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Schandfleck (Allgäu-Krimis 5)Schandfleck (Allgäu-Krimis 5)

Schandfleck (Allgäu-Krimis 5)

Jürgen Seibold
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Ein Allgäu-Krimi

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Schandfleck (Allgäu-Krimis 5) — Inhalt

Das kleine Dorf Obergassen liegt malerisch am Fuße der Allgäuer Alpen. Nur der heruntergekommene Garzinger Hof stört die ländliche Idylle – und manche Bewohner würden den Schandfleck des Ortes lieber heute als morgen abreißen lassen. Aber der kauzige Eigentümer Manfred Garzinger mag weder verkaufen noch renovieren. Eines Tages wird er tot in seinem abgewetzten Lehnsessel gefunden, und Kommissar Hansen stößt bei seinen Ermittlungen auf eine verschwiegene Dorfgemeinschaft, die ihre Angelegenheiten lieber selbst regelt …

€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 12.01.2017
320 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-30852-6
Download Cover
€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 12.01.2017
352 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97552-0
Download Cover

Leseprobe zu „Schandfleck (Allgäu-Krimis 5)“

Samstag, 22. Juli

Als Marga Mecheler auf ihrem alten Mofa davonknatterte, löste das quäkende Röhren des Zweitakters auf dem Weg von Schellenried nach Obergassen die unterschiedlichsten Gefühle aus.

Ferdi Kugler zum Beispiel, der an diesem Samstagnachmittag die ärgste Unordnung in seiner kleinen Werkstatt am Ortsausgang von Schellenried beseitigte, hörte dem Motor schon von Weitem an, dass er bald wieder Arbeit mit dem alten Ding bekommen würde, und er freute sich, weil er jeden noch so kleinen Auftrag gut brauchen konnte. In Untergassen, etwa auf halber [...]

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Samstag, 22. Juli

Als Marga Mecheler auf ihrem alten Mofa davonknatterte, löste das quäkende Röhren des Zweitakters auf dem Weg von Schellenried nach Obergassen die unterschiedlichsten Gefühle aus.

Ferdi Kugler zum Beispiel, der an diesem Samstagnachmittag die ärgste Unordnung in seiner kleinen Werkstatt am Ortsausgang von Schellenried beseitigte, hörte dem Motor schon von Weitem an, dass er bald wieder Arbeit mit dem alten Ding bekommen würde, und er freute sich, weil er jeden noch so kleinen Auftrag gut brauchen konnte. In Untergassen, etwa auf halber Strecke, versetzte der Klang des Mofas Hans Hintermeyer wie üblich einen Stich. Wehmütig sah er die füllige Rentnerin durch den Ort brausen, die einen gut gefüllten Korb auf den Gepäckträger des Mofas geschnallt hatte, erwiderte ihr grüßendes Winken, aber nicht ihr fröhliches Lachen – wie auch, wo er doch seit so langer Zeit vergeblich darauf hoffte, dass sie endlich einmal mit ihm ausging! Und in Obergassen, gut hundert Meter vor Marga Mechelers Ziel, schaute Maximilian Röhrich sehnsüchtig aus dem Fenster seines Jugendzimmers, weil er nur zu gern mit einem solchen Mofa fahren würde und sich dafür noch mindestens ein Jahr lang gedulden musste.

Marga selbst hörte nichts außer der lauten Musik, die die kleinen Kopfhörer vibrieren ließ. Als sie nach einer schwungvoll genommenen letzten Linkskurve den Helm abgesetzt, die Stöpsel aus den Ohren gezogen und in der Tasche ihrer leichten Windjacke verstaut hatte, war der Zweitakter verstummt. Nur die bläulich-graue Abgaswolke schwebte noch hinter dem Auspuff und löste sich langsam in der warmen Sommerluft auf.

Sie zog das Gummiband aus ihren schulterlangen grauen Haaren und schüttelte ihre Frisur ein wenig auf. Dann strich sie ihren Rock glatt und sah sich um. Die Obergassener gingen ihren üblichen Wochenendbeschäftigungen nach. Sie tünchten Wände, putzten Fenster, rückten Vorhänge gerade, zupften Unkraut aus den gepflegten Beeten, schichteten das frisch gespaltete Brennholz auf akkurate Beigen, fegten die Einfahrt, polierten die Motorhauben ihrer knallig rot, blau und grün lackierten Oldtimer-Traktoren, gossen die Geranien und dekorierten ihre gepflegten Häuser mit Arrangements aus Strohblumen und dunkelbraun lasierten Holzrädern.

Kaum einer der Nachbarn grüßte sie oder sah auch nur von seiner Arbeit auf. Nur der greise Helmfried, der fast den ganzen Tag über seinem Fensterbrett hing, stierte wie immer zu ihr herüber, den erkalteten Rest seiner billigen Zigarre im Mundwinkel. Aber auch er winkte nicht, sondern glotzte sie nur unverwandt an – und sie wusste, dass er das auch noch tun würde, wenn sie ins Haus ging und ihm den Rücken zuwandte. Ihr Hintern hatte es ihm dabei natürlich mehr angetan als ihr Rücken, das konnte sie seinem ausgemergelten Gesicht mit den hervorstehenden Augen ansehen, wenn sie sich beim Aufschließen wie zufällig kurz umdrehte. Einmal hatte sie sich den Spaß erlaubt und vor dem Hineingehen einen ausladenden Hüftschwung eingelegt – doch als sie danach beobachtete, wie Helmfried der Stumpen aus dem Mund glitt, wie er sich an die Brust fasste und um Luft rang, hatte sie sich geschworen, den Alten nie wieder so aufzuregen.

Heute aber nickte sie Helmfried knapp zu, bevor sie sich ihren Korb schnappte und ins Haus ging.

„Manfred?“, rief sie.

Irgendwo im Haus glaubte sie Schritte zu hören, vielleicht auch das Knarren einer Bodendiele, aber als sie stehen blieb und horchte, war wieder alles still.

„Manfred?“

Sie sah auf die Uhr. Halb drei. Es kam zwar vor, dass ihr Neffe um diese Zeit noch sein Mittagsschläfchen hielt, aber zumindest an den Tagen, an denen sie ihn besuchte, rollte er sich schon etwas früher aus dem Bett und kochte Kaffee, den sie dann gemeinsam zu den süßen Stückle tranken, die sie gewöhnlich vom Bäcker in Schellenried mitbrachte.

Auch diesmal hatte sie Süßes dabei, dazu natürlich Brot und Semmeln, Wurst und Käse und eine Tupperschüssel mit dem vorgekochten Sonntagsessen.

„Manfred?“

Sie schaute sich nach allen Seiten um, während sie den Flur entlangging. Als sie die geräumige Wohnküche erreichte, war dort weder Kaffee zu riechen noch ihr Neffe zu sehen. Marga stellte die Tupperdose in den Kühlschrank und verstaute dort auch das Wurstpaket. Brot und Semmeln gab sie in den hölzernen Brotkasten, danach räumte sie Zeitungen, Notizblätter und geöffnete Rechnungen vom Tisch und wischte die gröbsten Krümel von der Platte. Sie richtete die süßen Stückle auf einem flachen Teller an und rückte ihn in die Mitte des großen Tischs. Dann setzte sie Kaffee auf und machte sich auf die Suche nach ihrem Neffen.

An die Schlafzimmertür klopfte sie mehrmals, erst leise, dann lauter, bevor sie öffnete. Auch hier war niemand. Dafür lagen auf dem Boden die Socken und Unterhosen herum, die Manfred seit ihrem vorigen Besuch getragen hatte, und dazwischen Zeitschriften, Chipspackungen und leere Limoflaschen. Der Fernseher, der gegenüber vom Bett an der Wand hing, war noch auf Standby, und Marga drückte kopfschüttelnd den Aus-Knopf.

Zurück im Flur, horchte sie wieder. Kein Geräusch von der Toilette, keines aus dem Wohnzimmer, nur von der Küche das Blubbern der Kaffeemaschine, das allmählich lauter wurde.

„Manfred, wo bist du denn?“

Keine Antwort. Ob er vergessen hatte, dass sie ihn besuchen wollte? Aber wo sollte er denn hin? Mit seinen alten Schulkameraden ging er höchstens einmal die Woche und dann auch erst am Abend einen trinken. Der Stammtisch der Jungbauern, die alle auch nicht mehr so jung waren, fand im Moosbacher Jägerwinkel nur donnerstags alle vierzehn Tage statt. Und die samstägliche Schafkopfrunde im Hasen in Sulzberg begann normalerweise erst gegen fünf, halb sechs.

Im Wohnzimmer war es unordentlich wie überall im Haus, auf dem Couchtisch lagen Zeitungen, auf dem Sofa Chipskrümel und Fernbedienungen, doch Manfred Garzinger war nirgendwo zu sehen.

Nun blieb nur noch ein Raum, in dem sie nachsehen konnte: Manfreds „Arbeitszimmer“, das eigentlich nur sein umgestaltetes früheres Kinderzimmer war. Irgendeine Arbeit hatte ihr Neffe schon lange nicht mehr erledigt – weder hier im Zimmer noch auf dem Hof, den er verfallen ließ. Auch seinen Beruf als Fotolaborant hatte er nur bis kurz nach der Gesellenprüfung ausgeübt. Und seit Foto- und Videokameras nicht mehr auf Filmrollen angewiesen waren, hatte Manfred die einstige Dunkelkammer im Speicher zu einem Lagerraum umfunktioniert, in dem sich noch mehr Gerümpel stapelte als im übrigen Haus.

Marga Mecheler schnupperte. Ihr fiel der seltsame Geruch auf, der in der Luft hing und allmählich intensiver zu werden schien. Im Vorbeigehen warf sie noch einen Blick auf die Toilette, aber die Tür war zu. Dann betrat sie das Arbeitszimmer. Auf einem kleinen Schreibtisch stand ein recht moderner Computer mit großem Bildschirm, in den Wandregalen stapelten sich selbst gebrannte CDs und DVDs, dazwischen waren diverse Kameras, Ladekabel und allerlei anderer Kram ausgebreitet. Der Bürostuhl vor dem Schreibtisch war leer.

Der hohe Ohrensessel, den sie Manfred geschenkt hatte, als ihr Mann gestorben war, stand mit der Rückenlehne zur Tür, damit Manfred bequem auf die Dorfstraße hinausblicken konnte. Rechts am plüschigen Möbelstück ragte ein Fuß heraus, nackt und reglos.

„Ach, Manfred, da bist du ja!“

Marga marschierte auf den Sessel zu. Missbilligend registrierte sie, dass sich ihr Neffe noch nicht angezogen hatte. Eines seiner dürren Beine hatte er ausgestreckt, das andere war angewinkelt wie in einem Krampf. Die Hausschuhe lagen ein Stück von den Füßen entfernt, der Saum seines alten Morgenmantels bedeckte den halben Oberschenkel. Das Kleidungsstück saß noch schlampiger am Leib des jungen Mannes als sonst. Es war zerknittert und zerknautscht, und der beigefarbene Stoff war über und über mit Flecken verunstaltet.

Mit roten Flecken.

Dieses Rot war überall. Auf dem Bademantel, auf dem abgewetzten Sessel, auf dem fadenscheinigen Unterhemd. Manfred Garzinger hatte die Augen weit aufgerissen, die Augäpfel waren hervorgetreten. Der Mund stand sperrangelweit offen und war rot, genau wie Kinn und Wangen. Grell, leuchtend, klitschnass schimmernd.

Die gellenden Schreie von Marga Mecheler rissen den halben Ort aus seiner Nachmittagsruhe, und während sich ein Schatten lautlos durch die Hintertür entfernte, rannte Marga auf die Straße, noch immer kreischend, und versuchte, das entsetzliche Bild wieder aus ihrem Kopf zu bekommen.


Auf den letzten Kilometern bis Füssen sprachen Hansen und Resi wieder einmal darüber, wann und wo denn ihre Hochzeit stattfinden könnte. Er hatte ihr schon im Mai vergangenen Jahres einen Antrag gemacht, über den Resi noch immer herzlich lachen konnte, so umständlich hatte er sich angestellt. Ihre Ringe trugen die beiden gern, Resi drängte nicht, und Hansen schob die Hochzeit nicht vor sich her – aber im Moment war für ihn alles angenehm so, wie es war, und irgendwie fand sich im Kalender nie die passende Lücke. Bald hatten sie Füssen hinter sich gelassen, zur Rechten erschien der Forggensee, und wenig später waren sie auch schon da.

Während Hansen die Haustür aufschloss, freute er sich, nach den Tagen in Hannover und Wunstorf wieder heimzukommen. Denn inzwischen empfand er das alte Bauernhaus am Forggensee als Zuhause. Es lag etwas außerhalb von Füssen und war – wenn man vom Wertstoffhof jenseits des Zufahrtssträßchens absah – nur von Wiesen umgeben.

Auf dem Küchentisch stand eine Vase mit einem frischen Tischstrauß, darunter klemmte ein Zettel seiner Vermieterin Frau Walburga: „Herzlich willkommen daheim, Herr Hansen. Sie konnten den Ausflug in die alte Heimat hoffentlich trotz der Autopanne genießen. Im Kühlschrank stehen ein paar Weißbier, auch Brot, Wurst, Käse und Butter habe ich eingekauft. Grüße an Ihre Resi!“

Als er ihr den Zettel gab, war Resi gerade neben dem Wagen in die Hocke gegangen. Kater Ignaz begrüßte sie mit aufgestelltem Schwanz und strich schnurrend um ihre Beine. Sie kraulte ihn, und er schaute ausgesprochen zufrieden drein. Hansen dagegen, seinem zweibeinigen Mitbewohner, schenkte er keinerlei Beachtung.

„Deine Frau Walburga ist süß“, sagte Resi, als sie die Zeilen gelesen hatte, und lachte. „Ist doch gut, dass wir ihr schon gestern wegen der Panne Bescheid gegeben haben. Jetzt hast du was Frisches zu Essen im Haus, und wir müssen nicht extra zum Supermarkt fahren.“

Hansen zog die ersten Taschen aus dem Kofferraum und begann, das Gepäck nach drinnen zu tragen. Resi wollte aufstehen, um ihm zu helfen, aber Ignaz machte ihr mit einem einzigen Blick klar, dass er weitere Streicheleinheiten erwartete, und sie ging wieder in die Hocke.

Auch ohne Hilfe hatte Hansen den Wagen bald ausgeladen, und als Resi in die Küche kam, war die Kaffeemaschine bereits angeschaltet. Ignaz sprang auf die Eckbank, sobald Resi sich gesetzt hatte und drückte sich schnurrend an ihre Seite.

„Bevor du deine alte Kiste mal wieder für viel Geld in der Werkstatt reparieren lässt, solltest du dich nach einem neuen Auto umschauen“, bemerkte sie. „Der Wagen kann doch jederzeit liegen bleiben, so wie gestern.“

Resi hatte recht, aber Verkaufsportale zu durchstöbern oder Gebrauchtwagenhändler abzuklappern machte Hansen wirklich keinen Spaß. Deshalb war er ganz froh, dass im selben Moment sein Handy klingelte. Haffmeyer war dran. Und noch bevor sich Hansen fragte, was der Kollege an einem Samstagnachmittag im Kommissariat 1 der Kripo Kempten zu suchen hatte, gab der ihm schon die Antwort.

„Es gibt Arbeit, Chef. Ein toter Mann in Sulzberg-Obergassen, nur ein paar Kilometer südöstlich von Kempten, seine Tante hat ihn gefunden. Die Kriminaltechnik ist schon unterwegs, und falls die Resi gerade bei dir sein sollte, bring sie am besten gleich mit. Die Leiche wird ihr gefallen. Endlich mal was anderes …“

Hansen brachte Resi kurz auf den aktuellen Stand. Statt direkt mitzufahren, wollte sie allerdings lieber noch duschen und dann nachkommen.

„Bis du mit deiner alten Möhre in Sulzberg bist, habe ich dich wahrscheinlich schon fast wieder eingeholt.“

Als Hansen in seinen Kombi stieg, war Resi schon im Badezimmer verschwunden. Ignaz saß vor der Haustür und sah seinem Mitbewohner mit einer Miene nach, als hätte er erfolgreich einen unerwünschten Konkurrenten um Resis Zuneigung aus dem Feld geschlagen. Eine gute Viertelstunde später machte sich auch Resi auf den Weg.

„Na, mein Kleiner?“, raunte sie Ignaz zu, nachdem sie ihn ein letztes Mal gestreichelt hatte. „Dann werde ich mich mal beeilen und deinem Herrchen nachfahren, was?“

Das Wort „Herrchen“ stieß dem Kater sauer auf. Kaum war Resis Kleinwagen vom Hof geflitzt, da marschierte Ignaz auch schon zur Garderobe im Flur und versetzte Hansens Lieblingsjacke ein paar gezielte Pfotenhiebe.


Das Gebäude, in dem die Leiche lag, war nicht schwer zu finden. Die Kollegin Hanna Fischer, die Hansen vor ihrer Füssener Wohnung eingesammelt hatte, kannte den Weg zu dem kleinen Weiler, der zu Sulzberg gehörte und ein paar Kilometer südöstlich von Kempten auf einer Anhöhe lag. Und das Haus hatte ihm Haffmeyer schon am Telefon hinreichend genau beschrieben: „Fahr einfach zum einzigen Bauernhof im ganzen Ort, der total heruntergekommen ausschaut.“

Er war an einigen Höfen und Einfamilienhäusern vorbeigekommen, eines schöner herausgeputzt als das andere, und dann hatte er das gesuchte Anwesen auch schon vor sich: ein Wohnhaus, das sich unter einem schiefen und schadhaften Dach duckte, außerdem Scheune, Stall und ein von Gras und Unkraut überwuchertes Mauerviereck, das wohl früher mal den Misthaufen dargestellt hatte. Auch der Vorplatz des Gebäudes war verwildert, und wo noch einzelne Flecken brüchigen Asphalts zu sehen waren, lagen verrostete Geräte herum. Der zweiachsige Hänger und der ziemlich marode wirkende Traktor waren allem Anschein nach seit Jahren nicht mehr bewegt worden.

Rechts daneben befand sich ein sehr gepflegter, beinahe puppenhausartig hergerichteter Bauernhof – der Kontrast zum Nachbargrundstück war gewaltig. Über den schönen Hofplatz watschelte gerade gemessenen Schrittes eine Gans. Sie stolzierte mit erhobenem Schnabel von einem Ende des Hofs zum anderen, wendete schließlich und marschierte wieder zurück. Dabei behielt sie ihre Umgebung aufmerksam im Blick. Auf einmal war ein kurzer, gellender Pfiff zu hören. Der Kopf des Tieres ruckte herum, dann eilte die Gans auf das schmucke Bauernhaus zu und verschwand durch die Haustür, die einen Spalt offen gestanden hatte und sich nun gleich hinter ihr schloss.

Am Straßenrand standen mehrere Fahrzeuge: zwei Streifenwagen, der weiße Transporter der Kriminaltechnik, eine dunkle Limousine, ein ziviler Kombi der Kemptener Kripo, Haffmeyers kleiner Geländewagen, den er sich im vergangenen Winter zugelegt hatte, und zwischendrin ein Notarztwagen mit offener Hecktür – zwei Sanitäter kümmerten sich um eine füllige Dame von Ende sechzig. Und etwas entfernt stand der Leichenwagen, an dem zwei Männer in dunklen Anzügen lehnten und sich die Wartezeit bis zur Freigabe der Leiche mit Zigaretten und einem kleinen Plausch vertrieben.

Hansen parkte seinen Kombi auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er achtete darauf, dass er keine Zufahrt zustellte, trotzdem bedachte ihn ein Mann mittleren Alters, der mit verschränkten Armen vor dem Grundstück stand, mit einem missbilligenden Blick. Hansen ignorierte ihn und ging auf den Bauernhof des Toten zu. Hanna sah aus den Augenwinkeln Resis Kleinwagen ziemlich flott daherkommen. Auch sie hatte den bösen Blick des Nachbarn bemerkt, und nachdem sie Resi auf den Platz hinter Hansen und damit direkt vor die Garageneinfahrt des Mannes eingewiesen hatte, drückte sie ihm ihre Visitenkarte in die Hand.

„Falls Sie rausfahren wollen, geben Sie bitte drüben kurz Bescheid. Die Kollegen wissen immer, wo ich bin.“

Er starrte sie ganz verdattert an, doch Hanna kümmerte sich nicht weiter um ihn und führte Resi zum Fundort der Leiche.

Zur Haustür des heruntergekommenen Anwesens war ein schmaler Weg mit Absperrband trassiert. Männer und Frauen in weißen Ganzkörperanzügen schossen Fotos und bückten sich, klaubten kleine Fundstücke auf und ließen sie in Klarsichttüten gleiten. Schon im Flur schlug ihnen muffige Luft entgegen, in der sich die Aromen verschiedener Körperflüssigkeiten mit einem stechenden Geruch mischten, den Resi nicht gleich zuordnen konnte.

Der kleine Raum, in dem sich der Tote befand, war voller Polizeibeamten. Hansen stand vor der Tür und wartete darauf, dass er sich endlich selbst ein Bild von der Lage machen konnte. Resi stellte sich neben ihn, und schweigend ließen sie ihre Blicke über die Einrichtung des Zimmers schweifen.

„Er sitzt dort drüben in dem alten Sessel“, sagte Haffmeyer, der hinter sie getreten war. „Den rechten Fuß könnt ihr schon von hier aus sehen, wenn der Kollege gleich mal zur Seite tritt.“

Die Sicht war ihnen durch einen Kriminaltechniker versperrt, der kurz darauf seine Position änderte. Die anderen Beamten verließen nach und nach den Raum.

„Manfred Garzinger heißt der Tote“, erklärte Haffmeyer, während Hansen, Resi und er das Zimmer betraten. „Siebenunddreißig, arbeitslos, lebte allein hier auf dem Hof. Grundstück und Gebäude hat er von seinen Eltern geerbt, die vor elf Jahren gestorben sind, ziemlich kurz hintereinander.“

Hansen hatte einen Unterton in Haffmeyers Stimme bemerkt und sah ihn fragend an.

„Seine Mutter war über viele Jahre pflegebedürftig, der Vater hat sich die ganze Zeit um sie gekümmert. Manfred war ihnen damals keine große Hilfe. Er hatte mehr mit sich selbst zu tun, und ein faules Stück soll er schon immer gewesen sein.“

Hansen hob eine Augenbraue.

„Ja, ich weiß, Chef: Man soll über Tote nicht schlecht reden, aber Manfred Garzinger war wohl nicht gerade die Krone der Schöpfung. Faul, ziemlich rechthaberisch und mit noch ein paar weiteren unangenehmen Eigenschaften gesegnet.“

„Woher weißt du das denn alles schon wieder? Du bist doch auch erst seit Kurzem hier.“

„Schon, aber auf der Herfahrt habe ich einen alten Bekannten angerufen.“

Hansen musste lächeln. Haffmeyer schien im gesamten Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Schwaben Süd/West fast alles und jeden zu kennen.

„Der Franz hat mich schnell aufs Laufende gebracht. Er ist ein Kollege von der Polizeiinspektion Kempten und lebt im Nachbardorf Untergassen. Ich stelle ihn dir nachher gern vor, der kann dir alles über die Garzingers erzählen.“

„Zum Beispiel, warum die Eltern unseres Toten so kurz nacheinander gestorben sind?“

Haffmeyer nickte.

„Auch das.“

Der Kriminaltechniker erhob sich nun und verließ als Letzter den Fundort der Leiche.

„Ihr könnt jetzt rein“, sagte er im Vorbeigehen, „aber seid’s bitte vorsichtig: Ganz fertig sind wir noch nicht.“

Sie betraten den Raum, und Haffmeyer fuhr fort: „Das ist sein Arbeitszimmer. Zumindest hat er selbst es so genannt, obwohl er vermutlich auch hier drin nichts gearbeitet hat – jedenfalls hat das seine Tante vorhin angedeutet. Und dass er sich nicht einmal um Haus und Hof gekümmert hat, ist ja nicht zu übersehen gesehen. Die Tante wird übrigens gerade im Krankenwagen versorgt. Mit ihr sollten wir erst nachher reden, sie hat den Anblick ihres toten Neffen nicht besonders gut weggesteckt.“

Hansen ließ Resi den Vortritt, und als sie nebeneinander vor dem Toten standen, wunderten sie sich nicht mehr, warum die Tante medizinische Betreuung brauchte. Der Tote saß in dem wuchtigen Polstermöbel, Arme und Beine von sich gestreckt, Augen und Mund aufgerissen – und alles über und über mit einer roten Flüssigkeit bedeckt, die inzwischen weitgehend getrocknet war.

„Was ist das denn für ein Zeug?“, fragte Hansen.

Resi beugte sich ein wenig vor und schnupperte.

„Farbe“, sagte sie knapp, ging in die Hocke und musterte Garzingers Körperhaltung.

Das grelle Rot schien förmlich aus dem Mund des Toten herauszuquellen, war inzwischen aber getrocknet und wirkte wie ein erstarrter Lavafluss. Lippen, Kinn, Wangen, Hals und Oberkörper waren über und über mit roter Farbe beschmiert. An Material war hier offensichtlich nicht gespart worden.

Resi hatte sich längst Handschuhe übergezogen und hob nun leicht den rechten Arm des Toten an. Auch die Hand hatte ordentlich vom Rot abbekommen.

„Er scheint sich dagegen gewehrt zu haben, dass ihm jemand die Farbe in den Mund geschüttet hat. Als wäre er zu diesem Zeitpunkt noch bei Bewusstsein gewesen.“

Sie erhob sich wieder, berührte mit den Fingerspitzen Garzingers aufgerissene Augen, warf Hansen einen kurzen fragenden Blick zu. Hansen nickte, und sie schloss dem Toten langsam und sorgfältig die Lider. Dann tastete sie einige Stellen an Wangen und Nacken ab, bevor sie einen Schritt zurücktrat.

„Das kann noch nicht viel länger her sein als anderthalb, zwei Stunden. Ich werde mir die Leiche gleich noch etwas genauer ansehen – da geht ihr am besten kurz raus. An den Augenlidern hat die Totenstarre schon eingesetzt, an den Kaumuskeln dagegen kaum. Heute ist es eher warm, da erstarren die Muskelfasern etwas schneller als bei kühlen Temperaturen. Sag mal, Willy: Wann hat die Tante den Toten genau entdeckt?“

„Halb drei.“

„Oh“, entfuhr es Resi. „Das war aber knapp. Womöglich hat sie den Täter nur um wenige Minuten verpasst. Jetzt raus mit euch – ich muss schnell machen, damit wir den Todeszeitpunkt möglichst genau eingrenzen können.“

Resi kramte ein Thermometer aus ihrer Ledertasche. Sie machte sich daran, den toten Garzinger ein wenig zur Seite zu drehen, und Hansen und Haffmeyer gingen nach draußen. Hanna stand mit einem grauhaarigen Polizisten am Straßenrand, der auf eines der benachbarten Häuser zeigte und in einem fort auf sie einredete, während sie sich fleißig Notizen machte. Haffmeyer führte Hansen zu den beiden.

„So“, sagte er, „das wäre dann der Franz.“

Der Grauhaarige unterbrach sich und grinste Haffmeyer an. Dann tippte er sich lässig gegen die Mütze und stellte sich vor.

„Polizeihauptmeister Franz Kallmann, PI Kempten. Der Willy und ich haben zusammen bei der Polizei angefangen, und während er es zur Kripo geschafft hat, kümmere ich mich noch immer um Hühnerdiebe und Fahrerflucht.“

„Nur nicht so bescheiden“, widersprach ihm Haffmeyer launig und deutete auf die Schulterklappe des Kollegen. „Immerhin hast du inzwischen vier Sternchen gesammelt, während ich noch immer Kriminalmeister bin.“

„Und das wirst du wohl auch bleiben, weil du nie dein Maul halten kannst, wenn es mal nötig wäre.“

Die beiden lachten, dann räusperte sich Kallmann.

„Alte Geschichten, entschuldigen Sie bitte. Jedenfalls kannte ich den Toten ganz gut und habe Willy schon ein bisschen was über ihn erzählt.“

„Was wissen Sie denn über den Tod von Manfred Garzingers Eltern?“

„Die offizielle Version ist, dass Frau Garzingers Herz irgendwann nicht mehr mitgemacht hat, und kurz darauf ist ihr Mann gestorben, weil er ihren Tod nicht verwunden hat.“

„Okay. Und die inoffizielle?“

„Erweiterter Selbstmord. Manfreds Mutter ging es viele Jahre lang richtig dreckig. Und so sehr sich ihr Mann auch bemüht hat, sie zu pflegen: Es war ein ziemliches Elend mit ihr. Zuletzt hat sie kaum noch Luft bekommen. Alles hat ihr wehgetan, sie hat sich wundgelegen, und aufstehen konnte sie auch nicht mehr. Sie war jedoch zäh, das hätte durchaus noch ein paar Jahre so weitergehen können.“

„Aber?“

„Aber ihr Mann war total am Ende. Nervlich schon länger, aber dann hat auch sein Herz nicht mehr richtig mitgemacht. Mich hat das nicht überrascht, ich habe mich eher gewundert, wie lange er das ausgehalten hat. Er war damals, als es zu Ende ging, gerade mal sechsundsechzig, sie vier Jahre jünger – aber ihre schwere Krankheit hat ihnen beiden zugesetzt und hat sie deutlich älter aussehen lassen. Er hat sich regelrecht aufgeopfert für sie. Hat keine Freunde mehr getroffen und ist nirgendwo mehr hingegangen. Den Bauernhof hat er noch betrieben, so gut es eben ging – doch die Pflege seiner Frau kostete viel Zeit. Da kam es schon mal vor, dass er nachts noch mit der Zugmaschie aufs Feld tuckerte.“

Hansen sah ihn fragend an.

„Zugmaschie – so sagen wir hier bei uns zu einem Schlepper, einem Traktor, einem Bulldog …“

„Danke“, unterbrach ihn Hansen. „Und das alles wissen Sie, weil Sie im Nachbardorf wohnen? Respekt.“

„Mein großer Bruder Karl hat bei den Garzingers seine landwirtschaftliche Lehre gemacht. Der Hof war in ordentlichem Zustand damals, nicht so heruntergekommen wie heute. Karl hat die Garzingers auch nach der Ausbildung immer wieder besucht, und natürlich hat er mitbekommen, dass immer mehr Arbeit liegen blieb. Er hat seine Hilfe angeboten, aber Manfreds Vater hat immer abgelehnt und behauptet, dass er das alles gut alleine schafft. Karl ist dann manchmal heimlich mit der Egge über Garzingers Felder gefahren oder hat eine seiner Wiese ›aus Versehen‹ mitgemäht … aber das war nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Und Karl hat mit dem Hof unserer Eltern eigentlich genug zu tun.“

„Milchkühe, ein paar Schweine, Getreidefelder“, merkte Haffmeyer an. „Drüben in Untergassen.“

„Und zwei Ferienwohnungen hat Karl inzwischen auch noch eingerichtet. Dazu Hühner und Bienen und was man halt sonst so alles treibt, um heutzutage als Bauer über die Runden zu kommen.“

Haffmeyer nickte.

„Manfred Garzingers Vater jedenfalls hat sich total aufgerieben bei der Pflege seiner kranken Frau. Er hat das alte Doppelbett ausgemustert, ein Pflegebett ins Schlafzimmer gestellt und für sich ein Einzelbett daneben. Die Arbeit auf dem Hof, Tabletten geben, Spritzen setzen, immer wieder den Arzt alarmieren und keine Nacht durchschlafen, weil man die Frau neben sich plötzlich röcheln und verzweifelt nach Luft ringen hört … Irgendwann ging es halt nicht mehr.“

„Und dann?“

„Dann war Frau Garzinger eines Morgens tot. Hatte offenbar einfach zu atmen aufgehört. Und zwei Tage später fand man Herrn Garzinger tot in seinem Bett. Herzversagen.“

„So hat das der Arzt bescheinigt?“

„Ja. Atemstillstand bei ihr, Herzstillstand bei ihm.“

„Und warum glauben Sie dann an erweiterten Selbstmord?“

„Da bin ich nicht der Einzige. In Obergassen, Untergassen und bis rüber nach Schellenried war damals jeder, der die Garzingers kannte, davon überzeugt, dass es kein Zufall war, dass sie zu diesem Zeitpunkt und so kurz hintereinander starben.“

„Und warum sind Sie und die Kollegen dem nicht nachgegangen?“

Garzinger zuckte mit den Schultern. „Der Arzt hat beiden einen natürlichen Tod bestätigt, und das war uns allen ganz recht. Wissen Sie … Es war schon lange ein Elend gewesen, und wem hätte es denn geholfen, wenn wir gegen den alten Garzinger ermittelt hätten? Im schlimmsten Fall wäre seine Lebensversicherung nicht ausgezahlt worden, und dann hätte Manfred nicht nur seine Eltern, sondern auch noch den Hof verloren.“

„Und dass es kein erweiterter Selbstmord war, sondern dass jemand anderes nachgeholfen haben könnte …?“

„Das konnten wir ausschließen. Zum einen waren die Garzingers überall beliebt, denen wollte keiner was Böses. Und ich habe mich natürlich ausführlich mit dem Arzt unterhalten, der blieb bei seiner Version: Frau Garzinger hatte am Abend ein Schlafmittel genommen, und dann hat sie nachts einfach aufgehört zu atmen. Das Haus war zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen, und außer den Eheleuten war niemand da. Nun könnte ihr Mann ihr im Schlaf das Kissen aufs Gesicht gedrückt haben, aber der Arzt beteuerte, dass die Tote so aussah, als wäre sie friedlich eingeschlafen. Und Herr Garzinger hatte schon seit einiger Zeit Herzprobleme, da war der tödliche Infarkt nicht wirklich eine Überraschung, schon gar nicht nach dem Tod seiner Frau. Die beiden hatten sich sehr geliebt, und der Arzt fand keine Medikamente im Haus, die Garzinger zu einem tödlichen Cocktail hätte mixen können. Es gab keinen Abschiedsbrief und keine auffälligen äußeren Anzeichen für eine Vergiftung. Also hatte der Arzt keine Veranlassung, in einem der beiden Fälle etwas anderes zu vermuten als eine natürliche Todesursache.“

„Und wo war Manfred Garzinger zu der Zeit?“

„Auf Ibiza, saufen mit den Kumpels.“

Kallmann verzog das Gesicht.

„Der hat die Tour auch nicht unterbrochen, als er von meinem Bruder angerufen wurde, nachdem seine Mutter tot war.“

„Wieso von Ihrem Bruder?“

„Ich hab ja schon erzählt, dass Karl bei den Garzingers gelernt hat. Der Tod von Manfreds Mutter hat sich in den Dörfern der Umgebung schnell rumgesprochen, und Karl ist dann sofort zum Garzinger-Hof gefahren, um zu helfen, wo es nötig war. Und als der alte Garzinger keine Anstalten machte, seinen Sohn wegen der verstorbenen Mutter anzurufen, hat das halt mein Bruder übernommen.“

„Der Vater wollte seinem Sohn nicht Bescheid geben?“

„Die hatten schon länger Probleme miteinander. Manfred spurte nicht, wie es der Vater wollte – und der hielt den Sohn eh für einen Tunichtgut. Zu Recht, wenn Sie mich fragen. Manfred war wirklich der Einzige, mit dem sich die Garzingers nicht vertragen haben. Manfreds Eltern haben darunter sehr gelitten. Kann also schon sein, dass er sie indirekt auf dem Gewissen hat – aber durch seine Hand gestorben sind sie nicht. Er war auf jeden Fall auf Ibiza, das habe ich gecheckt, nur zur Sicherheit – denn einen Mord an den Eltern hätte ich nicht einmal diesem faulen Lumpen zugetraut.“

„Ihr Bruder hat Manfred Garzinger erreicht?“

„Ja, aber der hat einfach weiter auf Ibiza gefeiert – war ja schon alles gebucht und bezahlt. Und so hat er auch den Tod des Vaters verpasst. Mehr muss man über diesen Kerl wohl nicht mehr sagen, oder?“

„Hm. Jetzt ist er selbst tot.“

„Und diesmal können wir einen natürlichen Todesfall ebenso ausschließen wie Selbstmord.“


Für die Ermittlungsgruppe zum Tod von Manfred Garzinger war ein Besprechungsraum im Gebäude der Kripoinspektion in der Kemptener Hirnbeinstraße hergerichtet worden. Hansen hatte von seinem Büro im Kommissariat 1 nur einen kurzen Weg durch die Flure zurückzulegen, und so hatte er schon einige Gespräche mit Mitgliedern der Sonderkommission geführt und war zwischendurch immer wieder an seinen Schreibtisch zurückgekehrt.

Um halb sieben an diesem Abend trat die Soko Obergassen zum ersten Mal in der üblichen Besetzung zusammen. An der Stirnseite des Raums saßen Polizeipräsident Benedikt Huthmacher, Pressesprecher Christoph Ohser, Kripochefin Vroni Schliers und Hansen. Außerdem hatte Staatsanwältin Gudrun Labranz dort Platz genommen, eine schlanke Endvierzigerin im schwarzen Kostüm. Sie beobachtete etwas gereizt, wie zwei Beamte der Kemptener Polizeiinspektion um kurz nach halb sieben den Raum betraten und sich nicht allzu sehr beeilten, ihre Plätze einzunehmen.

„Wenn wir dann beginnen könnten …?“, setzte sie schließlich in scharfem Ton an, und die beiden Uniformierten sahen erschrocken erst zu ihr und dann zu Hansen. Doch als dieser nur kurz mit den Augen rollte und ein leichtes Grinsen um seine Mundwinkel spielen ließ, entspannten sich die beiden wieder.

Gudrun Labranz hatte von dem Blickwechsel nichts mitbekommen. Sie blätterte in den vor ihr liegenden Unterlagen, dann bat sie Vroni Schliers, die zur Leiterin der Soko bestimmt worden war, noch einmal kurz den Stand der Ermittlungen zusammenzufassen. Auch in der Schilderung der Kripochefin kam das Mordopfer Manfred Garzinger nicht besonders gut weg, doch soweit es die Beamten der Polizeiinspektion vor Ort in Erfahrung hatten bringen können, waren die Einwohner von Obergassen dennoch recht gut mit ihm ausgekommen. Niemand verlor ein böses Wort über ihn, und selbst wenn die Polizisten das angespannte Verhältnis zu seinen Eltern ansprachen, wichen die Nachbarn aus oder fanden sogar Entschuldigungen für sein Verhalten.

Marga Mecheler, die Tante des Toten, konnte von Hansen nur kurz befragt werden, bevor die Sanitäter darauf drangen, dass sie nach Hause durfte, um sich von dem Schock zu erholen. Demnach war Garzinger keiner geregelten Arbeit nachgegangen, eigentlich auch keiner ungeregelten – offenbar hatte er von Erspartem gelebt und von dem Geld, das die Lebensversicherung nach dem Tod der Eltern ausgezahlt hatte. Die Tante hatte ihn obendrein immer wieder finanziell unterstützt, hatte ihm die Wäsche gemacht, ihm Essen gebracht, für ihn eingekauft und den Haushalt so weit in Ordnung gehalten, wie ihr das neben ihren eigenen Verpflichtungen möglich war.

Vroni Schliers gab das Wort an Franz Kallmann weiter, der noch einmal die Vorgeschichte mit dem Tod der Eltern skizzierte und sich ein wenig über die positiven Äußerungen der Nachbarn über Garzinger wunderte.

„Ich hatte bisher nicht den Eindruck“, sagte er, „dass der Manfred mit den anderen Leuten in Obergassen besonders gut konnte – aber vielleicht spielt mir da auch nur meine eigene schlechte Meinung von ihm einen Streich.“

Resi hatte noch von Obergassen aus versucht, die Obduktion der Leiche für den Abend anzumelden – doch schnell war ihr deutlich gemacht worden, dass sie sich am Landgericht Kempten, an das sie erst vor einem Jahr gewechselt war, keine Freunde machen würde, wenn sie auf eine Obduktion noch im Lauf des Samstagabends bestünde. Nun war der Termin für Sonntag früh um zehn Uhr angesetzt, der Tote war über Nacht eingelagert, und Resi hatte deshalb Zeit, der Soko Obergassen persönlich zu beschreiben, was ihre erste Leichenschau ergeben hatte.

„Nach der Kerntemperatur des Toten zu urteilen, starb Manfred Garzinger heute zwischen vierzehn und fünfzehn Uhr. Frau Mecheler hat ihren Neffen gegen halb drei tot aufgefunden. Dazu passt auch alles, was ich vor Ort zum Fortschritt der Totenstarre und zum Ausprägungsgrad der Leichenflecken feststellen konnte. Sobald Sie also mit der Tante des Toten sprechen können, sollten Sie sie fragen, ob sie im Haus verdächtige Geräusche gehört hat – es könnte gut sein, dass der oder die Mörder noch im Gebäude waren, als Frau Mecheler den Leichnam entdeckte.“

„Todesursache?“, hakte die Staatsanwältin nach.

„Er ist erstickt. Garzinger wurde rote Farbe in den Mund geschüttet oder gespritzt, und er hat an den Händen Farbspritzer, die auf Abwehrbewegungen schließen lassen. Er wurde mindestens von einer weiteren Person festgehalten, oder er war gefesselt. Wir haben zwar bisher keinen Strick oder Ähnliches gefunden, aber der Bademantel sieht in der Gegend von Brust und Bauch so aus, als wäre er dort mit einem Strick gefesselt gewesen. An den Handgelenken hingegen sind mir keine Fesselungsspuren aufgefallen. Das werde ich mir morgen im Sektionssaal aber noch einmal genau ansehen, hoffentlich kann ich dann auch zu diesem Punkt mehr sagen.“

Ulf Kayserling übernahm. Er war als Chef der Kriminaltechnik Nachfolger von Vroni Schliers, seit diese zur Leiterin der Kemptener Kripo ernannt worden war.

„Der Fundort der Leiche war ziemlich sicher auch der Tatort. Darauf deuten die Farbspuren auf der Leiche und in der direkten Umgebung hin. Wobei die Farbe offenbar sehr gezielt in Garzingers Mund und Rachen eingebracht wurde. Ich tippe da auf eine Spritze oder Pumpe oder etwas in der Art, mit ausreichend großer Öffnung. Selbst wenn ein oder zwei Personen das Opfer von hinten fixiert hätten: In Todesangst hätte sich Garzinger trotzdem heftig genug bewegt, dass er für mehr Farbauftrag auf dem Sessel oder dem Fußboden gesorgt hätte, als wir vorgefunden haben.“

„Um was für eine Art Farbe handelt es sich?“, fragte Gudrun Labranz.

„Das wissen wir noch nicht, aber da ist ein Kollege dran.“

Auch sonst waren viele Fragen offen, und so chaotisch, wie es überall auf dem Garzinger-Hof aussah, würde sich auch die Spurensicherung noch eine ganze Weile hinziehen.

„Gut“, fasste die Staatsanwältin zusammen, „dann machen wir uns mal alle wieder an die Arbeit und treffen uns morgen um zehn wieder hier.“

Wir alle, dachte Willy Haffmeyer und verzog das Gesicht zu einer mürrischen Miene, als die Staatsanwältin sich verabschiedete und aus dem Raum eilte. Staatsanwalt müsste man sein …

„Immerhin hast du es nicht laut ausgesprochen“, raunte ihm Franz Kallmann zu, der sich neben ihn gestellt hatte.

„Was?“

„Na, deine Gedanken sind dir ins Gesicht geschrieben, aber immerhin hast du diesmal den Mund gehalten. Vielleicht wird das ja doch noch mal was mit dir als Kriminalobermeister.“

Lachend knuffte er den Kollegen in die Seite, dann gesellte er sich zu seinem Vorgesetzten, der unter den Beamten von der Polizeiinspektion die anstehenden Aufgaben verteilte.


Manfred Garzingers Tante hatte während der kurzen Befragung vor dem Haus ihres Neffen auch die samstägliche Schafkopfrunde im Sulzberger Hasen erwähnt und den Jungbauernstammtisch, der jeden zweiten Donnerstag im Jägerwinkel in Moosbach stattfand. Haffmeyer wollte sich noch einmal mit seinem Freund Kallmann besprechen und mit ihm zusammen im Jägerwinkel vorbeischauen – oder allein, falls Kallmann nicht konnte. Zu einem Besuch im Hasen, dessen Küche Haffmeyer ins Schwärmen brachte, erklärten sich Resi und Hansen nur zu gern bereit: Sie hatten seit ihrer Rückkehr aus Niedersachsen nur ein paar Kleinigkeiten gevespert. Und Hanna, die sie mit zurück nach Füssen nehmen wollten, hatte ohnehin immer Appetit – also kehrten sie vor der Heimfahrt in Sulzberg ein.

Das Gasthaus war gut besucht. An einem Tisch in der Ecke saßen vier Männer beim Kartenspiel. Drei davon hatten schon ein leicht gerötetes Gesicht, die halb geleerten Weißbiergläser vor ihnen waren wohl nicht ihre ersten. Der vierte Mann hatte allem Anschein nach am wenigsten Spaß am Spiel. Er trug einen weißen Kochkittel und warf immer wieder einen kurzen Blick zum Tresen, hinter dem eine schlanke Frau von Mitte fünfzig werkelte. Hansen sah sich noch einmal um, aber außer dem Quartett in der Ecke spielte niemand Karten, also trat er an den Tisch, flankiert von Hanna und Resi, und stellte sich den Männern vor.

„Jessas! Die Kripo?“

Der dickste der Kartenspieler, ein etwa vierzigjähriger Mann mit schweißglänzender Glatze, lachte, als hätte er einen tollen Witz gerissen.

„Kriegt ihr uns jetzt dran?“

Er deutete auf die Münzhäufchen in der Mitte des Tischs und vor jedem der Mitspieler.

„Nein, keine Sorge“, antwortete Hanna an Hansens Stelle, weil sie wusste, dass ihr Chef noch nie etwas Komplizierteres mit Karten angestellt hatte als Memory und Mau-Mau. „Schafkopf ist kein Glücksspiel im Sinne von Paragraf 284 StGB, ihr dürft also gerne weiterhin um Geld schafkopfen.“

„Na, Mädle, du hast ja Ahnung!“

Der Dicke musterte die füllige Beamtin aufmerksam, und es schien ihm zu gefallen, was er sah. Seine Kumpel lachten blöde, nur der Mann im Kochkittel warf Hansen, Hanna und Resi entschuldigende Blicke zu. Hansen bemerkte, wie es genervt um Hannas Mundwinkel zuckte, aber sonst hatte sich seine Mitarbeiterin gut im Griff.

„Sie sind die Schafkopfrunde von Manfred Garzinger, nehme ich an?“, fragte Hansen, um ihre Beherrschung nicht unnötig lange auf die Probe zu stellen, und während der Dicke Hanna weiter anglotzte, winkte einer der beiden anderen unleidig ab.

„Nicht mehr lange, wenn er so weitermacht, der Manni. Ich meine: Der versetzt uns und sagt keinen Ton, das geht doch nicht! Und wenn der Erwin hier“ – er nickte in Richtung des Mannes im Kochkittel – „nicht eingesprungen wäre, säßen wir schön blöd da. Zu dritt macht das keinen Spaß. Mit dem kurzen Blatt fang ich nix an, tut mir leid.“

Hansen war deutlich anzusehen, dass er kein Wort verstand.

„Erwin!“

Die Frau hinter dem Tresen stand neben ihnen und deutete auf zwei neu eingetroffene Gäste.

„Zweimal Rostbraten, einmal Kässpatzen“, raunte sie ihrem Mann zu und flitzte zum Ausschank. Der stand auf und sah abwechselnd zwischen den drei Spielern und der Kripobeamtin hin und her.

„Sagen Sie mal, Frau …“

„Fischer, Hanna Fischer.“

„Da Sie sich doch beim Schafkopfen auskennen – könnten Sie vielleicht für mich einspringen? Wenn ich mich jetzt nicht sofort an den Herd stelle, kann meine Frau recht ungemütlich werden. Hungernde Gäste, das geht gar nicht.“

Er grinste sie an.

„Ich weiß nicht recht.“ Zögernd sah sie Hansen an.

Der nickte nur knapp. Am Tisch war Platz genug für sie alle, und wenn sie beim Essen und Trinken die Spieler befragen konnten, wurden sie ja vielleicht redseliger.

„Gut, Chef“, sagte sie dann, und es blitzte unternehmungslustig in ihren Augen, „wenn du einverstanden bist, kartle ich ein bissel mit.“

Sie sah den Dicken streng und die anderen beiden Spieler fragend an.

„Und natürlich auch nur, wenn ihr nichts dagegen habt.“

Der Dicke lächelte sie schmierig an und tätschelte mit der rechten Hand das Sitzkissen, das der Wirt gerade freigemacht hatte. Hanna wartete, bis er seine Hand wieder weggenommen hatte, dann setzte sie sich, kramte einen zerschlissenen Geldbeutel hervor und legte ihn vor sich auf den Tisch.

„So, dass ich die Hanna bin, wisst ihr ja. Und wie heißt ihr?“

„Robbie“, dröhnte der Dicke.

„Klausi“, näselte der Mann, der sich vorhin darüber beschwert hatte, dass Manfred Garzinger sie hängen ließ. Er war ein untersetzter Typ von Mitte dreißig mit einer hohen Stirn, hinter der seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen nicht viel passierte.

„Und ich bin der Jogi“, antwortete der letzte mit ziemlich öliger Stimme.

Er hatte sich etwas vorgebeugt und seine Hand schnell auf Hannas Rechte gelegt. Nun sah er sie mit einem schleimigen Lächeln an, das aber sofort erstarb, als Hanna seinen Blick betont kühl erwiderte und eine Augenbraue hob. Er zog die Hand wieder zurück und hüstelte. Resi und Hansen, die inzwischen ebenfalls am Tisch Platz genommen hatten, grinsten sich wissend an. Noch einmal würde sich Jogi das vermutlich nicht trauen.

„Jetzt passt mal auf, Jungs“, sagte Hanna ruhig, während sie nach dem Kartenstapel griff und ihn dem Dicken hinschob. „Ich spiele mit euch Karten, und ich lass euch vielleicht auch mal gewinnen. Aber den anderen Mist lasst ihr bleiben, sonst gibt’s auf die Finger. Klar?“

Alle drei nickten beflissen und versicherten wie aus einem Mund: „Klar.“

Dann machte sich Robbie ans Mischen. Klausi und Jogi, die mit dem Rücken zum Fenster auf der Bank saßen, rückten ein bisschen voneinander ab und setzten sich etwas schräg, damit keiner dem anderen ins Blatt spickeln konnte. Robbie mischte mit seinen fleischigen Fingern erstaunlich flink, dann schob er Hanna den Kartenstapel hin und achtete darauf, ihre linke Hand, die nach dem Stapel griff, nicht zu berühren. Hanna hob etwa ein Drittel der Karten ab, legte die übrigen obenauf und schob den Stapel wieder zurück. Nun teilte Robbie jedem vier Karten zu, erst Klausi, dann Jogi, dann Hanna, dann sich selbst, und noch einmal jedem vier in derselben Reihenfolge. Damit waren die Karten ausgegeben, jeder sortierte, was er auf der Hand hatte, und prüfte, was sich damit machen ließe. Klausi winkte ab, Jogi meldete ein Rufspiel an, und Hanna und Robbie überboten ihn nicht.

„Gut“, sagte Jogi und überflog noch einmal die acht Karten, die er auf der Hand hatte. „Ich ruf die Eichel-Sau.“

„Hi, hi, Eichel …“, prustete Klausi.

„Schnauze, du Depp!“, zischte Robbie.

Jogi wurde ganz bleich und sah erschrocken zu Hanna hin, die aber nur ihr Blatt im Blick hatte.

„Oh, das wollte ich … äh … nicht … äh … also Eichel, ich … das Ass, und wer …“

„Können wir dann mal?“, beendete Hanna sein Gestammel. Jogi atmete hörbar auf und spielte die erste Karte aus.

Hansen war aus dem Hin und Her nicht schlau geworden, aber die Geschichte mit der „Eichel-Sau“ war ihm schon etwas anzüglich vorgekommen. Mit leiser Stimme erklärte ihm Resi, dass damit gewissermaßen eines der beiden Kreuz-Asse gemeint war, die ausgeteilt worden waren, und dass Jogi damit nur habe sagen wollen, dass er mit demjenigen am Tisch zusammenspielen werde, der dieses Ass auf der Hand habe. Ganz verstanden hatte es Hansen noch immer nicht, aber nun kam die Wirtin mit dem bestellten Radler. Hansen prostete Resi zu und beobachtete die vier Spieler. Allem Anschein nach machte Hanna ihre Sache ausgezeichnet, und weil sie auch diejenige war, die das Kreuz-Ass auf der Hand hatte, gewannen sie und Jogi haushoch. Ein paar Münzen wurden über den Tisch geschoben, dann mischte Jogi, Robbie hob ab, und alles ging von vorne los.

„Und seit wann kartelt ihr schon mit dem Manfred Garzinger hier im Hasen?“

Hanna schien ziemlich gut zu sein im Schafkopfen, ohne dafür besondere Anstrengung aufbringen zu müssen. Und so konnte sie dabei unauffällig mit ihren Mitspielern plaudern. Hansen ließ sie machen, und als die Wirtin zwei Teller mit dampfenden Kässpatzen vor ihn und Resi hinstellte, war er eh zu beschäftigt, um auch noch eine Befragung durchzuführen. Das musste warten, und bis dahin konnte Hanna den drei Männern ruhig noch locker auf den Zahn fühlen.

„Oh, bitte“, rief sie zwischendurch der Wirtin hinterher, „für mich dasselbe.“

Dann wandte sie sich auch schon wieder den Karten und den drei Mitspielern zu.

„Und? Wie lange schon?“, hakte sie nach, als ihre Mitspieler mit gerunzelter Stirn auf ihr Blatt schauten und noch keine Antwort gegeben hatten.

„Seit fast zehn Jahren“, sagte Robbie nach einer Weile und spielte dann seine nächste Karte aus. „Anfang Oktober haben wir Jubiläum. Eigentlich wollten wir da zu viert irgendwohin fliegen. Ich hab mir schon ein paar Prospekte schicken lassen. Malle, Ibiza oder Tunesien, das wären meine Favoriten. Manni war schon mal auf Ibiza, davon hat er ab und zu geschwärmt. Aber … na ja … scheint ganz so, als könnten wir uns das Zehnjährige in die Haare schmieren.“

Er lachte dröhnend und fuhr sich mit der linken Hand über die Glatze. Hansen hatte aufgehört zu kauen und sah den Dicken aufmerksam an. Wusste er, dass Manfred Garzinger tot war? Und falls ja, woher? Hatte sich das in den Dörfern rund um Obergassen bereits herumgesprochen?

„In die Haare schmieren? Warum das?“, fragte Hanna treuherzig, wobei sie Robbie nicht weniger genau musterte als ihr Chef.

„Na, wenn der Depp einfach wegbleibt und sich nicht einmal entschuldigt oder übers Handy Bescheid gibt – dann werden wir ihn diesmal wohl nicht mehr davonkommen lassen. Was meint ihr, Jungs?“

„Weiß nicht. Blöd wär’s schon“, maulte Klausi. „Ich hab’s nicht so dick mit der Kohle, und Manni meinte, dass seine Erbtante ein bisschen was zuschießen würde für unseren kleinen Männerausflug.“

„Schmeißen wir ihn halt nach dem Ausflug raus“, schlug Jogi vor und grinste ölig.

„Hat er euch denn schon häufiger versetzt?“, fasste Hanna nach.

„Ja, kam schon mal vor. Zweimal, dreimal, ich weiß gar nicht mehr so genau. Und vor zwei Jahren hatten wir mal verabredet, dass er uns von Kempten nach Hause fährt – und was war? Hat sich von dieser Nutte abfüllen lassen! Da haben wir ihn sturzbesoffen aus der Bar geschleppt und mussten ein Taxi nehmen.“

Hanna zog eine Braue hoch, und Jogi hob schnell entschuldigend die Hände.

„Sorry wegen der ›Nutte‹, aber so war’s halt, was soll ich machen? Ich meine: Wenn einer sagt, er fährt uns heim, dann sollte er nicht so viel saufen – stimmt’s oder hab ich recht?“

„So, so. Da geht ihr also ab und zu in die Stadt und mietet euch ein paar Frauen?“

„Wie das klingt!“

Jogi lächelte sie wieder an und zwinkerte ihr dabei zu, aber der verschwörerische Gesichtsausdruck misslang ihm völlig. Hanna ließ den Blick über die Hände der drei Freunde schweifen: Keiner von ihnen trug einen Ehering, aber die Haut an Jogis Ringfinger wies eine schmale helle Stelle auf.

„Frisch geschieden, was?“, sagte Hanna und deutete auf seine Hand.

Jogi besah sich den Finger und zog eine Schnute.

„Oh! Ich dachte nicht, dass man das sieht, mit dem Ring. Aber das müsste dich nicht stören, wenn du …“

Er sah Hanna in die Augen, aber die schüttelte nur missbilligend den Kopf.

„Ich kann mich nur für unseren Jogi entschuldigen“, mischte sich Robbie ein. „Anmachen sollte er dich nun wirklich nicht. Aber daran kannst du sehen, dass du mit deiner Vermutung nicht ganz falsch liegst – du bist nur etwas früh dran. Jogis Ehe ist nicht mehr so toll, die hält keine zwei Jahre mehr.“

„Das musst du gerade sagen!“, protestierte Jogi, aber der Dicke winkte nur ab.

„Natürlich ich! Wer sonst ist hier geschieden?“

Er beugte sich zu Hanna rüber.

„Ich bin seit drei Jahren wieder zu haben. War nix mit meiner Ehe. Sie wusste nicht zu schätzen, was sie an mir hatte.“

Er tätschelte sich den Bauch und grinste.

„Du kennst doch den Spruch: Wurstesser sind bessere Liebhaber, gell?“

„Ach, weißt du, Robbie“, versetzte Hanna kühl, „man muss auch nicht auf jeden Werbespruch reinfallen.“

Jogi prustete, und Klausi brauchte einen Moment, bis er begriff, dann lachte er meckernd mit. Robbie nickte anerkennend.

„Gut gekontert, Mädle. Du gefällst mir, auch wenn’s dir offenbar egal ist.“

Dann tippte er dem dünnen Klausi auf die Hühnerbrust.

„Der hier ist jedenfalls ledig. Und wohnt noch daheim bei den Eltern hier im Dorf. Jogi lebt mit Frau und Kindern in Schellenried – noch. Und ich hab mir eine Bude in Untergassen gemietet, nachdem mich meine Frau und ihre Anwältin ordentlich über den Tisch gezogen haben. Am Ende war mein schönes Haus natürlich ihres …“

Sie kartelten eine Weile weiter, dann brach Robbie das Schweigen erneut.

„Und warum willst du das alles wissen, Hanna?“

Sie wechselte einen schnellen Blick mit Hansen.

„Scheiße!“, sagte Robbie und legte die Karten mit dem Bild nach unten auf den Tisch. „Ihr seid von der Kripo, ihr fragt uns nach Manni aus, und Manni ist nicht zum Schafkopfen gekommen …“

Jogi wurde blass, und Klausi sah irritiert zwischen den anderen hin und her.

„Was ist mit Manni?“, fragte Robbie schließlich.

„Ihr Freund ist leider tot“, antwortete Hansen.

Robbie presste die Lippen aufeinander und stierte vor sich auf den Tisch, bevor er den Blick wieder hob.

„Und wie ist er gestorben?“

„Viel kann ich Ihnen noch nicht sagen, aber er wurde tot in seinem Arbeitszimmer aufgefunden.“

Robbie und die anderen beiden sahen sich einen Moment lang an, dann legten auch Jogi und Klausi ihre Karten ab.

„In seinem … Arbeitszimmer?“

„Ja“, sagte Hansen. „Warum betonen Sie das so seltsam?“

Klausi wollte antworten, aber Jogi legte ihm eine Hand auf den Arm und signalisierte ihm, dass er Robbie für sie drei reden lassen solle.

„Genau genommen hat Manni nichts gearbeitet“, erklärte der. „Seit Jahren schon nicht mehr. Er hat mal eine Lehre als Fotolaborant gemacht, drüben in Waltenhofen. Der Chef hat ihn auch übernommen, Manni war wohl ganz gut in seinem Job – aber dann musste der Laden schließen, und Manni hat sich nicht um eine neue Stelle gekümmert. Erst hat er sich von seinen Eltern durchfüttern lassen, und als die ein paar Jahre später gestorben sind, hat er ›den Hof übernommen‹.“

Robbie malte mit den Fingern Anführungsstriche in die Luft und grinste. Hansen blieb ernst.

„Wirklich gekümmert hat er sich um den Hof natürlich nicht. Die Gebäude und das ganze Grundstück sind ein richtiger Schandfleck für Obergassen. Manni hat alles verfallen lassen. Die Äcker hat er verpachtet, das Vieh hat er verkauft – und irgendwie hat er sich finanziell durchgewurschtelt, ohne dafür einen Finger krummmachen zu müssen.“

„War wirklich ein ziemlich fauler Strick, der Manni“, fügte Klausi hinzu.

Hanna war inzwischen mit dem Mischen dran. Sie ließ die Karten schnell durch die Finger gleiten, und als sie fertig war, schob sie den Stapel zu Jogi hin. Der tippte nur kurz auf die Karten, und Hanna teilte so flink aus, wie sie gemischt hatte.

„Und warum redet ihr so schlecht von eurem toten Freund?“, fragte sie nebenbei.

„Na ja, Freund ist vielleicht ein bisschen hoch gegriffen“, knurrte Robbie, während er die Karten aufnahm und sortierte. „Wir haben miteinander Schafkopf gespielt, wir sind ab und zu miteinander in die Stadt, wir haben gelegentlich ein Weißbier gezischt – mehr als Kumpel waren wir aber sicher nicht.“

Er sah die anderen beiden auffordernd an.

„Stimmt doch, Jungs, oder?“

„Stimmt“, gab ihm Jogi recht.

Klausi schaute etwas betrübt drein.

„Und du, Klausi?“, fragte ihn Hanna. „Warst du mit Manni befreundet?“

„Ich weiß nicht.“

Er sah unsicher zu Robbie, dann zuckte er mit den Schultern.

„Nein, oder … na ja, Robbie wird schon recht haben. Weißt du, Hanna, ich bin manchmal etwas langsam da oben.“ Er tippte sich gegen die Stirn und lächelte entschuldigend. „Robbie ist der Gscheiteste von uns dreien, dem widerspreche ich lieber nicht, aber …“

Er verstummte, und alle hatten ihre ersten beiden Karten ausgespielt, bis Hanna nachfasste.

„Aber?“

„Tja … wenn ich mit Manni nicht befreundet bin … äh … war … Und wenn auch die anderen nicht wirklich mit ihm befreundet waren … Und wenn wir alle vier eigentlich nur Kumpels und keine Freunde sind, dann …“

„Dann?“

„Hm … dann hab ich ja eigentlich gar keine Freunde.“

Sie spielten schweigend weiter. Klausi verlor, schob ein paar Münzen von sich weg, stand auf und klopfte ein paar Mal mit den Knöcheln auf die Tischplatte.

„Das war die letzte Runde für heute“, sagte er lahm und ging zum Tresen, um seine Rechnung zu bezahlen. Dann schlurfte er aus dem Gastraum und ließ die Tür hinter sich zufallen.

Jogi sah Robbie betreten an, der zuckte mit den Schultern.

„Unser kleiner Klausi kriegt sich schon wieder ein, keine Sorge. Der muss jetzt halt mal in Ruhe über das nachdenken, was er heute erfahren hat. Er hat ja selbst gesagt, dass er nicht der Schnellste im Denken ist.“

Er schaute zu Hansen und Resi hin, die inzwischen vor leeren Gläsern saßen.

„Bestellt’s euch doch noch was, und vielleicht kann die schöne Frau unsere Runde vervollständigen? Zu dritt macht’s nicht nur Klausi keinen Spaß.“

Hanna stand auf und sah missbilligend auf den Dicken hinunter. „Schön für euch, wenn ihr sonst keine Sorgen habt.“

Sie zahlten und gingen. Auf der Fahrt nach Füssen wurde im Wagen nicht viel geredet. Als Hansen den Wagen vor Hannas Wohnung in der Pappenheimstraße stoppte, blieb sie noch eine Weile sitzen, bevor sie mit einem Seufzen ausstieg. Sie wirkte sehr nachdenklich und sah traurig aus, während sie auf das Mietshaus zuging. Hansen und Resi sahen sich kurz an, dann ließ Resi das Fenster herunter.

„Hanna?“, rief sie Hansens Mitarbeiterin hinterher.

„Hm?“

Hanna drehte sich um, den Hausschlüssel schon in der Hand.

„Wenn dein Freund Thomas wieder zurück ist vom Lehrgang, gehen wir mal zu fünft was essen, okay? Der Willy kennt sicher ein tolles Lokal, und da hauen wir uns ordentlich den Bauch voll und quatschen mal richtig lange über alles Mögliche.“

Ein Lächeln legte sich auf Hannas rundliches Gesicht, und sie nickte.

„Das machen wir. Und einer der Männer fährt uns heim.“

Sie wirkte nicht mehr ganz so niedergeschlagen, während sie im Haus verschwand. Hansen machte sich auf den Weg zu seinem Bauernhaus nördlich der Stadt. Resi lehnte sich im Beifahrersitz zurück, dann streichelte sie über Hansens rechten Arm.

„An diesen drei Trotteln in Sulzberg kannst du mal sehen“, sagte sie, „wie wichtig Freundschaften sind.“

Hansen schwieg. Erst als er den Wagen vor dem Haus abgestellt hatte, gab er Resi mit einem langen Kuss recht.


„Sollen wir dem Klausi nicht hinterher?“

Jogi hatte sein letztes Bier getrunken und wischte sich die Lippen mit dem Handrücken ab.

„Schmarrn“, raunzte Robbie ihn an. „Der kriegt sich wieder ein. Und ich fahr jetzt heim. Mir reicht’s für heute.“

Er kippte den letzten Rest Weißbier hinunter, legte einen Schein auf den Tresen, griff sich noch eine Laugenstange und verabschiedete sich mit einem Winken von den Wirtsleuten, die sich gerade in der Tür zur Küche unterhielten.

„Sag mal, Erwin“, flüsterte die Wirtin ihrem Mann zu, „du lässt den Dicken jetzt aber nicht nach Hause fahren, oder? Nach all dem Bier?“

„Robbie“, rief der Wirt seinem Gast pflichtschuldig nach, doch der ging weiter, ohne sich um den Wirt zu kümmern. „Siehst du, Charlotte, der Robbie hat noch nie auf mich gehört.“

Damit verschwand er wieder in der Küche, und als Jogi am Tresen vorbeischlenderte und ebenfalls einen Schein hinterließ, schüttelte Charlotte Bürger nur den Kopf und kümmerte sich um ihre anderen Gäste.

Jogi kraxelte etwas umständlich in sein rostiges Golf Cabrio. Bevor er den Parkplatz des Gasthauses verließ, hatte er den Motor zweimal abgewürgt. Selbst beim dritten Mal ließ er die Kupplung so ruppig kommen, dass der Wagen nur ruckelnd in Fahrt kam und schließlich auf der Straße in Richtung Schellenried davonrumpelte.

Robbie hatte alles vom Fahrersitz seines protzigen SUV beobachtet. Grinsend verfolgte er Jogis holprige Abfahrt, während er sich die Laugenstange schmecken ließ. Das sollte die Bierfahne halbwegs überdecken, und zur Sicherheit ließ er auch noch die beiden vorderen Scheiben herunter. Robbie vertrug eine Menge, und das Fahren mit zu viel Bier und Schnaps im Blut war er seit seiner Scheidung einigermaßen gewohnt.

Kurz dachte er nach, was er mit dem angebrochenen Samstagabend machen sollte, dann drehte er den Zündschlüssel, legte den Gang ein und fuhr vom Parkplatz. Als er das Sulzberger Ortsschild passierte, hatte ihn der Fahrtwind schon leidlich wach gepustet, und in Moosbach war er schon wieder so fit, dass er einem Bekannten auf dem Bürgersteig zuwinken konnte.

Kurz darauf, als er die ersten Häuser von Untergassen schon vor sich sehen konnte, hatte er die Abzweigung nach Obergassen erreicht, die von Westen her ins Dorf führte. Er bremste ab, zögerte und fuhr dann doch geradeaus weiter. In Untergassen überlegte er es sich noch einmal anders, fuhr ohne anzuhalten durch den Ort und wieder hinaus und kam schließlich von Osten her nach Obergassen hinein.

Bei Tageslicht hatte er die Straße in den vergangenen drei Jahren nur selten gesehen. Seit der Scheidung fuhr er hier am liebsten nachts entlang, wenn ihn niemand beobachten konnte. Jetzt war es noch hell, aber Doris werkelte ja vermutlich nicht ausgerechnet am Samstagabend im Vorgarten. Robbie sah auf die Uhr. Vermutlich lümmelte sie auf dem Sofa und glotzte eine ihrer depperten Liebesschnulzen. Und womöglich war dieser Typ wieder bei ihr, dessen Limousine er die vorigen Male mitten in der Nacht vor dem Haus hatte stehen sehen.

Der Gedanke versetzte ihm einen Stich, und Robbie ärgerte sich darüber, dass ihm das auch drei Jahre nach der Scheidung noch immer so zusetzte. Langsam ließ er seinen SUV an den ersten Gebäuden von Obergassen vorüberrollen. Die Luft schien rein. Links das schmucke Haus von Sandra Röhrich – die smarte Anwältin hatte seine Exfrau während der Scheidung bestens vertreten, und es war ihm nur ein schwacher Trost, dass auch ihr Privatleben ein Scherbenhaufen und sie mit der Erziehung ihres Sohnes Maxi völlig überfordert war.

Rechts, schräg gegenüber, befand sich sein früheres Zuhause: ein schönes Einfamilienhaus mit gepflegtem Garten, das er gern etwas protziger gebaut hätte – aber auch in der Form, die Doris schließlich abgenickt hatte, machte das Gebäude etwas her. Es war nicht das größte und eleganteste Haus in Obergassen, wie er es sich erträumt hatte, aber es konnte sich sehen lassen. Robbie schaute in die Garageneinfahrt, wo immer sein SUV gestanden hatte. Sie war leer. Wenigstens war dieser Typ nicht da. Dass auch Doris nicht daheim war, ließ sich anhand der Rollläden erkennen: Diese waren immer zur Hälfte heruntergelassen, wenn sie über Nacht weg war.

Auf der Straße und den umliegenden Grundstücken war niemand zu sehen, und für einen Augenblick erwog Robbie, wieder einmal auf die Garageneinfahrt zu fahren, vielleicht sogar den Motor abzustellen und sich mit geschlossenen Augen in die Zeit vor der Scheidung zurückzuträumen. Das hatte er schon einmal gemacht, doch es hatte sich herausgestellt, dass Doris kurz nach dem Gerichtstermin im Garten Bewegungsmelder hatte anbringen lassen. Als damals um kurz nach zwei in der Nacht plötzlich gleißendes Licht rund ums Haus aufgeblitzt war, hatte er sich beeilt, zu wenden und mit dem Wagen in Richtung Ortsende davonzuschießen.

Jetzt, bei Tag, würden die Bewegungsmelder nicht ansprechen, und wenn Doris nicht da war … Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung im Haus gegenüber. Hinter dem Fenster des Kinderzimmers war ein Schatten zu sehen, vermutlich beobachtete ihn der Junge. Maxi tat ihm leid. Robbie hatte selbst keine Kinder, und der Nachbarsjunge entsprach so ziemlich dem, was er sich als Sohn gewünscht hätte. Doch das nette Plaudern, das Mitnehmen im Wagen, wenn der Kleine den Bus verpasst hatte, das spendierte Eis und die heimlich zugesteckten Süßigkeiten – all das hatte ein abruptes Ende gefunden, als Maxis Mutter das Mandat übernahm, Doris in den Scheidungsverhandlungen zu beraten.

Sandra Röhrich war eher mit seiner Frau als mit ihm befreundet gewesen, aber dass sie ihr half, ihn regelrecht über den Tisch zu ziehen, das nahm er ihr übel. Und sie entpuppte sich als skrupellos, wenn es um ihren Job ging. Einmal hatte sie ihm sogar unter vier Augen damit gedroht, seine – übrigens völlig harmlosen – Kontakte zu ihrem Sohn Maxi für ihn auf sehr unappetitliche Weise im Rahmen der Scheidung zu thematisieren. Also hatte er selbst in die ungünstigsten Vereinbarungen eingewilligt, hatte Doris viel mehr überlassen als geplant – und hatte sich hinterher grün und blau geärgert, dass er sich nicht ebenfalls einen Anwalt genommen hatte.

Robbie gab wieder Gas, schaltete hoch und sah kurz darauf den Garzinger-Hof vor sich, in seiner heruntergekommenen Schäbigkeit. Wie hatte er nur auf Manni hören können!

„Wenn du dir gegen deine Frau einen Anwalt nimmst“, hatte der ihm in den Ohren gelegen, „dann kannst du dir die Versöhnung, von der du insgeheim noch träumst, vollends aus dem Kopf schlagen.“

Er hatte Mannis Warnung beherzigt, er hatte alles verloren, und an eine Versöhnung war trotzdem nicht zu denken. Seither war er den Verdacht nicht losgeworden, dass ihn sein Schafkopfkumpel ordentlich reingelegt hatte: Was, wenn Doris ihn gebeten hatte, ihm den Anwalt auszureden? Was, wenn er ihr den Gefallen getan hatte, weil die beiden heimlich miteinander …? Dass so etwas im Dorf getuschelt wurde, dass ihm manche Männer in Obergassen nur noch ein mitleidiges Lächeln entgegenbrachten, wenn er ihnen begegnete – das hatte ihm erst nach und nach zu schaffen gemacht.

Am Anfang tat er es noch als das übliche Gewäsch ab, wie es über alles und jeden im Ort kursierte. Doch an jedem Abend, den er allein in seiner kleinen Bude in Untergassen hockte, wurde die Frage drängender, ob die Gerüchte nicht womöglich doch einen wahren Kern hatten. Immer misstrauischer wurde er, immer wütender auf sich und Doris und Manni und viele andere, während er sich durch die Fotogalerie auf seinem Smartphone wischte, mit Doris im Bikini und Doris im schwarzen Kleid und Doris im Konzert, im Ballett, vor der Freilichtbühne und im Festzelt – immer strahlend, immer schön, immer begehrenswert, und immer die Frau, die er seit ihrer Jugendzeit an seiner Seite haben wollte.

Natürlich hätte er ihr treu sein sollen, aber wenn sie ihn doch eh nicht mehr ranließ? Wenn er doch selbst von mindestens drei Männern wusste, mit denen sie ins Bett gegangen war? Oder womöglich von vier Männern, wenn Manni wirklich einer von ihnen war …

Robbie schluckte und sah finster zu Mannis Hof hinüber. Langsam rollte sein SUV an der Polizeiabsperrung vorbei. Ein paar Meter entfernt stand ein Streifenwagen. Die Beamten achteten darauf, dass niemand das Garzinger-Grundstück betrat. Er sah geradeaus und fuhr an ihnen vorbei. Der Polizist hinter dem Steuer bedachte ihn mit einem prüfenden Blick, aber Robbie hatte sich so gut im Griff, dass er nicht als Betrunkener auffiel. Also kam er ungeschoren wieder aus dem Dorf heraus, trat hinter dem Ortsschild das Gaspedal durch und röhrte wenig später durch Untergassen, bremste den Wagen vor einem etwas mitgenommenen Mehrfamilienhaus ab, stieg aus und eilte in seine kleine Dachwohnung.

Hier verleibte er sich den Rest der Whiskeyflasche ein, aß einen Kanten Brot dazu und stellte sich schließlich mit einer Zigarette ans offene Fenster des kleinen Badezimmers. Der Blick ging nach hinten raus, über eine Scheune und einen asphaltierten Hof, über Wiesen und Wäldchen, zum Rottachsee hinüber, zur Autobahn und – ganz hinten – zu den Alpen.

Doch dieses eindrucksvolle Panorama sah er bald nur noch unscharf. Ab und zu wischte er sich die Tränen ab, die ihm über die Wangen liefen.


Robbie Fleischlen schlief schlecht in dieser Nacht. Und er war nicht der Einzige.

Maximilian Röhrich weinte bis kurz nach zehn. Erst tat ihm sein früherer Nachbar leid, der noch immer heimlich zu dem Haus fuhr, in dem er einmal gewohnt hatte. Dann dachte er an seine Mutter, die drüben im Wohnzimmer saß und den Fernseher laut gedreht hatte, um ihm nach dem Streit beim Abendessen zu signalisieren, dass sie nicht mit ihm reden wollte. Und dann fiel ihm alles wieder ein. Die viel zu kurze Zeit mit seinem Vater, die ewigen Meckereien seiner Mutter, die fast väterliche Freundschaft mit dem dicken Robbie, die so plötzlich und ohne Erklärung abgebrochen und in kühle Begrüßungen im Vorüberfahren umgeschwenkt war. Dinge, die man nicht verstand, schmerzten mehr als alles andere.

Auch Sandra Röhrich ging es elend. Die ständigen Auseinandersetzungen mit ihrem aufmüpfigen Sohn gingen ihr an die Substanz. Ebenso wie die meist vergeblichen Versuche, den ausstehenden Unterhalt von Maximilians Vater endlich ausbezahlt zu bekommen – nicht, weil sie es finanziell gebraucht hätte, sondern eher, um dieses Windei nicht auch noch damit davonkommen zu lassen. Und Doris Hack, geschiedene Fleischlen, hatte sie als Freundin offenbar auch verloren. Erst hatte sie sich für Doris ins Zeug gelegt, hatte deren Mann ordentlich Feuer unterm fetten Hintern gemacht und für die Nachbarin mehr herausgeholt, als sie jemals für möglich gehalten hätte. Doch kaum dass die Scheidung amtlich war, hatte Doris sie immer deutlicher auf Abstand gehalten, hatte von keinem der Zukunftsträume etwas wissen wollen, die sie sich zuvor gemeinsam ausgemalt hatten. Inzwischen hatte sie so gut wie nie Zeit für sie. Wenige Wochen nach der Scheidung hatte sie sich diesen Typen mit seiner teuren Limousine ins Haus geholt und ließ sich von ihm ausführen oder blieb über Nacht bei ihm, wie heute wohl wieder. Und sie selbst konnte sehen, wo sie blieb mit ihrem ungezogenen Rotzbuben und ihrer Sorge darum, ob Doris auch wirklich alles für sich behielt, was sie ihr gebeichtet hatte.

Auch andere in Obergassen lagen wach und dachten über das nach, was am Tag passiert war und was sich daraus an Gutem oder Schlechtem ergeben mochte. Bis kurz vor Mitternacht schlief der alte Helmfried am besten von allen. Er träumte von Manfred Garzingers Tante und von ihrem prallen Hinterteil. Er sah sich als junger Mann zwischen leicht bekleideten Mädchen über Wiesen springen und in Heuschobern verschwinden. Sein zahnloser Mund verzog sich immer wieder zu einem breiten Lächeln, bevor seine Augen unter den geschlossenen Lidern immer wilder zu zucken begannen. Er atmete röchelnd und musste husten, bevor er schließlich hektisch herumrollte, den hageren Oberkörper auf die knochigen Unterarme stützte und hechelnd nach Luft schnappte.

Mühsam richtete er sich auf und rieb sich die Augen. Er schloss die Lider, öffnete sie wieder, blinzelte ein paarmal und sah sich im dunklen Zimmer um, als müsse er erst noch überlegen, wo er sich eigentlich befand. Müde schlurfte er zur Toilette und kurz darauf ins Schlafzimmer zurück. Er kroch erneut unter die Bettdecke und schloss die Augen. Sofort waren die Bilder wieder da. Leider waren es keine Bilder von hüpfenden Mädchen und blühenden Wiesen, und auch keine von Marga Mechelers Hinterteil.

Eine halbe Stunde später gab er auf, setzte sich mit einem Glas Bier an den Küchentisch und dachte nach. Sein Haus lag nach wie vor im Dunkeln. Er hatte kein Licht gemacht, wozu auch? Helmfried Mäckl lebte schon immer in diesem beinahe baufälligen Gemäuer und wusste auch so, wo sich die alten Dielen zu Stolperfallen aufbogen und wo die abgewetzten Teppiche Falten warfen. Und nun konnte er vom Esstisch aus gut auf die Dorfstraße hinausschauen, ohne selbst gesehen zu werden.

Ganz so wie heute Mittag, als er gesehen hatte, wer in Manfred Garzingers Wohnhaus hineingegangen und wer wieder herausgekommen war. Er ließ seine dürren Finger knacken, trank das Bier leer, schenkte sich nach und kam doch bis zum Morgengrauen nicht zu einer Entscheidung, was er mit seinem Wissen denn nun anfangen sollte.

Jürgen Seibold

Über Jürgen Seibold

Biografie

Jürgen Seibold, geboren 1960 in Stuttgart, arbeitete als Redakteur und freier Journalist. 1989 veröffentlichte der SPIEGEL-Bestsellerautor seine erste Musikerbiografie. Es folgten weitere Sachbücher, Theaterstücke, Thriller, Komödien und Kriminalromane. Mit seiner Familie lebt Jürgen Seibold im...

Kommentare zum Buch
Geheimnisse die eine Dorfidylle ins Wanken bringt
claudi-1963 am 30.01.2017

Eine Mauer des Schweigens liegt auf dem malerischen Dorf Obergassen, den diese nehmen ihre Belange lieber selbst in die Hände. Im malerischen Allgäu mit seinen grünen Wiesen, den grasenden Kühen und dem herrlichen Käse, da ereignet sich in dem kleinen Dorf Obergassen ein Mord. Marga Mecheler, die Tante findet ihren Neffen Manfred tot in seinem Haus vor. Über und über mit roter Farbe saß er in seinem Lehnsessel und diese Farbe ist auch die Todesursache. Seine Tante ist geschockt, auch wenn Manfred nicht gerade beliebt war, so hatte er das doch nicht verdient. Eike Hansen muss mal wieder ermitteln, Unterstützung bekommen sie von den Kollegen Willy Haffmeyer und Hanna Fischer. Doch die Recherchen gestalten sich nicht so einfach, das Dorf entpuppt sich als eine Gemeinschaft von Leuten die nichts sehen, hören und reden wollen. Lediglich das Manfreds Hof ein Schandfleck, er faul und ein Taugenichts war. Als sich jedoch die Ermittlungen immer mehr in Richtung Paintball spielen führen, kommen die Beamten der Spur immer näher.   Meine Meinung: "Schandfleck" ist der fünfte Fall des Ermittlerteams um Eike Hansen. Der Mann aus dem hohen Norden, der es am Anfang schwer hatte im Allgäu, hat inzwischen mit Resi sein Glück gefunden und auch die Kollegen kommen super mit ihm klar. Ein Regionalkrimi, der mir mal wieder ein Stück Urlaubsflair ins Wohnzimmer zauberte, fesselte mich so, so das ich das Buch recht schnell durchgelesen hatte. Die unheimlich gute Schreibweise von Jürgen Seibold hat es wie immer geschafft mich zu begeistern, nicht umsonst gehört er zu meinen Lieblingsautoren. Inzwischen gehört er ja schon zu den Profis in Sachen gute Krimis. Das ruhige, fast familiäre Ermittlerteam gefällt mir besonders gut. Und die kleinen privaten Einlagen, bei denen auch Kater Ignaz immer eine kleine Rolle abbekommt, ist einfach zu köstlich. Natürlich darf auch der Humor bei einem Regionalkrimi nicht zu kurz kommen und der ist beim Autor garantiert. Das Cover passend gut zu den anderen Bänden und gibt einem Einblick auf die Umgebung des Allgäus. Ein Muss für alle Krimileser und von mir verdiente 5 von 5 Sterne.

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