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Himmel im Herzen

Himmel im Herzen

Daniela Sacerdoti
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Roman

„Daniela Sacerdoti ist unsere neue Lieblingsautorin. ›Hinmel im Herzen‹ ist ein ganz besonderer und bewegender Roman.“ - The Sun

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Himmel im Herzen — Inhalt

Manchmal müssen wir der Liebe auf die Sprünge helfen

Gerade hat Inary Monteith aus einer Dummheit ihren besten Freund Alex verloren, da erreicht sie ein alarmierender Anruf aus ihrer schottischen Heimat: Ihre Schwester ist schwer krank. Inary reist sofort von London in ihr Heimatdorf Glen Avich. Dort angekommen, werden schmerzvolle Erinnerungen aus ihrer Vergangenheit wach. Dazu spukt Alex ihr ständig im Kopf herum, und ihrer Schwester geht es zunehmend schlechter. Als Inary keinen Ausweg mehr sieht, weist ihr eine alte Gabe ihrer schottischen Großmutter den Weg zur Heilung ihres Herzens …

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 01.02.2016
Übersetzt von: Sina Hoffmann
336 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97206-2
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Leseprobe zu „Himmel im Herzen“

Prolog

Von der anderen Seite
Morag Kennedy winkte mir an einem klaren, sonnigen Tag in Glen Avich von der anderen Seite aus zu. Sie stand vor ihrem weiß getünchten Cottage, und die Sommersonne glühte hinter ihr wie ein goldener Heiligenschein auf und ließ die Felder in goldenem Glanz erstrahlen. Ich winkte zurück und lief auf sie zu in der Hoffnung, sie könnte vielleicht ein paar der ge­zuckerten Geleedrops haben, die sie mir immer gab, doch dann zögerte ich. Ich wusste, dass sie krank war, und wollte sie nicht belästigen. Mit einem Mal merkte ich, dass [...]

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Prolog

Von der anderen Seite
Morag Kennedy winkte mir an einem klaren, sonnigen Tag in Glen Avich von der anderen Seite aus zu. Sie stand vor ihrem weiß getünchten Cottage, und die Sommersonne glühte hinter ihr wie ein goldener Heiligenschein auf und ließ die Felder in goldenem Glanz erstrahlen. Ich winkte zurück und lief auf sie zu in der Hoffnung, sie könnte vielleicht ein paar der ge­zuckerten Geleedrops haben, die sie mir immer gab, doch dann zögerte ich. Ich wusste, dass sie krank war, und wollte sie nicht belästigen. Mit einem Mal merkte ich, dass ich mich irgendwie seltsam fühlte – meine Arme und Beine kribbelten, und in meinen Ohren summte es leise. Dieses Gefühl war mir völlig fremd, etwas Ähnliches hatte ich noch nie zuvor verspürt.
Just in diesem Augenblick schoben sich Wolken vor die Sonne, und da diese nun nicht mehr blendete, konnte ich Mrs Kennedy erst richtig erkennen: Sie trug das Baumwollkleid mit Blümchenmuster, das sie normalerweise für die Garten­arbeit anzog, das Haar war zu einem ordentlichen Bob frisiert und die Strickjacke mit einer schlichten Brosche verschlossen. Ich musste zweimal hinschauen – Mrs Kennedys Gesicht sah ­irgendwie anders aus. Sie war schon seit langer Zeit krank, ihre Gesichtszüge wirkten immer ausgezehrter, der Körper wurde mit jedem Tag magerer. Selbst in meinem Alter – ich muss so um die acht Jahre alt gewesen sein – war ich mir der Schmerzen und der Angst bewusst, die sich nach und nach ihres Verstandes bemächtigten und sich in ihrer Miene zeigten, besonders in ihrem Blick – so, wie die Krankheit sich ihres ganzen Körpers bemächtigte. Doch an jenem Frühsommerabend schien sie wieder ganz die Alte zu sein. Ihr Lächeln wirkte heiter, und ihre blauen Augen strahlten wie vor ihrer Erkrankung.
Plötzlich hörte ich Schritte hinter mir, drehte mich um und sah meinen Bruder, der gerade unser Cottage auf der anderen Straßenseite verließ. Ich nahm an, dass er geschickt worden war, um mich zum Abendessen hereinzurufen, und wunderte mich, warum meine Mutter mich nicht einfach vom Küchenfenster aus gerufen hatte, wie sie es sonst für gewöhnlich tat. Vielleicht wollte sie sicher sein, dass ich auch wirklich sofort nach drinnen kam; ich war dafür bekannt, auch gern mal stattdessen in die Felder hineinzulaufen und mir so eine weitere Stunde des Spiels zu ergaunern.
„  Mum will, dass du reinkommst, Inary “, sagte Logan leise. Er war immer so ernst, doch in jenem Augenblick wirkte er sogar fast pathetisch. Ich drehte mich zu Mrs Kennedy um, um mich von ihr zu verabschieden, doch sie war fort.
„ Ist das Abendessen schon fertig ? “, fragte ich meinen Bruder.
„ Ich glaube nicht. “
„ Warum muss ich dann reinkommen ? “
„  Schschscht, Inary, jetzt komm rein ! “ Meine Mutter war an der Haustür aufgetaucht; sie streifte die Schürze ab und strich sich übers Haar. Als wir vor ihr standen, fuhr sie fort: „ Ich möchte, dass ihr beide ein Auge auf Emily habt, während Oma und ich mal eben rübergehen. Wir bleiben nicht lang weg; wir müssen nur kurz Karen und Isabel kondolieren. “
Ich hatte keine Ahnung, was sie damit meinte. „ Kondolieren “ war einfach ein zu schwieriges Wort für eine Achtjährige. „ Wo gehst du hin ? “
Sie hielt inne und sah mich zärtlich an. „ Mrs Kennedy ist gestorben, Süße. Ich möchte ihren Kindern sagen, wie leid mir das tut. “
„ Sie ist nicht gestorben. Sie ist doch da. Ich hab sie eben noch gesehen. “
Viele Jahre sind seitdem vergangen, aber ich erinnere mich immer noch an den Blick meiner Mutter, als ich diese Worte sagte. Überraschung und gleichzeitig auch eine Art von Wiedererkennen.
„ Wo hast du sie gesehen, Inary ? Bist du in ihrem Haus gewesen ? “
„ Nein. Sie war draußen, im Garten. Sie hat mir zugewinkt. “
Meine Mutter kniete sich vor mich hin und hielt mich ganz fest. Sie streichelte mir übers Gesicht; ihre Finger rochen noch nach den Himbeeren, die sie zuvor im Garten gepflückt hatte. „ Du kommst genau nach deiner Oma Margaret, weißt du ? In
jeder Hinsicht “, flüsterte sie.
Ich lächelte. Ich liebte meine Großmutter von ganzem Herzen, und gesagt zu bekommen, dass ich genau wie sie war, fühlte sich wie das weltbeste Kompliment an.
„ Lass uns gehen, Anne “, erklang Großmutters Stimme von der Haustür her. „ Was ist los ? “, fragte sie, als sie den Gesichtsausdruck meiner Mutter gesehen hatte.
„ An da Shealladh “, flüsterte meine Mutter. Untereinander sprachen sie immer dann Gälisch, wenn sie nicht wollten, dass ich ihre Worte verstand. „ Sie hat Mrs Kennedy gesehen, Mum. “
Meine Großmutter riss die Augen auf. Dann nahm sie meine Hand und zog mich sanft zu sich heran.
„ Oh, Inary … “
Mit einem Mal war ich verwirrt. Ich begriff nicht, ob ich brav oder ungezogen gewesen war und warum sowohl meine Mutter als auch meine Großmutter so emotional reagierten. Ich hatte doch nur Mrs Kennedy gesehen, bevor sie gestorben war. Das war alles. Außerdem verstand ich überhaupt nicht, was „ sterben “ bedeutete.
Und schon kamen mir die Tränen. „ Was habe ich denn angestellt ? “
„  Oh, Inary, sei nicht traurig, Liebes “, erwiderte meine Großmutter. „ Du bist noch so klein. Ich war viel älter, als es bei mir anfing. Für den Moment musst du einfach nur wissen, dass du eine besondere Gabe hast. “ Sie legte ihre Hände um mein Gesicht und küsste mich auf die Stirn. Ihre Augen glänzten. „ Und jetzt ab mit dir und leiste deiner Schwester Gesellschaft, Liebes. Wir sind nicht lang weg. “
Gemeinsam überquerten sie die Straße und gingen zu Mrs Kennedys Töchtern, während Logan und ich uns um Emily kümmern sollten. Ich lief in ihr Zimmer hinauf, um bei ihr zu sein. Damals war sie gerade erst fünf Jahre alt und hatte schon zwei Herzoperationen hinter sich. Sie schlief; ihre Lippen waren selbst im Schlaf leicht bläulich verfärbt.
Normalerweise hatte ich Mühe, längere Zeit still zu sitzen, doch nach allem, was gerade passiert war, fühlte ich mich irgendwie seltsam beunruhigt, als sei plötzlich jede Energie aus mir entwichen.
Ich habe eine Weile gebraucht, bis mir klar wurde, dass ich Mrs Kennedy nach ihrem Tod gesehen hatte; ihr Körper lag in ihrem Haus, doch ihre Seele hatte sich befreit. Irgendwann habe ich begriffen, dass sie mir keineswegs zur Begrüßung
zugewinkt hatte: Sie hatte sich von mir verabschiedet.


1

Die Nacht, in der ich fiel
Inary


„  Cassandra lief weiter, so schnell, dass sich ihre Lunge anfühlte, als würde sie jeden Moment platzen. Sie spürte die Veränderung bereits. Ihre Muskeln verkrampften sich, und alle Knochen taten ihr weh, als würden sie sich strecken und so weit ausdehnen, dass sie kurz davor waren zu brechen. Wenn sie nicht bald einen Platz fand, an dem sie sich wandeln konnte, wäre ihr Geheimnis gelüftet. Was würden sie mit jemandem wie ihr anstellen ? Sie Experimenten unterziehen ? Sie in einen Zoo einsperren ? “
„ Sie in einen Zoo einsperren ? “, las ich bestürzt laut vor. Ich nahm die Brille ab und schlug mir zum x-ten Mal die Hände vors Gesicht. Dies war das Wochenende, an dem ich endlich mit meiner Geschichte vorankommen sollte. Das Problem war nur, dass mein Kopf einfach nicht mitspielen wollte. Seit Monaten schon hatte ich an Cassandras Geschichte gearbeitet, doch bislang hatte dies zu rein gar nichts geführt. Mehrere Tausend Wörter, die vergebens waren, ebenso wie mehrere vergeudete Monate. Niemals würde Cassandra das Licht der Welt erblicken. Stattdessen würde sie nur wieder auf den Stapel der Manuskripte wandern, die niemals abgeschickt wurden. Und ich würde den Rest meines Lebens damit verbringen, die Bücher anderer Leute auf Vordermann zu bringen und von dem Roman zu träumen, den ich niemals schreiben würde. Ich war Lektorin in einem kleinen Verlag in London und liebte meinen Job eigentlich – doch in letzter Zeit war mir alles zu eng geworden wie eine Haut, die sich noch nicht abgelöst hatte.
Ich seufzte und starrte auf das Foto mit den Hügeln von Glen Avich, das über meinem Schreibtisch an der Wand hing: Da-
rauf war der weite, windumtoste schottische Himmel zu sehen und die schwarzen Umrisse der Kiefernwälder; ein Hauch von Nebel waberte über der Landschaft, und der Mond lugte geisterhaft hinter einer Bergspitze hervor. Das Foto war so wunderschön, dass ich beinahe die Wälder und die Torffeuer riechen und den Wind auf meiner Haut spüren konnte. Normalerweise verlieh es mir Auftrieb, wenn ich das Bild betrachtete, doch dieses Mal wurde ich plötzlich und unerklärlicherweise von einer großen Angst gepackt …
„ Ich bin zu Hause ! “, ertönte die Stimme meiner Mitbewohnerin im Flur.
In dem Versuch, dieses düstere Gefühl wieder loszuwerden, das mich gepackt hatte, lief ich in den Flur und drückte sie ganz fest. „ Lesley ! “
„ Inary ! “ Sie lachte und erwiderte meine Umarmung. „ Was ist denn mit dir los ? “
„ Rette mich, und geh mit Alex und mir etwas trinken “, flehte ich sie an. „ Ich hab einen echt harten Tag hinter mir. “
„ Ach, Süße, ich kann leider nicht. Ich muss heute Abend
arbeiten.  “ Lesley war Konzertveranstalterin, was bedeutete, dass sie oft an den Wochenenden arbeiten musste. Gleichzeitig bedeutete dies aber auch jede Menge Freikarten für Konzerte, was definitiv ein Vorteil war.
„ Nicht mal ein Gläschen auf die Schnelle ? “, flehte ich.
„  Ich kann nicht. “ Sie starrte mich finster an, oder versuchte es zumindest. Es war schwierig, gleichzeitig jemanden böse anzustarren und zu grinsen. „ Dafür habe ich aber das ganze nächste Wochenende frei. “
„  Das ist toll “, erwiderte ich und meinte es auch so. Ich freute mich schon sehr auf ein gemeinsames Wochenende. Lesley und ich waren Mitbewohnerinnen, seit ich nach London gezogen war; sie hatte mich mit ihrem besten Freund bekannt gemacht, Alex. Wir drei waren während der letzten drei Jahre nahezu
unzertrennlich gewesen.
Mit Lesley zusammenzuwohnen war einfach nur perfekt. Ich besaß leider die Angewohnheit, des Öfteren zu vergessen, mich um mich selbst zu kümmern, doch sie machte um mich einen großen Wirbel, sorgte dafür, dass ich regelmäßig aß, kaufte mir Erkältungsmittel, wenn ich krank war, und ertrug tapfer mein andauerndes Chaos. Dafür unterhielt ich sie, zumindest behauptete sie dies immer. Ich brachte sie zum Lachen und sorgte für gute Laune. Das hatte ich schon immer gut gekonnt – sogar dann, wenn mir selbst gar nicht nach guter Laune zumute war.
Ich hatte Lesley im Sommer kennengelernt, bevor ich nach Aberdeen gegangen war, um dort an der Uni Englisch zu studieren. Was zunächst wie eine eher unwichtige Begegnung ausgesehen hatte, war zu einem Treffen mit Konsequenzen geworden. Ich hatte meine Tante Mhairi in ihrem Cottage am Ufer von Loch Avich besucht. Es hatte in Strömen geregnet, doch ich – typisch – hatte mal wieder meinen Schirm vergessen.
Allerdings hatte ich meinen Schirm schon seit Monaten nicht mehr gesehen.
Während ich also vor der Haustür meiner Tante stand, pitschnass wurde und vergeblich ihren Namen rief, erblickte ich eine Gruppe von Wanderern, die das benachbarte Cottage ansteuerten, ein Ferienhaus, das vermietet wurde. Es handelte sich zweifellos um Touristen. Denn würde ein weit über ein Meter achtzig großer Mann mit einer Hautfarbe wie schwarzer Kaffee und einem Kopf voller Dreadlocks – Lesleys Bruder Kamau, wie ich später erfahren sollte – im Dorf wohnen, hätte ich das gewusst. Der auffällige Mann wurde von einer Gruppe von Männern und Frauen begleitet, unter denen sich eine unglaublich hübsche Frau befand, deren Haar zu Cornrows, winzig dünnen Zöpfen, geflochten war. Die Gruppe blieb vor dem Cottage stehen und schaute gelegentlich zu mir herüber, war jedoch zu höflich, um mich offen anzustarren. Man wechselte ein paar Worte, die ich aber durch das Geprassel des Regens nicht verstehen konnte, bevor dann die junge Frau mit den geflochtenen Zöpfchen zu mir herüberkam.
„  Hallo, wir … ähm … wir wohnen hier in der Heather Lodge. Du wirst ja pitschnass, darum haben wir gedacht, ob du nicht lieber drinnen warten willst, du weißt schon, nicht hier im Regen. Auf wen auch immer du wartest. “ Sie hatte einen angenehmen Londoner Akzent, unter den sich noch etwas anderes mischte – ich glaube, es war Französisch, doch später sollte sich herausstellen, dass es der Akzent der Karibischen Inseln war. Nicht leicht zu unterscheiden, deshalb konnte einem dieser Fehler leicht unterlaufen. Ihre Sorge rührte mich sehr. „ Vielen Dank, ist schon okay. Ich gehe einfach nach Hause, das ist nicht weit. “
„ O … dann nimm den hier “, erwiderte sie und bot mir ihren leuchtend roten Schirm an, während sie die Kapuze aufsetzte und dabei mit der Masse ihrer geflochtenen Zöpfe zu kämpfen hatte.
„ Mach dir keine Umstände, ich bin es gewohnt, hier nass bis auf die Haut zu werden ! Du brauchst den Regenschirm schließlich noch “, erklärte ich und hob abwehrend die Hände.
„ Nein, eigentlich nicht. Sieh mal “, antwortete sie lächelnd und kramte in ihrem Rucksack herum, „ ich habe noch einen ! “ Sie holte einen winzigen gepunkteten Taschenschirm hervor und reichte mir diesen.
Ich musste lachen. „ Warum trägst du zwei Schirme mit dir herum ? “
„ Um auf der sicheren Seite zu sein. “ Sie zuckte mit den Schultern. Kurz und gut: Das war Lesley.
Ich nahm den gepunkteten Schirm und lief im prasselnden Regen davon. Ich erinnere mich noch, dass ich mich umdrehte und Lesley dort stehen sah, wie sie mich – umrahmt von ihrem leuchtend roten Schirm wie eine exotische Blüte – beobachtete. Lächelnd winkte sie mir zu, bevor sie sich schließlich umdrehte und ihren Freunden ins Haus folgte. Damals wusste ich noch nicht, dass sie meine beste Freundin werden sollte, trotz der großen Entfernung zwischen uns und trotz der Tatsache, dass wir beide von vollkommen unterschiedlichen Seiten der Welt stammten.
Am nächsten Tag kehrte ich zum Cottage zurück, um ihr den Schirm zurückzugeben, und am Ende unterhielten wir uns mehrere Stunden miteinander. Nachdem sie nach London zurückgekehrt war, blieben wir in Kontakt und mailten einander beinahe wöchentlich. Langsam vertiefte sich unsere Freundschaft, und nachdem … nachdem mein Leben in Schottland in die Binsen gegangen war, bin ich bei ihr eingezogen. Sie hat mich schlichtweg davor bewahrt, den Verstand zu verlieren.
„ Warum hast du einen harten Tag hinter dir ? “, erkundigte sie sich nun, hängte ihren Mantel an die Garderobe, zog sich die Schuhe aus und reihte sie fein säuberlich nebeneinander auf, wie sie es immer tat. Neben ihren Sachen befand sich auf einem Korbstuhl ein unordentlicher Haufen aus Jacken, Mützen, nicht zueinanderpassenden Handschuhen und einzelnen Socken, gemischt mit verschiedenem Krimskrams: So sah meine Ecke aus.
„ Ich bin im Stress. “ Ich seufzte.
„ Autorin zu sein, das ist schon echt hart “, zog sie mich auf und ging auf nackten Füßen über die Holzdielen in die
Küche, wobei ihre geflochtenen Zöpfe auf dem Rücken auf und ab hüpften.
„  Es ist hart, keine zu sein “, erwiderte ich, der Wahrheit entsprechend. Ich verlor immer mehr die Hoffnung, jemals mit dem Schreiben meinen Lebensunterhalt verdienen zu können. Und das Schreiben war schon seit … schon immer meine große Leidenschaft gewesen.
„ Na gut. Die Werwolf-Geschichte entwickelt sich also nicht so wie geplant ? “, fragte sie und schaltete den Wasserkocher ein. „ Möchtest du einen Kaffee ? “
„  Nein danke. Die Sache mit dem Werwolf … heikles Thema. Keine Ahnung, warum das in den Büchern anderer Leute funktioniert, aber wenn ich versuche, eine solche Geschichte zu
schreiben, dann … “
Lesley nippte an ihrem Milchkaffee. „ Vielleicht liegt es daran, dass es eben nicht deine Geschichte ist. Also, die Geschichte, die du erzählen sollst. “
„ Schon möglich. “ Hatte ich denn überhaupt eine Geschichte zu erzählen ? Davon war ich stets überzeugt gewesen, doch allmählich fragte ich mich, ob dies wohl so stimmte oder ob ich nicht einfach nur völlig verblendet war. Ob mein Spruch „ Eines Tages werde ich Schriftstellerin “ nicht doch das Äquivalent zu der Verkündung einer Fünfjährigen war: „ Wenn ich einmal groß bin, will ich Ballerina werden “.
Ich seufzte. „ Wie auch immer. Ich glaube, ich gehe mich jetzt besser fertig machen … “
„ Hast du noch Zeit für ein Curry ? “, fragte Lesley.
„  Ein Curry aus der Imbissbude oder ein Lesley-Curry ? “, ­erkundigte ich mich hoffnungsvoll. Lesleys Familie stammte aus Jamaika, und ihre Currys waren fantastisch. Während ich allein schon mit Spaghetti bolognese meine liebe Mühe hatte. Lesley hatte mein Markenzeichen „ Sparversion bolognese “ ­getauft – ich finde, das sagt schon alles.
„ Ein Lesley-Curry natürlich, meine Liebe. “
Die Versuchung war groß, doch ich wollte zu meinem Treffen mit Alex nicht zu spät erscheinen. „ Kannst du mir was übrig lassen ? Wenn ich später nach Hause komme ? “
„ Mal sehen … “
„ Ach, komm schon ! “
„ Na gut. Aber du musst was essen, damit du eine ordentliche Grundlage hast. “
„ Ja, Mum ! “ Ich lachte.
Ich kehrte in mein Zimmer zurück und speicherte das
Cassandra-Dokument ab, obwohl es mir in den Fingern juckte, alles zu löschen, was ich an diesem Nachmittag geschrieben hatte, um später dann noch einmal ganz von vorn zu beginnen.
Schnell streifte ich Jeans und Pulli über – ich wollte mich nicht schick machen. Schließlich ging ich zu einem Treffen mit Alex, nicht etwa zu einem heißen Date. Aber so leger kam ich mir dann auch irgendwie komisch vor, weshalb ich mich letztlich doch für ein schwarzes Kleid und eine leuchtend lilafarbene Strumpfhose entschied. Ich versuchte, mein Haar mit der Bürste zu bändigen – ich hatte so viel davon –, und betrachtete dann mein Spiegelbild. Es war ein seltsames Gefühl, wenn man die Person kaum wiedererkannte, die einem da entgegenblickte. Eine junge Frau, die einem zwar ähnlich sah – die gleiche wellige Haarmähne und die typisch schottische helle Haut –, gefolgt von der Frage: Wer ist das ?
Ich seufzte und machte mich unter den Bergen von achtlos aufeinandergeworfenen Klamotten auf die Suche nach meiner Handtasche. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie es so weit gekommen war oder auch warum, aber im Augenblick schien so ziemlich alles in meinem Leben plötzlich schwierig geworden zu sein, und meine Tage und Nächte waren von einer seltsamen Unruhe und Rastlosigkeit geprägt. Es war, als hätte ich etwas Wichtiges verloren, das ich nun verzweifelt zurückzubekommen versuchte. Etwas, das ich einst besessen hatte, oder jemand, der ich einmal gewesen war … jemand, der auf den Namen Inary hörte und nicht die Frau war, die die Romane anderer Leute in Ordnung brachte und über Werwölfe schrieb. Jemand, der nicht die Frau war, die mir im Spiegel entgegenblickte.
Ich schaute mich in meinem kleinen Londoner Zimmer um. Hier regierte die Unordnung, und es war winzig – doch es war meines: der Kleiderschrank, den ich hellblau und silbern angestrichen hatte, zwischen dessen Türen reihenweise Kleider hervorlugten und an dessen Griff an der linken Tür schief ein Kleid hing; die Bücherstapel auf meinem Nachttisch, die mit Eintrittskarten von Konzerten und Theaterstücken übersäte Pinnwand; der Schreibtisch, auf dem sich Papiere, Zeitschriften und Bücher häuften … Bruchstücke meines Lebens, eines glück­lichen Lebens – eines Lebens, das ich mir aus dem Nichts aufgebaut hatte, nachdem alles, wirklich alles, was mir wichtig gewesen war, zu Staub zerfallen war.
Warum also diese Rastlosigkeit ?
Vielleicht, weil alles so banal und alltäglich aussah und sich auch so anfühlte. Früher war ich einmal in der Lage gewesen, darüber hinauszuschauen, hinter all die kleinen Dinge des Alltagslebens zu sehen, jenseits unserer Wirklichkeit. Ich war einmal jemand gewesen, der den sechsten Sinn besaß, und nicht nur die gewohnten fünf Sinne. Das war jetzt jedoch nicht mehr so. Dennoch wuchs in mir der Gedanke heran, dass mein Leben doch eigentlich anders hätte verlaufen sollen – eine Vorstellung, die mich nicht mehr losließ.
Ich entdeckte den Riemen meiner Handtasche unter einem Manuskriptstapel auf dem Schreibtisch. Als ich das Zimmer durchquerte, um mir die Tasche zu holen, fiel mein Blick ein weiteres Mal auf das Bild von Glen Avich. Da war er wieder – der Schauer, der mir über den Rücken lief. Ich hängte
mir die Tasche über eine Schulter und legte die Hand auf das gerahmte Bild meiner Schwester, das direkt neben dem Computer stand. Ganz gleich, wie unordentlich mein Zimmer war: Emilys Bild war niemals verdeckt, und der glänzende Silberrahmen war stets poliert.
Mein nächster Besuch stand in ein paar Wochen an, und ich war wie immer hin- und hergerissen: Einerseits konnte ich es kaum erwarten, Emily wiederzusehen, andererseits graute mir bereits davor, auf Logan zu treffen, denn ich fürchtete besonders sein vorwurfsvolles Schweigen und seine Anschuldigungen. Während ich an die beiden dachte, schien der Silberrahmen um Emilys Foto unter meinen Fingern eiskalt zu werden – ich schauderte und zog meine Hand weg. Schnell warf ich einen Blick auf die Uhr – blieb mir noch genügend Zeit, um sie anzurufen ? Doch ich war schon spät dran. Ich würde sie vom Pub aus anrufen, nahm ich mir vor, und verließ nach einer kurzen Verabschiedung von Lesley die Wohnung.
Die Nacht in London war wie immer erfüllt von Lärm und vielen Menschen; der Himmel war orangefarben – so vollkommen anders als die stillen, rabenschwarzen Nächte zu Hause.
Warum musste ich eigentlich immerzu an daheim denken ? Das war zwar nichts Neues für mich, aber normalerweise geschah dies nicht so oft wie heute. Also versuchte ich, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, und betrat den Pub, in dem sich Gruppen von Männern und Frauen an ihre Drinks klammerten und sich über die laute Musik hinweg miteinander
unterhielten.
Alex war schon da. Ich wünschte inständig, behaupten zu können, dass mein Herz bei seinem Anblick keinen Freudensprung vollbrachte, doch das tat es – eine weitere Sache, die mich in letzter Zeit beunruhigte. Ich fing an, mich ein wenig zu sehr auf die Treffen mit Alex zu freuen; mir fiel auf, wie stark seine Hände aussahen und wie gut es sich anfühlte, wenn sie
irgendwie auf mir landeten – auf meiner Schulter, ganz beiläufig, oder wenn Alex mich an die Hand nahm und durch einen überfüllten Club führte. Mir fiel sein dichtes, schwarzes Haar auf, und schwups, da war es wieder, dieses kleine „ oh “, das ich jedes Mal in mir verspürte, wenn ich ihn sah.
Nicht gut.
„ Hey ! “ Er winkte mir zu; seine Finger waren wie immer ganz verschmiert von der Tinte eines Pantone-Markers. Schon seit Alex alt genug war, um einen Stift halten zu können, hatte er Pantone-verschmierte Finger. Er war von Beruf Grafikdesigner, und das mit Leib und Seele. Er verdiente damit seinen
Lebensunterhalt, gleichzeitig war es aber auch seine ganze Leidenschaft. Natürlich war er darin sehr viel erfolgreicher als ich mit meiner Schriftstellerei.
„  Hi, wie geht’s ? “, grüßte ich und setzte mich neben ihn. Es grenzte schon an ein Wunder, dass wir überhaupt einen Tisch bekommen hatten, so voll, wie es hier war.
„ Aye, gut. Viel zu tun. Und dir ? “ Alex lebte zwar schon jahrelang in London, doch er sagte immer noch „ Aye “ statt „ Ja “. Das brachte mich stets zum Lachen. Ich nahm an, dass es für ihn eine Sache des Prinzips war, seine schottischen Wurzeln zu behalten.
„ Gut, denke ich. “
„ Was ist los ? Warte, ich besorg dir erst mal etwas zu trinken, dann erzählst du mir alles. Wie immer ? “
Ich nickte und beobachtete, wie er sich durch die Menschenmenge schlängelte – er war deutlich größer als die meisten
Leute hier, was ihm jedoch nicht unangenehm war, sondern ihm vielmehr große Aufmerksamkeit bescherte, wo auch immer er war. Insbesondere die Aufmerksamkeit von Frauen, dachte ich, als ich ein ziemlich hübsches Mädchen entdeckte, das ihn anerkennend musterte. Ich verdrehte die Augen. Ich wollte mir nicht eingestehen, dass es mich störte. Das einzig Gute war, dass Alex dies nie zu bemerken schien, da er nie auf die eindeutigen Blicke reagierte. Mir war es schleierhaft, warum jemand wie er immer noch Single war. Vor drei Jahren hatte er sich von seiner langjährigen Freundin getrennt, seitdem hatte es keine Frau mehr in seinem Leben gegeben.
„ Also, dann erzähl mir mal alles “, erklärte er nach seiner Rückkehr und schob einen Drink zu mir herüber.
„  Na ja … ach, es ist nichts. “ Wie sollte ich nur in Worte fassen, wie seltsam ich mich in letzter Zeit fühlte ? Dass ich mich in meiner Haut nicht mehr wohlfühlte und angespannt war ? Dass mir nichts mehr richtig zu sein schien ?
„ Komm schon, erzähl es mir. Ich bin ganz Ohr. “
„  Es ist das, was ich schreibe “, platzte es aus mir heraus. Nun, zumindest war es ein Teil des Problems. „ Es klappt irgendwie nicht. “ Ich nippte an meinem Glas. „ Lesley meint, dass vielleicht die Geschichte, an der ich arbeite, gar nicht meine Geschichte ist … “
»  Die Cassandra-Sache ? Ich kann es nicht fassen, dass du ­weder Lesley noch mir erlaubst, irgendwas von dem zu lesen, was du schreibst. Ich bin sicher, es ist toll … «
Ich spürte, wie ich errötete, und schüttelte den Kopf. „ Nein, das ist es nicht. Glaub mir. “
„  War klar, dass du das sagst. Ich finde auch alles, was ich mache, völlig blödsinnig, das ist einfach so. Wenn dann aber am Ende eines Projekts die Dinge Gestalt annehmen, bin ich jedes Mal aufs Neue über die Ergebnisse völlig überrascht. “
Ich musste lachen. Alles, woran Alex arbeitete, war in meinen Augen wunderbar, doch mir war klar, was er damit meinte. Ich arbeitete mit Autoren zusammen und wusste, mit wie vielen Unsicherheiten sie sich normalerweise herumschlugen. Doch zu meinem Entsetzen steckte mehr hinter meinem Problem als Unsicherheit. Meine Arbeit kam mir nicht mehr richtig vor.
„ Für jemanden, dessen Arbeit normalerweise völlig blödsinnig ist, scheint es dir aber ziemlich gut zu gehen “, erwiderte ich.
Jetzt musste er lachen. „ Na, vielleicht ist sie nicht blödsinnig, aber meine Arbeit kommt mir zumindest oft so vor. Aber das will ich dir ja gerade sagen. Du selbst magst vielleicht nicht viel von deiner Arbeit halten, aber alle anderen finden sie gut. Schließlich ist es doch so: Du wirst es niemals herausfinden, wenn du nicht irgendwen mal deine Texte lesen lässt … Das ist übrigens ein Wink mit dem Zaunpfahl. “
„ Ich werde dich auf jeden Fall mal etwas lesen lassen, versprochen ! Nur jetzt noch nicht. “
» Hat eigentlich irgendjemand schon jemals was von dir ­gelesen ? «
„ Nur meine Schwester. Sonst niemand. “
„ Emily ? Wie geht es ihr ? “
„  Ganz okay … “ Als ich meine Schwester erwähnte, wanderten meine Gedanken wieder zu Glen Avich. Eine plötz­liche Sehnsucht raubte mir beinahe die Luft – ich musste ihre Stimme hören. Ich musste ihre Stimme so dringend hören, dass es fast wehtat.
Ich riss mich von meinen Gedanken los. Alex redete immer noch. „ … vielleicht ist es ja auch nur eine Schreibblockade. Du weißt schon, keine Inspiration, du fühlst dich leer und ausgelaugt … so was eben. Das kommt schon mal vor. “
„ O … ja, ja. Ich weiß. “ Ich nickte und trank einen Schluck von meinem Wodka-Orange. „ Tut mir leid, Alex, ich muss mal kurz zu Hause anrufen … “
„ Klar. Ist alles okay mit dir ? “, erkundigte er sich. Wahrscheinlich sah ich besorgt aus. Zumindest fühlte ich mich so.
„  Ja, alles gut “, entgegnete ich und sprang auf, ohne mich um meine Jacke zu kümmern. Ich bahnte mir einen Weg aus dem Pub hinaus und quetschte mich an erhitzten Körpern vorbei. Zwischen zwei Gruppen von Rauchern, die froren und pafften, trat ich nach draußen, und die eiskalte Luft raubte mir im ersten Moment die Luft zum Atmen. Zu Hause bei meinen Geschwistern ging niemand ans Telefon. Ich versuchte es danach auf Emilys Handy, dann bei Logan – beide Mobiltelefone waren ausgeschaltet. Wahrscheinlich waren die beiden unterwegs, bestimmt im Kino in Aberdeen. Ich drängelte wieder nach drinnen und arbeitete mich mit den Ellbogen durch die Gästeschar dieses Samstagabends.
„ Alles gut ? “
„ Keiner rangegangen. Ich habe versucht, meine Schwester anzurufen. “
„ Es ist Samstagabend. Die lassen wahrscheinlich gerade die Sau raus. Oder wohl eher die Schafe. “
„ Haha, sehr witzig. “
„ Übrigens, habe ich die schon aufgenommen ? “ Alex deutete auf meine lilafarbene Strumpfhose.
„  Meine Beine ? “ Ich grinste, obwohl ich natürlich genau wusste, was er meinte. So, wie ich Eulen sammelte, sammelte Alex Farben. Er machte Fotos von allen möglichen Dingen und registrierte seine Fundstücke in einer speziellen Datenbank, die er aufbaute und „ Chromatica “ getauft hatte. Dies sollte eine Art Farbbibel werden, die die Welt des Grafikdesigns, wie wir sie kannten, revolutionieren würde, zumindest nach seinen Worten. So war Alex. Im Augenblick beschäftigte er sich mit den zahllosen Schattierungen der Farbe Lila.
„ Keine Ahnung, hast du ? “
„  Ich glaube nicht. Warte “, entgegnete er und fischte sein Handy aus der Hosentasche. Unter den verdutzten Blicken unserer Nachbarn am Nebentisch machte er ein Foto von meinem Knie. „ Vielen Dank. Oh, warte, bevor ich es vergesse … “
Plötzlich dröhnte explosionsartig Musik aus den Boxen über uns, sodass seine letzten Worte im Lärm untergingen. Zwar ­besuchten wir schon seit einer Ewigkeit diesen Pub, doch in letzter Zeit schienen sie dort das Lautstärke-Level in eine unerträgliche Höhe hochgedreht zu haben.
„ War es hier schon immer so laut ? “, rief ich und rieb mir das Ohr.
Alex lachte. „ Entweder das, oder wir werden alt ! Sollen wir zu mir gehen ? “
Mein Magen verkrampfte sich ein wenig. Und das, nachdem wir nun drei Jahre lang viele Abende gemeinsam auf dem Sofa verbracht und DVDs geschaut und im Gästezimmer des ­jeweils anderen übernachtet hatten sowie an den Wochenenden spontan beim anderen vorbeigekommen waren, um aus
allem, was wir in den Küchenschränken finden konnten, ein Mittagessen zu zaubern. Nach all dem hätte mich eine Ein­ladung nicht derart beunruhigen sollen. Oder in Erregung versetzen sollen. Oder mich gleichermaßen beunruhigen und
erregen sollen. Doch das tat es.
Unsinn. Es war Unsinn. Wir waren doch nur Freunde. Oder ? Okay, manchmal entwickelten sich die Dinge zwischen uns ein wenig zweideutig. Aber die Grenze hatten wir niemals überschritten, und ich war mir absolut sicher, dass das auch so bleiben würde. Wenn ich mich nur genügend anstrengte. Immerhin hatte ich meine Gründe, warum ich weder mit Alex noch mit jemand anderem etwas anfangen wollte. Ich war einfach noch nicht so weit.
Und dennoch war ich in letzter Zeit sehr verwirrt. Obwohl es absolut keinen Sinn hatte, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Es war eine Nacht wie jede andere zwischen Freunden, wie wir schon so viele miteinander verbracht hatten.
„ Klar “, erwiderte ich und packte meine Handtasche und die Jacke.
Wir traten in die eiskalte Februarnacht hinaus, und keine zwanzig Minuten später hockte ich auf dem Teppich vor Alex’ Ofen, einen Whisky in der Hand. Einen Talisker, um genau zu sein. Nicht viele Wohnungen in London verfügten über einen echten Ofen, und für mich, die mit Torffeuern aufgewachsen war, war es wundervoll, einen solchen gefunden zu haben. Die tanzenden Flammen vor Augen, verlor ich mich in meinen Gedanken.
„  Inary Monteith, du bist die einzige Frau, die ich kenne, die einen guten Whisky zu schätzen weiß. Meine Schwestern hassen ihn. “
„ O nein, da gibt es viele wie mich. Du kennst nur einfach nicht genügend Frauen, Alex “, zog ich ihn auf.
„  Ja, wahrscheinlich ist das das Problem ! “ Er lächelte, ließ sich vor mir nieder und schlug die langen Beine übereinander. Seine blaugrauen Augen leuchteten, der Widerschein des Feuers tanzte auf seinen Gesichtszügen. Er sah so vertraut aus, als würde ich ihn schon von jeher kennen, und nicht erst seit drei Jahren.
„ So. Ich habe eben im Pub schon versucht, es dir zu sagen, denn wie der Zufall so will, habe ich etwas, das dich aufheitern wird “, verkündete er und holte eine kleine Schachtel aus seiner Hosentasche. Ich ahnte bereits, was es war, und lächelte voller Vorfreude.
Ich löste das silberne Band und hob den Deckel an – es war, wie ich vermutet hatte, eine kleine Eulenfigur – blau schillernd und kaum größer als eine Murmel. „ Die ist wunderschön !
Vielen Dank … “
Vor vielen Jahren waren meine Mutter und mein Vater zusammen nach Lourdes gepilgert und hatten mir eine Eule aus Terrakotta mitgebracht – anstatt der gewohnten religiösen Statuen, nahm ich an. Ich habe sie innig geliebt – aus irgend­einem Grund hatte ich mich immer schon zu Eulen hingezogen gefühlt. Mit dieser Eule hatte ich meine Sammlung begonnen. Nachdem ich diese Obsession einmal Alex gegenüber erwähnt hatte, war es für ihn zur Gewohnheit geworden, mir von jedem Ort, den er besuchte, eine Eule mitzubringen. Er war Grafik­designer, der an großen Kampagnen für internationale Unternehmen arbeitete, und reiste daher sehr viel durch die Welt. Er hatte mir Eulen aus Oslo, San Francisco, Peking und Kuala Lumpur mitgebracht, und die schönste davon – meine Lieblingseule – war eine kleine Figur aus Walfischknochen aus St. Petersburg.
„ Gern geschehen. Ich habe sie in Madrid in dieser unglaublichen Markthalle gefunden. Eines Tages fahre ich mal mit dir dorthin “, erklärte er und schaute in die Flammen.
„ Das wäre toll “, stotterte ich und versuchte, die Konsequenzen dessen auszublenden.
„  Aber jetzt mal im Ernst, Inary … was ist los ? Du verhältst dich seit einiger Zeit ziemlich seltsam. Ich weiß nicht, du bist … einfach nicht mehr du selbst. Ist zu Hause bei dir alles in Ordnung ? “
„ Ja. Keine Ahnung … es ist nur … “ Ich zuckte mit den Schultern. „ Ich weiß es nicht. “ Ich trank einen Schluck Whisky. Ich konnte ihm unmöglich erklären, was ich in letzter Zeit empfand. Ebenso wenig konnte ich ihm von meiner damaligen Gabe erzählen oder von den Dingen, die ich gesehen hatte, und wie dies alles im Alter von zwölf Jahren aufgehört hatte. Und wie ich mich nun einfach nicht mehr als Ganzes fühlte.
„ Was auch immer es ist … du weißt, dass ich für dich da bin, nicht wahr ? “, stellte er klar und sah mir in die Augen. In jenem Moment drehte sich in meinem Herz ein kleines Feuerrad. Es kostete mich wirklich eine enorme physische Kraft, ihn nicht an Ort und Stelle zu küssen. Immerhin war ich es gewohnt; ich war es gewohnt, meine Arme davon abzuhalten, sich um ihn zu schlingen und zu verhindern, dass mein Mund den seinen suchte. Also konnte ich es auch noch ein weiteres Mal schaffen. Doch irgendetwas verriet mich.
Vielleicht war es die Wärme, die der Whisky ausstrahlte, vielleicht der Feuerglanz, der sich auf seinem Gesicht spiegelte, möglicherweise aber auch die seltsamen Gefühle, die ich in letzter Zeit empfand – nämlich, nicht mehr zu wissen, wer ich wirklich war. Denn nun beugte sich ein anderes Ich, eine andere Inary, zu ihm hinüber und küsste ihn. Und dann war es wie die Erdanziehung. Er legte eine Hand auf meinen Nacken und nahm mit der anderen meine Hand. Einen Augenblick lang verharrte ich, sein Gesicht an meinem – dann befreite ich meine Hand und schlang den Arm um seinen Nacken, um ihn näher an mich ziehen zu können.
Seine Lippen schmeckten nach Whisky, Honig und Zuhause, und es fühlte sich richtig an, als hätte das hier schon vor langer Zeit geschehen sollen. Viel zu früh löste sich sein Mund von meinen Lippen, und mir wurde schwindelig angesichts dieses Verlusts.
Sein Atem strich nahe meinem Ohr vorbei. „ Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber … ich glaube, ich habe mich in dich verliebt “, flüsterte er, den Kopf in meinem Haar vergraben. Sofort schien sich mein Bauch zu einem Knoten aus eiskalter Angst zu verkrampfen, sodass ich augenblicklich auf den Boden der Tatsachen zurückkatapultiert wurde.
Was tat ich hier ? Was taten wir hier ?
Ich hatte mir doch geschworen …
Aber es war zu spät. Es war passiert. Die Worte waren gesagt und konnten nicht mehr zurückgenommen werden. Sie standen zwischen uns und hallten in unseren Ohren nach. „ Inary “, flüsterte er, und er sprach den Namen korrekt aus. Wie wir es zu Hause tun. Mein Herz gewann den stillschweigenden Kampf gegen meinen Kopf. Wie es für gewöhnlich immer geschah.
Alex stand auf, nahm meine Hand und führte mich ins Schlafzimmer, hinein in eine andere Welt.
Ich erinnere mich an jede Minute dieser Nacht. Ich erinnere mich daran, wie er mir tief in die Augen blickte, wie er sagte: Du bist das Beste, was mir je passiert ist. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie ich an nichts anderes denken konnte, wie ich mich nach nichts anderem sehnte, wie ich nichts anderes brauchte als ihn und mich zusammen, in jenem Moment.

Als der Morgen kam und ich mich nackt und schutzlos in seinem Bett wiederfand, stieg Panik in mir auf, als mir die vergangene Nacht und ihre Bedeutung schlagartig klar wurden.
Alex schlief. Seine langen, schwarzen Wimpern warfen sanfte Schatten auf seine Haut; einen Arm hatte er um meine Hüfte geschlungen. Zwar hatte ich keine Ahnung, was Schönheit ­bedeutete, aber mir war klar, dass er für mich perfekt aussah. Als hätte ich ihn schon immer gekannt, selbst als kleines Kind, als seien die Gesichtszüge meines Seelenverwandten in meinem Blut verankert, in meinen Genen verschlüsselt.
Dennoch musterte ich ihn und stellte mir den Moment vor, wenn er aufwachen würde. Ich stellte mir den Moment danach vor, und den danach und wiederum den danach. Hunderte und Tausende von Momenten, die sich zu Tagen und Wochen und Monaten addieren würden, in denen ich ihn lieben, ihm vertrauen und ihn zum Mittelpunkt meines Lebens machen würde. Das alles bis zu jenem Augenblick – wenn er die Lippen öffnete, um etwas zu sagen, und ich annähme, dass es etwas Harmloses sein würde, irgendetwas über unser Leben, über unsere Familie, das Wetter oder ein neues Buch, das er gelesen hatte, und er mir dann stattdessen mitteilen würde, dass wir nicht mehr länger zusammen seien.
All das stellte ich mir vor, und es fiel mir nicht schwer, da mir das alles schon einmal passiert war.
Und noch einmal würde ich das nicht zulassen.
So schnell ich konnte, stand ich auf, schlang mir ein Betttuch um und suchte meine Kleidung zusammen, die auf dem Boden verteilt lag. Ich hörte, wie er hinter mir im Bett meinen Namen rief, mit verschlafener Stimme, voller Wärme. Voller Glück und Zufriedenheit.
„ Inary … “
„  Es war ein Fehler “, erklärte ich, ohne mich umzudrehen, bevor er es sagen konnte, jetzt oder nächste Woche oder in ­einem halben Jahr. Denn ich wusste, dass er das früher oder später tun würde. „ Es tut mir leid, Alex “, fing ich an, und jedes Wort fiel wie ein Blutstropfen auf seinen flauschigen cremefarbenen Teppich. Auf der Suche nach neuen Kontaktlinsen – mir brannten die Augen – kramte ich in meiner Tasche herum. „ Das hätten wir nicht tun sollen … “
„ Was meinst du ? “ Er setzte sich auf; der Schock stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Schuldgefühle plagten mich. Diese Worte konnte ich niemals mehr zurücknehmen.
Ich kippte den Inhalt meiner Tasche auf den Fußboden und suchte nach der Packung mit den Kontaktlinsen, als mein Blick auf das Handy fiel. Wie am Vortag wurde mir mit einem Mal schwer ums Herz – es war das gleiche Gefühl, das ich bei dem Anblick des Bildes von Glen Avich empfunden hatte. In der Ecke des Displays wurde ein kleines rotes Zeichen angezeigt – ich hob das Handy hoch, um nachzusehen, was es war, und verstummte. Vierzehn verpasste Anrufe. Alle von Logan.
„ Oh … “
„ Inary ? “ Ich hörte Alex wie aus weiter Ferne rufen.
Um mich herum drehte sich alles, und ich hatte das Gefühl, mich vor Schmerzen krümmen zu müssen – dabei hatte ich keine Ahnung, warum. Ich wusste nicht, was dieser schneidende Schmerz in meinem Herzen bedeutete. Als dann das Handy klingelte, leuchtete der Name meines Bruders auf dem Display auf, und schlagartig wusste ich, worum es ging.
Meine Hände zitterten so sehr, dass ich kaum auf die grüne Taste drücken konnte. Ich hörte, wie Logan erklärte, dass sich das Leben unserer Schwester seinem Ende näherte, dass das neue Herz, auf das sie wartete, falls es denn jemals eines geben sollte, zu spät kommen würde. Ich solle so schnell wie möglich nach Hause kommen, anderenfalls würde ich sie nicht mehr ­lebend sehen.


2

Ich habe sie immer schon geliebt
Alex


Sie ist fort. Die Wand protestiert nicht, als ich immer und
immer wieder auf sie einschlage.
Ein Fehler.
Als solchen hat sie unsere gemeinsame Nacht bezeichnet, und dann hat ihr Handy geklingelt. Es gab einzelne Wortfetzen und Tränen, und ich wusste nicht, ob ich zu wütend war, sie auch nur anzuschauen, oder ob ich sie in meinen Armen halten, sie trösten und ihr sagen sollte, dass alles gut werden würde, dass es ihrer Schwester bestimmt gut ginge, dass ich immer, immer auf ihrer Seite sei, egal, was auch passieren würde. Dass ich immer für sie da sei.
Doch ich sagte nichts. Ich stand einfach nur da und war zu verletzt, um etwas sagen oder mich auch nur bewegen zu können.
Und dann zog sie sich hastig an. Ihr Gesicht war tränenüberströmt – sie wollte gerade zur Tür hinaus, und wie ich befürchtete, auch raus aus meinem Leben. Da ergriff ich ihre Hand und drehte Inary zu mir herum, damit sie mich ansehen musste. „ Was auch immer das letzte Nacht war, Inary, bezeichne es nicht als einen Fehler. Du darfst meine Gefühle für dich nicht als Fehler bezeichnen. “
Sie erwiderte nichts. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, und damit war sie fort.

Ich habe Inary schon immer geliebt, zumindest fühlt es sich so an.
Bei unserer ersten Begegnung war sie über und über mit Farbe beschmiert. Sogar ihr wunderbares kastanienbraunes Haar – mit einer Farbe irgendwo zwischen Rot und Braun, ein warmer, kupferfarbener Ton, den ich bislang nur auf Gemälden gesehen hatte – war mit lilafarbenen Strähnen versehen. Ich bin besessen von Farben, und der Anblick dieser jungen Frau, wie sie in Lila, Rot und Blau gekrönt gewesen war, als sei sie gerade aus einem Gemälde von Chagall gestiegen, hatte mir den Atem geraubt.
Ich half Lesley beim Umzug in ihre neue Wohnung. Sie hatte mich mit einem Transporter voller Kram überfallen, und ich musste weitere Müllbeutel und Kisten in mein Auto laden – sie besaß genug, um mit ihrem Hausstand zwei Gebäude zu bestücken. Zudem hatte sie mir einen Satz Schlüssel übergeben, und ich war gerade dabei, diesen aus meiner Tasche zu fischen, während ich einen großen Umzugskarton auf einem Arm balancierte, als ich sah, dass die Tür bereits offen stand. Also schob ich mich in die Wohnung, und da stand sie dann. Inary. Ich hatte schon so viel von Lesleys bester Freundin oben aus dem Norden gehört, doch irgendwie hatten wir uns bisher immer verpasst.
„ Du musst Alex sein “, stellte sie fest und lächelte strahlend.
„ Und du musst Hilary sein “, erwiderte ich.
„ Inary “, korrigierte sie mich lächelnd. „ Kein H oder L. Aber ein N in der Mitte. “
„ Oh, tut mir leid … “
„  Mach dir keine Gedanken. “ Wieder lächelte sie. „ Das passiert mir andauernd. Meine Mutter war in einem Buch über schottische Märchen über den Namen gestolpert, aber sonst habe ich ihn noch nie irgendwo gehört. Sind das Sachen von Lesley ? “, fragte sie dann und deutete auf den großen Karton in meinen Händen.
„ Ja, ja, aber da kommt nicht mehr viel. Nur noch etwa siebenundzwanzig weitere Kartons wie dieser. Wir werden ungefähr in einer Woche fertig sein, denke ich. “
Sie lachte. Das ist gut, fand ich. Ich brachte sie zum Lachen.
„ Da sind auch noch ein paar Müllsäcke. Oh, und Lesley ist ebenfalls mit dem Transporter auf dem Weg hierher. “
„  O nein ! “ Inary schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Zwar redete sie weiter, und ich hörte auch ihre Worte, doch verstehen konnte ich sie nicht. Ich befand mich irgendwo anders, an einem windigen, wunderschönen Ort, an dem ich als Kind einmal gewesen war und den ich dann für lange Zeit vergessen hatte. „ Ich wusste schon, dass Lesley sammelwütig ist, aber mir war nicht klar, wie viel Kram sie besitzt ! Komm, ich zeig dir ihr Zimmer. Es befindet sich am Ende des Flurs, dort drüben. Alex ? “
Ich riss mich aus meinen Gedanken. „ Ja. Ja, tut mir leid. “
„  Du brauchst dringend eine Tasse Tee ! “ Wieder lachte sie. Sie war so … lebendig. Neben ihr fühlte ich mich ganz grau, als trüge sie all die Farben in sich, die ich jemals brauchen würde.
„ Das wäre toll, vielen Dank. “ Ich stellte den Karton in Lesleys Zimmer ab und folgte ihr in die Küche, während ich mir verzweifelt den Kopf darüber zerbrach, was ich sagen sollte. „ Also, Lesley hat erzählt, dass du aus Schottland kommst … “, fing ich an.
„ Aber nicht, dass ich einen starken Akzent oder so was hätte … “
Ich musste lachen. Natürlich besaß sie den weichen, singenden Tonfall der schottischen Highlands. „ Woher kommst du ? “
„ Aus Glen Avich, nicht weit von Aberdeen. Das Dorf ist winzig, wahrscheinlich hast du noch nie davon gehört. Und du ? “
„ Ich bin in Edinburgh groß geworden … “
„  Hallo ! “ Lesley kam herein und schleppte einen weiteren Umzugskarton an. Mit einem Seufzer stellte sie den Karton auf dem Boden ab, wobei ihr ihre Mähne aus winzigen Flechtzöpfen ins Gesicht fiel.
„ Hallo ! Ich habe schon mal mit Streichen angefangen ! “, rief Inary.
„  Das sehe ich “, erwiderte Lesley mit Blick auf Inarys vollgespritzte Kleidung. „ Du hast Alex also schon kennengelernt. Endlich ! Ich wollte euch bereits seit einer Ewigkeit miteinander bekannt machen … “
Ich bin mit Lesleys Bruder Kamau zur Uni gegangen – so haben Lesley und ich uns kennengelernt. Zwischen uns bestand nie etwas anderes als eine reine Freundschaft, obwohl ich mich oft nach dem Grund dafür gefragt habe – schließlich verstanden Lesley und ich uns wunderbar. Dennoch ist nie mehr daraus geworden. Nachdem dann einmal allen Beteiligten, inklusive uns, klar geworden war, dass wir nur Freunde waren und es auch bleiben würden, hatte sich zwischen uns eine sehr tiefe Freundschaft entwickelt. Was aber Kamau natürlich nicht davon abhielt, uns miteinander verkuppeln zu wollen, auch wenn ich damals eine Zeit lang eine Freundin gehabt hatte – Gaby.
Und dann lernte ich Inary kennen, in Farben getaucht wie ein geerdeter Regenbogen. Alles an ihr – ihre schmale Figur,
der Klang ihrer Stimme, die Art, wie sie lächelte – war so
lebendig und frisch, dass es sich anfühlte, als würde sie mich zum Leben erwecken.
Ich merkte, wie Lesley mich dabei beobachtete, wie ich wiederum Inary beobachtete, und wusste, dass sie meine Gedanken erraten würde. Dafür kannte sie mich zu gut. Ich murmelte etwas von siebenundzwanzig Kartons und einem Transporter, den ich zu entladen hatte, und verließ beinahe fluchtartig den Raum.
Den Rest des Tages kam ich mir wie benebelt vor. Lesleys völlig irre Menge an Kram wanderte vom Transporter in ihre Wohnung, Karton für Karton, während ich immer wieder einen Blick auf Inary erhaschte, die Wände anstrich, Tee kochte und zur Musik sang, die Lesley einschaltete. Den Tag ließen wir bei Fish and Chips ausklingen: Die Teller standen ein wenig wackelig auf Umzugskartons, da es hier bislang noch keine Möbel gab. Danach gingen wir noch in einen Pub in Battersea, nicht weit von meinem Haus entfernt. Draußen war es schon dunkel, und wir beeilten uns, um schnell aus der Kälte herauszukommen. Während sich die Mädchen an einen Tisch setzten, lief ich zur Bar, um uns Drinks zu holen.
Als ich mich an die Bar lehnte und darauf wartete, meine Bestellung abgeben zu können, merkte ich plötzlich, dass jemand neben mir stand. Als ich mich umdrehte, entdeckte ich, dass Inary mir gefolgt war; sie stand sehr, sehr nahe neben mir, sodass sich unsere Arme berührten.
„ Schon gut “, sagte ich, „ ich besorge uns Drinks. “
„ Ich weiß. Ich dachte nur, ich könnte dir solang Gesellschaft leisten. “
Diese Zartheit fiel ihr so leicht wie das Atmen. Sie war furchtlos, offen und trug ihre Gefühle stolz zur Schau.
Ein paar Wochen später habe ich mit Gaby Schluss gemacht.
Nach nunmehr drei Jahren, nach einem endlosen wollen wir/wollen wir nicht, hat sie endlich die Nacht mit mir verbracht. Und es dann als einen Fehler bezeichnet, was mir höllisch wehgetan hat.
Sie ist nach Glen Avich zurückgegangen, wurde von den schrecklichen Nachrichten von ihrer Schwester aus London fortgerissen. Ich konnte es nicht fassen, dass Emily im Sterben lag – Emily, die lebhaft und fröhlich wie ein kleines Windrad gewesen war, so eines, das die Leute sich gern in ihre Gärten stellen. Emily, ein Meter fünfzig voller funkensprühendem Elan, voller Unverfrorenheit und Lebenslust.
Bei ihrem ersten Besuch hier unten in London – sie kam nur zweimal zu Besuch; die Reise nach London war zu anstrengend für sie – hatten sie und Inary eine geschlagene Woche lang ohne Unterlass miteinander geredet. Sie waren wie Spatzen, die tschilpten und zwitscherten, da sie so glücklich waren, wieder vereint zu sein.
Völlig unfassbar für mich.
Ich wollte so gern für Inary da sein – ich musste für sie da sein. Aber die Frage war, ob ich mir das weiterhin zumuten konnte ? War ich für sie bloß irgendeine Stütze, die sie benutzte und dann wegwarf ? Ich hatte es wirklich nicht verdient, so behandelt zu werden. Ihre Ängste und Zweifel gaben ihr nicht das Recht, mich dermaßen zu benutzen.

Wie ein Zombie ging ich ins Büro und watete durch die Arbeit, als sei sie ein Feld voller Schlamm und Morast. Kein Wort von Inary. Das dämliche Telefon klingelte den ganzen Tag über, und es kamen Nachrichten, E-Mails und anderes Zeug herein, das mich nicht interessierte, doch keine der Meldungen stammte von Inary. Ganz offensichtlich meinte sie das, was sie sagte, ernst.
Sobald ich nach Hause kam, ertränkte ich all meine Gedanken in einem Glas Whisky, und schon war die Morgendämmerung hereingebrochen. Mittlerweile war Inary in Glen Avich. Genauso gut hätte sie auf einem anderen Planeten sein können.
Warum, warum nur hatte sie gesagt, es sei ein Fehler gewesen ? Und warum hatte sie so angsterfüllt ausgesehen, als sie diese schrecklichen Worte ausgesprochen hatte ? Hatte sie Angst vor mir, vor uns ?
Meine Finger, noch ganz ungelenk von dem Alkohol und der schlaflosen Nacht, fingen an, eine Nachricht zu tippen. Und dann löschte ich sie wieder. Reglos lag ich auf meinem Bett und studierte einen Riss in der Decke. Erst dann entdeckte ich etwas auf dem Boden neben dem Fenster. Es war eine emaillierte Gänseblümchenkette – die Kette, die Inary in der vergangenen Nacht getragen hatte.
Ich setzte mich auf die Fensterbank, hockte dort eine ganze Weile, spielte mit der Kette herum, musterte währenddessen die Londoner Skyline und dachte an zu Hause.

Daniela  Sacerdoti

Über Daniela Sacerdoti

Biografie

Daniela Sacerdoti ist die Urenkelin des italienischen Schriftstellers Carlo Levi. Sie wurde in NeapeI geboren und ist in Südtirol aufgewachsen, wo sie als Lehrerin arbeitete, bis sie in Glasgow ein neues Leben begann. Hier widmet sie sich ganz ihrer Familie und dem Schreiben.

Pressestimmen
The Sun

„Daniela Sacerdoti ist unsere neue Lieblingsautorin. ›Hinmel im Herzen‹ ist ein ganz besonderer und bewegender Roman.“

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