
Vorbestellung möglich
Kostenloser Versand*
Somnia

Somnia

Christoph Marzi
Folgen
Nicht mehr folgen

Roman

E-Book (12,99 €)
€ 12,99 inkl. MwSt.
sofort per Download lieferbar
In den Warenkorb
Geschenk-Service
Für den Versand als Geschenk können eine gesonderte Lieferadresse eingeben sowie eine Geschenkverpackung und einen Grußtext wählen. Einem Geschenkpaket wird keine Rechnung beigelegt, diese wird gesondert per Post versendet.
Kostenlose Lieferung
Bestellungen ab 9,00 € liefern wir innerhalb von Deutschland versandkostenfrei

Somnia — Inhalt

New York: die Stadt, die niemals schläft. Gotham: die uralte Metropole an den Gestaden der neuen Welt. Schneesturmgeborene Wölfe streifen durch Manhattan, Kinder verschwinden vom Antlitz der Stadt, Träume werden zu tödlichen Fallen, Eis befällt klirrend die Flüsse. Scarlet Hawthorne, die orientierungslos und ohne Gedächtnis in einem Park erwacht, wird durch die Nacht gejagt und findet Zuflucht bei Anthea Atwood, einer liebenswürdigen alten Dame, die sie hinab in die Tunnel jenseits der U-Bahn führt. Dort stößt Scarlet auf das Geheimnis, das hinter ihrer eigenen Herkunft steckt, und sie muss erkennen, dass es keine Zufälle gibt, nicht in ihrem Leben und auch nicht im Schicksal der ewig schlaflosen Stadt ...

€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 02.06.2017
640 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97676-3
Download Cover

Leseprobe zu „Somnia“

KAPITEL 1

WASSER, SCHARLACHROT, GEFÄRBT MIT HIMMEL



Die Welt ist wie Wasser, scharlachrot und sanft gefärbt mit hellem Himmel. Und manchmal sind die Träume, die sich tief in den vergessenen Liedern unserer Kindheit verbergen, wie die Pfade in den tiefen Wäldern, wie ­jenes schwere Dunkel, das allein zu betreten man sich scheut, weil was dort schlummert, nur selten ist, was man zu finden hofft.
Scarlet Hawthorne, die in einer stürmischen Winternacht durch die Straßen von Greenwich Village irrte, wusste nur allzu gut, wie es sich anfühlt, wenn einem das Herz [...]

weiterlesen

KAPITEL 1

WASSER, SCHARLACHROT, GEFÄRBT MIT HIMMEL



Die Welt ist wie Wasser, scharlachrot und sanft gefärbt mit hellem Himmel. Und manchmal sind die Träume, die sich tief in den vergessenen Liedern unserer Kindheit verbergen, wie die Pfade in den tiefen Wäldern, wie ­jenes schwere Dunkel, das allein zu betreten man sich scheut, weil was dort schlummert, nur selten ist, was man zu finden hofft.
Scarlet Hawthorne, die in einer stürmischen Winternacht durch die Straßen von Greenwich Village irrte, wusste nur allzu gut, wie es sich anfühlt, wenn einem das Herz unversehens verstummt. Sie wusste genau, was rabenschwarze Angst ist. Doch alles andere hatte sie vergessen.
Ich war auf dem Nachhauseweg von einem meiner nächtlichen Ausflüge, als ich sie traf, an einem mystischen Ort, wo eine Straße namens Waverley Place eine andere Straße namens Waverley Place kreuzt.
Dichte Schneeflocken tanzten wie winzige Eisfliegen in der kalten Luft und verfingen sich in ihrem Haar, das so dunkel wie Ebenholz war, und trieben in dem Atem, der ihr wie ein geheimnisvoller Schleier vor dem Gesicht hing. Sie lehnte sich für einen kurzen Augenblick gegen die hohe Backsteinwand eines der alten Häuser, das im Schatten der Kathedrale der heiligen Zita stand, schnappte nach Luft und schaute sich um wie jemand, der gefährliche Verfolger auf seinen Spuren wähnt.
Sie stand still da, wie eine Puppe, so regungslos, und dann strauchelte sie und sank, mit dem Rücken zur Wand, zu ­Boden.
Ich eilte ihr zu Hilfe.
Und von diesem Moment an änderte sich mein Leben.
Jetzt, kaum mehr als einen einzigen Tag und eine halbe Nacht später, ahne ich, dass Scarlet Hawthornes Schicksal ganz eng mit jenen rätselhaften Geschehnissen verwoben ist, jenen düsteren Begebenheiten, deren heimliches und todbringendes Wesen zu ergründen wir schon seit Wochen erfolglos versuchen.
Nun beginnt alles einen Sinn zu ergeben. Die Scherben der Spiegel fügen sich langsam zu einem unvollständigen Bild, mit Rändern, so scharf wie Eis.
„Was wird jetzt geschehen?“, fragt mein Gegenüber.
Wir stehen vor einer Tür.
„Was verbirgt sich dahinter?“, höre ich meine Begleiterin fragen.
Solitaire – das ist es, was wir denken.
Sonst nichts.
Nur Solitaire.
„Woher, in aller Welt, soll ich das denn wissen?“, stelle ich die Gegenfrage und drücke die rostige Klinke nach unten. Es kurzerhand auszuprobieren – war das nicht schon immer der einfachste Weg, um den Dingen auf den Grund zu gehen?
Doch nein, halt – ich sollte den Geschehnissen nicht ­has­tig vorauseilen wie der Herbstwind, der ungestüm im rostroten Oktoberland lebt. Ich sollte genau dort beginnen, wo die Geschichte tatsächlich ihren Anfang hat.
Ich sollte da beginnen, wo alles wirklich begann.
Seien Sie geduldig.
Ja!
Folgen Sie mir in die Stadt aller Städte, die neugeborene Metropole, deren Gebäude bis in den Himmel reichen und die schweren Wolken selbst berühren. Die endlose Stadt an den beiden Flüssen, die schon so viele Schiffe erblickt haben. Sie ist ein lebendiges Wesen, das aus vielen Stimmen geboren, auf einer Vergangenheit aus Träumen errichtet wurde. Die Metropole, die viele Namen hat: Neu Amsterdam, New York und, allen voran, natürlich: Gotham. Ein Flickwerk aus den staubigen uralten Metropolen der alten Welt, voller Farben, Lieder, Erinnerungen.
Ja, all die Erinnerungen an das, was einst war, und an das, was erst noch sein wird.
Denn auch unsere Geschichte beginnt, wie so viele an­dere Geschichten vor ihr, mit einer Erinnerung. In diesem Fall ist es sogar nur eine einzige Erinnerung, eine kümmerliche Notiz, die hilflos im Wind weht, verloren und ohne Ziel. Etwas, was noch vage da ist, wenn man aus dem Schlaf erwacht, was den Winter erahnen und einen sich händeringend nach dem Herbst mit seinen bunten Blättern und Sonnenstrahlen zurücksehnen lässt, kaum mehr als ein Bild, doch so klar und deutlich, dass man es fast riechen kann.
Scarlet Hawthorne, die außer ihrem Namen und den wenigen Habseligkeiten, die sie bei sich trug, kaum etwas besaß, öffnete die Augen und sah auf die dunkle Fläche des Hudson River – dorthin, wo in der nahen Ferne Mylady Liberty ihre glühende Fackel der Nacht entgegenreckte.
Die junge Frau stand am Rande des Battery Parks und bewegte sich kaum. Sie konnte die Silhouetten der Kanonen erkennen, die einmal die Stadt verteidigt hatten und die jetzt kaum mehr als eingerostete Attrappen waren. Ein Wind, der nach der fauligen Tiefe der weiten See roch, wehte ihr schneidend ins Gesicht, und das pechschwarze Haar kitzelte ihre bleichen Wangen. Die alte holländische Windmühle, die wie ein hölzernes Karussell aussah, drehte sich hinter ihr im Kreis, und die Segel aus weißem Leinen blähten sich mit ­jeder Böe. Irgendwo weiter hinten in der Nacht erhob sich Castle Clinton National Monument, die Artilleriestellung, die P.T. Barnum einst als Theater gedient hatte. Es roch nach dem dunklen Wasser des Hudson, der nicht weit von dieser Stelle den East River küsste und gemeinsam mit ihm der ­offenen See zuströmte.
Die junge Frau musste an einen anderen Ort denken, ­einen See, der weit entfernt war und dessen Ufer von hohen Kiefern und Tannen und wilden Zedern gesäumt waren. Sie wusste nicht, was es mit diesem See auf sich hatte, und sie hatte auch keine Ahnung, wo sich dieser See befand. Sie sah nur die Wolken, die sich auf der Wasseroberfläche spiegelten. Sie sah, wie sie vorbeizogen, und sie sah einen hellen Himmel, der wunderschön war, und sie roch die klaren Wasser des Sees, die ruhig vor ihrem geistigen Auge im Licht glitzerten und leise Dinge wisperten, die sie glücklich und traurig zugleich stimmten. Sie erblickte eine untergehende Sonne und dann wieder die vielen Wolken, und sie wusste, dass kein Anblick so schön sein konnte wie dieser. Sie streckte die Hand danach aus, als könne sie dieses Wasser berühren, dieses klare, kalte Wasser, so scharlachrot und sanft gefärbt mit Himmel, dass es ihr wie ein Stich mitten in ihr Herz vorkam, auch nur daran zu denken. Doch es waren Wasser, die eigentlich woanders waren. Und auf ihrer Hand setzten sich nur die Schneeflocken nieder.
Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder. Sie war noch ­immer hier. Nirgendwo anders.
Dann zerschnitt das Heulen die Luft. Es flog auf den Schwingen des Lärms der nächtlichen Stadt zu ihr, und sie wusste, dass es ihr galt. Ja, nur ihr allein. Die Angst war da, als sei sie niemals fort gewesen. Wie ein Schlag ins Gesicht traf sie das Gefühl, das ihre Seele eisern umschloss und sie zittern ließ. Der Wind trug die schrillen Töne durch die Straßenschluchten, über die Dächer der Yellow Cabs hinweg, an vermummten Passanten und geduldig im Verborgenen wartenden Wegelagerern vorbei, über Rauchschwaden und Schmutz und flimmernde Leuchtreklamen hinweg – bis hin zu ihr. Hinab in die verlassenen Weiten des nächtlichen Battery Parks.
Die übrigen Geräusche flüsterten nur.
Versprechen, die wie Berührungen waren. Heimliche Gefährten in der Nacht aus Winterszeit.
Das Schwappen des Wassers gegen die Ufersteine. Das ölige Ächzen der Windmühle.
Die junge Frau seufzte.
Außer ihr war niemand zu sehen. Kein Mensch trieb sich um diese unselige Uhrzeit an diesem einsamen Ort herum. Und sie selbst hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie hierhergekommen war.
Sie betrachtete ihre Hände. Da, wo die große Schneeflocke sich gerade eben niedergelassen hatte, konnte man noch die Spuren von Blut erkennen. Es war getrocknet. Aber es war noch da.
Wieder das Heulen!
Da! Es wurde lauter.
Sie wusste, welche Tiere Geräusche wie dieses machten.
Wölfe!
Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Wölfe?
Nein, dies hier waren keine Wölfe. Nein, nein, sie befand sich in der Stadt der zwei Flüsse mit den unendlich gewachsenen Häusern, die an den Wolken kratzten, wie die Masten der Schiffe unten an den Kais es taten. Es gab keine Wölfe in den großen Städten. Nicht einmal mehr in den Wäldern gab es sie. Vielleicht in den großen Nationalparks oder den Rocky Mountains, aber niemals hier. Darüber hinaus klang dieses Heulen nicht im Geringsten wie das Heulen vieler Wölfe. Es klang nur so ähnlich, aber es war etwas durch und durch anderes.
Es war boshafter, man konnte es spüren. Es war schneidender, und es war viel, viel kälter.
Das Heulen wurde lauter. Was immer auch diese Geräusche machte, es näherte sich dem Battery Park.
Die junge Frau mit dem pechschwarzen Haar zog den Mantel enger um sich. Er war warm und wollig und ein guter Freund, irgendwie, ein lumpig aussehendes Kleidungsstück, bestehend aus bunten Flicken, ein Mantel, den man bestimmt nicht in einem gewöhnlichen Laden erstehen konnte. Jemand hatte ihn von Hand angefertigt, jemand, der geschickt und kunstvoll zu schneidern und zu nähen verstand.
Ich selbst?, fragte sich die junge Frau und schüttelte den Kopf. Nein, nie und nimmer. So geschickt war sie nicht, niemals gewesen. Sie berührte den Stoff, als würde er ihr Antworten geben können. Nicht zu wissen, wer sie war, machte sie rasend. Zum Verrücktwerden war das.
Sie blickte sich um.
Erinnere dich!, schrie eine Stimme in ihr. Erinnere dich!
Sie betrachtete ihre Hände.
Sie hielten etwas fest. Es war ein Amulett. Ein kleines Röhrchen, filigran und durchsichtig, mattes Glas, gefüllt mit winzigen bunten Dingen: Steinen, Federn, geflochtenen Schnüren, silbernen Symbolen. All diese verwunschenen Dinge schwammen in klarem Wasser. Und die Lederschnur, an der das Amulett befestigt war, hatte jemand zerrissen.
Wieder starrte sie auf das Blut, das in sanften Spritzern an ihren Händen klebte.
Ich bin Scarlet, dachte die junge Frau, und dies war ein Gedanke, der klar wie das Wasser in dem Amulett in ihr sang. Scarlet Hawthorne. Ja, das ist mein Name.
Und dies hier war New York.
Gotham.
Die Stadt am Anfang der Neuen Welt. Die Stadt mit den vielen Namen. Sie war früher schon einmal hier gewesen. Sie spürte es. Das alles kam ihr bekannt vor. Aber sie wusste nicht, wann sie jemals in New York gewesen wäre. Sie konnte sich einfach an nichts mehr erinnern.
Erneut betrachtete sie die blutverschmierten Hände.
Ich gehöre nicht hierher! Nicht in diese Stadt, nicht an diesen Ort!
So viel war klar.
Und sonst?
Nichts!
Das war alles.
An mehr konnte sie sich einfach nicht erinnern. Nur ­da­ran und an …
Weiß!
Sie blinzelte müde.
Weiß war alles um sie herum.
Sie bückte sich und nahm eine Handvoll Schnee in die Hände und wollte sich die Blutspritzer von der Haut reiben, als sie plötzlich innehielt und Tränen spürte. Nein, sie würde sich das Blut nicht abwischen.
Das ist nicht mein Blut, dachte sie benommen. Sie wusste nicht, wessen Blut es war, aber sie wusste, dass sie es auf ­ihrer Haut lassen wollte. Warum? Sie wusste es nicht, und es war schrecklich, es nicht zu wissen. Nein, sie durfte es nicht abwischen. Es war nur ein Gefühl, das ihr die Kehle zuschnürte.
Sie würde das Blut nicht abwischen, nie, niemals. Weil es …
Was?
Sie schloss die Augen. Es half nichts. Die Erinnerungen waren fort. Einfach so.
Dann sah sie wieder hin, es ließ sich nicht vermeiden. Sie sah hin, mit Tränen in den Augen, und berührte das Blut mit dem Finger, ganz zögerlich und langsam. Es war trocken, so trocken, und fast schon schwarz.
Ich bin allein, dachte sie. Die Tränen wurden heißer. Ich bin allein, allein, allein. Sie wusste, dass dieser Gedanke ein Schrei war, der schmerzhafter war als alles, was sie jemals empfunden hatte. Ich bin allein. Nicht allein im Battery Park und auch nicht allein in dieser Stadt, nicht allein irgendwo, sondern allein in der Welt. Allein, wie ich vorher nicht allein war. Nicht allein, weil jemand bei mir war? Jetzt allein, weil derjenige, der bei mir war, nun fort ist?
Wütend trat sie gegen einen Mülleimer, der scheppernd in der Verankerung erbebte.
Ich muss hier fort!
Sie zuckte zusammen.
Das Heulen war wieder da.
Es wehte durch die Nacht wie ein unruhiger Geist, der hungrig ist und auf der Suche nach Beute.
Ich bin die Beute, dachte Scarlet.
Sie musste ruhig bleiben. Sagte sie sich. Sie befand sich in Lower Manhattan, das wusste sie, und sie fragte sich jetzt nicht, woher sie das wusste. Irgendwie war sie an diesen Ort gelangt, aber es war jetzt nicht wichtig, wie das geschehen war. Man muss für den Augenblick leben – jemand hatte ihr das gesagt. Irgendwann einmal, irgendjemand.
Sie begann zu rennen, plötzlich, das Heulen hinter sich. Was immer es war, es näherte sich schnell. Natürlich wusste sie, dass es töricht war, einfach draufloszulaufen, aber sie hatte keine andere Wahl. Sie wusste sich keinen anderen Rat, also lief sie.
Hinaus aus dem Battery Park und hinein in das Labyrinth der endlos langen Gitternetzstraßen, die hier, an diesem Flecken, noch ein Gewirr aus kunterbunt durcheinandergewürfelten Wegen und Gassen waren. Die Stadt am Rande der Welt, wie sie seit alters her genannt wurde, kannte keinen Anfang und kein Ende. Sie war wie ein Wesen aus Fleisch und Blut, sie war Licht und Schatten und Lärm und Stille und noch so viel mehr. Sie war richtig lebendig und wirklich mit Haut und Haar und Stein und Erde ein Wesen namens Gotham – so hatte Washington Irving sie getauft, damals, als die Brooklyn Bridge noch nicht erbaut war, ja, Gotham, das dunkle Wesen. Sie war niemals müde, diese Stadt, und niemals schlief sie. Sie war immer schon so gewesen.
Über die große See waren Schiffe gekommen und mit ­ihnen Menschen, ach, so viele Menschen, die alle andere Sprachen gesprochen hatten, die alle eine andere Heimat zurück­gelassen hatten, die alle den würgenden Hass aufeinander, geboren in den vielen großen Kriegen der Alten Welt, bewahrt hatten und die alle vom gleichen Traum geeint worden waren. Dem Traum, dass es ein Land jenseits der Alten Welt geben würde. Ein Land, in dem man große Städte errichten würde. Städte wie die Stadt, die am Ufer der Zwillingsflüsse lag.
Die erste Stadt, die nicht so war wie die anderen Metropolen, denen die Menschen auf dem alten Kontinent den Rücken gekehrt hatten. Die Stadt, die wie ein Traum war.
Träumend, aber niemals schlafend.
Und dies hier war ihr Zentrum.
Eine Halbinsel, auf der sich das Leben dicht an dicht drängelte. Manna-hata, so lautete der Name dieses uralten Ortes.
Scarlet kannte sich hier aus.
Sie war schon einmal hier gewesen.
Sie bemerkte es, als sie durch die Straßen lief und ihr Atem rasselte. Sie wusste, wohin ihre Schritte sie trugen, aber sie wusste nicht, warum sie es wusste. Jede Erinnerung, die sie in sich trug, schwamm zwischen den Wolken auf den Wassern, die so scharlachrot und gefärbt mit hellem Himmel waren.
Sie hielt am Südende des Broadway an, dort, wo der Bulle aus Bronze sich wütend in die Pflastersteine stemmt. Die Schluchten, die sich zur Wall Street und Beaver Street ausweiteten, ließen den Sternenhimmel, hoch oben, kaum erkennen. Es war, als sei die ganze Welt, die jemals existiert hatte, hier unten. Yellow Cabs drängelten sich im nächtlichen Verkehr, der nicht ganz so schlimm war wie die Blechlawine, die sich am Tage durch die Canyons aus Glas und Stein und Stahl schob.
Scarlet schnappte nach Luft.
Sie fühlte ihre Kräfte schwinden.
Keiner der Passanten beachtete sie. Da waren Paare, eng umschlungen, und eilig aussehende Yuppies, wilde Nachtschwärmer, hungrig nach den Sensationen im Neonlicht. Scarlet war ein Niemand, eine Unbekannte, ein farbloses Gesicht in der Menge – sie war nur eine junge Frau in einem seltsamen bunten Mantel, die sich gegen den kalten Charging Bull lehnte. Eine Frau, die niemanden etwas anging.
Ja, genau das war die Stadt.
Keiner beachtete den anderen. Niemand hielt an, nicht für jemand anderen.
Allein, allein, allein.
Sie erhob sich, lief weiter, immer und immer nur weiter.
Das Heulen wurde lauter. Es wehte hinter ihr her wie ein Echo der Dinge, die ihr bevorstanden.
Scarlet Hawthorne rannte nordwärts, ohne anzuhalten. Sie rannte, bis sie ein Straßenschild mit der Aufschrift Broadway Lafayette Street hinter sich ließ. So viele Dinge schossen ihr durch den Kopf, so viele Fragen.
Sie spürte einen Wind aufkommen, kälter als Eis. Sie sah die Reklametafeln, die Weihnachten ankündigten, Plakate, die zuckersüße geringelte Speisen und sprechende und tanzende Weihnachtsmänner mit roten Nasen und Wangen und flauschigen Bärten anpriesen. Die Bilder rasten an ihr vorbei, und als sie in ein Schaufenster blickte und zum ersten Mal bewusst ihr Gesicht wahrnahm, da erschrak sie erneut. Ein blutiger Kratzer lief quer über ihre Stirn. Sie tastete ­da­nach und erbebte innerlich. Es fühlte sich an – und es sah auch so aus –, als habe ihr etwas mit einer scharfen Kralle ­diese Wunde zugefügt.
Das Heulen folgte ihr auf eisigen Winden.
Sie nahm all ihre Kräfte zusammen.
Und rannte.
Scarlet Hawthorne lief um ihr Leben, jenes fremde, weit entfernte Leben, an das sie sich nicht mehr erinnern konnte. Sie lief und lief und strandete schließlich am Washington Square. Schneeflocken wehten durch die Nacht. Sie wurden dick und fest und sahen aus wie kleine Fetzen verlorener Watte. Sanft flochten sie sich in ihr Haar, legten sich auf den bunten Mantel, betupften ihn.
Das Heulen war dicht hinter ihr.
Irgendwo in der Straße, aus der sie gerade gekommen war.
Sie stürzte kopflos in den spärlich beleuchteten Park und strauchelte vor einer mächtigen Hecke, die sich zwischen den Gerippen hoher Bäume erstreckte. Erst als sie im fahlen Licht der wenigen Laternen den gewundenen Weg aus nahezu festgetretenem Schnee entlanglief und vor der Hecke anhalten musste, um nach Luft zu schnappen, fiel ihr auf, dass sie sich schon wieder in eine menschenleere Gegend flüchtete.
Das Heulen wurde laut wie berstender Stein.
Nein, selbst die Passanten in den Straßen würden sie vor dem, was ihr da auf den Fersen war, nicht schützen können. Sie wusste es. Es war mit dunkler Farbe in den feinen Sand geschrieben, irgendwo, in einem fernen Land, in dem es niemals mehr Winter war.
Sie schnappte nach Luft.
Dann rannte sie weiter.
Ein eisiger Wind begleitete das Heulen, und je schneller Scarlet lief, umso mehr beschlich sie die Vermutung, dass der eisige Wind und die Ursache des Geräuschs eng miteinander verbunden waren. Viel enger, als sie es sich ausmalen wollte.
Sie spürte, wenngleich sie nicht wusste, warum, dass die Wesen, die ihr auf den Fersen waren, nur ihretwegen in die Stadt gekommen waren. Sie waren hier, um sie, Scarlet Hawthorne, zu fangen.
Keuchend hielt sie an.
Es war aussichtslos. Sie würde ihren Verfolgern nicht entrinnen. Sie würden gleich hier sein und dann …
Sie berührte das Amulett mit dem zerrissenen Lederband.
Das kehlige Eisheulen streifte fast ihr Gesicht.
Sie war allein in der Winternacht. Sie stand mit dem Rü­cken an einer dichten, dornigen Hecke. Das würde also das Ende sein.
Das Heulen sprang näher und näher, wirbelte durch die Luft.
Bitte, flüsterte Scarlet tonlos, das darf einfach nicht das Ende sein. In diesen Wunsch flocht sich ein weiterer ein, der nicht weniger als stumme Verzweiflung war: Ich will leben.
Der Schnee begann vom Boden aufzusteigen. Er formte ­etwas.
Jaulend.
Kreischend.
Unaufhaltsam.
Bitte …
Scarlet spürte eine knorrige Berührung an der Schulter. Sie schrie leise auf und drehte sich ruckartig um. Eine Ranke des Dornenstrauchs hatte sich um ihren Stiefel gewickelt und zog sie sanft auf das dichte Blätterwerk zu. Überall raschelte es. Scarlet wusste nicht, wie ihr geschah, aber sie ­spürte im leisen Wispern des Dornengestrüpps, dass es ihr nichts zuleide tun würde. Sie verstand, dass die alte Hecke ihr helfen wollte.
Eine Schnauze formte sich aus dem Schnee, zottiges Fell wurde mitten in der Luft geboren.
Die Dornenhecke öffnete sich und zog die junge Frau mit einem Ruck in ihre Mitte. Dann schloss sie sich wieder.
Scarlet lag auf dem Boden und wagte kaum zu atmen. Mäuse huschten vor ihr davon. Es roch nach dem gefrorenen Unterholz, nach Wurzeln und Zweigen und dem schlafenden dunklen Grün vergangener Sommer.
Scarlet hörte ihren eigenen Herzschlag tosen.
Ihre Hand hielt sich an dem Amulett fest, als sei dies ihr einziger Schutz.
Draußen wurde der Schneesturm wilder und wilder. Die Schneeflocken und der eisige Wind formten sich zu einer Gestalt, die wölfisch und groß war. Ein tiefer Atem grollte durch die Nacht vor der Hecke, und Scarlet erbebte vor Angst, aber das Wesen schien sie nicht zu wittern.
Es stand vor der Hecke auf dem Weg und reichte fast bis zur Laterne hinauf. Es knurrte tief, und seine Silhouette ­erinnerte an einen Wolf, der auf zwei Beinen stand. Ein schneeweißer Werwolf, aus einem Sturm geboren. Ein weiteres Wolfswesen trat aus dem Schneesturm heraus, reckte die Schnauze in die Höhe und gesellte sich zu dem anderen. Ein schneidender Schneesturm umwehte die Kreaturen. Der Wind war eisiger als der normale Winterwind, unnatürlich eisig, ein Blizzard, der einen eigenen Willen besaß.
Scarlet spürte, wie ein schmaler Ast sie berührte.
Eines der Blizzardwesen kam auf den Dornenbusch zu und sog die Luft ein. Sein Atem ließ das Holz nahezu gefrieren. Überall knirschte und knackte es. Die kleinen Blätter des Busches waren mit einem Mal ganz starr und kalt und weiß. Die Dornen stellten sich auf und bogen sich in die Richtung des unheimlichen Besuchers.
Scarlet hielt den Atem an.
Sie hatte Angst, dass der Schlag ihres Herzens sie verraten könnte. Sie wusste, dass Raubtiere die Furcht ihrer Opfer zu wittern vermögen.
Scarlet atmete ganz flach in ihre Hände, damit ihr Atem sie nicht verriet.
Unvermittelt drehte sich die Blizzardkreatur um und starrte in Richtung MacDougal Street.
Ein Obdachloser, der einen Einkaufswagen durch den Park schob, stand dort und starrte die Kreatur ungläubig an. Das große Blizzardwesen sprang ohne Warnung auf ihn zu, und noch bevor der Ahnungslose überhaupt wusste, wie ihm geschah, war er von einem Schneesturm umgeben, der ihn nicht mehr losließ. Sein Kreischen wurde vom Tosen des Sturms begraben, augenblicklich. Es war nur eine kurze Berührung, und es war schon vorbei, bevor es begonnen hatte, und der Obdachlose, dessen Haar ihm nun wie Eiszapfen vom Kopf abstand, lag erfroren am Boden.
Scarlet traute sich nicht, sich zu bewegen. Sie zitterte am ganzen Leib.
Die beiden Blizzardkreaturen nahmen ein letztes Mal Witterung auf, dann lösten sie sich wieder in dem Eissturm, der sie umgab, auf und verwehten in der Nacht, als seien sie nie da gewesen. Der Wind trug das Heulen in die Ferne, weit fort und doch viel zu nah.
Es wurde still.
Scarlet betrachtete den Obdachlosen aus ihrem Versteck. Den Körper in dem schäbigen Mantel.
Dann begann sie zu weinen. Sie weinte um den Obdachlosen, dessen Gesicht sie nicht einmal richtig gesehen hatte. Und sie weinte um das Leben, das er einmal geführt hatte. Es war ein Leben, das ihm schon lange vor diesem Tag genommen worden war.
Die Welt, dachte sie, ist einfach nicht fair.
Und mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass auch sie eine Obdachlose war. Sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Sie wusste nicht, wohin sie gehörte. Sie wusste gar nichts mehr. Sie wollte hierbleiben und einfach nur nichts tun. Sie wollte schlafen, ausruhen, so müde wie sie war, nur schlafen und träumen und sich irgendwann vielleicht sogar erinnern.
Scarlet seufzte.
Sie wusste, dass sie nichts von alledem tun konnte. Es waren nur Gedanken, nichts weiter.
Das Leben ging weiter, irgendwie, das tat es immer.
Als draußen kein Stürmen und Heulen mehr zu hören war, da öffnete sich die Dornenhecke wieder, und zwei Zweige schoben Scarlet freundlich, aber bestimmt in die Winternacht hinaus. Dann schloss die hilfreiche Dornenhecke sich wieder, als sei das alles nie passiert.
„Warum hast du das getan?“, fragte Scarlet die Dornenhecke.
Die Dornenhecke raschelte nur. Das sollte Antwort genug sein.
Scarlet Hawthorne, die sich über gar nichts mehr wunderte, ging langsam zu dem Obdachlosen. Regungslos verharrte sie neben ihm. Starrte ihn an.
Er war alt. Eine Eisschicht bedeckte die Lumpen, die er trug, und das faltige Gesicht sah nicht friedlich aus. Scarlet blieb lange neben ihm stehen. Ihn anzufassen, traute sie sich nicht. Sie schaute ihn nur an und prägte sich sein Gesicht ein. Sie würde sich dieses Gesicht merken. Sie würde ihn nicht vergessen. Und wenn die ganze Welt diesen alten Mann vergessen hätte, sie würde das nicht tun. Sie wusste nicht, was das ändern würde, aber sie spürte, dass es das war, was sie tun musste.
Dann verließ sie den Washington Square und flüchtete ohne Ziel weiter in die Nacht.
Die erste Straße, in die sie einbog, hieß Waverly Place. Sie folgte der Straße, bis sie eine Kirche erreichte, die Kathedrale der Heiligen Zita. Sie überquerte die Straße, wich einem wütend hupenden Wagen aus und näherte sich einem roten Backsteinhaus.
Dort hielt sie an, weil die Kraft sie verließ. Sie stand mit dem Rücken zur Wand und sank zu Boden, und die fla­ckernden Nachtlichter spiegelten sich in ihren Augen.
Das war der Moment, in dem sich unsere Wege kreuzten.
Ich ging auf sie zu, um ihr zu helfen. Und Scarlet ­Haw­thorne, die nach Atem rang, sah eine ältere Dame mit wild gelocktem Haar, die ihr die Hand reichte und ein Lächeln aufsetzte. „Sie sehen wirklich aus wie jemand, der Hilfe benötigt“, stellte ich fest.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein“, murmelte sie. „Eigentlich nicht.“ Dann sah sie mich zum ersten Mal richtig an und fragte: „Wer sind Sie?“
„Ich bin Anthea Atwood“, stellte ich mich vor. „Aus Brooklyn.“
Sie nickte nur, als hätte sie meinen Namen schon einmal gehört. Dann sagte sie leise: „Scarlet.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein rasselndes Keuchen, rau und rauchig. „Scarlet Hawthorne.“
„Was tun Sie hier, zu dieser Stunde?“ Ich hielt ihr noch ­immer die Hand hin.
„Ich weiß nicht?“ Es klang fast so, als richtete sie eine Frage an mich. „Ich laufe davon.“ Sie lachte laut und verzweifelt auf. Es war das traurigste Lachen, das ich jemals gehört hatte.
„Wovor?“
„Das würden Sie mir nicht glauben.“ Endlich ergriff sie meine Hand.
Ich zog sie auf die Beine. „Oh, sagen Sie das nicht. Ich bin nämlich recht leichtgläubig.“
Sie nickte langsam, schien sich zu fragen, ob sie mir trauen konnte. „Sie wollen mir helfen?“
„Ist einen Versuch wert, oder?“
Sie stand jetzt vor mir, in ihrem bunten Flickenmantel. Die Blutspritzer auf ihren Händen waren kaum zu übersehen. Sie war sehr blass und wirkte erschöpft. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen.
„Ich denke, ich bin in New York?“, sagte sie.
„Manchmal helfen Menschen einander“, entgegnete ich. „Nicht sehr oft, das muss ich zugeben. Aber manchmal tun sie es. Ja, manchmal schon.“ Ich schaute mich vorsichtig um. „Wir leben in seltsamen Zeiten, gerade heute, hier und jetzt.“
Ein lautes Heulen, das wie der Wind des Eismeeres klang, wehte durch die Nacht.
„Das sind sie“, flüsterte die junge Frau, und die dunklen Augen blickten wild und aufgeregt die Straße hinab.
„Wer?“
„Die, die hinter mir her sind.“
„Oh.“ Ich starrte sie an. „Klingt nicht gut. Sie sollten mit mir kommen.“
„Aber Sie kennen mich doch gar nicht.“
„Oh, oh, daran habe ich gar nicht gedacht.“ Ich zwinkerte ihr zu. „Nimm nichts mit nach Hause, was auf der Straße liegt. Sagt man das nicht?“ Ich schaute mich um. »Wenn ­etwas, was solche Geräusche macht, hinter Ihnen her ist, dann sollten Sie bestimmt nicht allein durch die Nacht laufen.« Ich packte sie am Ärmel und zog sie hinter mir her. „Kommen Sie schon, wir haben nicht die ganze Nacht Zeit!“
Wir gingen zur nächsten Subway-Station an der Ecke ­Chris­topher Street und Sheridan Square. Es musste schnell gehen, das Heulen wurde lauter. Unterwegs teilte mir die junge Frau namens Scarlet Hawthorne mit, was ich wissen musste. Es war eine seltsame und äußerst verworrene Geschich­te voller Lücken und Rätsel, die außer einem ­klin­genden Namen, einer seltsamen Dornenhecke, Blutspritzern auf den Händen und einem Amulett an einem abgerissenen Lederband wenig zu bieten hatte.
„Sie sind sehr offen“, gestand ich ihr.
„Ich habe nichts zu verlieren“, lautete die Antwort.
„Das haben Sie gesagt.“
Sie starrte mich an.
„Sie fragen sich jetzt, ob Sie mir trauen können.“
„Ja.“
Ich seufzte. „Was soll ich sagen? Wenn Sie mir nicht über den Weg trauen können und ich böse Absichten verfolge, dann werde ich Ihnen doch bestimmt versichern, dass Sie mir trauen können. Wenn ich Ihnen aber sage, dass Sie mir unter gar keinen Umständen trauen können, dann bedeutet das …“ Ich schüttelte den Kopf. „ Blödsinn, warum sollte ich das sagen?“
Das Heulen erklang von Neuem.
„Sie werden uns nicht nach unten folgen“, sagte ich. „Sie mögen die Wärme der Stadt unter der Stadt nicht.“
„Wer?“
„Ihre Verfolger.“
„Sie wissen, wer diese Kreaturen sind?“
Ich blieb kurz stehen. »Sehe ich nicht aus wie eine weise ­alte Frau?«
Scarlet öffnete den Mund, sagte aber nichts. Sie lächelte.
„Ah, ich sehe also aus wie eine weise alte Frau, stimmt’s?“
„Nicht gerade … alt“, sagte Scarlet. „Nur weise.“
Ich schenkte ihr ein aufrichtiges Lächeln. Sie war höflich, wie schön! „Ich danke Ihnen, Scarlet Hawthorne. Aber ich bin nicht mehr so jung, wie ich es einst war. Nein, das nicht mehr, nicht wirklich. Eine alte Schachtel bin ich aber auch noch nicht. Wissen Sie, kleine Kinder halten mich zuweilen für eine Hexe.“ Ich zwinkerte ihr zu. „Wegen der verrückten Frisur.“
„Sind Sie eine?“, fragte Scarlet.
„Was, eine Hexe?“
„Ja.“
„Ich sehe mich eigentlich lieber als ein Geheimnis.“ Ich warf ihr einen langen Blick zu, leicht amüsiert. „Oder etwas Ähnliches. Eine Schamanin, sozusagen“, erklärte ich, »zumindest ist das die Bezeichnung, die von den Algonkin für ­jene, die das tun, was ich zu tun pflege, verwendet wird.«
„Was tun Sie denn?“
„Schamanische Dinge“, antwortete ich. „Sie sind ja gar nicht neugierig.“
Die kugelförmige Straßenlaterne neben der Treppe in den Untergrund leuchtete noch, die Station war also noch immer geöffnet, und es fuhren Züge. Gut so. Wir eilten die Rolltreppe hinab, liefen den abwärtsfahrenden Stufen voraus.
„Was sind das für Wesen?“, wollte Scarlet wissen.
„Nun ja, ich bin mir nicht wirklich sicher. Aber nach dem, was Sie mir eben gesagt haben, hege ich eine Vermutung.“
„Und die wäre?“
„Es sind Wendigo, glaube ich. Sie sind selten geworden.“
„Wendigo?“, wiederholte sie.
„Sagte ich doch.“
„Warum sind sie hier?“
„So, wie es aussieht, um Sie zu jagen, junge Miss Scarlet.“ Wir verließen die Rolltreppe. Ich blieb stehen und warf ihr einen strengen Blick zu. „Junge Miss Scarlet“, wiederholte ich die Anrede, die mir eben spontan eingefallen war. „Oh, das passt zu Ihnen, finden Sie nicht auch?“ Sie schien damit einverstanden zu sein. „Wie alt sind Sie denn, junge Miss Scarlet? Ich schätze, Ende zwanzig. Wie meine Studenten.“ Ich wartete die Antwort nicht erst ab. „Und Sie haben wirklich keine Ahnung, warum sie das tun? Die Wendigo, meine ich.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Und Sie wissen auch nicht, wo Sie selbst herkommen und wie Sie hierhergekommen sind. Ist das richtig?“
Sie nickte. „Ich kenne ja nicht einmal mein richtiges Alter. Gar nichts.“
„Sie tragen keine Papiere bei sich?“
„Nichts.“
„Sieht ganz so aus, als hätten Sie ein Problem.“
„Ich weiß“, sagte sie.
Wir liefen jetzt einen langen Gang entlang. Der Geruch des Untergrunds wehte uns entgegen. Es roch nach kaltem Tabak und getrocknetem Urin und dem Müll des Tages. Von Ferne hörten wir einen Zug in den Bahnhof einfahren. Der aufkommende lauwarme Wind wehte munter alte Zeitungen vor sich her. Runde Belüftungsrotoren drehten sich in rostigen Röhren, die wie blinde Augen aus den mit Plakaten und Graffiti überzogenen Wänden ragten.
„Wir nehmen den Zug nach Brooklyn Heights“, sagte ich. „Wenn Sie mich begleiten wollen.“
„Sie sind also keine der Hexen, die jungen Frauen, die nicht wissen, wer sie sind, zum Verhängnis werden.“
„Die Wendigo sind schlimmer, als ich es je sein könnte, wenngleich einige meiner Studenten da bestimmt anderer Meinung sind.“
„Sie sind Dozentin?“
„Long Island University. Lehrstuhl für Botanik.“
„Dann …“
Ich gebot ihr zu schweigen.
Ein eisiger Lufthauch blies uns mit einem Mal in die Gesichter.
Er roch nach Wäldern, in denen wilde Tiere lebten, nach Ebenen, die nur Eis und Schnee erblickten.
„Es kommt von dort“, mutmaßte ich und spähte vorsichtig in Richtung eines der Belüftungsschächte, durch die normalerweise schwülwarme Luft in die Tunnel geblasen wurde. Jetzt tropfte kaltes Wasser aus ihnen und gefror zu Eiszapfen, bevor es den Boden berühren konnte.
„Oh, verdammt, gar nicht gut“, murmelte ich.
„Was soll das heißen?“
„Oh, gar nicht gut“, murmelte ich versonnen, „bedeutet normalerweise so viel wie … gar nicht gut.“ Und …
Oh, oh …
Die kalten Winde wurden stärker.
Die Belüftungsröhren bliesen plötzlich Luft in den Gang, die eisig kalt und mit Schneeflocken durchsetzt war. Und sobald der Wirbel aus Eis und Weiß die Gitterroste vor den Röhren überwunden hatte, begann der Schnee sich aufzutürmen und zu einer Gestalt zu formen.
„Sie haben mich gefunden“, sagte Scarlet.
Der Schneesturm versperrte uns den Weg zu den Bahnsteigen. Es gab kein Vorbeikommen, nur den Weg zurück. Dichter und dichter wurde der Wirbel, und die Gestalt, die sich aus ihm herausschälte, war groß und struppig und weiß wie der tiefste Winter.
„Sieht so aus“, murmelte ich, „als hätten wir jetzt beide ein Problem.“
Eine langgezogene Schnauze formte sich aus dem Weiß und dazu ganz spitze Ohren, die mühelos die Decke des Ganges berührten.
„Sagten Sie nicht, dass die Wendigo die Wärme der Subway nicht mögen?“
Ich zuckte die Achseln, hüstelte. „Da habe ich mich wohl ein wenig geirrt“, gab ich widerwillig zu und brachte unsere neue Situation höchst treffsicher auf den Punkt: „Oh, verdammt aber auch, verflucht und Dreck!“
Scarlet sah mich überrascht an.
Ich warf ihr einen strengen Blick zu. »Das habe ich ge­sehen.«
„Was?“
„Ihren tadelnden Blick, junge Miss Scarlet.“
„Ich …“
„Ich werde ja wohl noch fluchen dürfen, wenn es mir angemessen erscheint“, rechtfertigte ich mich, bevor sie etwas sagen konnte.
Dann blickten wir in schneeweiße Augen, und ein Weiß, so grell und klirrend wie Sonnenschein auf einem Gletscher, schnappte nach uns mit einem gierigen Knurren, das nicht von dieser Welt war.

Christoph Marzi

Über Christoph Marzi

Biografie

Christoph Marzi wurde 1970 geboren und lebt mit seiner Familie im Saarland. Dort sammelt er in einem Haus mit verwunschenem Garten seine Ideen, die zu Romanen, Kurzgeschichten, Liedern oder Gedichten werden. Für sein Romandebüt „Lycidas“ und die Anthologie „Nimmermehr“ wurde Christoph Marzi mit dem...

Kommentare zum Buch
Kommentieren Sie diesen Beitrag:
(* Pflichtfeld)

Christoph Marzi - NEWS

Erhalten Sie Updates zu Neuerscheinungen und individuelle Empfehlungen.

Beim Absenden ist ein Fehler aufgetreten!

Christoph Marzi - NEWS

Sind Sie sicher, dass Sie Christoph Marzi nicht mehr folgen möchten?

Beim Absenden ist ein Fehler aufgetreten!

Abbrechen