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Leon Reiter
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Thriller

„›Jetzt‹ geht auf die Paradoxien der Zeitverschiebung ein, sie werden hinterfragt, behandelt und verglichen. Doch alles auf eine Art und Weise, dass auch ein Laie daran Spaß haben kann und sich nicht durch unzählige Fachvokabeln überfordert fühlt. Man darf miträtseln und mitphilosophieren. Das ist es, was ›Jetzt‹ wirlich so anregend macht.“ - nothingbutn9erz.blogspot.co.at

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Jetzt — Inhalt

Bei einem Experiment zur Erforschung der Zeit unterlief dem Wissenschaftler Sivamani ein folgenschwerer Fehler - nun droht das Gefüge der Welt von Anomalien, sogenannten Zeitblasen, durchlöchert zu werden. Noch kann Sivamani die Anomalienbildung eindämmen, doch wie lange? Der einzige Weg, das Chaos aufzuhalten, ist, in einer Zeitblase zurückzureisen und das Experiment vorher zu stoppen. Doch das ist nicht einfach – niemand weiß, in welche Zeit und an welchen Ort eine solche Blase führt, und die Gefahr von Zeitparadoxa ist groß. Ein kleines Team aus vier europäischen Spezialisten soll die streng geheime Mission ausführen - die Jagd nach der richtigen Zeit beginnt …

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 11.08.2014
368 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-96649-8
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Leseprobe zu „Jetzt“

Erster Teil: Das Zusammenführen


Zwei von ihnen, die Französin und der Brite, wurden mit einem unbeschrifteten roten Kleinbus vom Madrider Flughafen abgeholt. Die beiden kannten sich nicht und verteilten sich unbehaglich auf zwei verschiedene der drei mit hellem Leder bezogenen Sitzreihen. Während der Fahrt über bewölkt sommerliches Land in das rund fünfzig Kilometer südlich von Madrid gelegene Aranjuez schwiegen sie und schauten aus ihren jeweiligen Fenstern. Ihre Gesichter spiegelten sich darin. Anspannung und Konzentration. Alles hatte am Telefon und [...]

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Erster Teil: Das Zusammenführen


Zwei von ihnen, die Französin und der Brite, wurden mit einem unbeschrifteten roten Kleinbus vom Madrider Flughafen abgeholt. Die beiden kannten sich nicht und verteilten sich unbehaglich auf zwei verschiedene der drei mit hellem Leder bezogenen Sitzreihen. Während der Fahrt über bewölkt sommerliches Land in das rund fünfzig Kilometer südlich von Madrid gelegene Aranjuez schwiegen sie und schauten aus ihren jeweiligen Fenstern. Ihre Gesichter spiegelten sich darin. Anspannung und Konzentration. Alles hatte am Telefon und via Mails so geheim geklungen, dass sie selbst die unverfänglichste Konversation nicht wagten.

Einer von ihnen, der Deutsche, war vor Ort in einem Hotel untergebracht, denn man hatte ihn im Laufe der letzten Woche bereits mehrmals konsultieren müssen. Auch er wurde vom Hotel abgeholt, obwohl man die Strecke durch den Ortsteil Vergel in einer Viertelstunde durchaus auch hätte zu Fuß bewältigen können. Er stieg grinsend in den roten Kleinwagen, machte der Fahrerin ein Kompliment für ihre Pünktlichkeit und genoss diesen weiblichen Shuttleservice. In Berlin hatte man ihm nie das Gefühl solcher Wichtigkeit gegeben.

Eine von ihnen, die Italienerin, hatte Flugangst und war deshalb in einer Bahn mit polierten hölzernen Sitzen bis direkt nach Aranjuez gereist. Auch sie wurde mit einem unbeschrifteten roten Kleinwagen vom Bahnhof, der wie eine blassrosa Mischung aus maurischen und gotischen Elementen aussah, abgeholt. Die Fahrt ging durch hellgraue, dicht begrünte Straßen, vorbei an gelben Häusern mit Ziegeldächern, über Kreisverkehre mit munter sprudelnden Wasserfontänen, einmal an der schwarzen Statue eines knienden Mannes vorüber, einmal an einem weitläufigen ummauerten Park. Sie versuchte mit dem Fahrer zu plaudern, aber der wusste nichts, und selbst wenn er etwas gewusst hätte, wäre es ihm untersagt gewesen, Informationen preiszugeben.

Die vier begegneten sich erstmals, als man sie in einem militärisch abgeriegelten und aus roten Backsteinen gefügten Bürokomplex in einem fensterlosen Raum zusammenführte, in dem es eine Klimaanlage, Kaffee, Tee, Sprudel und für diese Region typisches Gebäck gab.

Die Französin war 29 Jahre jung und trug ein Bürokostüm, das ihre schmale Taille gut zur Geltung brachte. Das lange Haar hatte sie im Nacken zusammengesteckt, das schmale und hübsche Gesicht durch eine streng wirkende Brille fokussiert. Schweigend nahm sie sich einen Kaffee. Dass sie sich nicht wohlfühlte mit dieser Situation, war jeder ihrer Bewegungen anzumerken.

Der Brite war nur drei Jahre älter als sie. Sein Kurzhaarschnitt und seine gerade Haltung ließen ihn auf den ersten Blick schon militärisch wirken, und sein einfacher, von der Stange gekaufter dunkler Anzug spannte sich über einem breiten Rücken und muskulösen Oberarmen. Sein Gesicht war eher unauffällig, wenngleich mit ausgeprägter Kinnpartie, ansonsten jedoch ausdruckslos. Er nahm sich nichts von den angebotenen Speisen, behielt jedoch den Gang, der zu diesem Raum führte, unablässig im Auge.

Der Deutsche nahm sich Sprudel und drei verschiedene Gebäckstückchen. Schon bald war sein schwarzes T-Shirt mit der langwierigen Aufschrift I don’t need to get a life – I’m a gamer – I have more than one life mit Krümeln übersät. Auch seine lange Mähne sträubte sich erfolgreich dagegen, von einem Haargummi zu einem Zopf zusammengehalten zu werden. Er war erst 25 und hatte eine pfiffige, himmelfahrtsnasige Miene, die zu Heiterkeit neigte. Seine Körperspannung war lässig bis nachlässig, in spätestens zehn Jahren würde er sicherlich einen Bauch vor sich hertragen und einen krummen Rücken haben.

Die Italienerin war die Älteste im Raum, sie war 44 und leicht übergewichtig, wirkte aber gerade dadurch mütterlich und einnehmend. Sie hatte ein rundes Gesicht mit großen, sehr lebendigen Kulleraugen und einem Schmollmund, eine lockige Kurzhaarfrisur mit großen Ohrringen, und trug ein Sommerkleid, das weniger nach einem offiziellen Anlass als vielmehr nach einem Strandspaziergang aussah. In Aranjuez jedoch gab es weit und breit keinen Strand. Der Ort lag ziemlich genau in der Mitte der iberischen Halbinsel.

Die Neonröhren in dem Raum summten. Die Italienerin nahm sich Tee, kein Gebäck, musterte kurz ihre Mitverschworenen und beschloss dann, den Anfang zu machen. Sie ging zu der Französin und streckte ihr armreifklirrend die Hand hin. „Hallo, ich bin Stefania Ambrosini von der Universität Padua“, sagte sie auf Englisch. In dem Wenigen, das man ihr über das Bevorstehende mitgeteilt hatte, war von einem „international zusammengestellten Operationsteam“ die Rede gewesen, also ging sie automatisch von englischsprachiger Verständigung aus.

Die Französin lächelte und erwiderte den Händedruck. „Veronique Saccard, Universität Paris Descartes, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften“, sagte sie.

Der Deutsche trat hinzu, begierig, sich mit den beiden Frauen anzufreunden. „Ferdinand Grewe aus Berlin, aber niemand nennt mich Ferdinand, alle sagen Ferdi zu mir. Ich habe an der TU Berlin und für zwei Semester auch an der TU Graz Geodäsie studiert, aber mit einem Abschluss kann ich leider nicht dienen, ich wurde einfach zu schnell abgeworben. Sie beide sind wahrscheinlich sogar Dozentinnen geworden?“ Sein Englisch hatte einen harten Berliner Akzent, während das Englisch der beiden Frauen klang, als hätten sie in Oxford studiert.

Die Französin nickte. „Ich bin Professorin. Das Wort Geodäsie habe ich schon gehört, aber was ist das noch mal genau?“, fragte sie.

Der Deutsche ließ sich mit Erläuterungen nicht lumpen. „Geodäsie ist Erdvermessung und Kartografie, aber heutzutage auch die Entwicklung satellitengestützter Ortungssysteme. Die GPS-Funktion, die mittlerweile jeder in seinem Smartphone oder in seinem Auto-Navi aufrufen kann, ist eine geodätische Entwicklung, die einen ziemlich bedeutsamen Einfluss auf unseren Alltag hat, möchte ich behaupten. Es ist also keine abgehobene, sondern eine sehr praktische Wissenschaft, dem komplizierten Namen zum Trotz.“

„So, so, wir werden also einen Kartografen benötigen?“, fragte die Italienerin listig.

Die drei plauderten kurz, aber alles, was dabei herauskam, war, dass niemand Genaueres wusste. Der redselige Deutsche gab immerhin zu, den Leiter des ganzen Unternehmens bereits zu kennen, weil er schon seit einer Woche in das Projekt involviert sei, aber er wollte nichts Näheres dazu sagen, weil der Professor sich und das Problem sicherlich gleich selbst vorstellen würde.

Zuletzt ging die Italienerin noch zu dem Briten, der sich abseitshielt, aber er machte keine Anstalten, die ihm hingehaltene Hand zu ergreifen. „Wir werden bestimmt vorgestellt werden“, brummte er, ohne seine Miene auch nur zur geringsten Freundlichkeit zu verziehen. Die Italienerin nickte lächelnd, wandte sich schwungvoll ab, widmete sich wieder ihrem Tee und gesellte sich zu den beiden anderen.

Sie warteten. Ihnen allen gingen die spanischen Soldaten durch den Kopf, die mit ernsten Mienen am Gebäudeeingang ihre Papiere und Unterlagen kontrolliert hatten. In diesem Komplex atmete alles den Geist größter Geheimhaltung und Anspannung. Umso verwunderlicher, dass man sie so lange warten ließ, ohne sie genauer zu instruieren. Seltsam war auch, dass ihre Anschreiben im Briefkopf den Namen Project Pocket Light stehen hatten, dass dieser Schriftzug aber vor oder an oder in dem Gebäude, in dem sie sich jetzt aufhielten, nirgendwo zu sehen gewesen war. Stattdessen die Namen gänzlich anderer, zum Teil sogar renommierter Firmen.

Endlich erschien ein Assistent des Professors, ein sehr junger Spanier, der wirkte, als sei er noch Abiturient, und den ein Namensschild an der Brusttasche seines Laborkittels als „L. Puértolas“ auswies. Der Assistent sah übernächtigt aus und wies einen deutlichen Bartschatten auf, weitere Indizien dafür, dass hier in Aranjuez irgendetwas Gravierendes aus dem Ruder gelaufen war. Die Mails hatten dringlich geklungen. Von einem „Notfall“ war die Rede gewesen und davon, ob die Angeschriebenen sich vorstellen könnten, sich für „einen oder zwei Monate von allen sonstigen Verpflichtungen zu befreien“. Die Französin wie auch die Italienerin hatten seither viel darüber nachgedacht, wie viele Personen der Professor ursprünglich angeschrieben hatte und wie wenige von denen sich überhaupt hatten bereit erklären können. An einer Universität angestellte Akademiker hatten selten entsprechende Freiräume in ihren Terminkalendern, selbst nicht in der vorlesungsfreien Zeit. Sowohl die Französin als auch die Italienerin hatten gerade Forschungssemester beantragt und bewilligt bekommen, deshalb hatten sie zusagen können. Der Deutsche schien Freiberufler zu sein. Und der Brite war wahrscheinlich ein etwas höherrangiger Soldat oder zumindest so etwas Ähnliches wie ein Soldat, ein Söldner womöglich oder ein privater Wachschützer.

„Es tut mir leid, dass Sie warten mussten“, entschuldigte sich der sehr junge „L. Puértolas“. „Unsere augenblickliche Situation erfordert sehr viel Improvisation und ist unmöglich im Voraus planbar. Dadurch entstehen immer wieder … Zeitverschiebungen. Der Professor wird Sie jetzt über alles in Kenntnis setzen, vorausgesetzt, Sie unterzeichnen vorher folgende Vertraulichkeitserklärung.“ Er legte einen Stapel Papiere auf einen Tisch und breitete sie wie ein etwas fahriger Kartenspieler fächerförmig zu vier kleineren Stapeln auseinander. „Es geht dabei um die Geheimhaltung. Nichts von dem, was Sie hier erfahren, darf nach draußen dringen. Wir fürchten – so viel kann ich Ihnen schon jetzt verraten – weniger Spionage als vielmehr eine Panik. Die Situation kann getrost als heikel eingestuft werden, und ich hoffe, Ihnen allen ist bewusst, dass unbedachte Äußerungen selbst im Familienkreis weitreichende Folgen nach sich ziehen könnten, deren Schaden nicht zu überschauen wäre.“

„Droht der Stadt Aranjuez eine Gefahr?“, erkundigte sich die Italienerin besorgt.

Der Assistent schluckte. „Nicht nur Aranjuez, fürchte ich. Der Professor wird dazu alles erläutern.“ Mit einer hilflos anmutenden, irgendwie rührenden Geste deutete er auf die zu unterzeichnenden Papiere.

Der Brite unterschrieb sofort. Es wirkte, als sei er über den Inhalt der Papiere bereits informiert.

Die Italienerin und der Deutsche überflogen die insgesamt vier zusammengehefteten Seiten und unterschrieben dann.

Am meisten Zeit ließ sich die Französin, die nicht nur überflog, sondern auf der Suche nach Klauseln gründlich las. Sie ließ sich auch nicht dadurch aus der Ruhe bringen, dass alle anderen schon fertig waren und auf sie warteten. Schließlich setzte sie ihren annähernd unleserlichen Namen unter die Papiere.

Der Assistent atmete erleichtert auf und sammelte die Bögen ein. „Folgen Sie mir bitte. Sie können ruhig Getränke und Pepitos mitnehmen, wir betreten keine Forschungsstätten, sondern nur ein etwas geräumigeres Konferenzzimmer.“ Der Deutsche ließ sich das nicht zweimal sagen, griff sich drei weitere der cremegefüllten Backwaren, türmte sie übereinander, bis das unterste ganz matschig war, und folgte den anderen durch steril wirkende, mit dunkelblauem Teppichboden ausgelegte Gänge.

Der Professor erwartete sie bereits.

Er war groß und schlank, 51 Jahre alt und trug einen ähnlichen Kittel wie sein Assistent, nur dass seiner schmutzig zu sein schien, als hätte er sich auf Rasen oder über Moose gewälzt. Grüne Schlieren marmorierten den weißen Stoff. Sein voller, ergrauter Haarschopf über den markant-schmallippigen indischen Gesichtszügen wirkte zerzaust und ungepflegt. Bislang machten alle Mitarbeiter des geheimnisvollen Project Pocket Light einen etwas derangierten, geradezu abgekämpften Eindruck.

Der Professor begrüßte jeden seiner vier Gäste mit einem festen Händedruck, mit dessen Nachnamen samt Anrede in dessen Landessprache – „Signora Ambrosini“, „Madame Saccard“, „Herr Grewe“, „Mister Usher“ – sowie der Formel „Ich freue mich, dass Sie die Zeit gefunden haben“. Anschließend bat er die vier, sich irgendwo zu setzen. Der Raum wies rund ein Dutzend zu wackeligen Reihen geordneter Hartplastikstühle auf. Mister Usher setzte sich ganz nach vorne, vor den Tisch des Professors. Herr Grewe zwei Stühle neben ihn, der Assistent Puértolas wiederum genau neben den Deutschen. Die beiden Frauen gingen ganz instinktiv mehr auf Distanz, Signora Ambrosini in die dritte, Madame Saccard sogar bis in die vierte Reihe.

Der Professor stützte beide Hände auf die Fläche des Tisches vor sich und senkte den Kopf, wie um sich zu sammeln. Seine Finger bewegten sich dabei auf der Tischplatte auseinander und wieder zueinander, nur die Finger, nicht die Handflächen. Es sah aus, als würden die Hände im Wechsel aufblühen und wieder verwelken.

Dann hob er den Kopf und blickte seine Gäste durchdringend an. „Herr Grewe ist der Einzige von Ihnen, der einige der Gründe seines Hierseins bereits kennt, aber Ihnen anderen möchte ich mich zunächst vorstellen: Ich bin Professor Sanjay Sivamani, der Initiator und Leiter des Project Pocket Light. Die Finanzierung und Zielsetzung dieses in der Welt einzigartigen Forschungsprojektes brauche ich Ihnen nicht ausführlich darzulegen, das würde nur langweilen und tut angesichts der veränderten Umstände auch nichts mehr zur Sache. Ich will nur grob umreißen, dass es beim Project Pocket Light entlang mehrerer von mir in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelter und versuchsgestützter Theorien darum ging, Licht durch die Zeit zu krümmen und dadurch Orte, die in anderen Zeiten liegen, abtastbar, messbar, festhaltbar und dadurch in noch nie zuvor da gewesener Art und Weise erfahrbar zu machen.“ Der Professor wartete ab, bis seine Gäste dies verdaut hatten. Madame Saccard straffte sich sichtlich.

„Licht durch die Zeit?“, hakte sie nach. Ihr Tonfall wirkte spöttisch.

Der Professor nickte. „Zeitreisen mit physikalischen Festkörpern hielt ich aufgrund der damit verbundenen Masseverdrängungskonsequenzen für undurchführbar, bin darin aber bedauerlicherweise widerlegt worden. Was ich für durchführbar hielt, war, Licht durch die Zeit zu schicken. Gebündeltes Licht, Laserlicht, das dann auch wiederum in der Lage wäre, Informationen zu transportieren. Mein Ziel war es, Historikern die Möglichkeit zu geben, kontrollierte Vergangenheiten im wahrsten Sinne des Wortes auszuleuchten. Deshalb der Projektname. Die positiven Auswirkungen auf die Erforschung unserer Weltgeschichte wären immens gewesen.“ Er blickte bei diesen Worten besonders die Italienerin an und erhaschte auch tatsächlich ein freundliches Lächeln von ihr.

„Das klingt absolut phantastisch“, sagte die Französin. „Aber phantastisch im Sinne von: vollkommen unrealistisch.“

Der Mund des Professors zeigte ein schmales Lächeln, das die Augen nicht erreichte. „Ich kann Ihnen versichern, Madame Saccard, über das Hirngespinsthafte meiner Forschungen brauchen wir nicht mehr zu diskutieren. In weniger als einer Stunde schon kann ich Ihnen Phänomene zeigen, die alle meine Hirngespinste bei Weitem in den Schatten stellen.“

Die Italienerin knüpfte das Wenige, das man ihr bislang mitgeteilt hatte, zu einem handlichen Päckchen zusammen: „Es hat also einen Unfall gegeben.“

„Ja“, musste der Professor zugeben, „das kann man so sagen. Wir forschten umsichtig und defensiv, sowohl mit Dauerstrich- als auch mit Pulslasern, wir experimentierten mit Lichtwellenleitung, Scanning und Tracking. Ich kann ihnen versichern, dass wir nicht versucht haben, ein Laserskalpell zu erzeugen, um wirklich physisch in die Zeit einzugreifen. Wir wollten nur beobachten. Erhellen. Wie mit einer Taschenlampe, deshalb unser Projektname. Wir wollten nichts in Unordnung bringen, keine Eingriffe. Aber bedauerlicherweise ist uns genau Letzteres unterlaufen. An einem unserer Zielorte muss es eine sich unkontrolliert verstärkende Reflektion gegeben haben, eine Spiegelung womöglich, durch eine dem Eintrittsort genau gegenüberliegende spiegelnde Fläche, wir haben das nicht in Erfahrung bringen können. Als Folge dieser Reflektion muss der von uns projizierte Lichtstrahl in potenzierter Form durch das Zeitgefüge vor- und zurückgeworfen worden sein und hat dort Haarrisse ausgelöst. Strukturschäden, die sich immer noch vermehren und verstärken. Das ist nur eine Theorie; uns stehen keinerlei Möglichkeiten zur Verfügung, diesen außer Kontrolle geratenen Lichtstrahl wiederzufinden und zu verfolgen – aber die Auswirkungen können wir sehen und erfahren, hier in Aranjuez. Es bilden sich Zeitblasen, die in unsere Gegenwart hineinragen. Sie können sich das ähnlich wie bei einem Leistenbruch vorstellen, wo eine Eingeweideschlinge aus dem Bauchraum austritt und von außen sichtbar wird. Diese Zeitblasen – von uns in Anlehnung an den ursprünglichen Namen unseres Projekts Pockets genannt – treten zufällig auf und sind bislang noch auf einen Radius von etwa siebenhundert Metern um unser ursprüngliches Labor begrenzt, einen Bereich also, den wir mithilfe des spanischen Militärs zu evakuieren und abzusperren in der Lage waren. Sie haben womöglich von den defekten Gasleitungen im Ortsteil Moreras gehört und gelesen. Nun, mit den Gasleitungen ist alles in Ordnung. Die Menschen wurden evakuiert, damit sie nicht in Zeitblasen geraten können.“

„Aber wir sind hier nicht im Ortsteil Moreras“, meldete sich nun erstmals Mister Usher zu Wort.

„Nein“, erläuterte der Professor, „das wäre auch zu gefährlich. Die Pockets breiten sich aus. Unser Problem ist demnach zeitkritischer Natur, denn die Schäden im temporalen Gefüge vermehren sich.“

Der Deutsche wandte sich zu den beiden Frauen um und ergänzte gut gelaunt: „Das ist wie in dieser englischen Fernsehserie Primeval, wo Saurier durch solche Löcher in unsere Gegenwart schlüpfen!“

Der Professor zeigte wieder dieses messerschmale Lächeln. „Diese Fernsehserie ist ziemlich hanebüchen und harmlos und dient lediglich dazu, die Fähigkeiten britischer Computergrafikprogrammierer zu demonstrieren, nichts für ungut, Mister Usher. Wir jedoch haben es mit einem ganz anderen Problem zu tun. Durch diese Pockets kann nichts zu uns herausdringen. Aber unsere Zeit kann in diese Pockets hineingehen, eventuell sogar hineingesaugt werden wie in einen Unterdruck. Wie erwähnt breiten sich die Pockets aus. In wenigen Wochen schon werden sie sich in der ganzen Stadt Aranjuez manifestieren, danach im Großraum Madrid, dann in ganz Spanien, dann in Europa. Sie alle können sich ein epidemisches Szenario sicherlich lebhaft vorstellen. Und wir wissen noch sehr wenig. Wir wissen zum Beispiel nicht, was passiert, wenn zwei Pockets so nahe beieinander entstehen, dass sie sich berühren und eventuell sogar durchdringen. Wir wissen nicht, ob Pockets auch mitten in der Luft entstehen und zum Beispiel ein Flugzeug, das nicht mehr zu einem rechtzeitigen Ausweichmanöver in der Lage ist, verschlucken können. Wir wissen nicht, wie viele Pockets unsere Gegenwart überhaupt verkraften kann, bevor das Zeitgefüge an sich, bei dem es sich ganz offensichtlich um eine hochempfindliche Struktur handelt, kollabiert. Wir wissen nicht, was das alles für Folgen haben kann. Wir wissen nur, dass wir es eindämmen müssen.“

„Eindämmen? Wie?“, fragte erneut der Brite.

Der Professor gab ein Geräusch von sich, das entweder ein Seufzen, ein Ächzen oder ein Anlauf nehmendes Durchatmen war. „Etliche Probleme enthalten ihre eigene Lösung. Wir haben durch Erforschung der Pockets herausgefunden, dass sie in verschiedene Zeiten führen. Wir haben Drohnen hineingeschickt und einen Freiwilligen. Luis hier“ – er deutete auf den Assistenten, der höflich nickte, denn tatsächlich hatte er weder sich selbst vorgestellt, noch war er bislang vom Professor vorgestellt worden – „ist der einzige Mensch auf unserem Planeten, der bislang eine andere Zeit betreten und aus dieser auch wieder zurückgekehrt ist. Wir hatten dabei aber ehrlich gesagt mehr Glück als Verstand, wir wussten einfach noch zu wenig und haben die bemannten Versuche erst einmal auf Eis gelegt, bis wir das Problem mit der Rückkehr und auch mit der Stabilität der Pockets besser in den Griff bekommen haben. Wir haben Fehlschläge hinnehmen müssen, ganz zu Beginn. Bedauerliche Fehlschläge. Aber wir lernen kontinuierlich hinzu. Dank Luis und unseres Tag und Nacht unermüdlich arbeitenden Wissenschaftsteams konnten wir das Betreten der Zeiten verhältnismäßig sicher machen. Was uns bislang jedoch fehlte, war die Möglichkeit, die Zeiten und Orte zuverlässig identifizieren zu können. Zu diesem Zweck haben wir uns an Sie gewandt, meine Damen und Herren.“

Niemand fragte etwas. Alle mussten das Gehörte erst einmal verarbeiten, und das dauerte eine Weile.

„Ich verstehe nicht“, gab schließlich Stefania Ambrosini als Erste zu. „Zeiten und Orte?“

Der Professor straffte sich. „Das war eine meiner zugrunde liegenden Theorien. Dass eine Betretung der Zeit aufgrund der Erdrotation zu anderen Orten führt, die auf demselben Breitengrad liegen. Denn Aranjuez vor genau 1000 Tagen befand sich möglicherweise dort, wo sich jetzt China befindet. Sie werden schnell auf den Gedanken kommen, dass unser gesamter Planet sich ja im Weltall um die Sonne bewegt, und dass man deshalb genau genommen mit einer Art Zeitmaschine die Erde so gut wie immer verfehlen müsste, aber wir haben herausgefunden, dass die Pockets erfreulicherweise erdgebunden sind. Was physikalisch durchaus Sinn ergibt. Wenn es sich bei der Zeit um ein Gefüge handelt, das durch Laserstrahlen verletzt und in Unordnung gebracht werden kann, ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Pockets gewissen Gesetzen wie zum Beispiel der Erdanziehungskraft unterworfen sind. Sie sind also erdgebunden, aber nicht notwendigerweise oberflächengebunden. Aufgrund der Höhenunterschiede gibt es Pockets, die in 200 Meter Höhe münden oder mitten in eine Felsformation hinein, aber wir erkunden jede zu betretene Pocket vorher durch Drohnen, um festzustellen, ob sie sicher ist. Überfordere ich Sie? Gehe ich zu schnell vor? Sie müssen mir verzeihen: Ich denke und atme schon seit Wochen tags und nachts nichts anderes mehr als dieses Projekt und unser Problem. Vielleicht formuliere ich schlecht nachvollziehbar.“

„Ich verstehe immer noch nicht, worauf Sie hinauswollen“, sagte die Französin. „Wollen Sie etwa, dass wir diese … Pockets … betreten?“

„Ganz genau. Sie vier sind das ideale Einsatzteam, das mir zur Ergänzung meines Wissenschaftsteams vorschwebt. Eine Soziologin und Sprachenexpertin, eine Historikerin, ein Landvermessungskundiger und einer, der die anderen beschützen kann.“

„Beschützen vor was?“, fragte Signora Ambrosini.

„Vor allem, was einem in Vergangenheit und Zukunft begegnen kann.“

„Aber warum?“, fragte jetzt wieder Madame Saccard. „Warum sollen wir das tun?“

„Weil, wie gesagt, im Problem selbst bereits die Lösung liegt. Es entstehen mehr und mehr Pockets. Diese Pockets führen in verschiedene Zeiten. Also ist es nur eine Frage des Zufalls und der Beharrlichkeit, bis wir eine Pocket finden, die in eine Zeit führt, die es ermöglicht, mein Experiment zu verhindern.“

„Oh“, ließ sich jetzt Ferdi Grewe vernehmen. „Und dadurch erzeugen wir dann ein astreines Zeitparadoxon, denn wenn das Experiment niemals schiefgelaufen ist, wurden wir vier niemals zusammengerufen, sind uns niemals begegnet und können somit das Experiment auch nicht als Team sabotieren.“ Er lachte wie über einen Scherz, aber niemand lachte mit.

„Sie haben vollkommen recht, Herr Grewe“, sagte Professor Sivamani ernst. „Wenn alles nach meinen Vorstellungen abläuft, wird die Zeitlinie mit dieser Konferenz hier tatsächlich aufhören zu existieren. Sie wird niemals stattgefunden haben, weil die bedrohliche Krise, die durch das Fehlschlagen des Experimentes ausgelöst wurde, ebenfalls niemals stattgefunden haben wird. Aber die Zeitlinie, in der Sie alle vier friedlich und entspannt an Ihren jeweiligen Wirkungsstätten in Paris, in Padua, in Berlin und in Hereford Ihrem Tagwerk nachgehen, die wird weiter bestehen. Und ich denke, wir sind uns alle einig, dass Letztere eine Zeitlinie ist, die wir schützen und bewahren wollen.“

„Aber wenn es sich wirklich um eine dermaßen bedrohliche Krise handelt“, hakte Veronique Saccard nun wieder nach, „warum weiß dann niemand davon? Warum sind Militär und Regierungen nicht involviert? Wir vier sind doch keine … Weltrettungsexperten!“

Der Professor lächelte wieder, schmallippiger noch, wenn das überhaupt möglich war. „Wir befinden uns in jener heiklen Phase des Weltuntergangs, in der wir eine Panik noch vermeiden wollen, weil wir der Meinung sind, einen praktikablen Lösungsvorschlag gefunden zu haben. Wenn alles gut geht, werden keine weiteren Evakuierungen vonnöten sein, keine Panik, keine Flüchtlingsströme, kein Auseinanderreißen von Familien, keine Plünderungen, keine Selbstmorde aus Furcht. Bei der augenblicklichen Ausbreitungsgeschwindigkeit der Pockets bleiben uns noch etwa zwei Wochen Zeit, bis die Pockets ganz Aranjuez überschwemmt haben. Das kann alles physikalisch-mathematisch berechnet werden. Und diese zwei Wochen beabsichtige ich mit Ihrer Hilfe zu nutzen.“

„Aber das ist doch unvorstellbar gefährlich! Wir vier sollen wie Versuchskaninchen in irgendwelche … Zeitlöcher hüpfen, damit sich dieser ganze Spuk nicht weiter ausbreiten kann?“

„Natürlich ist es nicht ungefährlich, Signora Ambrosini. Aber das ist eine Andenexpedition ebenfalls nicht. Nicht einmal das Betreten bestimmter Viertel von Padua oder Paris ist ungefährlich. Sie alle sind Wissenschaftler, die mit Feldforschung durchaus ihre Erfahrungen haben und in deren psychologischen Profilen ich die Begriffe risikofreudig und engagiert gefunden habe. Sie können mir glauben, dass ich meine Zeit nicht damit verschwendet hätte, akademische – verzeihen Sie mir bitte den unappetitlichen Begriff – Sesselpupser für eine derartige Mission zu gewinnen. Sie alle sind geeignet, ob Ihnen das nun schon bewusst ist oder nicht. Und Mister Usher ist ein Mitglied der weltweit wahrscheinlich bestausgebildetsten Kampfeinheit, des britischen Special Air Service. Das wird genügen, um optimalen Schutz bereitzustellen. Denn wir können nicht mit einer Stärke von hundert Mann in fremde Zeiten einmarschieren. Das Risiko des Erzeugens weiterführender Paradoxa wäre viel zu groß. Wir brauchen ein minimalinvasives Spezialistenteam. Sie vier! Und das Heikle am Verwenden des Begriffes Spezialist ist mir natürlich bewusst. Es gibt keine verbrieften Spezialisten für Zeitreisen, kann keine geben. Sie können mir glauben, dass ich ansonsten solche angeschrieben hätte.“ Diesmal wirkte das Lächeln des Professors echt. Erschöpft, aber aufrichtig.

Eine kurze Pause entstand. Dann war die Stimme der Französin zu hören. „Ich glaube kein Wort von dem Ganzen. Das klingt wie eine etwas schundige Science-Fiction-Geschichte, aber nicht nach seriöser Wissenschaft.“

Der Professor lachte nun beinahe auf. „Glücklicherweise ist es wirklich das Geringste meiner Probleme, Verehrteste, Ihnen alles, was ich gerade erzählt habe, zu beweisen. Wenn fürs Erste keine weiteren Fragen mehr anstehen, können wir sofort an einen Ort aufbrechen, an dem Sie sich von der Existenz der Pockets überzeugen können.“

„Ich habe noch hundert Fragen. Vielleicht auch zweihundert oder dreihundert“, wandte die Italienerin mit einem Gesichtsausdruck komischer Verzweiflung ein.

Der Professor lachte nun tatsächlich, und es klang wie trockener Husten. „Vielleicht nach der Besichtigung, Signora. Einige Ihrer Fragen werden sich wahrscheinlich vor Ort ganz von selbst klären.“

„Und wo fahren wir hin? Zu den Pockets?“, fragte Ferdi Grewe.

„Genau. Zu den Pockets. Endlich dürfen Sie sie sehen, Herr Grewe. Und ich versichere Ihnen, dass keinerlei Gefahr besteht, solange Sie zusammenbleiben und sich auf dem Gelände nicht unbedacht bewegen.“

„Also los“, sagte Mister Usher.

Über Leon Reiter

Biografie

Leon Reiter wurde 1977 in Freiburg im Breisgau geboren. Die meiste Zeit seines Lebens hat er nach eigener Einschätzung mit diversen abgebrochenen Studiengängen und mies bezahlten Jobs verschwendet. Nun nutzt er die Schmerzlichkeit dieser Erfahrung für einen Zeitreiseroman, der dorthin geht, wo es...

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„›Jetzt‹ geht auf die Paradoxien der Zeitverschiebung ein, sie werden hinterfragt, behandelt und verglichen. Doch alles auf eine Art und Weise, dass auch ein Laie daran Spaß haben kann und sich nicht durch unzählige Fachvokabeln überfordert fühlt. Man darf miträtseln und mitphilosophieren. Das ist es, was ›Jetzt‹ wirlich so anregend macht.“

Phantastik-News.de

„Schlussendlich ein durchaus beachtliches Debüt, eine gute und größtenteils spannende Zeitreise-Geschichte und auch endlich mal wieder ein SF-Roman, der schnörkellos und gut erzählt ist.“

Bielefelder

„Kurzweiliger Schmöker für verregnete Herbstsonntage“

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