Lieferung innerhalb 1-3 Werktage
Bezahlmöglichkeiten
Vorbestellung möglich
Kostenloser Versand*
Gebrauchsanweisung für Thüringen

Gebrauchsanweisung für Thüringen

Ulf Annel
Folgen
Nicht mehr folgen

„Das Buch (...) ist ein munter geschriebenes umfassendes Thüringen-Kompendium, das Kultur, Geschichte und nicht zu vergessen Bratwurst-Kulinaria beleuchtet.“ - Thüringer Allgemeine

Alle Pressestimmen (2)

E-Book (12,99 €)
€ 12,99 inkl. MwSt.
sofort per Download lieferbar
In den Warenkorb
Geschenk-Service
Für den Versand als Geschenk können eine gesonderte Lieferadresse eingeben sowie eine Geschenkverpackung und einen Grußtext wählen. Einem Geschenkpaket wird keine Rechnung beigelegt, diese wird gesondert per Post versendet.
Kostenlose Lieferung
Bestellungen ab 9,00 € liefern wir innerhalb von Deutschland versandkostenfrei

Gebrauchsanweisung für Thüringen — Inhalt

Was hat Erfurt mit Venedig gemeinsam? Wer steckte hinter dem Bau des Kyffhäuser-Denkmals? Wieso sollten sich Skatfreunde im Zweifels- und Streitfall nach Altenburg begeben? Ulf Annel, Thüringer mit Leib und Seele, führt uns durch seine Heimat, die zwar der „geografische Mittelpunkt Deutschlands“, von Mittelmaß aber weit entfernt ist. Er ergründet den Reichtum an Burgen und Schlössern, an Dialekten, Dichtern und Denkern. Wandert auf dem idyllischen Rennsteig und durch das „grüne Herz Deutschlands“. Macht sich Gedanken über schnelle Rodler und Rostbratwürste, Goethe und Gartenzwerge, Jenaer Optik und Bauhaus-Architekten - und verrät uns ganz nebenbei, wie die Thüringer wirklich fühlen und denken.

€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 13.04.2015
224 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-96919-2
Download Cover

Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für Thüringen“

Vorwort : Gut zu gebrauchen

Dies ist eine Einladung in die Mitte Deutschlands. Fröhlich, locker dürfen die Gedanken durch Thüringen laufen, manchmal auf Nebenpfade abdriften, auf Mittel­gebirgstalwege ausweichen oder städtische Gassen ausbaldowern. Manchmal werden wir uns auf viel befahrenen Bahnen oder ausgetretenen Wegen bewegen, die gern und oft und immer wieder von touristischen Führungspersönlichkeiten mit Folgewilligen im Schlepptau begangen werden. Viele Wege führen durch Thüringen. Und selbst auf allseits bekannten Pfaden gibt es noch immer Neues [...]

weiterlesen

Vorwort : Gut zu gebrauchen

Dies ist eine Einladung in die Mitte Deutschlands. Fröhlich, locker dürfen die Gedanken durch Thüringen laufen, manchmal auf Nebenpfade abdriften, auf Mittel­gebirgstalwege ausweichen oder städtische Gassen ausbaldowern. Manchmal werden wir uns auf viel befahrenen Bahnen oder ausgetretenen Wegen bewegen, die gern und oft und immer wieder von touristischen Führungspersönlichkeiten mit Folgewilligen im Schlepptau begangen werden. Viele Wege führen durch Thüringen. Und selbst auf allseits bekannten Pfaden gibt es noch immer Neues zu entdecken.

Für nicht wenige Bürgerinnen und Bürger von Schwarzrotgoldland ist Thüringen Terra incognita, unbekanntes Land. Ein weißer Fleck auf der persönlichen Landkarte. Folgen Sie einfach der Einladung. Auf, auf also, die Entdeckerlust lustig vor sich hergetragen ! Aber vorsichtig, denn man weiß ja : Andere Bundesländer, andere Sitten. Und Gebräuche.

Ach, heißt es deswegen „ Gebrauchsanweisung “, weil man sich mit diesem Buch über Brauchtum und gute Sitte im fremden Lande vorinformieren kann ? Schön ist das Land, doch sagt mir auch, was ist des Landes Brauch ?

Es ist ein bisschen vertrackt. Das Wort Gebrauchsanweisung will sich nicht eindeutig entkleiden. Gebrauchsanweisung : eine Rezeptur, eine Auflistung von Ingredienzien für den erfolgreichen Umgang mit Eingeborenen ? Soll hier Bayern, Schwaben, Franken oder Schleswig-Holsteinerinnen ein Beipackzettel zum Gebrauch von Thüringerinnen oder Thüringern ausgehändigt werden ? Die Statistik von den Außer-Thüringischen, die noch nie in Thüringen waren, wird nicht so gern veröffentlicht, legt aber nahe, dass so eine Gebrauchsanleitung vielleicht doch hilfreich sein könnte, um allen, aber wirklich allen Bürgerinnen und Bürgern ihre Berührungsängste zu nehmen.

Wie unartig wäre es jedoch, wenn man Ihnen hier Anweisungen gäbe. Wer bin ich denn, dass ich das könnte und dürfte. Oder gar wöllte. Ich mache Vorschläge. Ich bin – jetzt kann ich den Löwen ja schon mal ganz vorsichtig aus der Plastetüte lassen – ein Thüringer Kabarettist, journalistisch vorgebildet. Und Thüringer tun sich ausgesprochen schwer mit Anweisungen, Kabarettisten sowieso. Bei Anweisungen können wir sehr abweisend werden.

Das betrifft zum Beispiel den Gebrauch des Wortes Plastetüte. Heißt es nicht eigentlich Plastiktüte ? Nein, heißt es eigentlich nicht, wenn man dort aufgewachsen ist, wo heute die neuen Bundesländer liegen. Dort hieß und heißt es Plaste. Plaste und Elaste aus Schkopau. Plastik, das weiß doch jeder, ist ein dreidimensionales Kunstobjekt. Plaste ist ein auf Erdölbasis hergestellter Kunststoff. Leider verschwindet die Plaste langsam aus dem Sprachgebrauch.

Wer jedoch Plastik statt Plaste gebraucht, ist deswegen kein schlechterer Mensch. Und wer damals statt Plastiktüten Dederon-Beutel genutzt hat, ist heute nicht zwangsläufig ein Guter.

Willkommen also in Thüringen, das so anders ist – ganz anders als alles, was ganz anders ist. Mit anderen Worten : Thüringen ist das Normalste von der Welt. Allerdings steckt das Normale hier voller Besonderheiten. Wir werden gemeinsam Erklärungen suchen und Unerklärliches finden, undenkbar Komisches neben Tiefernstem, Hochgenuss neben Trivialgeschmack. Trittfestes Schuhwerk ist nötig, nicht nur für die Rennsteig-Wanderung oder das Abwandern aller Thüringer Luther-Wege. Treten Sie ein. Wie ich – für Thüringen.

Denn : Thüringen ist gut zu gebrauchen.

Wir nähern uns an

Wenn man als in Erfurt geborener und praktizierender Erfurter Kabarettist ins ehemals deutschsprachige Ausland kommt – sprich : in die alten Bundesländer – und dort den Mund aufmacht, wird man unweigerlich als Besuch aus Sachsen identifiziert. Das geschieht zumeist voll fröhlichster Schadenfreude, denn wer einen sächsischen Sprachschaden hat, der braucht für den Spott nicht zu sorgen. Man bekommt ihn gratis und in großer Menge.

Das Problem ist allerdings : Wir Thüringer, auch wir Erfurter Thüringer, sind keine Sachsen. Und wenn wir also im Schwabenländle oder in der Vulkaneifel oder dort, wo die Nordseewellen an den Strand schlagen, unseren Volksmund öffnen, dann erleiden wir gewissermaßen eine oberflächliche Regionalbeleidigung. Bei manchen geht der Schmerz tiefer, trifft mitten ins Grüne Herz. Was sollen wir sein ? Sachsen ! ? Wir doch nicht, wir kommen nicht aus Sachsen, wir sind aus Thüringen, hört man uns zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorpressen. Was hört man daraufhin ebenfalls oft und ungern : Das ist doch eh dasselbe !

Diese Schmach !

Natürlich ist das alles irgendwie richtig, dass Thüringer eigentlich Sachsen sind, leider, aber eben nur irgendwie. Nicht direkt. Historisch gesehen ja, aktuell natürlich nein. Und sprachlich schon gar nicht !

Dieses Landsmann- und -frauschaftliche ist zugegebenermaßen ein wenig irrational. Wer fragt jedoch nach Rationalität, wenn er Franke ist und, nur weil er aus demselben Bundesland stammt, als Bayer eingeordnet wird. Oder wenn Kölnerinnen meinen, sie seien wertvollere Menschen als die da aus Düsseldorf. Oder wenn jemand Schal und Fahne in bestimmten Fußballvereins-farben trägt und dafür von Trägern andersfarbiger Schals und Fahnen heftig eins auf die Nase bekommt. Allerdings geht der Regionalpatriotismus bei uns Thüringern nicht so weit, dass wir Gewalt anwenden würden, so wir als Sachsen bezeichnet werden. Wirklich geprügelt hat sich meines Wissens noch kein Thüringer, um sich gegen den Sachsenvorwurf zu verteidigen. Thüringern nachzusagen, sie seien ein friedfertiger Menschenschlag, klingt zwar in sich etwas paradox, ist aber durchaus gerechtfertigt. Und so nehmen wir es grimmig lächelnd hin, wenn man uns falsch verortet, uns Thüringer.

Dabei würde doch schon ein Blick auf die Landkarte oder in den Autoatlas genügen, um einen so außerthüringischen Grundfehler zu vermeiden. Und wer diese alten Kulturtechniken und papierne Informationen nicht mag, kann weltweite Dienste befragen, Thüringen auf das Display wischen. Sieh da : Thüringen ist tatsächlich existent und eigenständig. Das liegt ja wirklich neben und nicht in Sachsen. Hätte man’s gedacht ! ?

Man kann sich diesem Bundesland natürlich erst einmal aus sächsischer Richtung nähern. Man besteige der Deutschen liebstes Transportspielzeug in Dresden oder Chemnitz und fahre Richtung Westen. Bevor der Westen leuchtet, fährt man kilometerweit durch Thüringen. Zugegeben, es sind nicht unendlich viele Kilometer, aber fast zweihundert sind es schon. Also, man ist schnell durch. Wer aber nur in Ost-West-Richtung durch Thüringen hindurchrast, verpasst eigentlich alles, was man im Leben so verpassen kann : gutes Essen, nette Menschen, Kultur und Natur in Hülle und Fülle, alte Städte voll heutigen Lebens. Das gilt auch für die ebenfalls knapp zweihundert Kilometer lange Durchfahrt in Nord-Süd-Richtung. Eines der ältesten Rathäuser Deutschlands befindet sich unweit des jüngsten Autobahnabschnittes, in Weißensee. Und Weißensee ist in diesem Fall kein Ortsteil Berlins mit TV-gerechter Stasivergangenheit, sondern eine Thüringer Stadt mit dem chinesischen „ Garten des ewigen Glücks “.

Verwirrend ? Nein, Thüringer Vielfalt.

Thüringen grenzt dreimal an Bundesländer, die noch viel sächsischer sind als Thüringen selbst. Sachsen, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen tragen schließlich deutlich Sachsen in sich. Die ebenfalls angrenzenden Hessen und Franken haben Thüringen zwar durchaus auch geprägt, aber den dicksten Prägestempel haben uns Thüringern eben die sächsischen Eroberer aufgedrückt. Manchmal spricht man in satirischer Übertreibung auch von sächsischen Kolonialherren. Aber in jeder ironischen Zuspitzung steckt das berühmte Körnchen Wahrheit. Im Thüringer Sachsenfall handelt es sich dabei um ein riesengroßes Wahrheitskorn.

Jedoch, liebe Hereinkommende : Es schadet ganz und gar nicht, die Thüringer Seele ein wenig zu streicheln. Lokal- und Regionalpatrioten sind keine Idioten, sondern Menschen mit Gefühlen. Wenn auch der Geburtsort genauso wie das Geburtsbundesland einer gewissen Zufälligkeit unterliegt – man wird ja sozusagen in seinen Geburtsort zwangseingewiesen –, kommt doch immer ein gewisser Stolz auf, wenn man sagt : Mein Erfurt ! Mein Thüringen ! Mir gehört zwar nichts davon, trotzdem ist es meins. Beides.

Grenzen sind natürlich nur willkürlich gezogen, auch die der Thüringer – und sie laden ein, sie zu überspringen, Also Reisender, tu eben dies. Du wirst überrascht sein, wie einfach es ist. Und noch überraschter wirst du sein, wenn du gesprungen bist.

Reisender, kommst du nach Thüringen, sei gewiss, du kommst nicht in östliche Einöden. Du kannst deine Zahnbürste zu Hause vergessen haben, verzweifele nicht, du wirst auch in Thüringen an der Vielzahl verschiedenster Zahnbürstenangebote schier verzweifeln. Übrigens wurde die Zahnbürste in Thüringen erfunden. In Bad Tennstedt.

Reisender, habe keine Angst vor Hunger und Durst, dir werden die Geschmacksknospen frühlingshaft aufspringen. Reisender, hier in Thüringen gehen Liebe und Bratwurst gemeinsam durch den Magen. Dein trockener Mund wird angenehm befeuchtet, und wenn du es anstrebst, kannst du deinem Körper Flüssigkeiten zuführen, die deinen Geist in Auflösung führen. Lass, Reisender, fährst du nach Thüringen, alle Hoffnung fahren, du würdest hier nur Not, Armut und leere Landstriche finden. Aus welcher Richtung auch immer du dich näherst, das sogenannte Grüne Herz Deutschlands wird deinem eigenen Herzen schnell nahe sein.

Reisender, näherst du dich aus südlichen Gefilden, liegt vor dir ein Mittelgebirge, sanft ansteigende, bewaldete Hänge, die oft deckungsgleich mit Thüringen assoziiert werden. Der Thüringer Wald prägt zwar Thüringen, aber von Thüringen ist er nur ein kleiner Teil. Reisender, du kannst dieses Gebirge durchfahren, nimm den Rennsteig-Tunnel, der mit fast acht Kilometern Länge im deutschen Tunnelvergleich der längste und in Europa der viertlängste zweiröhrige Straßentunnel ist. Fahr interessenlos und ohne Neugier auf der Tunnelautobahn, und du wirst nichts erfahren außer der Tunnellänge. Lässt du dich jedoch von der Hauptverkehrsader weg auf die alten Straßen und Nebenstraßen treiben und fährst du über den Kamm des Thüringer Waldes, siehst du die Enge der Waldtäler und weitest vielleicht langsam deinen Blick für einen Landstrich, wo Menschen mit schmalem Portemonnaie weit kamen. Du überquerst einen der legendärsten deutschen Wege, den Rennsteig, und blickst dann weit hinein ins Thüringer Becken.

Reisender, näherst du dich aus nördlicher Richtung, dann hast du viele Einfahrmöglichkeiten hinein ins Thüringer Land. Und all diese Straßen bringen dich in ein anderes Thüringen. Kommst du, Reisender, aus Niedersachsen, stößt du hinter der Landesgrenze entweder auf das sehr katholische Eichsfeld, das der Ratzinger-Papst durch seinen Besuch weltweit bekannt machte und wo ganz andere Feiertage gefeiert werden als im größtenteils protestantisch geprägten großen Rest des Freistaates Thüringen. Oder du kommst in der Nähe des nördlichsten Punktes von Thüringen in dasselbe hinein, dann geht es zunächst durch den Harz mit dem berühmten Brocken und den nicht minder berühmten Walpurgishexen und ihren teuflischen Riten und Ritten, und du landest in einem Landstrich, der nicht nur protestantisch, sondern auch sehr industrialisiert ist : der Landkreis Nordhausen. Am allerbekanntesten, jedenfalls in der GDT, der Gemeinschaft Deutscher Trinkbranntweinendverbraucher, ist der Landkreis durch das Huhn, das immer seinen Korn findet. Das schlaue Huhn heißt Henriette, hat einen goldenen Schnabel und findet nach dem Aufpicken des Kornkreises immer seinen Nordhäuser Doppelkorn.

Kommt man aber aus dem Norden, von Sachsen-Anhalt, fährt man mitten hinein in die Geschichte um den rotbärtigen König Barbarossa. Und findet der Grenzübertritt noch ein paar Kilometer weiter östlich statt, ist man sehr schnell bei Goethe und Schiller und Herder und Eckermann und Liszt und … später mehr dazu. Aus nördlicher Richtung kommend, kann man in das Verbreitungsgebiet des Mutzes gelangen – ein biounlogischer Bruder des Rasselbocks – oder vor das Geburtshaus des expressionistischen Malers Otto Dix. Und kommt man aus Sachsen nach Thüringen, landet man unter Umständen vor dem Skatgericht.

Reisender, kommst du aus dem Osten, dann kommst du aus einem Freistaat in einen anderen Freistaat. Wie schon erwähnt, ist der Freistaat Thüringen nicht der größten Bundesländer eines. Aber wäre man vor zweihundert Jahren aus östlicher Richtung ins heutige Thüringen eingefahren, wäre man dauernd an der Weiterreise gehindert worden, weil hier die staatlichen Gebilde so klein waren, dass alle paar Kilometer eine Staatsgrenze mit Schlagbaum und Zöllner aufwartete. Hier gab es so kleine Staatswesen, dass man sie Operettenstaaten nannte. Fürstentümer dieser Größe beziehungsweise Kleine gaben sich in Person von Operetten-Fürst Ypsheim-Gindelbach, dem Premierminister von Reuß-Schleiz-Greiz und dem Reuß-Schleiz-Greiz-Gesandten Graf Balduin dem Spott preis und wurden in der Strauss-Operette „ Wiener Blut “ tüchtig durch den Kakao gezogen.

Reisender, es kann auch sein, du kommst aus östlicher Richtung und kommst selbst heute nicht weiter. Das liegt dann nicht an politischen Grenzen, sondern daran, dass dein Auto nicht schwimmfähig ist. Sonst könntest du den größten Stausee Deutschlands, die Bleilochtalsperre, durchqueren.

Reisender, kommst du aus dem Westen, dann nutzt du meist die Autobahn Nummer Vier. Und gleich hinter dem imaginären Einfallstor nach Thüringen hinein siehst du die Burg der Deutschen. So sagt man zur Wartburg. Und wenn du nur ein einziges Mal nach Thüringen kommst, um alles über die Wartburg zu erfahren, kannst du einen mehrwöchigen Aufenthalt planen, denn so lange würde es dauern, alles über die Wartburg und ihre Geschichte zu entdecken.

Aber vergiss nicht die anderen Straßen, die dich, Reisender, aus westlicher Richtung nach Thüringen hineinführen. Du kannst die Häuser eines kulturbeflissenen Meininger Herzogs besuchen, dem sein Staat oft weniger wichtig war als sein Theater. Oder du entdeckst die Heimatstadt des Tütensuppenerfinders, die auch der Aufenthaltsort einer bis heute inkognito gebliebenen Adeligen war, die nur die Dunkelgräfin genannt wurde : Hildburghausen.

Reisender, näherst du dich von oben – also fällst du meisterlich mit Schirm vom Himmel oder fliegst per Flugzeug ein –, wird dir gefallen, was du siehst. Du kannst einen Überblick über das Grüne Herz Deutschlands gewinnen. Von oben allerdings wird dein Blick nur über die schöne Oberfläche gleiten. Reisender, du musst bei uns landen, um uns ins Herz blicken zu können. Was nun wieder ein Problem ist. Wir haben nur eineinhalb Flughäfen : Zwei Hälften heißen „ Flughafen Erfurt-Weimar “. Die übrige Hälfte heißt „ Leipzig-Altenburg Airport “, was ein großer Name für einen doch ziemlich kleinen Regionalflugplatz ist, der sich auf dem Gebiet der Gemeinde Nobitz, nun ja, ausbreitet. Reisender, wage es trotzdem. Es lohnt sich.

Reisender, kommst du nach Thüringen, sei dir gewiss, dass es durchaus möglich ist, dass du Frau und Kinder und dein Daheim vergessen wirst und hierbleiben möchtest. Sei kein Narr, Reisender, bleibe einfach – und hole Frau und Kinder nach. Nach Thüringen.

Die deutsche Mitte

Egal, aus welcher Richtung kommend man Thüringer Boden betritt, wenn man sich von den Rändern her dem Zentrum nähert, kommt man automatisch in das Thüringer Becken. Dieser Automatismus begünstigte auch die Besiedlung besagten Beckens : Von den Bergen und Hügeln rundherum hatte man schon immer einen guten Blick auf die erfolgversprechenden Jagdgründe und sah gute Argumente, sich auf Dauer hier niederzulassen. Die allerersten Siedler waren Nomaden – zumindest waren sie das, bevor sie beschlossen, sich anzusiedeln. Die nomadisierenden Menschengruppen streiften auf der Jagd nach gruppenabfütternden Mahlzeiten durch die sanfte Hügel- und die ebene Beckenlandschaft. Diese Menschen interessierten sich nur für die Verbesserung ihrer persönlichen Lage und machten sich keine Gedanken über die Besonderheiten des Landstrichs im geografischen Sinne. Das kam erst später, als die Vermessung der Welt begann und es sich durchsetzte, unsere unkugelige Erdkugel mit einem Netz zu überziehen, dessen Längs- und Querfäden mobilen Menschen die Orientierung erleichterten und die dabei halfen, politische Teilungen kartografisch zu fixieren.

Die messende Menschheit legte dann überall das Maßband an, und so reifte eines Tages die Erkenntnis, dass das heutige Thüringen das Land der Mitte ist. Damit keine Verwechslungen aufkommen : Das Reich der Mitte ist und bleibt China. Den Thüringern reicht, dass ihr Bundesland inmitten der deutschen Bundesländer liegt und den Mittelpunkt Deutschlands beherbergt.

Zwei Universitäten – die eine in Dresden, die andere in Göttingen – vermaßen Deutschland und stellten fest, dass ungefähr bei den Koordinaten 51°10' nördlicher Breite und 10°27' östlich von Greenwich der geografische Mittelpunkt Deutschlands liegt. Allerdings tobt ein Streitchen, ein Stürmchen im Wasserglas. Es versuchen sich vier weitere deutsche Örtlichkeiten im Grenzbereich Thüringen-Niedersachsen frech mit dem Mittelpunktsiegel zu schmücken : Silberhausen, Krebeck, Flinsberg und – Nomen ist Omen – Landstreit. Alle und alles maßlos vermessen !

Leider liegt die Wartburg zwar unweit, aber doch zu weit südlich jeglichen Mittelpunktanspruchs. Schade, denn die „ Burg der Deutschen “ wäre ein schön steitbares Mitte-Symbol, wo doch die Geschichte der Wartburg mit vielen ganz und gar nicht mittigen Ereignissen, Taten und Tätern aufwartet. Hierzu später mehr.

Noch einmal ganz exakt : 51°09'54" nördlich des Äquators und 10°27'19" östlich von Greenwich. Da und nur da ist der Deutschen Mittelpunkt. Das hat der Verband deutscher Schulgeografen noch einmal bestätigt. Punkt !

Wer diese Koordinaten in seine Geo-Caching-Gerätschaften eingibt und losläuft, um letztendlich genau am Kreuzungspunkt zu stehen, der landet punktgenau im nordthüringischen Unstrut-Hainich-Kreis, genauer gesagt zwischen Oberdorla und Niederdorla, und holt sich zumindest nasse Füße, denn der exakt berechnete Mittelpunkt liegt im Freilichtmuseum „ Opfermoor Vogtei “, einer vorgeschichtlichen, germanischen Kultstätte, nicht ganz vollständig umgeben von einem kleinen, flachen See. Archäologen gruben sich mehrere Jahre durch die torfigen Erdschichten am Rand des Sees und fanden eine Vielzahl von kultischen Relikten, die darauf hinweisen, dass hier schon im 6. Jahrhundert vor der Zeitenwende heidnischen Göttern und Götzen geopfert wurde. Die Wissenschaftler sprechen von „ emsiger Opfertätigkeit “. Auf dem ersten Heiligtum, einem Brandaltar aus Muschelkalksteinen, brachten unsere Vorfahren in bunten Gefäßen aus gebranntem Ton Speisen dar. Auf weiteren fast dreißig Opferstätten wurde ebenso fleißig geopfert. Spirituelle Massenabfertigung könnte man sagen. Die Götter und Götzen bekamen Sachspenden und Tiere, vor allem Rinder, und ab und an musste auch ein Mensch auf dem Altar dran glauben, damit bei den Lebenden der Glaube gestärkt werde.

Gesiedelt wurde hier allerdings schon im 6. Jahrtausend vor der Zeiten-Null. Aber davon blieb wenig übrig, was die Archäologen hätten finden können. Was heute im Freilichtmuseum „ Opfermoor Vogtei “ zu sehen ist, sind originalnah rekonstruierte Heiligtümer, Opferstellen und germanische Wohnbauten. Keramiken und Kultgegenstände kann man sich im nahe gelegenen Museumsgebäude anschauen.

Wie lange es übrigens dauert, bis sich alte Gewohnheiten religiöser Art verabschieden und neue durchsetzen, lässt sich daran ablesen, dass nachweislich noch im 10. und sogar 11. Jahrhundert auf alte Weise geopfert wurde. Aus dieser Zeit stammen Gefäße und Hundeknochen, die man in den oberen Torfschichten fand. Thüringer scheinen schon immer vorsichtige Leute gewesen zu sein. Zwar lief seit dem 8. Jahrhundert die Christianisierung auf Hochtouren und dies durchaus erfolgreich, aber die Einheimischen sagten sich anscheinend : Doppelt hält besser. Wenn uns der eine Gott nicht hilft, dann tut es vielleicht der andere. Erst im 12. Jahrhundert verloren sich die heidnischen Opferrituale.

Ein ganz anderes Ritual fand am 20. Februar 1991 statt. Man pflanzte – mit ziemlich viel Brimborium und Gottes Segen – eine sogenannte Kaiserlinde neben das Opfermoor. Und stellte wiederum daneben einen Stein auf, einen kleinen Felsen, der nun den stummen Zeugen der Mittelpunktsbehauptung gibt. Und der Stein bleibt, ein Symbol für den festen Glauben, dass Deutschland nun wieder vereinigt und sämtliche Landesteile unzertrennlich in ewiger Liebe zusammengefügt seien.

Die Symbolik ist verstehbar, die Sehnsucht nach ewiger Liebe verständlich, aber wieso pflanzte man eine Kaiserlinde ? Will man in der Mitte Deutschlands den „ guten, alten Kaiser wiederhab’n “ ? Hat es sich von den Rändern und den Großzentren noch nicht bis nach Thüringen herumgesprochen, dass die Deutschen keinen Kaiser mehr haben ? Gibt es hierzulande eine antirepublikanische Grundtendenz ? Nein, das würde nicht zu uns Thüringern passen.

Der Name Kaiserlinde kommt übrigens botanisch überhaupt nicht vor. Es ist eine politische Bezeichnung. Zu kaiserlichen Tagen wie denen der Geburt oder des Todes oder der zwischenzeitlichen Besteigung von Thron oder Kaiserin pflanzten die deutschen Untertanen untertänigst Linden. Auch in Thüringen gibt es noch Linden, die den Vornamen Kaiser tragen – große, alte Bäume, die in heißen Sommern Schatten und saubere Atemluft spenden.

Warum setzte man dem Kaiser nicht bronzene Denkmäler oder steinerne Monumente ? Kurz und knapp : Weil das Geld fehlte im ländlichen Raum. Ja, die Städter wohnten in großer Zahl auf einem Haufen, da war schnell das nötige Geld für einen Bronzekaiser oder ein Völkerschlachtdenkmal gesammelt. Das Erfreuliche an dieser Geschichte ist : die Bronzekaiser sind fast alle verschwunden, Linden gibt es noch einige, und sie stehen heute unter Naturschutz. Man sagt nicht mehr Lutherlinden, Schillerlinden und Goethelinden, obwohl diese großen Bäume zu Ehren dieser großen Deutschen gepflanzt wurden. Wunderlicherweise heißt es aber immer noch Kaiserlinde.

Nun gut, da steht sie nun also, unsere Mittelpunktlinde, neben dem Mittelpunktstein auf dem Mittelpunktfestplatz. Ab und an wird gefeiert : ein Mittelpunktgottesdienst oder ein Mittelpunktfest.

Und da stehen sie vielleicht zusammen dort und feiern. Deutsche aus Ost und West. Nicht nur heimlich immer noch Ossis und Wessis genannt. Aber das ist unvollständig. Denn da gibt es ja noch die anderen Deutschen, die Nordis und die Südis. Und mittendrin wir Thüringer : die Mittis.

Wir sind tatsächlich die mittigsten Deutschen. In jeder Hinsicht. Es ist, als hätten sich Mittelpunkt und Mittigkeit gegenseitig bedingt oder würden sich hin- und herbefruchten. Das hat konservative, deutschtümelnde Historiker fast zur Weißglut getrieben. Einer von ihnen, Heinrich von Treitschke, schrieb 1882 uns Mitteldeutschen ins Muttiheft : „ Unter allen den Unheilsmächten, welche unserem Volke den Weg zur staatlichen Größe erschwerten, steht die durchaus unpolitische Geschichte dieser Mitte Deutschlands vielleicht obenan. Fast alle anderen deutschen Stämme nahmen doch irgendeinmal einen Anlauf nach dem Ziele politischer Macht, die Thüringer niemals. Unsere Cultur verdankt ihnen unsäglich viel, unser Staat gar nichts. “

Es soll nicht wenige Thüringer geben, die das als Lob empfinden. Der Autor gehört dazu. In Thüringen ist die Mitte der Gesellschaft das Maß aller Dinge. Nicht Mittel-Maß – eher müsste es Mitte-Maß heißen. Und das ist in vollster Weise positiv zu verstehen. Maß halten, aber mithalten. Nicht Verzicht und nicht Vergeudung. Exzentriker jeder Art werden bei uns scheel angesehen und genießen kein Ansehen. Von außen betrachtet erscheinen wir Thüringer manchmal vielleicht etwas antriebsarm. Dabei gehen wir beharrlich und stetig voran. Wir sind eben die Realos des Lebens.

Wird eine Statistik gemacht : Wir Thüringer liegen fast immer im Mittelfeld – bei den Schulden, bei der Arbeitslosenzahl, bei Ausländerfeindlichkeit, bei PISA – da sind wir zwar ab und zu Spitze, aber nur in Deutschland, PISA ist ja ein internationaler Vergleich, und schaut man international auf uns Thüringer, gleich sind wir wieder Mitte.

Thüringer gehen den goldnen Mitte-Weg. Lieber ’n kleines Licht als ’n großer Armleuchter. Wir sind mäßig aufmüpfig und mäßig zu begeistern. Es fehlen uns die spitzen Ausschläge auf der Euphorie-Skala. Aber diese Mäßigung ist lebensverlängernd. Das steht mal fest.

Thüringer sind keine Massenbewegung, wenn Bewegung, dann in Maßen. Selten gehen wir zu Demonstrationen kritisierender Art. Wozu sich unnötig aufregen, vielleicht den Wutbürger markieren, Protestmärsche organisieren, das alles brauchen wir nicht. Bei uns sind sogar die Politiker mittig. Wie sagte die Christine immer, die Mutti Merkel von Thüringen, die Lieberknecht : Maß und Mitte. Das sagte sie in jeder ihrer Reden mindestens zwei- bis dreimal.

Mitte ist hier Spitze. Da können Sie auch jeden Thüringer Fleischer fragen. Der sagt es ganz klar : Das Mittelstück ist das Beste vom Schwein.

Ulf Annel

Über Ulf Annel

Biografie

Ulf Annel, 1955 in Erfurt geboren, ist Autor und Kabarettist. Er studierte Journalistik, war Radioredakteur und gehört seit 1981 zum Ensemble des Kabaretts „Die Arche/Erfurt“. Annel schrieb u.a. „Die unglaubliche Geschichte Thüringens“, „111 Orte in und um Weimar, die man gesehen haben muss“ sowie...

Pressestimmen
Thüringer Allgemeine

„Das Buch (...) ist ein munter geschriebenes umfassendes Thüringen-Kompendium, das Kultur, Geschichte und nicht zu vergessen Bratwurst-Kulinaria beleuchtet.“

thueringen-reporter.de

„Der Erfurter Kabarettist Ulf Annel ist mitten in Thüringen geboren und weiß, dass es unmöglich ist, eine Gebrauchsanweisung für Thüringen zu schreiben. Er hat es trotzdem gemacht. Da findet sich Unerklärliches und undenkbar Komisches neben Tiefernstem und Hochgenuss, Landesfürsten stehen neben Landesvätern und -müttern. (...) Treten Sie ein in die wunderbunte Vielfalt Thüringens.“

Kommentare zum Buch
Kommentieren Sie diesen Beitrag:
(* Pflichtfeld)

Ulf Annel - NEWS

Erhalten Sie Updates zu Neuerscheinungen und individuelle Empfehlungen.

Beim Absenden ist ein Fehler aufgetreten!

Ulf Annel - NEWS

Sind Sie sicher, dass Sie Ulf Annel nicht mehr folgen möchten?

Beim Absenden ist ein Fehler aufgetreten!

Abbrechen