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Ein Maler aus DeutschlandEin Maler aus Deutschland

Ein Maler aus Deutschland

Jürgen Schreiber
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Gerhard Richter. Das Drama einer Familie

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Ein Maler aus Deutschland — Inhalt

Gerhard Richter - „der Picasso des 21. Jahrhunderts“ - und die unglaubliche Geschichte seiner Familie.
Gerhard Richter malte sein bekanntes Gemälde „Tante Marianne“ nach Vorlage einer Fotografie, die ihn als Säugling zusammen mit der Schwester seiner Mutter zeigt.

Hier setzt der Reporter und Buchautor Jürgen Schreiber an und stößt auf eine tragische Wahrheit: Tante Marianne fiel dem Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten zum Opfer, in das der Gynäkologe und SS-Obersturmbannführer Heinrich Eufinger – der frühere Schwiegervater Gerhard Richters – tief verstrickt war.

„Investigative Kunstbetrachtung: Jürgen Schreiber liest die Familienbilder Gerhard Richters wie einen politischen Kriminalroman.“ Süddeutsche Zeitung

Eine Spurensuche, welche die unglaubliche Geschichte der Familie Gerhard Richters enthüllt, in der sich die Lebensläufe von Opfern und Tätern auf dramatische Weise kreuzen.

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 02.10.2017
304 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31212-7
Download Cover
€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 02.10.2017
304 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97750-0
Download Cover

Leseprobe zu „Ein Maler aus Deutschland“

Teil I
NACHT
Ich bin mein Erinnern.
AUGUSTINUS

DAS FEUER
Der Knabe wird ein Maler werden.
Er ist 13 Jahre alt. Gerhard Richter hatte eben Geburtstag.
Kein Geschenk, keine Feier, 1945 gab es nichts. Seit
1993 Tagen, fast die Hälfte seines Lebens, herrscht Krieg. Die
Russen kommen. Mit seiner Mutter Hildegard und Schwester
Gisela hatte es ihn ins sächsische Waltersdorf verschlagen,
einen entlegenen Sprengel an der Grenze zum tschechischen
Protektorat.Der Vater Horst Richter kämpft im Westen an der
Front. Von Osten einschießende Tiefflieger bestreichen die
Oberlausitz, [...]

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Teil I
NACHT
Ich bin mein Erinnern.
AUGUSTINUS

DAS FEUER
Der Knabe wird ein Maler werden.
Er ist 13 Jahre alt. Gerhard Richter hatte eben Geburtstag.
Kein Geschenk, keine Feier, 1945 gab es nichts. Seit
1993 Tagen, fast die Hälfte seines Lebens, herrscht Krieg. Die
Russen kommen. Mit seiner Mutter Hildegard und Schwester
Gisela hatte es ihn ins sächsische Waltersdorf verschlagen,
einen entlegenen Sprengel an der Grenze zum tschechischen
Protektorat.Der Vater Horst Richter kämpft im Westen an der
Front. Von Osten einschießende Tiefflieger bestreichen die
Oberlausitz, treiben Flüchtlingstrecks und Hitlers zurückflutendeWehrmacht
in die Gräben.Gefechtsdonner aus Richtung
Görlitz.Gewalt überrollt das Hinterland. Erschießungen. Plünderungen.
Vergewaltigungen. Freund oder Feind, das Kind hält
sich das Grauen spielerisch vom Leib.Der Erwachsene wird den
Krieg später als spannendes Abenteuer erinnern. Der Knabe
sollte eines Tages weltberühmt sein.
70 Kilometer Luftlinie westlich legen britische Bomber
Richters Geburtsstadt Dresden in Schutt und Asche.
Schwere Attacken im Schutze der Nacht des 13. Februar 1945.
Die Stadt, der Adolf Hitler versprach, „der Nationalsozialismus
wird ihr eine richtige Fassung geben“,soll sterben.650 000 Stabbrandbomben
und 529 Luftminen fallen,um nur das Gröbste zu
nennen, verwandeln die einstige königliche Residenz in eine
Todesfalle für Zehntausende. Am helllichten Tag des 14. geben
amerikanische Geschwader „Elbflorenz“ den Rest. So weit das
Auge reicht, Ruinen, eine mit Schutt übersäte Weite. Von der klaffenden Leere gibt es keinen richtigen Begriff, es sei denn in Bildern ihres großen Sohnes Gerhard Richter. In den 50er Jahren stapft der Student Tag für Tag durch die Trümmer zur Kunstakademie, der Pfad geht mitten durch die skelettierte Frauenkirche.Die Öde der dem Erdboden gleichgemachten Stadt, ihr Untergang binnen Stunden, lastet bis heute auf den Gemütern wie ein Phantomschmerz: Eine „Ziegelsteppe “, ein „Garnichts“ blieb von den viel beschriebenen Kulturstätten, notieren Chronisten wie Erich Kästner: „Man geht hindurch, als liefe man im Traum durch Sodom und Gomorra. “ Das bestimmte Dresdner Gefühl, schwerlich mit etwas anderem zu vergleichen, hinterließ ein Empfinden umfassenden Verlustes. Kein Neubau, keine Rekonstruktion konnte es heilen. Das Zerborstene, so hieß es unter Schock, könne nie wieder auferstehen. In dem Dauerprovisorium war Richter nie „daheeme “. Der übermächtige Eindruck einer vielfach zerklüfteten Stadtlandschaft verstärkte bei ihm die Stimmung politischer Hoffnungslosigkeit. Schlussendlich ließ ihn die Enttäuschung 1961 aus dem Sozialismus in den Kapitalismus flüchten. Zum 50. Jahrestag der Vernichtung Dresdens hängt 1995 vor den Brühlschen Terrassen (schwarz gebackene Krusten konservieren im Elbsandstein die Februarkatastrophe, als müsse für ewig Trauer getragen werden) seinWandbild „2 Kerzen“, ausgespannt ein Banner von 19 x 23 Meter:Zeichen des Gedenkens und Symbol für Richters Heimkehr. Er war dort an der Kunsthochschule ausgebildet worden, laut Bestandsliste „mittelschwer beschädigt“, was bedeutete, der Bau ließ sich notfalls reparieren. Selbst im demolierten Zustand für den Anfänger „wahnsinnig imponierend“,mit Säulen,Nischen, Statuen,Medaillons und was sonst in Stein geschlagen oder in Kupfer getrieben an Raffinessen vorgeführt wird.Über dem Hauptportal der „Genius der Kunst“. Richter swingt förmlich durch den Triumphbogen, sein Tor zur Welt.Ein über die Maßen erhebender Beginn, „dass man nun dazugehörte und die Lehrer echte Künstler waren“. Otto Dix lief ihm über den Weg, Kretzschmar, Rudolph, die Grundigs, lauter Bedeutende.Der Architekt Mart Stam dürfte bei der Immatrikulationsfeier gesprochen haben, „eine imposante Erscheinung“. Heiß durchströmte Richter das Glück des Anfangs.Wenige Festtage reichen an diesen heran. Nebenan hatte in der Pracht des Museums Albertinum die „Örtliche Luftschutzleitung“, „ÖL“,Deckung gesucht. Dort liefen im Februar ’45 die Meldungen wegen anfliegender „schneller Kampfflugzeuge mit Nordostkurs“ ein.Die Alliierten markierten das Gebäude auf ihren Angriffsplänen mit einem schwarzen Kreuz: zur Zerstörung freigegeben! Später wird Gerhard Richter deutsche Stukas malen, die dem Feind entgegenrasen, sowie eine aus acht Maschinen gebildete „Mustang-Staffel “ über offenem Gelände, ein Schwarm wilder Hornissen im Sturzflug.Bei der Attacke auf Dresden gaben sie in einer Stärke von 430 Jägern den amerikanischen Bombern Geleitschutz. Ihre Fracht konnte Menschen bei lebendigem Leib schmoren lassen und zerreißen. 2004 präsentiert Richter dieses der Zerstörung seiner Heimat geschuldete Flieger-Bild bei einer Ausstellung im Albertinum. Wohin er sich dreht und wendet,mit seinen Arbeiten voll gehängte Säle. Selbst wenn die auf der Glaskuppel der Akademie tänzelnde „Fama“,Personifizierung des Gerüchts,ihm das
zugeflüstert hätte, der Student hätte es sich in den kühnsten
Träumen nicht vorzustellen gewagt. 1960 war sein „Stilleben
mit Muscheln“ dort im Museum zur Schau „Junger Künstler
“ zugelassen. Heute muss er nur wollen, schon hat er alle
Wände für sich.Der früheste Erfahrungsraum des Knaben, der
ein Maler werden wird, ist der Krieg.Was ihn streifte, musste
Narben hinterlassen.Die Erfahrung des Abgrunds führt bis zum
explosiven „War cut“, seinem in prangenden Farben gehaltenen
Künstlerbuch zum Irak-Konflikt, 59 Jahre nach der Zerstörung
Dresdens.
13.Februar 1945.Tod undVerderben brechen inWellen
herein. Ein endloser Bomberstrom aus England über dem
schwarzen Spiegel der Nordsee. Bald glänzte die Elbe unter
ihnen auf. 1281 Todbringer erfüllen die Luft mit gleichmäßig
sonorem Brummen, das so noch niemand gehört hatte und das
nicht enden wollte.Kaum behelligt von Flak, erreichen die Heere
aus der Nacht die ihnen schutzlos ausgelieferte Zielscheibe.
Die letzte Warnung an die Bevölkerung: „Volksgenossen, haltet
Sand und Wasser bereit!“ Wie von englischen Meteorologen
prognostiziert, öffnete sich zum Abend die dicke Wolkendecke
über Mitteleuropa für Stunden.Eine Lücke, in die Piloten
nur hineinstoßen mussten, die schlafende Stadt unter sich.
Knapp eine Million Einwohner und Flüchtlinge wähnten sich
sicher. Bisher vergleichsweise glimpflich durch den Zweiten
Weltkrieg gekommen, war Dresden nur allzu bereit, die Luftattacken
vom Herbst ’44 für einen Irrtum zu halten. Fast überheblich
in ihrer gerühmten Schönheit, wähnt sich die Stadt
unantastbar.Nahte nicht schon der Frieden? Dresden glaubte an
seine Bestimmung, barockes Kleinod mit unvorstellbaren Schätzen
zu sein.
Umso brutaler treffen die ersten Einschläge. Ein Pfeifen
und Rauschen durchbraust den Äther, Explosionen lassen
die Erde zittern, Rauchgebirge türmen sich auf.Wie zur Verhöhnung filmen die Angreifer aus knapp 5000 Meter Höhe die
unter ihnen schmelzende Stadt. Bis dort hinauf sind die am
Boden herrschenden 1000 Grad Celcius zu spüren. Grüne,
weiße, rote Feuerwerkskörper illuminieren die Szenerie, am
Firmament funkelndes Gestirn, das zuvor kein Astronom
kannte. Für die Überlebenden gibt es auf weich gekochten
Straßen kaum ein Entrinnen. Nicht wenige fangen an den
Füßen zuerst Feuer und verbrennen von unten nach oben.Die
dicht auf dicht folgenden Treffer wirken wie ein einziger
Schlag, verheerend, da die Menschen in panischer Flucht unterwegs
oder als Helfer mit Löscharbeiten beschäftigt sind.
Unvorstellbares Chaos herrscht in den Straßen und
Winkeln. Tausende Brände lodern auf einer Fläche von 7 x 5
Kilometern, von keinem Hindernis aufzuhalten. Einheimische
irren fremd in ihrer eigenen Stadt herum.Die Eingeschlossenen
fürchten, die Elbe werde zu sieden beginnen, ein Eindruck, der
in den Davongekommenen lebenslang nachglüht.Eine so übermächtige
Gewalt, als wollten die Alliierten nicht nur ein für alle
Mal den Nazi-Ungeist ausräuchern, sondern Feuerteufeln
gleich alles abfackeln.Am Ende der Nacht erwacht trotzdem der
Morgen,Dresden ist erfüllt vonWehklagen.
Die geheime „Schlussmeldung“ der Ordnungspolizei,
Dokument 7/45, „gez. i.A. Thierig“, versucht wenigstens statistisch
eine Art Struktur in die Heimsuchung zu bringen.Aber die
Fakten machen die Dinge noch unerträglicher: „Fliegeralarm:
21.55 Uhr,Vorentwarnung: 22.40 Uhr,Entwarnung 23.27 Uhr,
Bombenabwurf: 22.09 Uhr bis 22.35 Uhr.“ Fast 12000 Gebäude
total zerstört, darunter Semperoper, Zentraltheater, Zirkus
Sarrasani,Taschenbergpalais,Coselpalais, Altes Rathaus. „Schwer
beschädigt“: Ehemaliges Residenzschloss, Grünes Gewölbe
völlig ausgebrannt,Hauptwache von Schinkel undundund.
Es war der Faschingsdienstag. Der Himmel über
Sachsen leuchtet im Zeichen des Mars. Beherrscht von den
Kriegsfarben blutrot und schwefelgelb,mitWolken, zerfetzt und selbst wie zerschossen. Vergleichbar Caspar David Friedrichs
Gemälde „Abend“ von 1824.Wechselweise von violett, lachsrosa
oder zinnober beherrscht. Diese Farben des Todes sind die
Farben, die man auch auf späteren Bildern Richters sieht.Über
allem lastet ein blendender Schein, ein Stieben und Funkeln
im Wechsel mit schwarz und schwärzer werdender Finsternis
durch Qualm.
InWaltersdorf war der Schüler Gerd Richter mit dem
ganzen Dorf auf der Gasse.Etwas Schnee lag.Ein Auflauf erregter
Menschen,hochgeschreckt von der Rundfunkmeldung aus dem
„Gefechtsstand Berlin“.Zuerst monotones Ticken, Knistern, gefolgt
von der Ansage: „Achtung,Achtung,hier Dresden.Mehrere
feindliche Bombengeschwader im Anflug . . . Entfernung 20Kilometer.
“ Schon heulen die Sirenen.2402 Einwohnern,darunter
617 Flüchtlingen, ist es, als würde trotz Verdunkelung der Horizont
entzündet. Eine wie aus der Winternacht heraus geschweißte,
berstend-giftige Helligkeit. War ein Komet niedergegangen?
War einVulkan ausgebrochen?Warum spieDresden so
viel Feuer aus? Ein Auflodern, das vom Ende der Zeit kündet in
einem unendlichen Lichtbogen.
Richters Schulkameradin Georgine Haeder,sie wohnte
„im Ober-,Richter im Mitteldorf“,erlebte die Katastrophe als ein
eiskaltes Brennen,das nie mehr wich.Es habe bestimmteWetterlagen,
die ihr die Bilder von damals vor die Augen zwingen in geradezu
entgegenflammenden Tönen. Sie sei auf den Dachboden
gerannt, habe durch die Luke über das Niederdorf hinweg gen
Nordwesten „den grausigen Widerschein gesehen. Mir stehen
heute noch die Haare zu Berge.“ Auch einen „entsetzlichen
Lärm“ habe sie vernommen, an- und abschwellend, sie konnte
ihn für das Brüllen eines Ungeheuers halten. Ihr Onkel kannte
den Krieg,habe sofort gesagt,„das sind die Bomber“.
Der 73-jährige Richter nimmt in der Rückschau auf
die Wahnsinnsnacht allerdings an, wegen der Entfernung habe
man optisch von der Dresdner Heimsuchung nichts wahrnehmen können. Aber dass „etwas Schreckliches geschah, das wussten
wir ganz genau“.Die Leute hätten gefragt: „Hörst du nicht,
wie es wummert?“ Auf seinWaltersdorf regnete es Stanniolstreifen,
von den Alliierten in Millionen Stücken abgeworfen, um
deutsches Radar und Funk zu stören.Am anderen Tag mussten
die Schulbuben das Silberpapier und von weit her gewehte, verkohlte
Papierschnipsel einsammeln.Mürbe Fetzen,die kreiselnd
niedersinken, bei der geringsten Berührung zerfallen.
Endzeit.DieWaltersdorfer Jungs zogen hinaus auf die
Felder ihrer kindlichen Manöver, ihr Revier im Steinbruch, in
dem der Uhu brütete – „da war ich oft“. Sie gruben Höhlen,
zimmerten Hütten, fanden Munition.Am Butterberg habe man
mit dem viel zu schweren Karabiner 98 und einer Pistole 08 herumgeballert.
Nur die Buben kannten die Verstecke für Kriegsspiele.
Richter schwärmt vom Herumstromern auf sanften
Kuppen, dem Butter- oder Sonneberg. Gemeinsam baldowerten
sie Beobachtungspunkte aus, verfolgten ankommende oder
fliehende Trupps aus gebührendem Abstand.Ein Spektakel. „Ich
fand das alles ganz toll. Ich habe die Soldaten beneidet, die in der
Scheune lagerten.“ Unweit Richters Zuhause in der Ostsiedlung
steht die rot geklinkerte Aussegnungshalle. Einer stachelte
den anderen zu Mutproben auf, die Jungen stahlen sich ans
Fenster, sahen verbotenerweise Leichenwaschungen und Aufbahrungen
zu. An der nahen „Kämmel’schen Familiengruft“
überragt ein weinender Engel mit Totenschädel die niedrige
Friedhofsmauer. Vor dem Postament ein geflügelter Satyrkopf,
bestückt mit Stundenglas und Sense. Zum Fürchten, wie es
Kinder aus Angstlust brauchen.
Schon 1938 kam Hitlers Tross an ihrem Nest vorbeigezogen,
unterwegs zu der mit Bunkern, Schussschneisen und
Sperren gespickten „Schöberlinie“. Auf der Route banden Sudetendeutsche
dem Führer aus roten Gladiolen ein Hakenkreuz,
überhäuften ihn mit Blumen.Am 5.Mai 1945 rückt General
Schörner zur Verteidigung der strategisch wichtigen Ostgrenze in Waltersdorf ein, lagert mit dem letzten Aufgebot von
100 Mann bei der Oberen Schule: die Verlierer von morgen,
bald östlich von Prag eingekesselt. Schörner, „so’n kleener
Mann“, soll zu den Verehrern von Richters Mutter Hildegard
gehört haben. Die letzte deutsche Batterie steht unweit in
Herrnhut. Direkt bei Richters Wohnung in der Ostsiedlung
345 b, in der DDR „Bebel-Straße“, häufen sich am Rummelplatz
nach der Kapitulation Waffen bis hin zu Flaklafetten und
Haubitzen.Über Knarren wusste Richter Bescheid.
Kinder können sich außerhalb der Dinge stellen, sehen
im Krieg ein zünftiges Abenteuer,nicht das Ende von etwas.
Das wahre Unglück überliefert die Dorfchronik akribisch: 63
mit ihrem Todestag aufgelistete Männer, die „im 2. Weltkrieg
1939–45 gefallen oder durch Kriegseinwirkungen verstorben“
sind.Das Fazit des endlosen Krieges aus der lokalen Sicht: „Wir
sind alle arm geworden, ärmer geht es nicht. Alles ging drüber
und drunter. Alles lief davon, es wurde geplündert.“ Der Krieg
kam zu Fuß ins Dorf, Georgine Haeder hat es mit eigenen Augen
gesehen,wie der Iwan einmarschierte, an der Spitze Mongolen
aus irgendwelchen Steppen, „mit schwarzen, bodenlangen
Mänteln und Kosakenmützen, Furcht erregende Kohorten, denen
hat man die Grausamkeit im Gesicht abgelesen“.Das waren
die Sieger. Andere Russen hätten die wilden Kerle entwaffnen
und in Schach halten müssen. Die Panje-Pferdchen schafften
kaum, die Munitionskarren hochzuziehen.
Gerüchte kursierten.Vor lauter Angst habe man drei
Wochen nicht geschlafen, sei nicht aus den Kleidern gekommen.
Nur wenige Familien wagten es, daheim zu bleiben. Die
meisten suchten Schutz im Wald. Richters Mutter harrte mit
wenigen Frauen aus. Die Flurnachbarin, die dabei war, erzählt:
„Wir haben abgeschlossen und uns auf dem Boden versteckt.“
Frau Richter habe den Einmarschierenden vom Fenster zugewinkt
und sei von einem Rotarmisten in Gegenwart seines Offiziers
vergewaltigt worden. Der habe mit gezückter Pistole zugesehen. Angebotenes Geld oder Preziosen ließen ihn kalt.Das
schilderte Hildegard Richter später immer wieder. Drei Tote
und mindestens fünf Notzuchtverbrechen sind verbürgt. Am
18. Mai lag der SS-Hauptscharführer Arthur Jochen Schmidt
mit Ehefrau und drei Kindern tot im Forst. Einer aus ihrer
Mitte.Unweit der Richters, gegenüber der Kirche, zog die russische
Kommandantur in die Gewerbebank ein. Dort konnten
missbrauchte Frauen wegen Abtreibungen vorstellig werden.
Waltersdorf, dieses in seinen Prospekten „lauschige
Plätzchen“ war für Gerhard Richter nie ein glücklicher Anfang.
Zwar genießt er das Ländliche, die Bewegungsfreiheit, so dass er
später sagt, diese Jahre „die waren unglaublich schön“. Aber
schwerer wiegt:Es war ein Leben,das mit dem Sterben beginnt,
das Schicksal der in die Katastrophe hineingeborenen Generation.
Der Krieg ist Richters Schule des Sehens. Wenn man
schon nicht sagen will, dass in der Nacht der Nächte ein Maler
geboren wird, veränderten die Dresdner Brandbomben den
Lauf der Dinge doch radikal: Ein „Lebenszeitaugenblick“ (der
Philosoph Hans Blumenberg), der das sensible Kind versengt,
dem sich Trauer, Elend und Leidenschaft in tiefere Schichten
eingraben.Die Urszene wird abgespeichert als Material künftiger
Werke. Bei dem Knaben, der ein Maler werden wird, sollte
die elementare Erfahrung eines Tages hochsteigen und wirksam
werden.Aus diesem Stoff schöpft Richter bis in die Gegenwart
seine Themen.Vergangenes wird Bleibendes.
Mochte sich der junge Richter das Bomben-Gewitter
als etwas Fernes und damit weniger Bedrohliches gedacht
haben.Nur so ließ sich die in ihrem Kern unbegriffene Zeit als
eine besonders „spannende“ verbuchen, während der Krieg
unweit die weltbekannte Silhouette seiner Vaterstadt pulverisierte,
die Dresdner zu Höhlenbewohnern machte. Vom Februar
1945 in ihm vorbereitet,musste das Erfahrene lange darauf
warten, gemalt zu werden. Denn insbesondere das Kriegsende,
von Richter gnädiger erinnert, als es in Wirklichkeit war, bedrängt ihn in kaum erträglicher Intensität. In einer abseitigen
Kammer des Gedächtnisses aufgestaut, macht es später seine
Kunst groß. Erzeugt eine unendliche Folge von Assoziationen
und Zeichen für Zerstörung, Verlust, Vergänglichkeit, Schuld,
Hoffnung, Verantwortung, Geburt, Tod, Terror, Kinder, Familie,
Ende, Neuanfang.
Der Tod kehrt bei Richter in mannigfachen Motiven
wieder. In den Tuschzeichnungen „Totenkopf“ oder dem Bild
„Schädel“. Er malt einen unter einem Eisblock begrabenen
Mann und den vermeintlichen Kennedy-Attentäter Oswald.
„Acht Lernschwestern“ ist der unverfängliche Titel für Bilder
acht ermordeter Krankenschwestern. „Sargträger“ eine Arbeit
von 1962, „Erschießung“ ein andere. Frühe Werke nennt er
„Schlachtschiff“, „Narbe“, „Klage“, „Verletzung“, „Wunde“, „Resektion
“, „Düsenjäger“, „Phantom Abfangjäger“. Anspielungen
auf das ins Gedächtnis Eingeätzte. Er gestaltet christliche
Kreuze, Objekte in Gold.Was ihm zu schaffen macht, steigert
sich Aufsehen erregend bis hin zu den Bildern des „Stammheim-
Zyklus“ von 1988. Des Künstlers traumatische Kindheitserfahrung,
aufgesogen wie mit Löschpapier, lässt ihn das Gesehene,
Erahnte, Erlittene aufrufen, abarbeiten – und malen.
Dann ist da noch der mit dem Datum „14. Febr. 45“ bezeichnete
Offsetdruck „Bridge“, Tag des Angriffs auf seine erste
Heimat Dresden, unterlegt mit einem Luftbild seiner zweiten
Heimat Köln. Das Blatt hängt in Richters Atelier. Erst beim
näheren Hinsehen sind die Bombeneinschläge in der mit Kratern
punktiertenWeite erkennbar, der Stadtausschnitt reicht an
seinen jetzigenWohnsitz.
Sein OEuvre lässt einen von Besorgnis und Furcht besetzten,
früh um Sicherheit betrogenen Skeptiker erahnen. Eine
Künstlernatur wie er musste den Mangel an Geborgenheit tief
verspüren. Die Härte des Lebens war ihm nur zu früh vertraut.
Richter startet in Waltersdorf mit einem Gefühl der Niederlage.
Vielleicht gehört das zu den Voraussetzungen eines von Mitleid, ja Erbarmen geleiteten Malers. Später setzt er sich mit alltäglicher
Gewalt in einem Ausmaß auseinander, das bei ihm nicht unbedingt
zu vermuten wäre, der sich gern als unpolitisch definiert
und in abstrakte Darstellungen flüchtet.Richter sucht, gewissermaßen
hinter der Leinwand,eine Neutralität, ausgedrückt in dem
von ihm bevorzugten Grau. Grau, aus gleichen Anteilen von
Schwarz und Weiß gemischt, schreibt er „Meinungslosigkeit,
Aussageverweigerung, Schweigen“ zu.Niemand hätte je geahnt,
wie viele Graus es auf seiner offenen Richterskala zu sehen gibt.
So viele,wie er will:Grau auf grauem Grund auf grauem Grund
auf grauem Grund, gedämpft,metallisch,mineralisch, rauchig, effektvoll,
pulsierend. Unvorstellbar. Grau zieht die Betrachter in
die Projektionsflächen hinein. Seine Klangfarbe.
Es ist noch der Februar 1945. Dresden eingeäschert.
Agenturfotos tragen die Unterschrift: „das brennende Dresden,
aufgenommen am 16. Februar ’45, 13.30 Uhr“. Die NSDAPPostille
„Freiheitskampf“ prahlt: „Trotz Terror, wir bleiben
hart.“ Die Deportation der letzten einsatzfähigen Dresdner
Juden steht für diesen Freitag bevor.Genau an diesem Tag stirbt
Richters Tante Marianne Schönfelder elendiglich in der Psychiatrischen
Landesanstalt Großschweidnitz, laut Totenschein
auf Station 11. Keine 20 Kilometer nördlich von Waltersdorf
erlischt die 27-Jährige, die jüngere Schwester von Richters
Mutter. Die schizophrene Marianne, eines der etwa 250000
Opfer von Hitlers Euthanasie-Verbrechen,1938 in Dresden zur
„Ballastexistenz“ verdammt, seitdem lebendig begraben in diversen
sächsischen Irrenhäusern.
An ihrem 60.Todestag sitze ich in einer BerlinerWohnung
unweit des „Führerbunkers“ über diesem Kapitel, und ich
schreibe den Satz:Es ist auch der Februar 1945,in dem die DresdnerVilla
von Professor Dr.Heinrich Eufinger vom alles verschlingenden
Feuer verschont bleibt.Richters späterer Schwiegervater
residiert in derWiener Straße 91.Der Gynäkologe war Nazi der
ersten Stunde. Dem Chefarzt der Frauenklinik Friedrichstadt zerrinnt in seiner Eigenschaft als SS-Obersturmbannführer die
Existenz unter den Fingern. Eufinger erfüllte nicht nur anscheinend
klaglos die nationalsozialistische Rassenpolitik, sondern sah
sie als seine wirkliche Mission. Er verantwortete fast tausend
Zwangssterilisierungen von geisteskranken Patientinnen nach
dem Gesetz zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Das
„GzVeN“ wurde ausdrücklich als „Beginn ausmerzender Maßnahmen
des Staates“ verkündet.
Gerhard Richter konnte nicht wissen, bei wem er
1953 in der Wiener 91 unterschlüpfte, nachdem er sich in Eufingers
höchst anziehende Tochter Ema verliebt hatte. Ihr richtiger
Vorname seltsamerweise ebenfalls Marianne. Er war selig
mit ihr, war selig,Waltersdorf entronnen zu sein, war noch mal
selig, weil ihn die legendäre Akademie zum Wintersemester
1951/52 aufgenommen hatte. Im Jahr zuvor scheiterte der erste
Versuch des Anwärters, dem die Schulzeit missraten war, der die
Lehren zum Schriften- und Bühnenmaler abbrach. Richter
wartete mit dem Reifezeugnis erster Bilder aus seiner rasch
dicker werdenden Mappe auf, hatte aber sonst im Lebenslauf
nichts vorzuweisen.
Nach den Fliegerangriffen steht Eufingers Krankenhaus
in der amtlichen Liste „schwer beschädigter Objekte“.Am
16. Februar 1945 ergeht der Befehl zur Räumung seiner Klinik
und zur Verlagerung in die nahe Landesirrenanstalt Arnsdorf,einer
der unheimlichsten Adressen weit und breit.Mit der niederschmetternden
Diagnose ihrer Geisteskrankheit hatte dort die
Auslöschung von Richters Tante Marianne begonnen, die sich
an diesemWintertag vollendet. Ihr Schicksal überschneidet sich
ein letztes Mal mit Eufingers steiler SS-Karriere. In Raum und
Zeit wird das Muster eines Dramas sichtbar, das Drama von
Richters Familie. Ein noch nie entdecktes Geheimnis des Malers.
Es geht um Schuld und Leid, Liebe, Hass und Tod.
Da ist Gerhard Richter. Da sind zwei Menschen,
Heinrich Eufinger und Marianne Schönfelder, beide ihm eng verbunden, der eine angeheiratet, die andere blutsverwandt. Sie
leben in scheinbar unendlich voneinander entfernten Parallelwelten.
Hier die unheilbar Kranke, von den Nazis zur Tötung
bestimmt.Dort der Frauenarzt,unheilbar gesund in seiner Nazi-
Gesinnung, dem Großdeutschtum verfallen, Handlanger bei
Hitlers „Reinigung des Volkskörpers“. Der eine Gegenpart des
anderen. Sie stehen in gespenstischer Verbindung.Man könnte
an Vorsehung glauben. Eufingers Wiener Straße 91 ist das geheime
Zentrum einer Tragödie, die dem Künstler bis heute
selbst nie bewusst war. In den 60er Jahren malt Gerhard Richter
seine „Tante Marianne“, setzt ihr in einem schmerzhaft schönen
Porträt ein Denkmal, einmalig für die Opfer des Hitler-Regimes.
Einzig dieses Werk sorgt dafür, dass ihre so verhuschte
Existenz doch nicht gänzlich ausgelöscht werden konnte. Gerhard
Richter gibt der Erinnerung ein Gesicht. Durch seine
Kunst ist es möglich, sich aus den Fragmenten ihres trostlosen
Daseins ein Bild zu machen.Eines Daseins, in dem sie nachweislich
der Krankenakte einem 1947 im Dresdner Euthanasie-Prozess
zum Tode verurteilten Massenmörder in die Hände fiel.
Schließlich malt Gerhard Richter mehrfach den Frauenarzt
und Schwiegervater Eufinger als treu sorgenden Patriarchen.
Eine Reihe nicht ganz geheurer Ansichten von einem
Mediziner, der Hitlers Allmachtsfantasien teilte, die auch Tante
Marianne umbringen.Der Künstler wandte sich damals instinktiv
Verborgenem zu. In seinemWerkverzeichnis finden sich also
die Bilder eines Täters neben dem Bild eines Opfers. Ebenfalls
in Farbe festgehalten ist die Wiener 91, Kristallisationspunkt
einer unglaublichen Verstrickung, die so nur in Deutschland
denkbar ist. Kein Regisseur könnte den Fall makaberer inszenieren.
Jede Erzählung mit diesem Stoff würde als Übertreibung
abgetan. In seinen unendlich fein verzweigten Strängen wirkt
das Geschehen romanhaft, in den Fakten ist es nur zu wahr.Die
Distanz zwischen der Tante und dem Professor könnte größer
nicht sein, doch sie treiben, jeder in seiner Rolle, aufeinander zu.Marianne in ihrem Unglück, Eufinger in seinem Glück.Vor
dem Hintergrund des glutroten Scheins über dem brennenden
Dresden ist es jetzt an der Zeit, die realen Personen aus ihren
Gemälden treten zu lassen, ehe sich ihre Spur vollends verliert.
Der Chronist heißt Gerhard Richter.Der große Schweiger lässt
Bilder sprechen, Richter hat sie hervorgebracht, bevor er sie
erinnerte, getreu dem Faulkner-Satz „Memory believes before
knowing remembers“.
Der Knabe wird ein Maler werden. Am Ende dieser
Geschichte ist Gerhard Richter weltberühmt.

ANNÄHERUNGEN
In Gerhard Richters Kölner Atelier ist es ganz still. Nur gelegentlich
fegt Hund Leica („wie der Fotoapparat“) durch die
Räume, die Familiäres mit der angenehmen Kühle der Modernität
mischen.Man muss lange suchen, um einen solch idealen
Arbeitsplatz zu finden. Räume aus Licht für einen Zen-Meister
in Gesundheitslatschen, der Überflüssiges abgestreift hat und in
wunderbarer Ruhe Bilder zelebriert.Weiße Vorhänge trennen
die Zimmer, als hätte ihm ein Theatermacher die Bühne bereitet,
auf die er zur Begrüßung heraustritt, kleiner und schmächtiger
als erwartet, aber vergrübelt, wie man ihn sich denkt.
Ringe zum Turnen hängen von der Decke, darunter abstrakte
Gemälde in typisch-waghalsigen Farbkaskaden: schwebend, tropfend,
leckend, funkelnd, reflektierend, betörend, irisierend, fließend,
subtil, kunterbunt, aufregend.Wie glasiert und mit einem
nur ihm bekannten Lack imprägniert, süchtig machend nach
mehr. Ein Malstrom, man möchte sich wegschwemmen lassen. Am Schreibtisch CDs von Cage, Glass,Monk und Steve Reich.
Minimalisten.
Reporterkollegen hatten mich vor seiner einschüchternden
Ausstrahlung gewarnt. Zunächst am Telefon hatte
Richter beim Stichwort Dresden noch abgewehrt. Seinem Ruf
als unnahbarer Autorität entsprechend, klang er kühl und undurchdringlich.
Beim Kennenlernen taxiert er den Besucher sichernd
und abschätzend – Freund? Feind? Was will er? –, hält
mit höflich-einsilbigen Sätzen auf Distanz. Ihm Themen aufzudrängen,
gar quälende, scheint anfangs unmöglich. Trotzdem
entschloss sich der Vielbeschäftigte schließlich, das eigene Herkommen
zu befragen, zögerlich, mit deutlichen Vorbehalten,
aber immerhin. Das sei über 50 Jahre her, nach dieser langen
Zeit,was solle er da noch wissen? Zuletzt gab er doch nach, alt
genug sei er, „das muss ich annehmen“.
Beim ersten Kölner Treffen 2004 streift Richter seltsam
fremd und steif im eigenen Leben herum, mit der für ihn
charakteristischen priesterlichen Förmlichkeit. Vielleicht war er
mit den Gedanken auch nur woanders. Beschäftigt mit Farbkompositionen,
waghalsigen Ideen, Projekten der Zukunft, sei
es für Atlanta,Edinburgh,Dresden,San Francisco oder was sonst
noch an Merkzetteln zum Abarbeiten an die Wand gepinnt ist.
Der ständige Vorwurf, die Malerei komme zu kurz.Richter ist
inzwischen ein weltweit operierender Ein-Mann-Konzern, für
seinen Geschmack zu viel von Versicherungs-, Transport- und
Organisationsfragen abgelenkt. Das möchte er am liebsten hinter
sich lassen.
Anfangs sitzt Gerhard Richter weit zurückgelehnt auf
dem Stuhl, in größtmöglichem Abstand.Dann rückt er näher.Er
gräbt nicht mehr bedächtig jedesWort einzeln aus bei der sentimentalen
Reise.Fern jeden Persönlichkeitskults ist er in der Öffentlichkeit
grundsätzlich scheu. Ein Gesprächspartner von starkem
Willen und der Ausstrahlung, die seine Kunst reflektiert.
Zuerst beschäftigt es mich, ob seine sachdienlichen Hinweise mich bestätigen oder mich verunsichern, während er sich mit
zusammengekniffenen Augen auf Einzelheiten besinnt, als lausche
er einem Echo. Endlich knöpft Richter das weich fallende
Jackett auf.Die Anspannung löst sich. Er öffnet sich, macht mit.
Nicht hoch genug einzuschätzen bei einem, der sich sonst nur
malend rückhaltlos mitteilt.Welcher andere Große würde sich
einer solch unerbittlichen Befragung des Persönlichen aussetzen
wie dieser Gerhard Richter.
Dann kam Bewegung in die Sache.Zwischen unseren
Terminen wurden aus halbfertigen Bildern fertige für seine
grandiose DüsseldorferWerkschau. Bei einem weiteren Besuch
trägt der Professor eine randlose Brille statt der streng dunklen
Fassung, sieht froher aus und wie runderneuert.Der Bart bleibt
stehen. Ein Modell des Dresdner Museums Albertinum in Puppenstubenformat
kommt auf die Arbeitsplatte. Richter nimmt
es pedantisch,bestimmt auf den Zentimeter genau die Hängung
seiner Bilder in briefmarkengroßen Kopien.Beim nächsten Mal
sind zehn blanke, mannshohe Leinwände schon auf Holz gespannt,
Farbtöpfe, Pinsel griffbereit, zum Schutz gegen Kleckse
sind FAZ-Seiten auf dem Boden verklebt. Terpentingeruch
macht sich breit. Sobald der Vorhang sich bauscht, sehe ich ihn
vom Eingang aus am anderen Ende bei den Tiegeln mit der
Spachtel hantieren, überflüssige Farbe streift er im aufgeschlitzten
Tetra-Pack von „Eifel-Milch“ ab. Es läuft gut.Richter fühlt
sich nach eigenenWorten wie ein Rennpferd, das im Stall kurz
gehalten wurde, damit es wieder Lust auf die Bahn gewinne:
„Ich möchte malen.“ Bald sind acht abstrakte Bilder angefangen.
Sie wirken sofort, als gehörten sie nach New York.
Nach und nach lässt er sich in unseren Gesprächen
vom Sog der Vergangenheit erfassen. Für ihn hat sich vieles verändert.
Geschehnisse aus dem Dritten Reich nehmen allmählich
Gestalt an, die Gestalt von Tante Marianne und Schwiegervater
Eufinger. Ein eigener Kosmos jenseits des Sichtbaren,mit
jeder Begegnung deutlicher erkennbar auf der Rückseite ihrer berühmten Porträts. Ein Gespinst unfasslicher Beziehungen,
ohne dass das Zusammentreffen entlegener Sprengsel rational zu
erklären wäre. Es geht bis in den tiefsten Grund, die abgesunkenen
Sedimente von Richters Familiengeschichte treten zutage.
Verblüffend passt ein Puzzleteil zum anderen. Offenbarungen
im Hinblick auf ihn selbst, die in der Rückschau eine verdeckte
Form persönlicher Geschichtsschreibung ergeben.
Wie beim Restaurator kommt unter dem Firnis allmählich
das Ursprüngliche hervor: Leid, Verhängnis und Verzweiflung,
die alles übertrafen,was er darüber wusste. Familiäre
Details stellen sich in beängstigender Fülle ein.Er hätte es selbst
nicht geglaubt, nun gilt es, sich den Dingen zu stellen. Es waren
eindringliche Gespräche über gestern und heute, über das Einst
im Jetzt mit Abschweifungen in die Berliner Politik. Leichteres
mischt sich mit unerträglich Schwerem bei der Erforschung der
Nacht. Richter ist Künstler, kein Verwalter, ab und zu muss er
seinen schmalen Kalender befragen, schlägt ein Datum nach,
trägt ein neues ein, präzisiert eine Angabe, fügt den Skizzen feinere
Striche hinzu. Sofort verschwindet das Büchlein wieder in
der Schublade. Richter hält sehr auf Ordnung, der Schreibtisch
ist stets aufgeräumt.Es gibt Kaffee,Kekse, Pralinen aus Ostende,
immer steht ein Obstteller da.Manchmal kommt seine Frau Sabine
dazu. Töchterchen Ella Maria lugt im Funkenmariechen-
Kostüm ums Eck. In Richters Idiom kann sich Sächsisches einschleichen.

Über Jürgen Schreiber

Biografie

Jürgen Schreiber, ist einer der besten investigativen Journalisten Deutschlands. Für seine herausragenden Arbeiten auf dem Gebiet Reportage und Enthüllung wurde er bereits zweimal mit dem Wächter-Preis der deutschen Presse ausgezeichnet. Außerdem erhielt er den Theodor-Wolff-Preis. Er arbeitete u.a....

Medien zu „Ein Maler aus Deutschland“
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