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Immer nach HauseImmer nach Hause

Immer nach Hause

Thomas Lang
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Roman

„Thomas Lang zeigt diesen zweifelnden, sehnsüchtigen und selbstsüchtigen Hesse in vielen Facetten.Und es ist durchaus mutig und riskant, wie er das tut: Er fühlt sich in die Art und Weise, wie ein junger, ehrgeiziger, zwischen sich und der Welt zerrissener Schriftsteller damals seine Umgebung wahrnahm, unmittelbar ein. (...) Der Roman denunziert seinen Protagonisten nicht, aber er erklärt ihn vor dem Hintergrund seiner Zeit. Es ist eine Dekonstruktion mit literarischen Mitteln.“ - Süddeutsche Zeitung

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Immer nach Hause — Inhalt

Hermann Hesse ist Ende zwanzig und bereits für sein Frühwerk berühmt, als er sich mit seiner Frau Mia Bernoulli in ein abgelegenes Dorf am Bodensee zurückzieht. Hier lassen sie sich ein Haus im Reformstil bauen, versuchen sich als Selbstversorger, gründen eine Familie. Doch Hesse ist unzufrieden: Literarisch will ihm kaum noch etwas gelingen, er sieht sich in einer Schaffenskrise. Thomas Lang erzählt von einer problematischen wie faszinierenden Lebensphase des Schriftstellers, der später mit dem Literaturnobelpreis zu Weltruhm gelangte und zum Liebling ganzer Lesergenerationen avancierte.

€ 10,00 [D], € 10,30 [A]
Erschienen am 01.12.2017
384 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31224-0
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 01.08.2016
384 Seiten, WMePub
EAN 978-3-8270-7898-8
Download Cover

Leseprobe zu „Immer nach Hause“

Der Anfang

Basel, 4.6.1903

Seit kurzem halte ich allabendlich einen entzückenden, kleinen, schwarzen, wilden Schatz im Arm, wandle im Mondschein, mache Verschen, pflücke Jasmin und schwelge auf entlegenen Rasenplätzen vor der Stadt … Heirat usw. ist natürlich ausgeschlossen, dafür habe ich eben keinerlei Talent.

 

An den Vater

Basel, 21.6.1903

In letzter Zeit kam ich in die Lage, die Möglichkeit einer Heirat zu überlegen. Ein mir schon länger bekanntes Mädchen, das mich lieb hat, ziemlich älter als ich ist und wohl zu mir passen würde. Ich kann mich in dieser [...]

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Der Anfang

Basel, 4.6.1903

Seit kurzem halte ich allabendlich einen entzückenden, kleinen, schwarzen, wilden Schatz im Arm, wandle im Mondschein, mache Verschen, pflücke Jasmin und schwelge auf entlegenen Rasenplätzen vor der Stadt … Heirat usw. ist natürlich ausgeschlossen, dafür habe ich eben keinerlei Talent.

 

An den Vater

Basel, 21.6.1903

In letzter Zeit kam ich in die Lage, die Möglichkeit einer Heirat zu überlegen. Ein mir schon länger bekanntes Mädchen, das mich lieb hat, ziemlich älter als ich ist und wohl zu mir passen würde. Ich kann mich in dieser Sache aber nicht entschließen, da ich zunächst noch zu arm an Gelde bin und auch vor dem Heiraten ein unbestimmtes Grauen habe.

 

An Cesco Como

Basel, 21.6.1903

Daß jede Liebe ihre Tragik hat, ist doch kein Grund, nicht mehr zu lieben! Gewiß ist Liebe und Schuld eng verkettet …, aber sie ist auch eine Schule der Reife und eine Krone des Lebens … Mein Schatz ist kein liebes dummes Gretchen, sondern mir an Bildung, Lebens-erfahrung und Intelligenz mindestens ebenbürtig, älter als ich und in jeder Hinsicht eine selbständige Persönlich-keit. Sie liebt mich schon länger … Warum soll ich das sehnsüchtige und vertrauende Gesicht von mir weisen …? Weil nachher einmal ein Ende kommen muß?

 

An Dr. von Schaukal

Basel, 30.6.1903

Noch eines: würden Sie mir raten zu heiraten? Sie kennen mich ein wenig, sind Diplomat und haben selbst eine Frau. Ist es wirklich so schlimm, wie man immer hört, oder nicht?

 

An Stefan Zweig

Calw, 11.10.03

Ich hoffte, diesen Winter zu heiraten, aber der Vater sagte sehr ruppig nein, und Geld war keines da, darum muß ich jetzt arbeiten und was verdienen, denn sobald ich das Nötigste im Sack habe, wird natürlich der alte Dickkopf nimmer gefragt.

 

An Dr. Wackernagel

Calw, 19.11.1903

Eine anfangs harmlos scheinende Liebesgeschichte war unversehens zu einer wohlabgewogenen Novelle und ist seither zu einem völligen Roman angewachsen. Das hat mich vollends in Anspruch genommen …

 

An Hermann Haas

Calw, 8.1.1904

… die Erkältung lokalisierte sich und entzündete den linken Tränensack, so daß Eiter durchs Auge kam und ich zwei Tage lang heillose Schmerzen hatte. Aber jetzt bin ich wieder fast völlig hergestellt, wenn auch physisch ziemlich herunter, da meine Liebessache anfängt mir allerlei Sorgen und Nöte zu bringen.

 

An Hermann Haas

Calw, 2.6.1904

Ich habe schon die zur Heirat nötigen Papiere besorgt und wir sind schon im Basler Cantonsblatt „ausgeboten“.

Vermählungsanzeige

 

 

Maria Bernoulli

Hermann Hesse

 

beehren sich, Ihnen Ihre bevorstehende

Vermählung anzuzeigen.

 

Basel Calw

Pfingsten 1904

 

 

An die Familie

Steckborn, 5.8.1904

… viele schöne Grüße und die Mitteilung, daß wir am Dienstag getraut wurden. Es gab darauf bei Maria ein kleines Essen, und abends fuhren wir zwei nach Schaffhau-sen, von da Mittwochs nach Konstanz, wo wir noch viel Besorgungen hatten. Seither trieben wir uns am See herum, besuchten in Rheineck eine Freundin von Maria, waren in Ermatingen usw. Heut abend kamen wir in Steckborn an, und morgen wollen wir anfangen in Gaienhofen nach unseren Sachen zu sehen. Freilich wird sich noch wenig tun lassen, denn unsere Möbel sind
noch nicht da … Leider hat Maria, wohl in Folge der vielen Arbeit und Springerei in letzter Zeit, beim Gehen Beschwerden im Rücken …

 

 

An Gustav Keyßner

Gaienhofen, 21.9.1904

Man hatte mich unterbrochen, ich mußte Brennholz einkaufen u.s.w. Nun sitze ich wieder zuhaus, ganz allein, da meine Frau für ein paar Tage nach Basel fuhr.

 

An Karl Isenberg

Gaienhofen, 25.11.1904

Ich wohne und lebe hier primitiv, aber schön. Nur ist Maria immer noch krank in Basel. Ich besuche sie zuweilen, kann aber der Arbeit wegen nie lange fort und hause hier allein mit der Magd, die täglich einige Stunden kommt.

 

An Lili du Bois-Reymond

Gaienhofen am Bodensee (Baden), 11.12.1904

Und nun beginnt die Ehe, mein Leben vollends zu ändern, indem sie wenigstens dem ewigen Wandern und Zigeunern ein Ende macht. Ich muß regelmäßig arbeiten, um für den Haushalt zu sorgen u. s. w., aber im Grunde bummle ich doch meistens, nur mit etwas schlechterem Gewissen.

 

Der ewige Friede

(1907)

Volksbad

Mit einem schönen Katzenjammer von dem zweifelhaften Rheinwein, den er am Abend vorher getrunken hat, steht Hesse ausgehfertig in der Diele, als von der Wand das Telefon schrillt. Es dauert eine Minute, bis der Hausherr aus dem Schlafzimmer kommt und ihn von dem quälend lauten Klingeln erlöst. Reinhold Geheeb trägt einen blutroten Morgenmantel. Sein Haar steht in alle Richtungen, er wirkt übellaunig. Sicher ist er genauso verkatert wie sein Gast. Aber er ist Geschäftsmann, Teilhaber am Simplicissimus und ein wichtiger Mann im Albert Langen Verlag, er würde noch mitten im größten Besäufnis ans Telefon gehen.

Dezent wendet Hesse sich ab, er geht sogar ein paar Schritte in Richtung Tür, kann seine Ohren aber nicht verschließen und weiß gleich, dass Langen am anderen Ende der Leitung ist. Der Verleger hat ihn eingeladen, an diesem Vormittag gemeinsam ins Müllersche Volksbad zu gehen. Er hat die Modernität der Anstalt gepriesen und behauptet, man fühle sich nach ein paar Stunden Aufenthalt dort wie ein neuer Mensch. Nun sagt Langen also ab, wie Hesse ahnt und wie Geheeb ihm bald unter mürrisch gekräuselten Brauen mitteilt. Er habe die unerwartete Gelegenheit, einen Berliner Literaturkritiker zu treffen. Ein Kritiker, murrt Hesse innerlich. Er entschließt sich, trotzdem ins Bad zu gehen. Sein Gastgeber zeigt sich erleichtert. Hesse bezweifelt, dass Geheeb sich noch mal hinlegen wird. Geheeb legt sich eigentlich nie hin, und sollte er eben geschlafen haben, war es ein Versehen. Als er sich umdreht, um in der dunklen Tiefe der Wohnung zu verschwinden, sieht Hesse, dass der Morgenmantel seines Gastgebers auf der Rückseite mit einem goldenen Drachen bestickt ist.

Der frische Wind, der München so oft durchweht, ist heute einem föhnigen gewichen. Es ist für einen Märztag sehr warm. Im Gegensatz zur Diele ist es draußen gleißend hell, die frischen Jugendstilfassaden in der Ainmillerstraße leuchten. Sie wirken auf ihn wie Kulissen, nichts ist wahr an diesem Morgen. Sollten die Häuser sich dennoch als echt erweisen, wäre er bloß eine Bühnenfigur oder gar ein albern schnell laufendes und ruckelndes Männchen aus dem von ihm wenig geliebten Kintopp.

Vor einem Café auf der Leopoldstraße sitzen reglos, in Decken gehüllt, einige Münchner Bürger. Die Stühle wurden so gestellt, dass ihre Gesichter der Sonne zugewandt sind. Sie sind stumm, Puppen mit ausgebauter Sprechvorrichtung. Auch die Gestalten in der vorbeifahrenden Tram, deren Fenster an diesem scheinbaren Frühlingstag ausnahmslos aufgerissen wurden, sind von verräterischer Bewegungsarmut. Bei dem dichten Verkehr hat Hesse Mühe, auf die andere Straßenseite zu kommen. Vom Siegestor braust mit hohem Tempo ein glänzendes Automobil heran, das feurig hupend einige Pferdefuhrwerke überholt. In Richtung Stadt fahren gleich drei motorisierte Wagen. Im Näherkommen erkennt Hesse das stadtauswärts rasende Auto als das von Albert Langen, ein knallroter, offener Züst mit Speichenrädern und dicken Lederpolstern. Der Mann hinterm Steuer trägt eine Mütze und einen bis zur Nase reichenden Schal. Neben ihm sitzt ein ebenso vermummtes Fräulein. Automobilistenbrillen machen die beiden vollends unkenntlich. Hesse würde nicht mehr schwören, dass es sich um Langen und seinen Züst handelt, auch wenn in München gerade mal fünfhundert Autos zugelassen sind. Die rechte Hand des Fahrers liegt starr auf dem Steuerrad, die linke auf der Ballhupe. Die Hände des Fräuleins ruhen auf seinem Oberschenkel und auf dem Armaturenbrett. Im Gegensatz zu den Gestalten, die Hesse bisher gesehen hat, wirken diese beiden lebendig. Sie weben einen Faden hin und her aus Liebe oder Anziehung. Der ist unsichtbar und doch so stark, dass man ihn noch bei zwanzig Kmh erkennt. Sollte es sich tatsächlich um Langen handeln, dann gehört das Fräulein nicht an seine Seite. Wie seine getrennt lebende Ehefrau oder die neue Lebensgefährtin sieht es jedenfalls nicht aus. Bevor Hesse sich vergewissern kann, ist der Wagen wie ein Traumgebilde vorbeigezogen. Nichts als die stinkende Rauchfahne bleibt. Der Dichter macht sich nicht die Mühe, sich über den Verlagsmann zu ärgern.

Bis zur Kaulbachstraße kennt Hesse den Weg. Dort befindet sich die Redaktion des Simplicissimus, dort gründen sie gerade die liberale Zeitschrift März, für die Hesse Rezensionen schreiben und die er mitherausgeben wird. Ein Stückchen weiter links liegt die Mandlstraße, wo Langen wohnt. Im Englischen Garten muss Hesse den Weg zum neuen Bad erraten. Wenn er immer geradeaus geht, wird er irgendwann auf die Isar treffen. Das Bad müsste ein Stück weit flussaufwärts liegen. Er folgt auf gut Glück den verschlungenen Pfaden durch den riesigen Park und gelangt zügig zum Chinesischen Turm. Die Anlage ist recht belebt, doch die Gestalten, die seinen Weg kreuzen, machen denselben verdächtigen Eindruck auf ihn wie schon jene in Schwabing. Die in den offenen Droschken und auf den Bänken sind von der gleichen puppenhaften Reglosigkeit und scheinbaren Hingabe an die wärmende Sonne. Andere wirken blass, übernächtigt, vom Licht bedroht wie Vampire. Ein großer Mann mit wirrem Bart und abgerissenen Kleidern tritt aus einer Bedürfnisanstalt. Er nestelt hastig seine Hose zu. Dabei schaut er sich ängstlich um, ob hinter ihm nicht allzu schnell der hübsche Knabe hinausschlüpft, den er mitgenommen hatte. Ein anderer steht unwillig am Wegrand und lässt sich von einer Frau in Hosen die Schminke aus dem Gesicht wischen. Immer wieder befeuchtet sie ihr Taschentuch mit Spucke und reibt ihm den Zinnober von den Wangen, das Karmesin von den Lippen. Der jungenhafte Mann legt seine schmalen Hände an verschiedenen Stellen auf die Frau, ohne dass sie sich irgendwo wohl fühlen würden. Dieser magere, bei aller Misslichkeit seiner Lage hochmütig dreinblickende Mann mit dem schulterlangen, glatten schwarzen Haar, gestern noch schwul und Anarchist, bald verheiratet und Psychoanalytiker, wird in Hesses Leben einmal eine Rolle spielen. Er heißt Johannes Nohl.

Hesse geht weiter zum Monopteros. Auf einmal hat er Lust, den künstlichen Hügel mit dem kleinen Tempel zu erklimmen. Oben ist er allein. Er bleibt eine Weile sitzen, betrachtet die Wiese zu seinen Füßen und die sich dahinter erhebende Silhouette der Stadt mit ihren vielen Kirchtürmen. Er selbst hat heute keinerlei poetisches Gefühl, nur dieses Befremden, im falschen Stück, im absolut falschen Leben zu sein. Er weiß, dass es zum Teil vom Kater und zum Teil von dem ihm ungewohnten, rauschhaften Stadtleben herrührt. Er spürt an diesem Morgen Abwehr gegen das Quere und Ungeordnete im Leben, das echte Nichtstun und das prinzipielle Verachten von Regeln. Diese Abwehr verschließt ihm gewisse Möglichkeiten im Leben wie beim Schreiben. Er selbst kritisiert sich als Autor von Idyllen. Dabei hat er durchaus dunkle Regungen bis hin zur Mordlust. Die Notwendigkeit, sie darzustellen, spürt er vorerst kaum. Vielmehr geht es ihm wie den alten Dichtern um das Schöne.

Er stellt sich vor, wie die Zehntausende seiner Leser die große Wiese vor ihm füllen. Für sie würde er gern Bleibendes schaffen. Im vergangenen Jahr saß er schon mal hier und sah dem Vollmond zu, der über die Dächer der großen Gebäude an der Ludwigstraße wanderte, bis er riesenhaft gebläht und rötlich zwischen den spitzen Kirchtürmen drüben festklemmte, wo er der aufgehenden Sonne nicht weichen wollte. Das war ein Moment vollkommener Schönheit. Der Moment zerrann, und Hesse gelang es nicht, jene Schönheit auf Papier zu bannen. Es schien ihm, als sei über den Mond und die Morgendämmerung alles Gültige bereits gesagt. Aus diesem Grund gibt es keine wahren Dichter mehr.

Hesse versinkt in der Erinnerung an das Besäufnis vom vorigen Abend. Er war mit Geheeb bei einem Atelierfest irgendwo in Schwabing und blieb, was er sich heute nicht erklären kann, genau an der Frau hängen, die ihm von vornherein am wenigsten sympathisch war. Die hübsche blonde Fanny schien ihm allzu vertraut mit den anwesenden Männern. Später jedoch scherzte er mit ihr, fand seine Zehen an ihrem Knöchel wieder und ihre Hand in seinem Ärmel. Sie rauchten Zigaretten und amüsierten sich mit der Vorstellung, dass alle Menschen um sie herum nur Automaten wären. Fanny zog eine nackte Puppe unter einem Tisch hervor und zeigte den Schalter auf der Brust, das runde Loch in ihrer Seite, in dem der Phonograph sitzen sollte. Er lag aber ausgebaut auf dem Boden. Daran erinnert er sich noch. Er sagte ihr, dass er dem eigenen Leben manchmal zuschauen könne, als spielte es auf einer Bühne. Da schaute sie ihn spöttisch an. Bald darauf muss er gegangen sein. Wie er nach Haus gekommen ist, weiß Hesse nicht mehr, nur dass er abends so lebendig war wie morgens tot.

Eine Viertelstunde später erreicht der Dichter die Prinzregentenstraße. Inzwischen hat er das Gefühl, schon sehr lang unterwegs zu sein. Die Weite Münchens erstaunt ihn immer wieder. Er läuft auf den goldstrahlenden Friedensengel zu, der einen starken Kontrast zu den Fabrikschloten bildet, die im Hintergrund die Bäume überragen. Zum zweiten Mal knattert der rote Züst vorbei. Wieder scheint es ihm, dass Langen hinter dem Steuer sitzt. Wieder zweifelt er, auch weil der andere kein Zeichen des Erkennens gibt. An der Isar sieht er endlich den dicken Turm des Müllerschen Volksbads. Er geht über die Luitpold-Brücke und schwenkt nach rechts in die noch jungen Maximiliansanlagen. Er passiert das Muffatwerk, wo mit Hilfe von Wasserkraft und Dampf Strom erzeugt wird. Wie genau das vonstattengeht, ist ihm unbekannt, technische Dinge interessieren ihn nicht. So erreicht er die Rückseite des einzigen Hallenbads der Stadt.

Langen hat nicht übertrieben. Schon nach einer Stunde im Volksbad ist Hesses Kater verschwunden, er fühlt sich nicht länger wie ein Untoter. Im Dampfbad hat er Körpergifte ausgeschwitzt und sich überwunden, ins eiskalte Wasser zu steigen. Mit einer Handvoll anderer Männer hat er die Zehen zur Mitte des kreisrunden Beckens unter der Kuppel gestreckt. Auf das elektrische Lichtbad hat er allerdings verzichtet. Er hätte dabei in einer bis zum Hals geschlossenen Kiste gesessen, die im Innern von Glühbirnen erhellt und erhitzt wird. Nun ruht er sich in einer Kabine aus und reinigt allmählich seinen Geist von den nachalkoholischen Anfechtungen seiner dichterischen Natur. Draußen platschen nasse nackte Füße vorbei, ab und zu hüstelt jemand. Ansonsten ist dies ein stiller Ort, an dem die Gedanken sich leichter und weiter hervorwagen als anderswo. Er will darauf achten, dass ihm keiner verlorengeht. Nachdem er eine Menge Wasser getrunken hat, bricht er zu einer zweiten Runde auf. Im Schwitzbad hockt er sich dicht am Brunnen auf die obere Bank. Der Schweiß tritt nun viel schneller aus den Poren als vorhin. Hesse wird schlapp. Er starrt in den Dampf, der seine ohnehin schlechten Augen weiter beeinträchtigt, und genießt diese halbe Blindheit. Sie zieht einen Schleier vor die Welt.

Schwerfällig klappt die Tür. Selbst Geräusche sind in diesem Nebelreich dumpfer. In einem kühlen Hauch nähern sich mit schwerem Schritt zwei nackte Gestalten. Insgesamt hält sich vielleicht ein halbes Dutzend Männer im Schwitzbad auf. Die beiden Neuen nehmen unweit von Hesse auf der unteren Bank Platz. Sie waren schon im Gespräch, als sie die Tür öffneten, fielen vorübergehend jedoch in Schweigen. Nun nimmt der Dicke den Faden wieder auf, und Hesse, der die Ellenbogen auf die Knie stützt und den Schweiß von seiner vorgeneigten Stirn tropfen lässt, hört jedes Wort.

„Jedenfalls ist der ein Keller-Epigone. Merkst du in jeder Zeile. Der taugt mal bloß zum Volksschriftsteller.“

„Das habe ich auch gelesen. Auch dass es dem Zamenkind völlig an Stil mangle.“

Schon beim Wort „Keller-Epigone“ ist Hesse hellwach geworden. Er kennt die Besprechungen seines ersten Romans und weiß, dass viele Rezensenten bemerkt haben, durch welche Schule er gegangen ist. Nicht alle haben es ihm übelgenommen. Halb resigniert, weil jedweder Protest nutzlos wäre, halb entsetzt, weil es seine eigenen Zweifel befeuert, sitzt er auf der oberen Bank und hört den beiden Bildungsphilistern zu, diesen Nordkaffern, diesen schon in ihrer Art der Rede groben Preußen, die ihre selbstgefällige Missachtung und ihre von der öffentlichen Meinung abhängigen Schmähungen über seiner empfindsamen alemannischen Seele ausgießen. Mit den Kübeln voll Neid und Spott, die sie für den erfolgreichen jungen Autor haben, ist es indes noch nicht getan.

„Haben Sie aber den Törleß gelesen?“, fragt der Dicke in die milchige Dunkelheit.

„Ist das dieses englische Buch?“

„Österreich.“

„Österreich bringt die erstaunlichsten Literaten hervor. Rilke etwa. Gedichte und Cornet.“

„Zweig. Oder denken Sie an Hofmannsthal. Erstaunlich. Der Schnitzler … Gott, ja, es sind Juden. Aber ganz erstaunlich.“

„Sie fahren zu oft nach Wien. Im Reich ham wir genauso gute.“

„Dieser neue soll richtig rangehen. Habe gelesen, was Kerr über ihn schreibt. Er heißt, warten Sie, Musil.“

„Ist das denn ein deutscher Name?“

„Die Verirrung des Zöglings Törleß heißt das Buch. Ist ein dolles Ding.“

„Wenn Sie mich fragen, klingt das nicht nach einem deutschen Namen.“

„Dieser Musil hat neue Stufungen des Seelischen beschrieben. Da hat sich sonst noch niemand rangetraut. Ohne jede Weichlichkeit. Ein Offizier. Tatsachendarsteller. Frei von Empfindsamkeit. Da ist die Stimmung nicht gemalt wie bei dem Hesse, sondern das Dargestellte wirft sie ab.“

„Und was stellt er nun dar?“

„Naja, ich weiß nicht.“ Der Dicke senkt die Stimme. „Er schreibt von der Kadettenschule. Im Grunde sind es Sauereien.“

„Bist du sicher, dass er kein Engländer ist?“

Hesse springt auf. Dicht neben den beiden erschrockenen Männern tritt er auf die untere Bank und stiebt aus der Tür. Das heißt, er würde gern stieben, aber die Tür ist derart massiv, dass er sie nur langsam öffnen kann. Als er schon auf dem Gang steht, wendet er sich noch einmal um.

„Es heißt übrigens Ca-men-zind. Lernen Sie erst einmal lesen. Ade, die Herren.“

Er rauscht in die Schwimmhalle und springt vom Beckenrand ins kühle Wasser. Das trägt ihm einen mahnenden Zeigefinger vom Badediener ein. Ein paar kräftige Schwimmstöße bringen ihn in die Mitte des Beckens, wo er sich auf den Rücken dreht und toter Mann spielt. Unter der weiß getünchten Decke der Schwimmhalle sieht er regenbogenfarbene Sprühnebel, ein Effekt, den der Architekt so beabsichtigt hat. Hesse jedoch führt das Schillern auf eine Fehlfunktion seiner Augen zurück. Da neben ihm noch jemand in regelmäßigen Zügen auf und ab schwimmt, umspülen kleine Wellen seinen Körper. Wasser will in seine Nase schwappen, er hebt rechtzeitig den Kopf. Er ist ein junger Autor mit Erfolg. Der Camenzind verkauft sich seit drei Jahren ganz außerordentlich. Auch Unterm Rad läuft wider sein Erwarten gut. Die Angriffe auf seinen Stil lassen ihn kalt. Er ist sich seiner Sprache sicher. Der „Volksschriftsteller“ aber ist ein Stachel. Idyllenschreiber, Unterhaltungsautor – das möchte er nicht sein, so will er nicht gesehen werden. Er wird noch einmal alles daransetzen, diesem Image zu entkommen. Er setzt schon jetzt alles daran, das hemmt ihn. Er wird bald dreißig, da sollte er im Zenit stehen. Stattdessen hat er einen Hänger. Der neue Roman will nicht gelingen. Vielleicht ist es falsch, so sehr auf die eigene Stimme zu hören und auf dem Land zu leben, dem Krach und dem Dreck, der Eitelkeit der Städte den Rücken zu kehren. Vielleicht sollte er wenigstens im Winter in München leben. Wenn er sich fragt, was ihm am Bodensee fehlt, kommt er genau auf das: Lebendigkeit.

Hesse schwimmt ausgiebig. Er lenkt seine Blicke auf die Architektur der Halle, den Tierkreis und den Schlangenwürger, lässt sich vom Wassergott aus breitem Maul einen kräftigen Strahl in den Nacken speien. Den beiden Männern aus dem Schwitzraum begegnet er nicht wieder. Sie reihen sich ein in den Zug der schwankenden Gestalten dieses Vormittags. Er hat sie bald vergessen. Erfrischt, mit aufgeweichten Händen tritt er schließlich ins Freie. Er nimmt sich vor, später im Glaspalast die Ausstellung anzuschauen.

Auf diese Weise wird er wieder Mensch.   

Thomas Lang

Über Thomas Lang

Biografie

Thomas Lang, geboren 1967 in Nümbrecht (NRW), lebt in München. 2002 erschien der Roman Than, ausgezeichnet mit dem Bayerischen Staatsförderungspreis und dem Marburger Literaturpreis. 2005 erhielt Lang den Ingeborg-Bachmann-Preis für einen Auszug aus dem Roman Am Seil, der außerdem für den Preis der...

Pressestimmen
Frankfurter Neue Presse

„Thomas Lang gelingt ein großartiges Ehe-Porträt, eben weil er die Schuldfrage nicht stellt. Beinah therapeutisch begleitet er Mia und Hermann, scharfsichtig, mitfühlend. Getragen von einem sensibel-poetischen Ton, glückt Lang ein spannender, farbiger Künstler-Roman. Aus einem Paar-Schicksal macht er ein paradigmatisches Buch über das Scheitern der Liebe.“

Süddeutsche Zeitung

„Thomas Lang zeigt diesen zweifelnden, sehnsüchtigen und selbstsüchtigen Hesse in vielen Facetten.Und es ist durchaus mutig und riskant, wie er das tut: Er fühlt sich in die Art und Weise, wie ein junger, ehrgeiziger, zwischen sich und der Welt zerrissener Schriftsteller damals seine Umgebung wahrnahm, unmittelbar ein. (...) Der Roman denunziert seinen Protagonisten nicht, aber er erklärt ihn vor dem Hintergrund seiner Zeit. Es ist eine Dekonstruktion mit literarischen Mitteln.“

NDR Kultur

„Thomas Lang versetzt sich hautnah in die Lebenssituation Hesses, der sich zwischen häuslicher Familienidylle und freiem Künstlerleben hin und her gerissen fühlt.“

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