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Die Teerose (Rosen-Trilogie 1)Die Teerose (Rosen-Trilogie 1)

Die Teerose (Rosen-Trilogie 1)

Jennifer Donnelly
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Roman

Eine großartige Geschichte und genau das, was wir in Zeiten wie diesen brauchen. - Frank McCourt

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Die Teerose (Rosen-Trilogie 1) — Inhalt

Jung, begehrenswert, schön und mittellos.

London 1888, eine Stadt im Aufbruch: Während in den Gassen von Whitechapel das Laster blüht, träumt die 17-jährige Fiona von einer besseren Zukunft. Als Packerin in einer Teefabrik beweist die junge Irin ihr Gespür für die köstlichsten Sorten und exotischsten Mischungen. Doch dann muss Fiona ihren Verlobten Joe verlassen und sich im New York der Jahrhundertwende eine Existenz aufbauen … Spannend und voller Sinnlichkeit erzählt dieser Roman die Geschichte der Fiona Finnegan und einer großen Liebe zwischen Sühne, Mut und Leidenschaft.

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 01.11.2004
Übersetzt von: Angelika Felenda
688 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-24258-5
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 18.01.2012
Übersetzt von: Angelika Felenda
688 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-95602-4
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Leseprobe zu „Die Teerose (Rosen-Trilogie 1)“

Tief in ihren Wurzeln bewahren alle Blumen das Licht.
THEODORE ROETHKE



Prolog

London, August 1888


Polly Nichols, eine Hure aus Whitechapel, war dem Gin zutiefst dankbar. Gin half ihr. Er kurierte sie. Er nahm ihr den Hunger und vertrieb die Kälte aus den Knochen. Er stillte den Schmerz in ihren verfaulten Zähnen und betäubte das Brennen beim Pinkeln. Er verschaffte ihr angenehmere Gefühle, als je ein Mann es vermocht hatte. Er beruhigte und tröstete sie.
Betrunken schwankte sie durch eine dunkle Gasse, führte die Flasche zum Mund und trank sie leer. Der [...]

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Tief in ihren Wurzeln bewahren alle Blumen das Licht.
THEODORE ROETHKE



Prolog

London, August 1888


Polly Nichols, eine Hure aus Whitechapel, war dem Gin zutiefst dankbar. Gin half ihr. Er kurierte sie. Er nahm ihr den Hunger und vertrieb die Kälte aus den Knochen. Er stillte den Schmerz in ihren verfaulten Zähnen und betäubte das Brennen beim Pinkeln. Er verschaffte ihr angenehmere Gefühle, als je ein Mann es vermocht hatte. Er beruhigte und tröstete sie.
Betrunken schwankte sie durch eine dunkle Gasse, führte die Flasche zum Mund und trank sie leer. Der Alkohol brannte wie Feuer. Sie hustete, die Flasche entglitt ihr, und sie fluchte, als sie zerbrach.
In der Ferne schlug die Kirchturmuhr von Christ Church zwei. Der volle Klang wurde vom dichter werdenden Nebel gedämpft. Polly steckte die Hand in die Manteltasche und spielte mit den Münzen. Vor zwei Stunden hatte sie ohne einen Penny in der Küche einer schäbigen Absteige in der Thrawl Street gesessen. Der Knecht des Hauswirts hatte sie dort entdeckt, die vier Pence von ihr gefordert und sie rausgeworfen, als sie nicht zahlen konnte. Fluchend und keifend hatte sie ihm aufgetragen, ein Bett für sie freizuhalten, er würde das Schlafgeld schon kriegen, sie habe es längst verdient und inzwischen schon dreimal versoffen.
„Und jetzt hab ich’s auch, du Mistkerl“, murmelte sie. „Hab ich’s nich gesagt? Ich hab deine verdammten vier Pence und obendrein noch einen ordentlichen Rausch.“
Das Geld und den Gin hatte sie in der Hose eines Betrunkenen gefunden, der allein die Whitecapel Road hinunterwankte. Er mußte allerdings ein bißchen überredet werden, denn mit zweiundvierzig war ihr Gesicht kein großes Kapital mehr. Zwei Vorderzähne fehlten ihr bereits, ihre kleine Nase war platt gedrückt wie bei einem Boxer, aber ihr Busen war noch immer fest, so daß ihn ein kurzer Blick darauf überzeugt hatte. Vorher bestand sie allerdings auf einem Zug aus seiner Flasche, weil sie wußte, daß der Alkohol ihre Geruchsnerven betäuben und seinen Gestank nach Bier und Zwiebeln überdecken würde. Als sie trank, knöpfte sie ihr Mieder auf, und während er sie begrapschte, ließ sie die Flasche in ihre eigene Tasche gleiten. Er war ungeschickt und langsam, und sie war froh, als er sich endlich zurückzog und davontaumelte.
Mein Gott, es gibt nichts Besseres als Gin, dachte sie jetzt und lächelte, als sie sich an den Glücksfall erinnerte. Eine Flasche in den Händen zu halten, die Lippen an den Rand zu drücken und die beißende, scharfe Flüssigkeit durch die Kehle rinnen zu lassen. Es gab nichts Besseres. Und die Flasche war fast voll gewesen. Nicht bloß ein lächerlicher Schluck für drei Groschen. Ihr Lächeln erlosch, als sie den Drang nach mehr verspürte. Sie hatte den ganzen Tag getrunken und kannte den Katzenjammer, der sie erwartete, wenn der Fusel zur Neige ging. Das Würgen, das Zittern und, am schlimmsten von allem, die Dinge, die sie sah – schwarze krabbelnde Wesen, die sie aus den Wandritzen der Absteige angrinsten.
Polly leckte über ihre rechte Handfläche und fuhr sich damit übers Haar. Ihre Hände glitten zu ihrem Mieder hinab, und sie machte mit ihren fahrigen Fingern einen Knoten in die schmutzigen Schnüre. Dann knöpfte sie ihre Bluse zu, torkelte aus der Gasse hinaus die Bucks Row hinunter und sang mit lallender Stimme:


„Keiner bewahrt dich vor Pech und Leid
Glück ist dir hold oder neid
Lob dem, der gibt sich zufrieden
Mit dem Wechsel von Glück und Leid hienieden …“


An der Ecke von Bucks Row und Brady Street blieb sie plötzlich stehen. Alles verschwamm ihr vor Augen. Ein surrendes Geräusch, leise und nah, wie der Flügelschlag eines Insekts, fuhr durch ihren Kopf.
„Ich brauch was zu trinken“, stöhnte sie. Sie hob die Hände. Sie zitterten. Sie schlug den Mantelkragen hoch und begann, schneller zu gehen, in dem verzweifelten Verlangen, wieder an Gin zu kommen. Ihr Kopf kippte nach vorn, so daß sie den Mann nicht bemerkte, der ein paar Meter vor ihr stand und wartete, bis sie fast bei ihm war. „Verdammt!“ rief sie. „Wo zum Teufel, bist’n du so plötzlich hergekommen?“
Der Mann sah sie an. „Willst du?“ fragte er.
„Nein, Meister, ich will nich. Ich bin ziemlich fertig. Gute Nacht.“
Sie schickte sich an weiterzugehen, aber er packte ihren Arm. Sie drehte sich zu ihm um, ihr freier Arm hob sich, um zuzuschlagen, als ihr Blick auf den Shilling fiel, den er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.
„Na schön, das ist was andres“, sagte sie. Sein Shilling und die vier Pence, die sie bereits hatte, würden reichen, um heute abend, aber auch morgen und übermorgen Gin und Schlafplatz zu bezahlen. Obwohl sie sich hundeelend fühlte, konnte sie das Angebot nicht ausschlagen.
Schweigend gingen Polly und ihr Freier an baufälligen Gebäuden und hohen Lagerhäusern vorbei den Weg zurück, den sie gekommen war. Der Mann schritt kräftig aus, so daß sie Mühe hatte, ihm nachzukommen. Als sie ihn musterte, stellte sie fest, daß er ausgesprochen teuer angezogen war. Vermutlich hatte er auch eine hübsche Uhr bei sich. Jedenfalls müßte sie im richtigen Moment seine Taschen durchwühlen. Am Ende der Bucks Row, vor dem Eingang zu einem Pferdestall, blieb er plötzlich stehen.
„Nicht hier“, protestierte sie und rümpfte die Nase. „Bei dem Schmied … ein bißchen weiter unten …“
„Das geht schon“, antwortete er und drückte sie gegen zwei verrostete, mit einer Kette gesicherte Blechplatten, die als Stalltor dienten.
Sein Gesicht leuchtete unheimlich hell in der zunehmenden Dunkelheit, und seine wächserne Bleiche stand in grellem Gegensatz zu seinen kalten, schwarzen Augen. Ihr wurde schlecht, als sie ihn ansah. O Gott, betete sie insgeheim, hoffentlich muß ich mich nicht übergeben. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht so kurz vor einem ganzen Shilling. Sie zwang sich, tief Luft zu holen, und unterdrückte den Brechreiz. Während sie dies tat, atmete sie seinen Duft ein – Makassaröl, süß, und etwas anderes … was war das? Tee. Es war Tee, um Himmels willen.
„Also los jetzt“, sagte sie. Sie hob ihre Röcke und fixierte ihn mit einem matt erwartungsvollen Blick.
Die Augen des Mannes glitzerten jetzt dunkel wie glänzende schwarze Ölteiche. „Du dreckige Hure“, sagte er.
„Keine Sauereien heut, Süßer. Ich bin ein bißchen in Eile. Soll ich dir helfen?“ Sie streckte die Hand aus. Er schlug sie weg.
„Hast du wirklich gedacht, du könntest dich vor mir verstekken?“
„Hör zu, willst du jetzt …“, begann Polly. Sie beendete ihren Satz nicht mehr. Ohne Vorwarnung packte sie der Mann an der Gurgel und drückte sie gegen das Tor.
„Laß los!“ rief sie und holte gegen ihn aus. „Laß mich gehen!“ Er packte sie noch fester. „Du hast uns verlassen“, sagte er mit vor Haß brennenden Augen. „Hast uns wegen der Ratten verlassen.“
„Bitte!“ keuchte sie „Bitte tu mir nicht weh. Ich weiß nichts von Ratten, das schwör ich … ich …“
„Lügnerin.“
Polly hatte das Messer nicht kommen sehen. Sie hatte keine Zeit zu schreien, als es in ihren Bauch eindrang und rumgedreht wurde. Als er es wieder herauszog, stieß sie ein leises Stöhnen aus. Verständnislos, den Mund zu einem großen O geformt, starrte sie mit aufgerissenen Augen auf die Klinge. Langsam und vorsichtig betastete sie mit den Fingern die Wunde. Sie waren leuchtend rot, als sie die Hand zurückzog.
Sie hob den Blick, stieß einen wilden, entsetzten Laut aus und sah dem Wahnsinn ins Gesicht. Der Mann hob sein Messer und schlitzte ihre Kehle auf. Sie sackte zusammen, Dunkelheit umgab sie, hüllte sie ein, und sie versank in einem dichten, erstickenden Nebel, der tiefer war als die Themse und schwärzer als die Londoner Nacht, die sich auf ihre Seele senkte.


Erster Teil





1

Der Duft der frisch gerösteten indischen Teeblätter war betäubend. Er drang aus Oliver’s Wharf herüber, einem sechsstöckigen Lagerhaus am Nordufer der Themse, und zog die Old Stairs hinab, eine Steintreppe in Wapping, die von der gewundenen, mit Kopfstein gepflasterten High Street zum Fluß hinunterführte. Der Duft des Tees überlagerte alle anderen Gerüche der Docks – den säuerlichen Gestank des schlammigen Ufers, den salzigen Geruch des Flusses, die intensiven Düfte von Zimt, Pfeffer und Muskat aus den Gewürzlagern.
Fiona Finnegan schloß die Augen und atmete tief ein. „Assam“, sagte sie zu sich selbst. „Für einen Darjeeling ist der Geruch zu stark, für einen Dooars zu intensiv.“
Mr. Minton, der Vorarbeiter bei Burton’s, sagte, sie habe ein Näschen für Tee. Es machte ihm Spaß, sie zu testen und ihr eine Handvoll Blätter unter die Nase zu halten, die sie dann benennen mußte. Sie täuschte sich nie.
Ein Näschen für Tee? Vielleicht. Die Hände dafür ganz sicher, dachte sie und öffnete die Augen, um ihre abgearbeiteten, vom Teestaub schwarzen Hände anzusehen. Der Staub setzte sich überall fest. Im Haar, in den Ohren, im Innern ihres Kragens. Seufzend rieb sie mit dem Rocksaum den Schmutz weg. Zum erstenmal seit halb sieben heute morgen, seit sie die Küche ihrer Mutter verlassen und auf die dunklen Straßen von Whitechapel hinausgegangen war, konnte sie sich setzen.
Um Viertel vor sieben kam sie in der Teefabrik an. Mr. Minton hatte sie an der Tür erwartet und ihr aufgetragen, die Halbpfunddosen für die anderen Verpackungsarbeiterinnen herzurichten, die um sieben mit der Arbeit begannen. Diejenigen, die mit der Mischung beauftragt waren und in den oberen Stockwerken arbeiteten, hatten am Tag zuvor zwei Tonnen Earl Grey vorbereitet, der bis zum Mittag verpackt werden mußte. Fünfundfünfzig Mädchen hatten fünf Stunden Zeit, um achttausend Dosen zu füllen. Das hieß etwa zwei Minuten Arbeitszeit für eine Dose. Nur Mr. Minton fand, daß zwei Minuten zu lang waren, weshalb er hinter den Mädchen stehenblieb – sie überwachte, drangsalierte und antrieb. Nur um ein paar Sekunden bei der Füllung einer Teedose herauszuschinden.
An den Samstagen wurde nur halbtags gearbeitet, aber gerade diese kamen ihr endlos vor, weil Mr. Minton dann die Mädchen ganz besonders antrieb. Das war nicht seine Schuld, wie Fiona wußte, er befolgte nur die Anweisungen von Mr. Burton persönlich. Wahrscheinlich war ihr Arbeitgeber sauer, weil er seinen Angestellten einen halben Tag freigeben mußte, und dafür ließ er sie büßen. An den Samstagen bekamen sie keine Pause und mußten fünf volle Stunden stehen. Wenn sie Glück hatte, wurden ihre Beine taub, wenn nicht, taten sie allmählich immer heftiger weh, ein Schmerz, der in den Fußgelenken begann und langsam den Rücken hinaufzog. Aber noch schlimmer als das Stehen war die zermürbende, eintönige Arbeit selbst: ein Schild auf eine Dose kleben, den Tee abwiegen, ihn einfüllen, die Dose versiegeln und in eine Kiste stellen, dann alles wieder von neuem. Die Monotonie war eine Tortur für einen wachen Geist wie den ihren, und es gab Tage wie den heutigen, an denen sie dachte, sie würde wahnsinnig werden und nie davon loskommen, Tage, an denen sie sich fragte, ob all ihre großen Pläne, ihre Opfer, je zum Ziel führen würden.
Sie zog die Haarnadeln aus dem schweren Knoten an ihrem Hinterkopf und schüttelte das Haar auf. Dann löste sie die Schnürsenkel an ihren Stiefeln, streifte sie ab, zog die Strümpfe aus und streckte die langen Beine. Sie schmerzten immer noch von dem schier endlosen Stehen. Auch der Spaziergang zum Fluß hatte nichts geholfen. Sie konnte förmlich hören, wie ihre Mutter schimpfte: „Wenn du ein bißchen Verstand hättest, Kind, nur ein ganz kleines bißchen, würdest du gleich heimkommen und dich ausruhen, statt zum Fluß runterzurennen.“
Nicht zum Fluß gehen? dachte sie und bewunderte die silbrige Themse, die in der Augustsonne glänzte. Wer könnte dem widerstehen? Muntere kleine Wellen schlugen ungeduldig gegen die Stufen der Old Stairs und spritzten sie naß. Sie beobachtete, wie sie langsam auf sie zusprangen, und stellte sich vor, daß der Fluß ihre Zehen berühren, über ihre Fußgelenke schwappen, sie in seinen verlockenden Strom hineinziehen und mit sich forttragen würde. Ach, wenn sie doch fortkönnte.
Während sie übers Wasser blickte, spürte Fiona, wie ihre Müdigkeit abklang und eine plötzliche Frische an ihre Stelle trat. Der Fluß belebte sie. Die Leute sagten, daß die City, das Handels- und Regierungszentrum im Westen von Wapping, das Herz von London sei. Wenn das stimmte, dann war dieser Fluß sein Lebenssaft. Und Fionas Herz machte einen Freudensprung angesichts seiner Schönheit.
Alles, was auf der Welt interessant und aufregend war, lag direkt vor ihr. Voller Staunen beobachtete sie die Schiffe, die den Fluß überquerten und mit Gütern aus den entferntesten Teilen des Empire beladen waren. Heute nachmittag herrschte dichter Verkehr auf der Themse. Stakkähne und Barkassen durchpflügten das Wasser und transportierten Männer von und zu Schiffen, die in der Mitte des Stroms ankerten. Ein mächtiger Dampfer drängte kleinere Fahrzeuge aus dem Weg. Ein zerbeulter Trawler, der vom Kabeljaufang in den eisigen Wassern der Nordsee zurückkehrte, fuhr flußaufwärts nach Billingsgate. Lastkähne kämpften um Durchfahrtsrecht, fuhren flußauf- und flußabwärts, löschten Fracht – eine Tonne Muskatnüsse hier, Säcke mit Kaffee dort. Fässer mit Melasse. Wolle, Wein und Whiskey. Tabakbündel und Kisten mit Tee.
Und überall, auf den vorspringenden Docks, mit ihren Kapitänen konferierend oder zwischen Kisten und Kästen und hoch aufgetürmten Paletten hin und her gehend, waren Händler – energische, herrische Männer, die aus der City herbeieilten, um sofort, nachdem ihre Schiffe angekommen waren, ihre Waren zu begutachten. Sie kamen in Kutschen, trugen Spazierstöcke und ließen mit feinen, weißen Händen goldene Uhren aufspringen. Sie trugen Zylinder und Gehröcke und wurden von Schreibern begleitet, die sich an ihre Fersen hefteten, Rechnungsbücher schleppten und mit gerunzelter Stirn alles überprüften und notierten. Diese Männer waren Alchimisten. Sie bekamen rohe Güter, die sie in Gold verwandelten. Und Fiona sehnte sich danach, zu ihnen zu gehören.
Es war ihr gleichgültig, daß Mädchen eigentlich nichts mit Geschäften zu tun hatten – vor allem Mädchen aus den Docks nicht, wie ihre Mutter sie immer wieder erinnerte. Mädchen aus den Docks lernten kochen, nähen und den Haushalt führen, damit sie Ehemänner fanden, die zumindest so gut für sie sorgten, wie ihre Väter es getan hatten. „Albernheiten“ nannte ihre Mutter ihre Ideen und riet ihr, mehr Zeit darauf zu verwenden, ihre Kochkünste zu verbessern, und weniger Zeit am Fluß zu verbringen. Ihr Vater jedoch hielt ihre Träume nicht für närrisch. „Man muß einen Traum haben, Fee“, sagte er. „An dem Tag, an dem du zu träumen aufhörst, kannst du dich gleich einsargen lassen, dann bist du so gut wie tot.“
Versunken in den Zauber des Flusses, hörte Fiona die Schritte nicht, die sich oben den Old Stairs näherten. Sie merkte nicht, daß ein junger Mann dort stand und sie lächelnd eine Weile beobachtete, bevor er leise „Ha-llo!“ rief.
Fiona drehte sich um. Ihr Gesicht leuchtete auf, als sie ihn sah, und für ein paar Sekunden verschwand die resolute Entschlossenheit in ihrem Ausdruck – eine Entschlossenheit, die Nachbarsfrauen zu Tratschereien und der Feststellung veranlaßte, daß ein strenges Gesicht auf einen starken Willen schließen lasse. Und ein starker Wille bedeutete Schwierigkeiten. Sie würde nie einen Mann bekommen, sagten sie. Junge Männer schätzten das nicht bei Mädchen.
Doch diesen jungen Mann schien das nicht zu stören. Genausowenig wie ihn das glänzende schwarze Haar störte, das sich um ihr Gesicht ringelte und über den Rücken hinabfiel. Oder die blitzenden saphirblauen Augen.
„Du bist früh dran, Joe“, sagte sie lächelnd.
„Ja“, antwortete er und setzte sich neben sie. »Vater und ich sind in Spitalfields früh fertig geworden. Der Gemüsemann hat eine schlimme Erkältung, also hat er nicht lang rumgefeilscht. Ich hab die nächsten zwei Stunden ganz für mich. „Da“, fügte er hinzu und reichte ihr eine Blume. „Die hab ich auf dem Weg hier rüber gefunden.“
„Eine Rose!“ rief sie aus. „Danke!“ Rosen waren eine Kostbarkeit. Es kam nicht oft vor, daß er es sich leisten konnte, ihr eine zu schenken. Sie hielt die dunkelroten Blütenblätter an die Wange und steckte die Blume dann hinters Ohr. „Also, wie hoch ist die Wochenabrechnung? Wieviel haben wir?“ fragte sie.
„Zwölf Pfund, einen Shilling, sechs Pence.“
„Leg das dazu“, sagte sie und zog eine Münze aus der Tasche, „dann haben wir zwölf und zwei.“
„Kannst du das entbehren? Ohne wieder das Abendessen ausfallen zu lassen, um Geld zu sparen?“
„Nein.“
„Ich mein’s ernst, Fee. Ich werd böse, wenn du …“
„Ich hab nein gesagt!“ beharrte sie brüsk und wechselte das Thema. „Bald haben wir fünfzehn Pfund, dann zwanzig und dann fünfundzwanzig. Wir schaffen es wirklich, nicht?“
„Na klar. Bei der Geschwindigkeit dauert es noch ein Jahr, und wir haben unsere fünfundzwanzig beisammen. Genug für drei Monate Miete und Ware, um anzufangen.“
„Ein ganzes Jahr“, wiederholte Fiona. „Das hört sich wie eine Ewigkeit an.“
„Das geht schnell vorbei, Schatz“, antwortete Joe und drückte ihre Hand. „Nur der Anfang ist schwer. Sechs Monate, nachdem wir unseren ersten Laden aufgemacht haben, haben wir so viel Geld, daß wir den nächsten aufmachen können. Und dann den nächsten, bis wir eine Kette haben. Wenn wir das Geld so spielend zusammenbringen, schaffen wir’s.“
„Wir werden reich sein!“ sagte sie und strahlte erneut.
Joe lachte. „Nicht gleich. Aber eines Tages schon. Das versprech ich dir, Fee.“
Fiona zog die Knie an die Brust und lächelte. Ein Jahr war schließlich nicht so lang, sagte sie sich. Vor allem, wenn man bedachte, wie lange sie schon über ihren Laden redeten. Schon seit Ewigkeiten, seit sie Kinder waren. Und vor zwei Jahren hatten sie angefangen zu sparen, Geld in eine alte Kakaodose zu stecken, die Joe unter seinem Bett aufbewahrte. Alles wurde in diese Dose gesteckt – der Lohn, Münzen, die sie zu Weihnachten oder zum Geburtstag bekamen, Geld für kleine Hilfsdienste, sogar die paar Groschen, die sie auf der Straße gefunden hatten. Stück für Stück hatten sich die Münzen angehäuft, und jetzt besaßen sie zwölf Pfund und zwei Shilling – ein Vermögen.
Im Lauf der Jahre hatten sie und Joe sich ihren Laden ausgemalt, ihn in ihrer Phantasie verschönert und verbessert, bis das Bild so reale Gestalt annahm, daß sie nur die Augen zu schließen brauchte, um den Tee in den Kisten zu riechen. Sie konnte die glatte Eichentheke unter ihren Händen spüren und die kleine Messingglocke über der Tür klingeln hören. Es wäre ein heller, lichter Ort, kein schäbiges, dunkles Loch. Ein wirklich schönes Geschäft mit so geschmackvoll dekorierten Schaufenstern, daß die Leute einfach nicht daran vorbeigehen könnten. „Die Hauptsache ist die Präsentation, Fee“, sagte Joe immer. „Die zieht die Kunden in den Laden.“
Der Laden wäre ein Erfolg, das wußte sie. Was das Verkaufen anging, kannte sich Joe als Sohn eines Gemüsehändlers aus. Er war auf einem Gemüsekarren aufgewachsen und hatte die ersten Jahre seines Lebens in einem Korb zwischen Rüben und Kartoffeln verbracht. Noch bevor er seinen Namen sagen konnte, konnte er schon rufen: „Kauft meine gute Pe-tersi-lie!“ Mit seinem Wissen und vereinten Kräften konnte gar nichts schiefgehen.
Unser Laden, ganz allein unser, dachte Fiona und sah Joe an, der aufs Wasser hinausblickte. Ihr Blick liebkoste sein Gesicht, erfreute sich an jeder Einzelheit – der kräftigen Kinnlinie, den sandfarbenen Stoppeln, die seine Wangen bedeckten, der winzigen Narbe über seinem Auge. Sie kannte jeden Zug an ihm. Es gab keine Zeit, da Joe Bristow nicht ein Teil ihres Lebens gewesen wäre, und es würde auch künftig keine geben. Sie und Joe waren in der gleichen schäbigen Straße aufgewachsen, als Nachbarskinder. Von klein auf hatten sie miteinander gespielt, hatten zusammen Whitechapel unsicher gemacht und waren gemeinsam durch dick und dünn gegangen.
Sie hatten als Kinder ihre Pennys und Süßigkeiten geteilt, und jetzt teilten sie ihre Träume. Bald würden sie ihr Leben teilen. Sie würden heiraten, sie und Joe. Nicht gleich. Sie war erst siebzehn, und ihr Vater würde sagen, sie sei zu jung. Aber nächstes Jahr wäre sie achtzehn und Joe zwanzig, und sie hätten Geld gespart und beste Aussichten.
Fiona stand auf und sprang von den Stufen auf die Steine hinunter. Ihr ganzer Körper bebte vor Aufregung. Sie schlenderte zum Flußufer, nahm eine Handvoll Steine und warf sie übers Wasser. Danach drehte sie sich zu Joe um, der noch immer auf den Stufen saß und ihr zusah.
„Eines Tages sind wir so groß wie die hier“, rief sie und breitete die Arme aus. „Größer als White’s oder Sainsbury’s. Und größer als Harrods.“ Sie stand ein paar Sekunden still und sah auf die Lagerhäuser auf beiden Seiten und auf die Kais auf der anderen Flußseite. Auf den ersten Blick wirkte sie so zart und zerbrechlich, ein schmächtiges Mädchen, das am Flußufer stand mit dem Rocksaum im Schlamm. Aber wer sie näher ansah, so wie Joe es tat, entdeckte in jedem ihrer Züge, in jeder Geste ihren glühenden Ehrgeiz.
„Wir werden so groß sein“, fuhr sie fort, „daß jeder Händler am Fluß alles dransetzen wird, uns seine Waren zu verkaufen. Wir werden zehn Läden in London haben … nein, zwanzig … und noch mehr im ganzen Land. In Leeds und Liverpool. In Brighton, in Bristol und Birmingham und …“ Sie hielt inne, weil sie plötzlich Joes Blick bemerkte und verlegen wurde. „Warum siehst du mich so an?“
„Weil du so ein verrücktes Mädchen bist.“
„Das bin ich nicht!“
„Doch. Du bist das verrückteste Huhn, das ich je gesehen hab.
Du hast mehr Mumm als die meisten Kerle.“ Joe lehnte sich auf die Ellbogen zurück und musterte sie bewundernd. „Vielleicht bist du gar kein Mädchen, sondern in Wirklichkeit ein verkleideter Junge.“
Fiona grinste. „Vielleicht bin ich das. Vielleicht solltest du hier runterkommen und nachsehen.“
Joe stand auf, und Fiona, vom Schalk gepackt, drehte sich um und rannte den Strand hinunter. Ein dumpfes Knirschen hinter ihr verriet ihr, daß er heruntergesprungen war und sie verfolgte. Sie quiekte vor Vergnügen, als er ihren Arm packte.
„Jedenfalls rennst du wie ein Mädchen.“ Er zog sie an sich und tat so, als würde er ihr Gesicht inspizieren. „Und ich schätze, daß du hübsch genug bist, um ein Mädchen zu sein …“
„Du schätzt?“
„Hm, aber ich könnte mich täuschen. Besser, ich überzeug mich …“
Fiona spürte seine Finger, die über ihre Wange strichen. Ganz sacht hob er ihr Kinn, küßte ihre Lippen und öffnete sie mit seiner Zunge. Sie schloß die Augen und gab sich dem Kuß hin. Sie wußte, daß sie dies nicht durfte, nicht bevor sie verheiratet waren. Pater Deegan würde sie zur Buße mit unzähligen Ave Marias verdonnern, und wenn ihr Vater davon erführe, würde er ihr bei lebendigem Leib das Fell abziehen. Aber, ach, wie herrlich sich seine Lippen anfühlten, und seine Zunge war wie Samt, und seine von der Nachmittagssonne warme Haut duftete so süß. Bevor sie wußte, was sie tat, stand sie auf den Zehenspitzen, schlang die Arme um seinen Hals und erwiderte seinen Kuß. Nichts fühlte sich so gut an wie ihren Körper an den seinen zu schmiegen und seine starken Armen um sich zu spüren.
Pfiffe und Gegröle unterbrachen ihre Umarmung. Ein Lastkahn segelte an ihnen vorbei. Seine Mannschaft hatte sie entdeckt.
Mit glutrotem Gesicht zog Fiona Joe in das Labyrinth aufgeschichteter Warenkisten, wo sie warteten, bis der Lastkahn vorbeigefahren war. Eine Kirchturmuhr schlug die Stunde. Es war spät geworden. Sie wußte, sie sollte heimgehen und ihrer Mutter beim Abendessen helfen. Und Joe mußte auf den Markt. Nach einem letzten Kuß gingen sie zu den Old Stairs zurück. Sie eilte die Treppe hinauf, zog ihre Strümpfe und Schuhe wieder an und verhedderte sich dabei in ihrem Rock.
Als sie sich zum Gehen anschickte, warf sie einen letzten Blick auf den Fluß zurück. Es würde eine Woche dauern, bevor sie wieder zurückkommen konnte – eine Woche, in der sie im Dunkeln aufstehen, sich mühsam zu Burton’s und wieder nach Hause schleppen mußte, wo immer allerlei Arbeiten auf sie warteten. Aber das machte nichts, nichts machte etwas aus. Eines Tages würde sie alles hinter sich lassen. Weiße Schaumkronen erhoben sich von weiter draußen und kräuselten sich auf der Wasseroberfläche. Wellen tanzten. Bildete sie sich das nur ein, oder hüpfte der Fluß vor Freude für sie, für sie beide?
Und warum auch nicht? fragte sie sich lächelnd. Sie und Joe hatten einander. Sie hatten zwölf Pfund, zwei Shilling und einen Traum. Was scherte sie Burton’s oder die trostlosen Straßen von Whitechapel? In einem Jahr würde die Welt ihnen gehören. Alles war möglich.


„Paddy? Paddy, wie spät hast du’s?“ fragte Kate Finnegan ihren Mann.
„Hm?“ antwortete er, den Kopf in die Zeitung vergraben.
„Wie spät ist es, Paddy?“ fragte sie, ungeduldig in einer gelben Schüssel rührend.
„Kate, Liebes, du hast mich doch gerade erst gefragt“, antwortete er seufzend und griff in seine Tasche. Er zog eine zerbeulte silberne Uhr heraus. „Es ist genau zwei Uhr.“
Stirnrunzelnd klopfte Kate den Schneebesen am Rand der Schüssel ab, löste cremefarbene Klümpchen von den Drähten und warf ihn dann ins Spülbecken. Dann nahm sie eine Gabel und stach in eines der Lammkoteletts, die auf dem Herd brutzelten. Ein wenig Saft trat aus dem Kotelett, der sich in Dampf auflöste, als er auf das heiße Metall der Bratpfanne traf. Sie spießte die Koteletts auf, legte sie auf eine Platte und stellte sie neben einen Topf mit Zwiebelsoße ins Wärmefach. Dann nahm sie ein paar Würstchen, schnitt sie auf und gab sie in die Pfanne. Als sie zu braten begannen, setzte sie sich ihrem Mann gegenüber an den Tisch.
„Paddy“, sagte sie und klopfte mit der Handfläche leicht auf den Tisch. „Paddy.“
Über die Zeitung hinweg sah er in die großen grünen Augen seiner Frau. „Ja, Kate. Was ist, Kate?“
„Du solltest sie wirklich holen gehen. Sie können nicht einfach eintrudeln, wann sie wollen, und dich mit dem Essen warten lassen. Und ich steh hier und weiß nicht, wann ich die Würstchen auftragen kann.“
„Sie kommen jede Minute. Fang doch schon an. Wenn ihr Essen dann kalt ist, sind sie selbst schuld.“
„Es ist nicht nur wegen dem Essen“, gestand sie. „Ich mag’s nicht, wenn sie draußen rumtrödeln, wo doch die Sache mit diesen Morden noch immer nicht vorbei ist.“
„Ach, du glaubst doch nicht, daß der Mörder von Whitechapel bei hellem Tageslicht rumläuft? Und einem kräftigen Burschen wie Charlie nachstellt? Gott steh ihm bei, wenn er’s tut, dann schreit der Mörder um Hilfe. Ganz zu schweigen von Fiona. Erinner dich, was mit dem Schläger Sid Malone passiert ist, als er versucht hat, sie in eine Gasse zu zerren. Sie hat ihm eins auf die Nase gegeben, daß sie gebrochen war. Und er ist zweimal so groß wie sie.“
„Ja, aber …“
„Da, Kate, da ist ein Artikel über Ben Tillet, den Gewerkschaftsmann, der die Männer in den Lagerhäusern organisiert. Hör dir das an …“
Kate sah ihren Mann vorwurfsvoll an. Sie hätte ihm sagen können, daß Feuer auf dem Dach sei, und hätte die gleiche Antwort bekommen. Was immer auch in der Zeitung stand, sie wollte es nicht wissen. Gespräche über Gewerkschaften bedrückten sie, Gespräche über Streiks machten ihr angst. Mit einem Mann, vier Kindern und einem Untermieter, die es zu füttern galt, schaffte sie es kaum, die Woche zu überstehen. Wenn zum Streik aufgerufen wurde, müßten sie hungern. Und als wäre das nicht schon Sorge genug, lief jetzt auch noch ein Mörder frei herum. Whitechapel war schon immer eine gefährliche Gegend gewesen, eine gewalttätige Mischung aus Cockneys, Iren, Polen, Russen, Chinesen und einem Haufen anderer. Niemand war reich, die meisten mußten schwer arbeiten. Viele tranken. Es gab viel Kriminalität, aber zumeist nur Diebstähle. Gangster brachten sich manchmal gegenseitig um, oder ein Mann wurde bei einer Schlägerei getötet, aber niemand tat so etwas wie Frauen aufschlitzen.
Während Paddy weiterlas, stand sie auf und wendete die Würstchen, die in einer dicken Soße aus Fleischsaft und Fett schwammen. Als sie anfing, die Kartoffeln zu zerstampfen, hörte sie die Haustür aufspringen und die leichten schnellen Schritte ihrer Tochter in der Diele.
„Hallo, Ma. Hallo, Pa“, sagte Fiona fröhlich und legte ihren Wochenlohn abzüglich Sixpence in eine alte Teedose auf dem Kaminsims.
„Hallo, Schatz“, antwortete Kate und sah von den Kartoffeln auf, um sie zu begrüßen.
Paddy murmelte einen Gruß hinter seiner Zeitung.
Fiona nahm eine Schürze vom Haken neben der Hintertür und warf einen Blick zu ihrer kleinen Schwester hinein, die in einem Korb neben dem Herd schlief, dann beugte sie sich zu ihrem vierjährigen Bruder Seamus hinunter, der auf einem Teppich mit Wäscheklammern Soldaten spielte, und gab ihm einen Kuß.
„Komm, gib mir auch einen, Seamie.“
Der kleine Junge mit dem dichten Schopf roter Haare drückte schalkhaft die Lippen an ihre Wange und gab ihr einen lauten, feuchten Schmatz.
„O Seamie!“ rief sie und wischte sich die Wange ab. „Das war aber nicht sehr nett! Wer hat dir denn das beigebracht?“
„Charlie!“
„Das kann ich mir vorstellen. Was gibt’s zu tun, Ma?“
„Du kannst das Brot aufschneiden. Dann deckst du den Tisch, machst den Tee und bringst deinem Vater sein Bier.“
Fiona machte sich an die Arbeit. „Was gibt’s Neues, Pa?“
Paddy ließ die Zeitung sinken. „Die Gewerkschaft. Die Mitgliederzahlen steigen von Tag zu Tag. Es dauert nicht mehr lange, dann sind die Burschen aus Wapping auch dabei. Denk an meine Worte, vor Jahresende haben wir Streik. Die Gewerkschaften werden die Arbeiterklasse retten.“
„Und wie werden sie das anstellen? Indem sie uns pro Stunde einen Extrapenny geben, damit wir langsam statt gleich auf der Stelle verhungern?“
„Laß es gut sein, Fiona …“, warnte Kate.
„Eine schöne Einstellung ist das. Füttert dich dieser Joe Bristow mit solchen Ideen? Die Straßenhändler sind doch alle gleich. Denken nur an sich. Scheren sich einen Dreck um den Rest ihrer Klasse.“
„Joe braucht mich nicht mit Ideen zu füttern, ich hab genügend eigene. Und ich bin nicht gegen die Gewerkschaft. Ich will bloß meinen eigenen Weg gehen. Wer darauf wartet, daß Dock- und Fabrikbesitzer auf einen Haufen zerlumpter Gewerkschafter reagieren, kann lange warten.“
Paddy schüttelte den Kopf. „Du solltest eintreten, Beitrag zahlen, einen Teil deines Lohns fürs allgemeine Wohl beisteuern. Andernfalls bist du genau wie sie.“
„Also, ich bin durchaus keine von denen, Pa!“ erwiderte Fiona erregt. „Ich steh auf und geh jeden Tag zur Arbeit, genau wie du. Ich glaub, daß die Arbeiter ein besseres Leben haben sollten. Sicher. Ich hab bloß keine Lust, auf meinem Hintern sitzen zu bleiben und zu warten, bis Ben Tillet alles richtet.“
„Fiona, was ist denn das für eine Ausdrucksweise“, sagte Kate tadelnd und sah nach dem Essen.
„Glaubst du wirklich, Pa, daß William Burton seiner Belegschaft erlaubt, der Gewerkschaft beizutreten?“ fuhr sie aufgebracht fort. „Du arbeitest doch für ihn, du kennst ihn so gut wie ich. Er ist zäh wie Leder. Er will seinen Profit für sich behalten, nicht teilen.“

Jennifer Donnelly

Über Jennifer Donnelly

Biografie

Jennifer Donnelly wuchs im Staat New York auf. Mit ihrer „Rosentrilogie“ begeisterte sie in Deutschland unzählige Leserinnen. Auch ihre anderen Romane „Das Licht des Nordens“, „Das Blut der Lilie“ und „Straße der Schatten“ wurden preisgekrönt und ernteten bei Presse und Lesern großen Beifall....

Weitere Titel der Serie „Rosen-Trilogie“

Mitreißende Trilogie von Jennifer Donnelly, deren Bücher jedes für sich allein gelesen werden kann. Jedes Buch hat eine starke Frau zur Protagonistin, doch sind die Geschichten durch ihr Personal auch miteinander verknüpft: Band 1, „Die Teerose“, schildert die Geschichte der jungen Irin Fiona, die sich im New York der Jahrhundertwende allein eine Existenz aufbauen muss. Band 2, „Die Winterose“, begleitet die junge India Selwyn-Jones, die als Ärztin Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts im berüchtigten Lodnoner Viertel Whitechapel zu arbeiten beginnt und sich in einen Gangsterboss verliebt. Band 3, „Die Wildrose“: Auf einer schicksalhaften Bergtour erleidet Willa Alden kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs einen Unfall und ist fortan für ihr Leben körperlich gezeichnet. Ihre Liebe zu Seamus Finnegan wird auf eine harte Probe gestellt.

Pressestimmen
Frank McCourt

Eine großartige Geschichte und genau das, was wir in Zeiten wie diesen brauchen.

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