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Die Schande von Missoula

Die Schande von Missoula

Jon Krakauer
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Vergewaltigung im Land der Freiheit

„Ein wichtiges Buch!“ - Nürnberger Zeitung

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Die Schande von Missoula — Inhalt

Die meisten Vergewaltiger kannten ihre Opfer vorher, wodurch die Strafverfolgung und die gerichtliche Suche nach der Wahrheit oft komplex und undurchsichtig ist und die vergewaltigten Frauen ein zweites Mal traumatisiert werden. In seinem neuen Buch beschäftigt sich Jon Krakauer mit Vergewaltigungsfällen in der amerikanischen Universitätsstadt Missoula. Minutiös und doch einfühlsam skizziert er die Ereignisse, die eine ganze Gesellschaft an der Frage nach Recht und Unrecht, Wahrheit und Lüge verzweifeln lassen, er spricht mit den Beschuldigten und den Opfern und schildert packend, wie schmerzhaft die Suche nach Gerechtigkeit und Sühne bei Gericht sein kann. 

€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 02.11.2016
Übersetzt von: Hans Freundl, Sigrid Schmid
480 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97335-9
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Leseprobe zu „Die Schande von Missoula“

Vorbemerkung


Vergewaltigungen kommen häufiger vor, als den meisten Menschen bewusst ist, und junge Frauen im Collegealter sind die häufigsten Opfer. In einem Bericht des US-Justizministeriums vom Dezember 2014 wurde festgestellt : „ Im Zeitraum von 1995 bis 2013 verzeichneten Frauen im Alter von 18 bis 24 Jahren die höchste Rate an Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen
im Vergleich zu Frauen aller anderen Altersgruppen. “ In dem Bericht wurde geschätzt, dass in den USA 0,7 Prozent dieser Hochrisikogruppe jedes Jahr zumindest einmal sexuelle Gewalt [...]

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Vorbemerkung


Vergewaltigungen kommen häufiger vor, als den meisten Menschen bewusst ist, und junge Frauen im Collegealter sind die häufigsten Opfer. In einem Bericht des US-Justizministeriums vom Dezember 2014 wurde festgestellt : „ Im Zeitraum von 1995 bis 2013 verzeichneten Frauen im Alter von 18 bis 24 Jahren die höchste Rate an Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen
im Vergleich zu Frauen aller anderen Altersgruppen. “ In dem Bericht wurde geschätzt, dass in den USA 0,7 Prozent dieser Hochrisikogruppe jedes Jahr zumindest einmal sexuelle Gewalt erleben – das sind ungefähr 110 000 junge Frauen. In dem Bericht ging es in erster Linie um die Dokumentation der Häufigkeit von Delikten, und ihm lag eine relativ enge Defi­nition von sexueller Gewalt zugrunde. Insbesondere wurden die Per­sonen, die an der Erhebung teilnahmen, nicht nach Vorfällen befragt, bei denen sie ihr Einverständnis nicht hatten geben können, weil sie unter Drogen- oder Alkoholeinfluss gesetzt worden waren.

Eine andere Bundesbehörde, die Centers of Disease Control and Prevention ( CDC ), veröffentlichte im September 2014 einen Bericht, in dem das Problem sexueller Gewalt in gesundheitspolitischer Hinsicht und nicht aus strafrechtlicher Perspektive untersucht wurde und in dem Übergriffen, bei denen Drogen oder Alkohol im Spiel gewesen waren, größere Beachtung geschenkt wurde. Diese Untersuchung ergab ganz andere Zahlen. Auf der Grundlage ihrer 2011 erhobenen Daten schätzte diese Behörde, dass quer durch alle Altersgruppen 19,3 Prozent aller amerikanischen Frauen „ einmal in ihrem Leben eine Vergewaltigung erlitten haben “, und stellte fest, dass 1,6 Prozent der amerikanischen Frauen – fast zweieinhalb Millionen – „ davon berichteten, dass sie in den zwölf Monaten vor der Erhebung vergewaltigt worden “ seien.

Wie die unterschiedlichen Ergebnisse dieser beiden staat­lichen Untersuchungen zeigen, ist es unmöglich, mit Sicherheit anzugeben, wie viele Frauen jedes Jahr vergewaltigt werden. Das Ausmaß sexueller Gewalt in Zahlen auszudrücken ist ein in ho­hem Maße spekulatives Unterfangen, denn mindestens 80 Prozent der Opfer melden das Verbrechen nicht den Behörden. Dieses Buch soll dazu beitragen, zu verstehen, was so viele Vergewaltigungsopfer davon abhält, zur Polizei zu gehen, und die Aus- und Nachwirkungen sexueller Gewalt aus der Sicht der Opfer zu begreifen.

Zu diesem Zweck habe ich in diesem Buch eine Serie von sexuellen Übergriffen in einer bestimmten amerikanischen Stadt – der Stadt Missoula in Montana – im Zeitraum von 2010 bis 2012 dargestellt. Die Opfer dieser Übergriffe waren Collegestudentinnen, allerdings sind junge Frauen, die nicht an einer Hochschule studieren, wahrscheinlich einem noch größeren Risiko ausgesetzt. Doch nicht nur junge Frauen – oder überhaupt nur Frauen – müssen befürchten, Opfer einer Vergewaltigung zu werden. In dem genannten CDC-Bericht wird vermutet, dass auch ungefähr zweieinhalb Millionen amerikanische Männer, das sind 1,7 Prozent der männlichen Bevölkerung, im Lauf ihres Lebens einmal Opfer einer Vergewaltigung werden.

Bei den Recherchen zu diesem Buch habe ich Interviews mit Opfern geführt, mit deren Familien und Bekannten und, wenn möglich, auch mit den Männern, denen diese sexuellen Übergriffe zur Last gelegt wurden, aber ich habe nicht mit allen Opfern gesprochen und auch nicht mit allen mutmaßlichen Tätern. Um möglichst viele Informationen zu sammeln und die Auskünfte meiner Quellen zu überprüfen und zu untermauern, habe ich mich auch ausführlich mit bekannten Psychologen und Rechtsanwälten unterhalten. Ich habe Gerichtsverhandlungen besucht, Tausende Seiten von Gerichtsprotokollen, E-Mails, Briefen, Polizeiberichten und Dokumenten über Disziplinarverfahren an Universitäten gelesen. Ich habe mir Aufzeichnungen von Polizeiverhören und Befragungen vor Disziplinarausschüssen angehört. Ich habe Zeitungsartikel und Berichte von staat­lichen Untersuchungskommissionen sowie wissenschaftliche Ar­tikel in Fachzeitschriften ausgewertet.

Sämtliche Dialoge, die in diesem Buch zwischen An- und Abführungszeichen erscheinen, sind wörtliche Zitate der betreffenden Personen, wörtliche Zitate einer Person, die berichtet, was er oder sie persönlich gehört hat, wörtliche Zitate aus der Aufzeichnung eines Verhörs oder einer Verhandlung oder wörtliche Zitate aus dem Protokoll eines amtlichen Verfahrens.

Das Buch mag teilweise schwierig zu lesen sein. Einige der Ereignisse, die ich schildere, sind in hohem Maße erschreckend. Zudem treten sehr viele Personen auf, von einigen wurden die Namen geändert, um ihre Privatsphäre zu schützen. Um den Lesern zu helfen, die Personen auseinanderzuhalten, werden die Namen jener Personen, die mehr als einmal auftauchen, in einem alphabetischen Personenverzeichnis am Ende des Buchs aufgeführt.


Jon Krakauer, im Februar 2015




Teil eins

Allison

Sollen wir Frauen als eigenständige Akteure behandeln, die selbst für sich verantwortlich sind ? Natürlich. Doch selbst für sich verantwortlich zu sein hat nichts damit zu tun, dass man vergewaltigt wird. Frauen werden nicht vergewaltigt, weil sie zu viel getrunken oder Drogen genommen haben. Frauen werden auch nicht vergewaltigt, weil sie nicht vorsichtig genug waren. Frauen werden vergewaltigt, weil eben jemand sie vergewaltigt.

Jessica Valenti, The Purity Myth



Kapitel 1


Die Firma Office Solutions & Services in Missoula, ein Hersteller von Büromaterial, veranstaltete an 6. Januar 2012 ihre nachträgliche Weihnachtsfeier für das Jahr 2011. Gewissermaßen als kleinen Kontrast zu dem kalten, frostigen Wetter in Montana schmückte die Belegschaft die Räumlichkeiten mit bunten Hawaii-Elementen. Gegen 21 Uhr hatten sich 30 bis 40 Personen eingefunden – überwiegend Firmenmitarbeiter und deren Angehörige –, die sich unterhielten, Gesellschaftsspiele spielten und aus roten Plastikbechern Getränke zu sich nahmen, als eine glänzende Chrysler-Limousine auf den Parkplatz fuhr, der vom Partyraum aus zu überblicken war, und vor den großen, raumhohen Fenstern zum Stehen kam und die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich zog. Zwei gut gekleidete Männer mit ernsten Gesichtern stiegen aus und blieben eine Weile neben dem Wagen stehen. „ Es war ein sehr schönes schwarzes Auto “, erinnert sich Kevin Huguet, der Inhaber von Office Solutions.

Während er den Wagen bewunderte, fragte einer von Huguets Verkäufern ihn : „ Wer sind diese Männer ? “

Huguet hatte keine Ahnung. Also ging er nach draußen und fragte : „ Kann ich Ihnen helfen ? “

„ Wir sind von der Polizei von Missoula “, antwortete der Mann, der den Wagen gefahren hatte. „ Ich muss mit Allison sprechen. “

„ Allison ist meine Tochter “, erwiderte Huguet, den ein un­gutes Gefühl beschlich. „ Sie müssen mir schon ein bisschen mehr sagen. “

„ Ist schon in Ordnung, Dad “, mischte sich die 20-jährige Allison Huguet ein, die ihrem Vater auf den Parkplatz gefolgt war.

Detective Guy Baker, ein 1,95 Meter großer und 113 Kilogramm schwerer Mann, blickte hinunter auf Allison, eine zier­liche junge Frau mit hellen Augen und einem Pferdeschwanz. „ Ich muss mit Ihnen sprechen “, sagte er. „ Wir müssen das nicht hier vor Ihrem Vater erledigen. Wo können wir reden ? “ Er und Allison gingen ein paar Meter vom Auto weg, um sich ungestört unterhalten zu können, während Detective Mark Blood bei Kevin Huguet blieb.

„ Hallo “, sagte Baker zu Allison in einem wärmeren Ton, nachdem sie sich ein Stück weit von den anderen entfernt hatten. Die beiden hatten bereits vor vier Jahren während ihres letzten Jahrs auf der Highschool häufig miteinander zu tun gehabt, als Allison ihn ge­beten hatte, bei einem schulischen Projekt als ihr Mentor zu fungieren. Es war für beide eine schöne Erfahrung gewesen. Detective Baker erklärte Allison, warum er sie während der Weihnachtsfeier der Firma aufsuche. „ Ich hielt es für wichtig, es Ihnen so schnell wie möglich persönlich mitzuteilen. Vor ungefähr einer Stunde habe ich Beau Donaldson verhaftet. Er hat ein volles Geständnis abgelegt und befindet sich jetzt im Gefängnis. “

Allison traten Tränen der Erleichterung in die Augen.

Drüben beim Auto wurde Kevin Huguet allmählich ungeduldig, als er beobachtete, wie sich Allison und Baker unterhielten. „ Also ich will jetzt wissen, was da vor sich geht “, sagte er nach einigen Minuten zu Detective Blood. „ Das ist meine Tochter, und ich will wissen, was hier los ist. “ Kevin setzte sich in Bewegung und ging hinüber zu Baker.

„ Ihre Tochter hat nichts verbrochen “, sagte Baker. „ Es handelt sich um nichts dergleichen. “ Dann wandte sich der Polizist wieder zu Allison und sagte : „ Ich glaube, Sie sollten jetzt wirklich mit Ihrem Vater reden und es ihm sagen. “

Allison schaute ihren Vater an und erklärte mit zitternder Stimme : „ Beau hat mich vergewaltigt. “


Kevin stand wie benommen auf dem kalten Gehweg. Er versuchte, zu begreifen, was seine Tochter gerade gesagt hatte, und legte die Arme um sie. Als er sie in den Armen hielt und allmählich zu verarbeiten begann, was Beau Donaldson ihr angetan hatte, verwandelte sich Kevins Schock in blinde Wut.

„ Ich dachte, er würde zu Beau laufen und ihn umbringen oder ihm sonst etwas antun “, erzählte mir Allison, als sie sich an die Ereignisse dieses Abends erinnerte.

Beau Donaldson, der zum Zeitpunkt des Vorfalls in seinem dritten Jahr an der University of Montana war, spielte im Footballteam der Hochschule. Allison Huguet hatte ein Stipendium für die Eastern Oregon University. Sie waren beide in Missoula aufgewachsen und seit der ersten Klasse unzertrennlich gewesen, doch aus ihrer Freundschaft war nie mehr geworden.

Donaldson nannte Allison Huguet oft seine „ kleine Schwester “, und dieses Gefühl wurde von ihr auch erwidert. In ihrer Kindheit und Jugend war Beau Donaldson für Allison gewissermaßen der Bruder gewesen, den sie nie gehabt hatte. In den vergangenen 16 Jahren hatten Allisons Eltern Beau Donaldson wie ein Familienmitglied behandelt. „ Das ganze Leben lang ist man damit beschäftigt, seine Kinder zu beschützen, wenn man welche hat “, erklärte mir Kevin Huguet. „ Aber wer rechnet damit, dass der Freund der eigenen Tochter in Wirklichkeit ein Monster ist, das in der Nacht über sie herfällt ? “

Allison war ebenso wütend wie ihr Vater, doch ihre Wut war mittlerweile überlagert worden von einer Mischung aus verschiedenen anderen Gefühlen. Donaldson hatte sie am 25. September 2010 vergewaltigt. Sie hatte 15 Monate gewartet und still gelitten, bis sie zur Polizei gegangen war. Während dieser Zeit hatte sie außer ihrer Mutter und zwei oder drei engen Freundinnen niemandem erzählt, dass sie vergewaltigt worden war – nicht einmal ihr Vater und ihre Schwestern wussten davon. Eine solche Zurückhaltung zeigt sich häufig bei Opfern sexueller Gewalt. Nur rund 20 Prozent der Vergewaltigungen werden bei der Polizei angezeigt, was schwer verständlich erscheint, solange man sich nicht näher damit befasst, wie in den USA in rechtlicher Hinsicht mit Fällen sexueller Gewalt umgegangen wird.


Montana ist ein großer, aber relativ dünn besiedelter Bundesstaat. Obwohl Missoula die zweitgrößte Stadt dieses Bundesstaats ist, hat sie nur rund 70 000 Einwohner. Das sympathische und beschauliche Städtchen nimmt auswärtige Besucher sofort für sich ein und bringt nicht wenige dazu, sich schon kurz nach ihrer Ankunft für den Kauf einer Immobilie zu entscheiden. Ungefähr 42 Prozent der Einwohner haben einen Bachelor oder einen höheren Studienabschluss im Vergleich zu 28 Prozent im Rest der USA. Es gibt viele gute Restaurants und lebendige Kneipen. Ein berühmter Forellenfluss, der Clark Fork, rauscht schnell und klar durch die Innenstadt, gesäumt von einer aufgegebenen Bahnlinie, die in einen idyllischen Spazier- und Radweg umgewandelt wurde, der gern von Fußgängern, Radfahrern und Joggern genutzt wird. Südlich des Flusses erstrecken sich die un­prätentiösen Wohnviertel der Stadt über ein ausgedehntes Tal, das von fünf Bergketten eingerahmt wird.

Von ihrer Gründung Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts lebte die Stadt hauptsächlich von der Holzwirtschaft im umgebenden Hochland. Vor ungefähr 35 Jahren jedoch geriet die Forstwirtschaft in eine schwere Krise. Die meisten Sägewerke wurden geschlossen, und Holzfäller in schweren Stiefeln und Schutzhosen sah man in der Stadt immer seltener. Eine riesige Papierfabrik pumpte jährlich 45 Millionen Dollar in die lokale Wirtschaft ( und erzeugte bisweilen einen giftigen Smog, der sich so dicht über die Stadt legte, dass die Autofahrer tagsüber das Licht einschalten mussten ), bis auch sie schließlich 2009 stillgelegt und abgebaut wurde.

Heute ist die University of Montana mit Abstand der größte Arbeitgeber der Stadt. Mit ihren 15 000 Studenten und mehr als 800 Lehrkräften hat die UM, wie sie auch genannt wird, der Stadt mittlerweile ihren Stempel aufgedrückt. In Missoula gibt es auch wesentlich mehr Anhänger der Demokraten als im Bundesstaat insgesamt. Einheimische bemerken gern scherzhaft, in Missoula lasse es sich vor allem deswegen so gut leben, weil es nur 20 Minuten von Montana entfernt liege.

Doch trotz seiner liberalen Grundeinstellung ähnelt Missoula in vielerlei anderer Hinsicht vergleichbaren Städten in den Rocky Mountains. Die Einwohnerschaft besteht zu 92 Prozent aus Weißen, zwei Prozent sind amerikanische Ureinwohner, zwei Prozent Hispanoamerikaner und weniger als ein Prozent Afroamerikaner. Das durchschnittliche Familieneinkommen beträgt 42 000 Dollar. 20 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Die meisten Einwohner Missoulas unterstützen das Recht, Waffen zu tragen, sowie die Forderung, die Bundesregierung solle sich weitgehend aus lokalen Angelegenheiten heraushalten.

Aufgrund der Verbindung des draufgängerischen „ Frontier “-
Geistes mit den vielfältigen Auswirkungen des Universitätsbetriebs hat sich jedoch in Missoula eine ganz eigene Kultur entwickelt. Die UM, die sich durch ihre Lehrangebote auf den Gebieten der Biologie und der Ökologie bundesweit hervorgetan hat, ist wahrscheinlich aber noch bekannter wegen ihrer Literaturkurse. Für das Creative Writing Program der Universität, das bereits 1920 eingerichtet wurde, waren auch spätere einflussreiche Schriftsteller wie Richard Hugo, James Crumley und William Kittredge eingeschrieben. In einem seiner unvergleichlichen Essays erinnerte sich Kittredge daran, was ihn ursprünglich nach Missoula gezogen hatte :

Ich suchte nach einer echten Welt, in der ich Fuß fassen konnte. Ich wollte jemand sein, den ich verstehen und aushalten konnte – eine romantische Idee, die heute im Westen anscheinend weitverbreitet ist … Die nördlichen Rockies erschienen mir wie ein unentdecktes Land, ein Land voller Geheimnisse, die niemand für sich behalten konnte.


Während eines feuchtfröhlichen Aufenthalts in Missoula im Jahr 1972, als er mit Kittredge zum Angeln ging, verliebte sich Raymond Carver, der bedeutendste Repräsentant des literarischen Minimalismus, Hals über Kopf sowohl in die Stadt als auch in Diane Cecily, die Leiterin des Universitätsverlags. Der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Romancier Richard Ford verbrachte in den 80er-Jahren drei oder vier sehr produktive Jahre in Missoula, woran sich die Bürger der Stadt noch immer mit Stolz erinnern. Der am engsten mit der Stadt verbundene Literat ist jedoch Norman Maclean, der Autor von Aus der Mitte entspringt ein Fluss, einer semibiografischen Erzählung, die in Missoula und am nahe gelegenen Big Blackfoot River angesiedelt ist ; ihre Verfilmung mit Brad Pitt aus dem Jahr 1992 wurde mit einem Oscar aus­gezeichnet.


Doch von Kittredge, Ford oder Big Blackfoot einmal abgesehen, ist Missoulas größter Stolz die Footballmannschaft der University of Montana, die beliebten Grizzlies der Big Sky Conference, die 1995 und 2001 die nationale Meisterschaft der Football Championship Subdivision gewannen. Ihre zwölf aufeinanderfolgenden Titelgewinne bis 2010 waren die zweitlängste Siegesserie in der Geschichte der NCAA Division I. Im Jahr 1995 spendete der milliardenschwere Bauunternehmer Dennis Washington aus Missoula eine Million Dollar für den Bau des Washington-Grizzly Stadium, einer wunderschönen Arena, die 25 000 Besuchern Platz bietet und fast bei jedem Heimspiel ausverkauft ist. Die Bilanz der Grizzlies seit der Eröffnung des Stadions bis 2011 umfasst 174 Siege und nur 24 Niederlagen.

Die Grizzlies spielen nicht auf demselben Niveau wie die großen College-Footballmannschaften wie etwa Florida State, Ohio State oder Alabama. Man muss gerechterweise darauf hinweisen, dass ihre Bilanz wohl weit weniger eindrucksvoll wäre, wenn sie unter den hohen Anforderungen der Big Ten oder der Southeastern Conference spielen müssten anstatt in einer Provinzliga wie der Big Sky. Dennoch rufen die Grizzlies in Missoula dieselbe Art von fanatischer Begeisterung hervor wie die Seminoles in Tallahassee und die Crimson Tide in Tuscaloosa. Die UM-Fans bezeichnen sich selbst als „ Griz Nation “. Missoula ist „ Grizzlyville “. Die Bedeutung, die die Bewohner des westlichen Montana dem Football der Grizzlies beimessen, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Doch verschiedene Ereignisse der jüngeren Zeit haben zumindest einige Bewohner von Missoula dazu veranlasst, ihre Be­wunderung für die Grizzlies zu hinterfragen. Im Dezember 2010 vergewaltigten vier Teamkollegen von Beau Donaldson aus der UM-Footballmannschaft eine Studentin, die zu betrunken war, um sich zu wehren, und weil die Sportler behaupteten, der Sex sei einvernehmlich erfolgt, wurden sie nicht angeklagt. Ein Jahr später, im Dezember 2011, vergingen sich drei Grizzly-Spieler an zwei Studentinnen, nachdem sie diese vermutlich unter Drogen gesetzt hatten. Doch auch von ihnen wurde keiner strafrechtlich belangt.

Als der zweite Vorfall von der Lokalzeitung aufgedeckt wurde, beauftragte UM-Präsident Royce Engstrom die Richterin Diane Barz, die 1989 als erste Frau an den Obersten Gerichtshof von Montana berufen worden war, mit einer Untersuchung. In einem vorläufigen Bericht, der am 31. Dezember 2011 veröffentlicht wurde, schrieb Barz :

Die Untersuchung hat Belege für mehrere Fälle nicht einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs erbracht, die universitätsintern nicht gemeldet wurden. Die Universität ist aufgefordert, umgehend entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.


In ihrem abschließenden Bericht, der am 31. Januar 2012 vor­gelegt wurde, benannte die Richterin neun Fälle von sexuellen Übergriffen, die von UM-Studenten begangen worden waren ( von denen allerdings nicht alle Footballspieler waren ). Ganz oben auf der Liste stand die Vergewaltigung von Allison durch Beau Donaldson. Barz warnte :

Die Berichte über sexuelle Gewalt auf dem UM-Campus erfordern unverzügliches Handeln und die rasche Umsetzung der in Title IX vorgesehenen Maßnahmen. … Eine Hochschule, an der Vergewaltigungen toleriert werden, Opfer sexueller Gewalt nur unzulängliche Unterstützung erfahren und Disziplinarverfahren sich als ungerecht erweisen, stellt eine Gefährdung für alle Studenten dar. … Fälle von sexueller Gewalt werden an den Hochschulen vielfach verschwiegen, und viele Opfer sexueller Übergriffe leiden später an Depressionen oder posttraumatischen Störungen, sie neigen zu Drogenmissbrauch oder haben mit schulischen Problemen zu kämpfen.


Der Bericht von Diane Barz erschütterte Missoula. Ein Vierteljahr später gab das US-Justizministerium bekannt, dass es eine Untersuchung über eine Welle sexueller Gewalt im Westen von Montana in die Wege geleitet habe. Die Behörde teilte mit, dass in Missoula in den vergangenen drei Jahren mindestens 80 mutmaßliche Vergewaltigungsfälle angezeigt worden seien und das Justizministerium „ sämtliche Übergriffe auf Frauen in Missoula, nicht nur auf Studentinnen “, untersuche.

US-Justizminister Eric Holder erklärte : „ Die Anschuldigung, dass die University of Montana, die örtliche Polizei und die Bezirksstaatsanwaltschaft nicht in angemessener Weise gegen sexuelle Gewalt vorgegangen seien, ist sehr bestürzend. “

Die Welle von Vergewaltigungen in Grizzlyville führte zu besorgten Artikeln in vielen großen Zeitungen wie der New York Times oder dem Wall Street Journal. Doch am schädlichsten für das Ansehen Missoulas war ein 3800 Wörter umfassender Artikel auf der Internetseite Jezebel, der neun Tage nach der Erklärung des Justizministeriums erschien. Dieser Artikel von Katie J. M. Baker trug die Überschrift „ Mein Wochenende in Amerikas › Vergewaltigungshauptstadt ‹ “, und diese abwertende Bezeichnung sorgte für großen Wirbel und für einen Aufschrei der Empörung unter den Einwohnern Missoulas, die sich un­gerecht behandelt fühlten.

Aus Bakers bissigem und zugleich einfühlsamem Text ging allerdings auch hervor, dass sie sich nicht sicher war, ob diese Bezeichnung für die Stadt tatsächlich gerechtfertigt war. Die Überschrift des Artikels stammte aus dem zweiten Absatz, in dem sie einen 20-jährigen Drogenhändler aus Missoula zu Wort kommen ließ, der darüber klagte, dass „ die Leute meinen, wir wären jetzt die › Vergewaltigungshauptstadt ‹ Amerikas “, aber gleich hinzufügte : „ Doch das sind wir nicht. Missoula ist eine ganz gewöhnliche Universitätsstadt. “

Tatsächlich entsprächen 80 Vergewaltigungsfälle in drei Jahren „ durchaus dem nationalen Durchschnitt für Universitätsstädte von der Größe Missoulas “, wie Baker in ihrem Text feststellte. Nach aktuellen Statistiken des FBI wurden im Jahr 2012 im Durchschnitt 26,8 Fälle von „ erzwungenem Geschlechtsverkehr “ in Städten der Größenordnung Missoulas gemeldet, woraus sich für drei Jahre 80,4 Vergewaltigungsfälle ergeben. Mit anderen Worten, die Zahl der Vergewaltigungen in Missoula mag beunruhigend erscheinen, aber wenn die Angaben des FBI stimmen, fällt dies nicht aus dem normalen Rahmen. Das bedeutet, dass Vergewaltigungen in den USA in erschreckend hohem Maß verbreitet sind.


Jon Krakauer

Über Jon Krakauer

Biografie

Jon Krakauer, geboren 1954, arbeitet als Wissenschaftsjournalist für amerikanische Zeitschriften. Er wurde durch den Millionenbestseller „In eisige Höhen“, in dem er den Überlebenskampf der Bergsteiger am Mount Everest schildert, weltberühmt. Für seine Reportagen wurde er mit zahlreichen Preisen...

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„Ein wichtiges Buch!“

FAZ

„Ein umfangreiches gut dokumentiertes Buch, unaufgeregt, beeindruckend durch quälend geduldig berichtete Details.“

Stern

„Sein Protokoll ist sachlich, aber schrecklich detailliert und verstörend intensiv.“

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