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Musik ist alles und alles ist MusikMusik ist alles und alles ist Musik

Musik ist alles und alles ist Musik

Daniel Barenboim
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Erinnerungen und Einsichten

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Musik ist alles und alles ist Musik — Inhalt

„Leben und Musik sind für Daniel Barenboim eine untrennbare Einheit.“

NDR 1 „Kulturspiegel“

Musik bringt Menschen zusammen, schafft Beziehungen und verleiht ihnen Bedeutung – Daniel Barenboim hat es in seiner langen Karriere wie kaum ein zweiter Künstler verstanden, die gesellschaftliche Dimension der Musik herauszustellen. In diesem Buch erzählt er von der Macht der Musik als schöpferischer Akt, als sinnliches Vergnügen, als friedenstiftende Kraft. Gedanken und Reflexionen eines großen Künstlers von Weltrang — weit über die Sphäre der Musik hinaus.

€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 10.08.2015
Übersetzt von: Christiane Landgrebe
144 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-30716-1
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 17.02.2014
Übersetzt von: Christiane Landgrebe
144 Seiten, WMePub
EAN 978-3-8270-7703-5
Download Cover

Leseprobe zu „Musik ist alles und alles ist Musik“

Ethik und Ästhetik




Wenn ich mich heute zwei so wichtigen Themen zuwende, dann nicht etwa, weil ich mich in einem Elfenbeinturm verschanzen und die täglichen Probleme menschlicher Existenz vergessen will, ganz im Gegenteil: Ich tue es gerade, weil diese beiden Themen für mich immer von größter Wichtigkeit waren, nicht nur beim Musizieren oder Nachdenken über Musik, sondern auch in verschiedenen anderen Lebensbereichen. Ich möchte mich mit der in unserer Gesellschaft stets größer werdenden Kluft beschäftigen, die zwischen künstlerischer Reflexion und dem [...]

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Ethik und Ästhetik




Wenn ich mich heute zwei so wichtigen Themen zuwende, dann nicht etwa, weil ich mich in einem Elfenbeinturm verschanzen und die täglichen Probleme menschlicher Existenz vergessen will, ganz im Gegenteil: Ich tue es gerade, weil diese beiden Themen für mich immer von größter Wichtigkeit waren, nicht nur beim Musizieren oder Nachdenken über Musik, sondern auch in verschiedenen anderen Lebensbereichen. Ich möchte mich mit der in unserer Gesellschaft stets größer werdenden Kluft beschäftigen, die zwischen künstlerischer Reflexion und dem Nachdenken über die Realität entstanden ist, und der Frage nachgehen, wie man sie überwinden kann.
Das 20. Jahrhundert hat es geschafft, das Wissen zu vereinnahmen und zu parzellieren, anders ausgedrückt, die Spezialisierung hat einen Siegeszug errungen. Ich beschreibe dieses Phänomen gern als Absicht, immer kleinere Phänomene besser und besser zu verstehen: die tödliche Kombination von immer mehr Detailwissen, angewandt auf eine immer enger werdende Welt. Die Spezialisierung schenkt uns zwar in Wissenschaft, Medizin und Technologie wunderbare Ergebnisse, zugleich aber führt sie zu einer Trennung von Ideen und Fakten, die eigentlich zusammengehören. Das klarste Beispiel dafür findet sich im Bereich der Medizin. Oft liegt die Ursache einer Krankheit in einem ganz anderen Teil des Körpers als dem, der gerade untersucht worden ist.
Von der Musik habe ich das Gegenteil gelernt, nämlich wie wichtig es ist, verschiedene Ideen und Bereiche des Denkens zusammenzubringen. Ein Musikstück ist ein orga­nisches Ganzes, in dem sich jeder Aspekt auf einen anderen bezieht. Musik kann in ihren konstitutiven Elementen nicht zerstückelt werden; eine Melodie ohne Rhythmus kann es nicht geben, ebenso wenig eine Melodie ohne Harmonie, eine Harmonie ohne Rhythmus und so weiter. Das eigentliche Wesen der Musik ist der Kontrapunkt. Ein Thema spricht mit seinem Gegenstück und wird gleichzeitig kommentiert. Wenn sich beim Musizieren ein Element vom anderen löst, verkümmert automatisch die Idee eines Ganzen. Sobald diese Gemeinsamkeit verloren geht, kann man ein Stück nicht mehr als Musik im eigentlichen Sinn betrachten. Es können dann noch interessante oder sogar schöne musikalische Augenblicke entstehen, aber einem als ein Ganzes verstandenem Werk mangelt es an Zusammenhalt, Vollständigkeit und der gegenseitigen Durchdringung aller Elemente, die aus Musik einen wichtigen und bedeutsamen Ausdruck menschlicher Existenz machen.
Meisterwerke vorzutragen ist eine Lebensaufgabe, und dazu gehört die Verantwortung, ich möchte fast sagen die moralische Verpflichtung, sich dem Werk mit voller Hingabe zu widmen. Es mag absurd erscheinen, von einer Ethik des Musizierens zu sprechen oder sogar von einer Ethik künstlerischen Schaffens. Schließlich sind wir es gewohnt, das Wort „Ethik“ vor allem im Bereich der Menschenrechte, der medizinischen Forschung oder der Philosophie zu verwenden. In der Welt der Medizin gibt es zweifellos Dinge, die in den Bereich der Ethik gehören, wie etwa Euthanasie oder Stammzellenforschung. So mag es kühn oder gar lächerlich erscheinen, sich vorzustellen, dass es auch bei der Aufführung einer Sinfonie von Mozart oder bei der Komposition eines neuen Werkes ethische oder unethische Aspekte geben kann.
Schwer vorstellbar, dass ein Zuhörer sagt, die Ausführung eines Werks sei ein „Irrtum“, wie man es beispielsweise im Bereich der Politik von der Entscheidung, einen Krieg zu führen, sagen könnte. Der Vergleich ist natürlich nicht haltbar. Und doch haben Interpreten gegenüber einem Werk, dem sie sich widmen, eine bestimmte moralische Verpflichtung. Man spricht oft von explosiver „musikalischer Persönlichkeit“, und dies ist unleugbar ein wichtiger Aspekt eines Künstlers. Aber oft wird übersehen, dass die erste Pflicht eines jeden Interpreten darin besteht, ein Werk mit Aufrichtigkeit und Hingabe neu zu erschaffen, und nicht etwa, die eigene Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Gewiss ist es von grundlegender Bedeutung, dass ein Musiker eine Persönlichkeit hat. Wer zum Vermittler wird, wer ein Musikstück zum Leben erwecken will, muss eine eigene Auffassung davon haben. Es gibt einen schmalen Grat zwischen voller Hingabe an ein Werk auf der einen und der Selbstaufgabe auf der anderen Seite, wobei Letztere leicht durch eine übertriebene oder allzu dogmatische Treue zum Text entsteht. Eine Partitur ist im Grunde noch keine Musik; die Partitur besteht aus schwarzen Zeichen auf weißem Papier und erwacht erst zum Leben, wenn eine Person oder mehrere sich daranmachen, sie zu spielen. Der Interpret ist das einzige wesentliche Element eines Musikstücks, das nicht auf der gedruckten Seite steht und ohne das Musik nicht Musik sein kann. Dass nur ein menschliches Wesen Musik auf zufriedenstellende Weise ausführen kann, ist so selbstverständlich, dass es niemand leugnen kann, doch was dies im Einzelnen bedeutet, wird oft nicht verstanden. Der Gedanke, dass manche unserer „menschlichsten“ und damit im Hinblick auf die Musik subjektiven Instinkte zugunsten der Musik geleugnet oder sublimiert werden könnten, ist faszinierend. Doch in der Musik ist Selbstverleugnung kein positiver Zug; sie ist ebenso wenig zu preisen wie eine arrogante Haltung, bei der man sein eigenes Ego und die eigenen Ideen über den musikalischen Gehalt eines Werks stellt. Wie bei vielen anderen Lebensumständen muss auch hier das richtige Gleichgewicht gefunden werden.
Was wird verlangt? Was ist erlaubt? Was ist logisch? Wie viel Freiheit habe ich? Was wollte der Komponist? Diese Fragen stellt sich ein Musiker Tag für Tag.
Als Interpret von Musik aus vier Jahrhunderten suche ich ständig in den Partituren nach Antworten, die mir die inzwischen verstorbenen Komponisten nicht mehr geben können. Wenn ich das Werk eines noch lebenden Komponisten studiere, wende ich paradoxerweise dieselbe Methode der Analyse an und beginne den gleichen inneren Dialog. Der Unterschied zwischen dem Studium eines berühmten Meisterwerks eines verstorbenen Komponisten und dem eines noch lebenden Musikers liegt in der Schwierigkeit, den notwendigen Grad der Vertrautheit mit dem neuen Werk zu erreichen. Bei der Annäherung an ein Meisterwerk, das man wie im Schlaf beherrscht, muss man hingegen die Kunst verstehen, sich die Frische der ersten Begegnung zu bewahren. Eine Partitur zu lesen ist ein extrem komplexer und anregender Vorgang, der keine schnellen oder endgültigen Lösungen zulässt. Die Partitur eines großen Werkes enthält zahlreiche „Lösungen“. Viele Interpreten haben ihre eigenen Ansichten, und jeder einzelne ist in der Lage, mehr als eine Lösung zu finden. Die Überzeugung, man habe die richtige Art und Weise entdeckt, wie ein Stück zu spielen sei, ist höchst irrig, denn keine Darbietung gleicht einer anderen. Die „Lösung“ von gestern, heute oder morgen kann sich als falsch erweisen, einfach weil sich die Parameter verschoben haben. Die Akustik eines Saals ist anders, der körperliche und seelische Zustand von demjenigen, der spielt, ist nicht derselbe, der Grad der Feuchtigkeit der Luft ist anders und so weiter. Eine Live-Aufführung ist ein im Leben unwiederholbarer Moment. Sobald ich versuche, das, was mir gestern richtig erschien, zu wiederholen, erlebe ich die Musik nicht in der Wirklichkeit von heute, ja ich erlebe sie nicht, sondern manipuliere sie. Wenn eine Aufführung manipuliert wird, um einen bestimmten Effekt zu erreichen, ist sie nicht mehr echt und folglich nicht mehr ethisch.
Was bedeutet es, im Bereich der Musik authentisch zu sein? Wenn man mit jemandem redet, ist es nicht schwer festzustellen, ob unser Gesprächspartner authentisch ist oder nicht. In der Musik jedoch ist dies weniger offensichtlich oder eher subjektiv. Wie kommt es, dass man einen für die musikalische Ausdrucksfähigkeit so grundsätzlichen und wesentlichen Faktor nur so schwer definieren kann? Ich spiele bestimmte Stücke schon seit sechzig Jahren, doch sie werfen deshalb nicht weniger Fragen auf. Immer wieder neue Fragen zu stellen ist eine wichtige Voraussetzung für Authentizität von Musik.
Aufrichtigkeit bei der Wiedergabe von Musik erreicht man nur dann, wenn man sorgfältig alles vermeidet, was überflüssig, unpassend, selbstbeweihräuchernd oder manipulativ ist. Es ist ein Prozess, der ein ganzes Leben dauert. Große Künstler müssen die Gabe einer genauen Selbstprüfung besitzen, um sich mit neuem Wissen zu wappnen, ihre Intuition zu verfeinern, die eigenen Schwachpunkte herauszufinden und zu verbessern. Aufrichtigkeit beim Spielen von Musik ist unmöglich ohne die tägliche Suche und immer tiefere Erforschung des Wesens eines Musikstücks. Wenn es mir gelingt, mich dem Spiel hinzugeben, zu improvisieren und einer vorher nie betretenen Spur zu folgen, dann nicht nur dank spontaner Intuition. Anders ausgedrückt: Diese spontane Intuition fällt nicht vom Himmel. Sie ist das Resultat intensiven Werkstudiums, unzähliger Proben und Versuche, und auch mein Selbstverständnis als Interpret spielt dabei eine entscheidende Rolle. Wenn ich mir Spontaneität erlaube, ohne eine Partitur genauestens studiert zu haben, dann weiche ich vom Inhalt der Partitur möglicherweise zu sehr ab. Es ist einfach und mag Vergnügen bereiten, spontan zu sein ohne tiefere Kenntnis einer Partitur und ohne Wissen um die eigenen Vorlieben, doch das Ergebnis hat kaum etwas mit authentischem Musizieren zu tun.
Ein Künstler muss eine genaue Kenntnis seiner selbst und der Materie haben, der er sein Leben widmet, doch einfach ist das keineswegs. Sogar ein großer Künstler wie Claudio Arrau hatte das Bedürfnis, sich einer Psychotherapie zu unterziehen, um sich von dem Wunsch zu befreien, anderen zu gefallen.
Dies bringt mich dazu, über ein weiteres mögliches Hindernis auf dem Weg zu einer Ethik musikalischer Darbietung nachzudenken: die Beziehung zum Publikum. Wilhelm Furtwängler sprach vom Publikum als von einer Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft kann auf den Interpreten verschiedene Wirkungen haben: Im besten Fall zieht er Energie aus der Tatsache, dass er zusammen mit dem Publikum Zeuge ist, wie ein Musikstück zum Leben erweckt wird. In einem gewissen Sinn erleben sie beide das Stück gemeinsam. Das andere Extrem ist, dass der Künstler nervös wird und aus plötzlicher Angst heraus einen falschen Ton spielt oder Gedächtnislücken hat. Es gibt eine einzige Waffe, mit der man Lampenfieber bekämpfen kann, und das ist besseres Wissen: genaue Kenntnis der Technik, mit der Instrumente gespielt werden, das Wissen darum, wie ein Stück aufgebaut ist, und Vertrautheit mit den uns zur Verfügung stehenden Ausdrucksmitteln. Natürlich spreche ich von Erkenntnis im Sinne Spinozas, vom Verstehen der Essenz der Dinge, und nicht von Erkenntnis, die aus purer Beobachtung oder empirischen Überlegungen stammt. Der wichtigste Aspekt beim Spielen und Üben besteht im Erwerb neuen Wissens über die verschiedenen Elemente einer Darbietung, das Tempo, die Dynamik, die Artikulation, das Gleichgewicht und den Takt. Das Wissen darüber kann man sich, will man Nutzen daraus ziehen, nicht während einer Darbietung aneignen, andererseits wird einem keine Inspiration zuteil, wenn man nur passiv abwartet. Man muss bereit sein, sie anzunehmen. Es ist ein Reinigungsprozess, der erfolgen muss, bevor man alle realen Möglichkeiten, die eine Partitur enthält, versteht.
Wenn ich mich heute inspirieren lassen will, muss ich bereit sein, die Intuition von gestern zu vergessen, muss mich auf meine Kenntnis der endlosen Möglichkeiten verlassen, die in einem Werk verborgen sind, und bereit sein, eine weitere Möglichkeit zu entdecken, die ich zuvor, in vielen Jahren des Übens und Spielens, noch nicht gefunden hatte. Unter Musikern zirkuliert der Aberglaube, die zu genaue Kenntnis eines Stücks beeinträchtige die Freiheit der Darbietung. Aberglaube ist der richtige Begriff für eine solche Haltung, weil er die Angst vor dem Unbekannten bezeichnet. Wer so denkt, glaubt vermutlich, dass eine zu genaue Kenntnis ein Musikstück entblößt, es auseinandernimmt, es seines Geheimnisses beraubt und es dadurch so kraftlos wird wie Samson ohne sein Haar. Es ist möglich, dass dies geschieht, wenn ein Stück auseinandergenommen, analysiert, dekonstruiert und abgetragen wird. Dies ist die Arbeit des Musikwissenschaftlers, der sich bemüht, einen scharfen Blick auf die Struktur eines Werks zu werfen. Die Arbeit des Interpreten jedoch beginnt dort, wo die des Musikwissenschaftlers endet, und besteht im Neuschaffen des Werks in der Gegenwart. So kehrt er in den Zustand des Chaos zurück, das herrschte, bevor eine einzige Note geschrieben wurde. Der Interpret zwingt sich, in den Geist des Komponisten einzudringen, und fragt sich bei jedem Durchgang, warum er jene Lösung gefunden hat und keine andere, welche Gründe hinter einer bestimmten Modulation stecken, und stellt sich tausend andere Fragen. Dies ist ein komplexer Vorgang, bei dem die Erkenntnis des Bewussten mit einer Erkundung des Unbewussten Hand in Hand gehen muss.
Eine der ethischen Verpflichtungen eines Interpreten, die besonders anregend ist, besteht darin, das richtige Gleichgewicht zwischen Intellekt und Emotion zu finden. Der Intellekt ist keine der Emotion unterlegene menschliche Gabe, doch er kann in der Musik, wenn er die Oberhand gewinnt, die Vollkommenheit einer Musikaufführung beeinträchtigen. Das andere Extrem, bei dem man der Emotion die Zügel zu locker lässt und auf die feste Hand rationalen Denkens verzichtet, ist ebenso schädlich. Wenn man sie gewähren lässt, potenzieren sich Intellekt und Emotion gegenseitig und ergänzen einander, sei es in der Ausführung oder in der Komposition. Man kann sie nicht mehr voneinander trennen. Große Musik ist weder nur vom Verstand noch allein vom Gefühl bestimmt. Wie die menschliche Natur zeichnet sie sich durch das Gleichgewicht beider Aspekte aus.
Das Paradox beim Spielen von Musik liegt darin, dass die direkteste und wirkungsvollste Art, mit dem Publikum zu kommunizieren, im Vergessen seiner Gegenwart besteht. Wenn es dem Interpreten gelingt, sich auf einen tiefen und fesselnden Dialog mit der Musik einzulassen, nur mit ihr, und die Präsenz von zwölfhundert, fünfzehnhundert oder dreitausend Zuhörern zu vergessen, dann wird er eins mit dem Publikum, und sie haben beide am Akt der Neuschaffung teil, für den beide unverzichtbar sind: derjenige, welcher die Musik hervorbringt, und der, der zuhört. Vielleicht ist es unmöglich, gerade für die siebenundzwanzigste Reihe zu spielen, aber metaphorisch gesprochen kann die siebenundzwanzigste Reihe bei der gemeinsamen Anstrengung, Klänge voller Sinn zum Leben zu erwecken, auf die erste Reihe projiziert werden.
Das Publikum bringt eine wichtige Dimension in eine Aufführung, die Dimension der Zeit. Wenn ich spiele, wenn ich ein Musikstück probe, weiß ich, dass ich aufhören kann, sobald ich es für richtig halte, um Dinge zu korrigieren, zu verfeinern, den Ton zu verbessern. Während einer Aufführung aber weiß ich, dass ich das Stück von Anfang bis Ende spielen werde, ohne Pause, und dass dies für mich die einzige Möglichkeit ist, all das vorzutragen, was ich mir in Stunden, Wochen, Jahren von Übung und Studium angeeignet habe.
In der Musik wie im Leben ist die Zeit ein Katalysator. Wenn wir uns darüber klar werden, dass sie begrenzt ist, nutzen wir sie anders. Die Zeit steht ganz im Zentrum des Spielens von Musik, nicht nur weil sie sich in einem bestimmten Rhythmus manifestiert, sondern auch durch die Tatsache, dass jedes Musikstück von begrenzter Dauer ist. Die Musik lehrt uns vielleicht besser als jedes andere Ausdrucksmittel, wie wichtig der gegenwärtige Augenblick ist. Wenn wir für einen Moment von der Möglichkeit einer Aufnahme absehen, ist ein Musikstück vorbei, kaum dass die letzte Note verklungen ist. Dies trifft auf den Klang und die Zeit zu, die nicht reproduzierbar sind. Unwiederholbarkeit ist eines der stärksten und wichtigsten Merkmale der Musik.
Die Zeit, oder um genau zu sein, die objektive Zeit ist der treue Begleiter des Musikers, sein Gewissen sozusagen. Man kann sie ein wenig irreführen, rubato spielen, wie es in der italienischen Musikterminologie heißt, doch der Musiker ist immer moralisch verpflichtet, das zu Unrecht Erworbene wieder zurückzugeben. Bei einer Aufführung, die dem unaufhaltsamen Vorrücken der Uhrzeiger unterworfen ist, muss man sich ständig bemühen, die subjektive Zeit mit der objektiven in Einklang zu bringen. Die Disziplin eines Musikers verhält sich direkt proportional zu seiner Art, sich zur Objektivität zu verhalten. Freiheit ist ein oft verwandter Terminus bei der Suche nach der Art und Weise, wie Musik zu spielen ist.
Wie im Leben überhaupt geht Freiheit mit der Verantwortung einher, sie in aufrichtiger und moralischer Weise zu genießen. Wenn ein Interpret frei spielt und vom Metronom abweicht, um Raum für eine expressive Arabeske zu gewinnen oder einer harmonischen Modulation besonderen Ausdruck zu geben, dann hält ihn die Fessel der Zeit mit den Füßen am Boden und beugt willkürlichen Abweichungen vor. Die Zeit kann wie die Wahrheit überstrapaziert werden. Wenn jemand das Bedürfnis verspürt, einen Moment besonderer Schönheit dadurch auszudrücken, dass er der subjektiven Uhr erlaubt, die Genauigkeit der objektiven Zeit zu sehr zu vernachlässigen, wird die Musik über den Punkt des Erträglichen hinaus ausgedehnt und zerreißt wie ein zu weit gedehntes Gummiband. Wenn wir den Kontakt zur Objektivität verlieren, entsteht Anarchie. Wenn wir uns nur von ästhetischen Gefühlen leiten lassen, verlieren wir den Sinn für das Ethische.
Wie sieht nun der Zusammenhang zwischen Ethik und Ästhetik beim Spielen von Musik aus? Wie ich schon vorher betont habe, ist es eher selten, dass man bei musikalischen Darbietungen an eine moralische Pflicht denkt, und es wäre absurd, sich eine dafür zuständige internationale Organisation vorzustellen, gewissermaßen das ästhetische Gegenstück zur UNO oder Amnesty International. Es ist tatsächlich schwierig, feste Kriterien für ein so subjektives Gebiet wie das Spielen von Musik aufzustellen. Es wäre eindeutig falsch, forte zu spielen, wenn die Partitur piano verlangt, und es wäre unberechtigt und willkürlich zu gestatten, dass eine wichtige Stimme durch eine weniger wichtige übertönt wird. Dennoch gibt es zahlreiche Fälle, in denen Änderungen an der vorgegebenen Dynamik gerechtfertigt sind, etwa um größere Spannung zu erzeugen. Ein Komponist kann in der Absicht, Spannung zu erreichen, crescendo schreiben. Doch möglicherweise erreicht man mit einem diminuendo die gleiche Wirkung, eine einschneidende Wirkung, so wie es manchmal effektvoller ist zu flüstern, als zu schreien.

Über Daniel Barenboim

Biografie

Daniel Barenboim wurde 1942 als Enkelsohn jüdisch-russischer Einwanderer in Buenos Aires geboren. Sein Debüt als Dirigent gab er 1967 mit dem New Philharmonia Orchestra in London. 1991 wurde Barenboim Chefdirigent des Chicago Symphony Orchestra, und seit 1992 ist er Generalmusikdirektor der...

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