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Die Preußin auf dem Zarenthron

Die Preußin auf dem Zarenthron

Marianna Butenschön
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Alexandra Kaiserin von Russland

„Ein sehr schönes, gut recherchiertes Buch, das eine ganz neue Welt erschließt.“ - Berliner Morgenpost

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Die Preußin auf dem Zarenthron — Inhalt

Alexandra von Russland, Tochter Königin Luises von Preußen, war zu Lebzeiten so populär wie ihre Mutter. Marianna Butenschön erzählt die unbekannte Lebensgeschichte der Kaiserin. An der Seite ihres Mannes Nikolaus I. durchlebt sie schwere Schicksalsschläge: Aufstände, Kriege, Revolutionen und den Tod ihrer jüngsten Tochter. Dennoch gibt es kaum eine glücklichere dynastische Ehe. Ihre Liebe hält lebenslang.

€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 18.06.2012
432 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-27496-8
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Leseprobe zu „Die Preußin auf dem Zarenthron“

„ Blancheflour “


Charlotte von Preußen, die älteste Tochter der legendären Königin Luise, eine der schönsten und meistgemalten Frauen ihrer Zeit, war dreißig Jahre Kaiserin von Russland. Sie war die Frau Nikolaus’ I., die Schwester Friedrich Wilhelms IV. und Wilhelms I., die Großtante Wilhelms II., des letzten deutschen Kaisers, die Urgroßmutter Nikolaus’ II., des letzten russischen Zaren, und die Ururgroßmutter Philip Mountbattens, des Herzogs von Edinburgh und britischen Prinzgemahls. Die Lebensgeschichte dieser Frau erinnert an einen Groschenroman und [...]

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„ Blancheflour “


Charlotte von Preußen, die älteste Tochter der legendären Königin Luise, eine der schönsten und meistgemalten Frauen ihrer Zeit, war dreißig Jahre Kaiserin von Russland. Sie war die Frau Nikolaus’ I., die Schwester Friedrich Wilhelms IV. und Wilhelms I., die Großtante Wilhelms II., des letzten deutschen Kaisers, die Urgroßmutter Nikolaus’ II., des letzten russischen Zaren, und die Ururgroßmutter Philip Mountbattens, des Herzogs von Edinburgh und britischen Prinzgemahls. Die Lebensgeschichte dieser Frau erinnert an einen Groschenroman und war doch alles andere als unterhaltsam oder trivial. Liebe, Macht und Reichtum haben sie nicht vor Angst, Krankheit und Leid bewahren können. Denn noch nie war etwas so einfach, wie es aussieht, am allerwenigsten das Leben einer Kaiserin von Russland – ein Leben, das man sich heute kaum noch vorstellen kann.
Doch wer war diese Charlotte ? Und wie kam sie auf den Zarenthron? So viel wir über Luise wissen, so wenig wissen wir über Charlotte, obwohl die Tochter der „preußischen Madonna“ viel mächtiger und einflussreicher war als die Mutter. Deshalb ist die Geschichte ihres Lebens eine Geschichte der Entdeckungen und zugleich ein Abbild der preußisch-russischen Beziehungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das ahnen lässt, wie unerhört „ preußisch “ St. Petersburg einmal war und wie „ russisch “ Berlin.
Die Geschichte kennt nur wenige Fälle, in denen dynastische Ehen aus Liebe geschlossen wurden. Meistens kamen sie aus politischen Gründen zustande, und häufig waren die Folgen für die Betroffenen tragisch. Auch die Ehe der Prinzessin Charlotte und des Großfürsten Nikolaus Pawlowitsch hatte einen politischen Hintergrund. Sie kam erstmals im Januar 1809 während des Besuchs Friedrich Wilhelms III. und Luises bei Alexander I. in St. Petersburg zur Sprache, nachdem ein früherer Versuch der Königin, eine familiäre Verbindung der Häuser Hohenzollern und Romanow herzustellen, beim russischen Hof auf Ablehnung gestoßen war.
Doch anderthalb Jahre nach dem Diktatfrieden von Tilsit hatten sich die politischen Koordinaten zugunsten einer solchen Verbindung verschoben. Preußen, zur Mittelmacht degradiert, und Russland, ebenfalls zu Kompromissen gezwungen, brauchten einander im Kampf gegen Napoleon. Heute lässt sich nicht mehr feststellen, wer die Initiative ergriffen hat. Möglicherweise hat Luise das Thema als Erste angesprochen, vielleicht hat Maria Fjodorowna, die Kaiserinmutter, diese Heirat angeregt. Wir wissen es nicht. Auf jeden Fall haben sich die beiden Damen, die eine Mecklenburgerin und in Hannover geboren, die andere Württembergerin und in Stettin auf die Welt gekommen, das zehnjährige „Lottchen“ und den zwölfjährigen „Nikoscha“ als künftiges Paar vorgestellt.
Die Ehe zwischen der ältesten Tochter des Königs und dem jüngeren Bruder des Kaisers sollte die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Dynastien und die preußisch-russische Allianz festigen, die sich in den Freiheitskriegen gegen Napoleon auch als Waffenbrüderschaft bewährt hatte. Kein Wunder daher, dass am 4. November 1815 an der Verlobungstafel in der Bildergalerie des Königlichen Schlosses in Berlin als einzige Gäste zwei Generalfeldmarschälle saßen : der alte Gerhard Leberecht von Blücher, einer der Sieger von Waterloo, den die Russen „Marschall Vorwärts “ nannten, und Michail B. Barclay de Tolly, der Livländer mit schottischen Wurzeln, der die Große Armee 1812 mit der Taktik der verbrannten Erde tief nach Russland hinein- und damit ins Verderben gelockt hatte. Die Hochzeit fand 1817 in St. Petersburg statt, und das Schicksal meinte es gut mit den Verlobten : Staunend und gerührt erlebten der Hof und die Stadt eine Liebesheirat !
Unter den vielen deutschen Prinzessinnen, die im 18. und
19. Jahrhundert nach Russland geheiratet haben, war Charlotte die einzige Preußin und die einzige Königstochter. Beim Konfessionswechsel erhielt sie den Namen Alexandra Fjodorowna, blieb in den Berliner Zeitungen und in den Tagebüchern und Memoiren ihrer preußischen Zeitgenossen aber stets „unsere Prinzeß Charlotte“ und „Kaiserin Charlotte“. Oder „Blancheflour“, wie sie in der Familie gerufen wurde. Denn sie hatte als Heranwachsende für die „holde Blancheflour“ geschwärmt, die „für einen Spiegel alles Reizes und aller Anmut gelten durfte“, eine Gestalt aus dem Ritterroman Der Zauberring von Friedrich de la Motte Fouqué, der ihr und ihren Brüdern, dem „jungen Charlottenburger Volk“, im Herbst 1812 des Abends vorgelesen worden war. Blancheflour war ein Kind der Romantik und sollte es ihr Leben lang bleiben, die Bilderwelt des Mittelalters hat sie mit nach Russland genommen.
Auch ihre Ehe hatte etwas Romantisches. Fast vierzig Jahre lang belegen Briefe, Tagebucheintragungen, Memoiren, diplomatische Berichte und Reisebeschreibungen, dass sich Alexandra und Nikolaus, die „holde Rose Blancheflour“ und ihr Ritter ohne Furcht und Tadel, ihr Leben lang zugetan blieben. Das illustre Familienglück in St. Petersburg war so auffällig und ungewöhnlich, dass es kaum einem Beobachter entging. Selbst große Geister wie Alexander von Humboldt, der 1829 durch Russland und Sibirien reiste, kamen nicht umhin, die „häuslichen Tugenden, die auf dem ersten Thron Europas Platz genommen haben“, hervorzuheben. Und diese Tugenden sind nicht nur beschrieben, sondern auch abgebildet worden: Im Museum Schloss Fasanerie in der Nähe Fuldas ist ein Gemälde der Schottin Christina Robertson zu sehen, auf dem Nikolaus und Alexandra, die einander „Niks“ und „Muffi“ nannten, im Kabinett der Kaiserin im Winterpalast vor roter Wandbespannung gemütlich beieinandersitzen: Er liest Zeitung, sie strickt ! Nie ist ein Kaiserpaar so häuslich dargestellt worden!
Die Liebe der beiden überdauerte manche politische Irritation, manchen Seitensprung seinerseits und manchen Flirt ihrerseits. „Bleib gesund, meine liebe, liebe Muffi, hab deinen Alten lieb und pass auf dich auf … “, schrieb Nikolaus seiner Frau nach einem langen gemeinsamen Leben 1853 aus Warschau. Der Kosename geht wohl auf „ Little Miss Muffet “ zurück, die Heldin eines (bis heute) populären Kinderreims, den Nikolaus von Miss Lyon, seiner schottischen Amme, gehört haben mochte.
Dabei kann man sich kein gegensätzlicheres Paar vorstellen: Blancheflour war schwärmerisch und sentimental veranlagt und hatte diesen sanften „Engelsblick“, der im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts „ in “ war. Sie bevorzugte helle Farben, liebte Musik, Poesie und Blumen, besonders weiße Rosen und Kornblumen, las und handarbeitete viel, schrieb lange Briefe in schön geschwungener Schrift, spielte nicht schlecht Klavier und weinte leicht. Sie hatte eine etwas raue Stimme und sprach – wie ihr Vater – manchmal abgehackt. Wie ihre Mutter kannte sie Schiller, Goethe und Jean Paul auswendig, und sie war bibelfest. Wie ihre Mutter tanzte sie leidenschaftlich gerne, und nach dem Urteil der Zeitgenossen war sie eine ausgezeichnete Tänzerin, die über das Parkett schwebte, „wie ein von einem Windhauch getriebenes Wölkchen am Himmel schwimmt “. Außerdem liebte sie das Theater.
Aber sie war auch gerne allein, wenngleich sie Mühe hatte, sich selbst zu beschäftigen. „Mein Leben lang hatte ich diese Neigung zu Melancholie und Träumerei“, schreibt sie in ihren „Erinnerungen “. „ Nach den Zerstreuungen des gesellschaftlichen Lebens zog ich mich am liebsten in mich selbst zurück, und dann brauchte ich die Natur genauso wie eine gute Predigt, und mehr als alle Predigten der Welt sprach sie mir von Gott und von seinen wunderbaren Wohltaten für seine Geschöpfe. “
Eine politische Rolle hat Alexandra offiziell nicht gespielt. Ihre wichtigste Aufgabe sah sie in einem glücklichen Familienleben. „ Glauben Sie mir, wenn man einmal in Frieden mit sich selbst ist, wenn man einmal einen Entschluss gefasst hat, wird man seinen Weg geradeheraus gehen“, schrieb sie einer jungen Frau, die im Begriff stand zu heiraten. „Andere glücklich zu machen ist seit jeher die Berufung der Frau, und das ist eine schöne und große Berufung und das Ziel unserer Existenz auf Erden. Bloß keinen Egoismus, keine ehrgeizigen Wünsche, keine Trockenheit in der Seele, um Himmels willen!“ Das war ihr Credo, ein Leben für Mann und Kinder. „Wenn Mama auch nicht das war, was man eine Frau von Geist nennt, so besaß sie doch die Gabe, Menschen und Dinge sehr fein abzuschätzen, und erstaunlich war ihr Urteil, wenn es in ernsten Fällen eingeholt wurde“, schreibt Königin Olga von Württemberg, ihre zweitälteste Tochter. „Vor allem aber war sie liebende Ehefrau, fügsam und stets zufrieden, die zweite Rolle zu spielen. Ihr Gatte war ihr Lenker und Beschützer, besaß ihr ganzes Vertrauen, und sie hatte nur einen Ehrgeiz, ihn glücklich zu machen.“ Mit dieser Haltung konnte Alexandra in Russland, das ein großes Jahrhundert, aber auch ein Jahrhundert der „ Weiberherrschaft “ hinter sich hatte, nur gewinnen.
Nikolaus Pawlowitsch, der als „Gendarm Europas“, in die Geschichte und als „Nikolaus der Stock“ (Lew N. Tolstoj) in die Literaturgeschichte eingegangen ist, war eine der interessantesten Gestalten auf dem Zarenthron, Imperator in allem, was er tat, „ a very striking man “ (Queen Victoria), jedoch eine widersprüchliche Figur, ein Mann, der Zustimmung und Ablehnung zugleich hervorrief. Die Zeitgenossen schildern ihn als selbstgerecht, streng und pedantisch, als prinzipientreu und rechthaberisch, aber auch als korrekt, freigiebig und großzügig. Der „ Oberst auf dem Thron “ (Constantin de Grunwald) konnte herrisch und kalt auftreten und im nächsten Augenblick jovial, charmant und herzlich sein, und wenn er wollte, konnte er öffentlich Tränen vergießen. Schon sein kalter, hypnotisierender Blick flößte den Mitmenschen Furcht ein, man widersprach ihm nicht, und das gefiel ihm. Heinrich von Treitschke nannte ihn den „härtesten Selbstherrscher des Jahrhunderts“, Golo Mann den „Despoten aller Despoten“. Aber er war weder boshaft noch bösartig, und „ Despot “ war er vermutlich nicht von Natur aus, sondern weil er der Überzeugung war, dass Russland nicht anders als „despotisch“ regiert werden könne. Mehrfach in seinem Leben hat Nikolaus Pawlowitsch großen persönlichen Mut bewiesen. Er war ein nüchterner Mensch, doch persönliche Freundschaften waren ihm wichtig.
Den Zarenthron hat er nicht unerwartet, aber völlig unvorbereitet bestiegen. Die Mängel seiner Bildung waren ihm bewusst, doch sein hohes Selbstgefühl ließ ihn keinen Augenblick an seiner gottgewollten Herrschermission zweifeln, und vermutlich war er der fleißigste Beamte seines Reiches. Er war ein guter Redner und begabter Schauspieler, hatte ein fotografisches Gedächtnis, blies Trompete und sang gerne in den Palastchören. Ihm verdankt Russland die Neue Ermitage, die er von Leo von Klenze, dem Münchner Hofarchitekten, entwerfen ließ.
Das Urteil des Schriftstellers Wladimir A. Sollogub, Nikolaus sei ein Mann von „ eisernem Willen und unbeugsamer Härte “ gewesen, „ in der Tiefe seiner Seele aber von unerschöpflicher Güte “, und sein heller Verstand habe „alles verstanden und … alles verziehen“, ist typisch für die Art und Weise, wie die meisten Zeitgenossen den Zaren sahen. Er sah so gut aus, dass fast jedermann dazu neigte, ihn zu idealisieren, was im Übrigen auch für seine Frau galt.
Gleichwohl waren die beiden ein selten gegensätzliches Paar. Während er einen spartanischen Lebenswandel bevorzugte, lebte sie in einem unerhörten Luxus. Ihre Gemächer waren groß, elegant und reich dekoriert, doch sein Kabinett war klein, spärlich und einfach möbliert. Sie besaß allein 500 Armbänder und mehr als 100 einzeln gefasste Solitäre, doch seine Pantoffeln hatten Löcher, und als Bettdecke benutzte er einen alten Uniformmantel. Während sie ungern befahl und häufig erklärte, dass die Worte „befehlen“ und „Befehl“ ihr nur aus dem Munde des Kaisers verständlich seien, war er ein reiner Befehlsmensch, und wenn er befahl, war er hart und unnachsichtig. Während er vor Wut explodieren und wochenlang schmollen konnte, wurde sie nie laut oder böse, sondern pflegte nur milde lächelnd zu erklären: „ Je gronde “ („ Ich grolle “). Ähnlich reagierte sie auf seine manchmal unerträgliche Bevormundung: Wenn er verlangte, dass sie sich umzog, weil ihm eines ihrer Kleider missfiel, beschämte sie ihn durch Tränen, gab aber nach, und dann soll er schuldbewusst und verwirrt geguckt haben. Wie ihre Tagebuchaufzeichnungen zeigen, war diese so glückliche Ehe keineswegs immer einfach. Kurzum, es war etwas in dieser Beziehung, das sich der Beschreibung entzieht.
Doch Alexandra und Nikolaus waren nicht nur sehr unterschiedliche Naturen, sie waren auch verwandte Seelen. Beide waren tief religiös, beide hatten eine musische Ader, und beide haben, wie neuere Archivfunde belegen, erstaunlich gut gezeichnet. Beide waren Pflichtmenschen, beide haben eine öffentliche und eine private Rolle gespielt, die sich deutlich voneinander unterschieden, und beide hatten eine fatale, von ihren Vätern ererbte Vorliebe für Militaria: Paraden, Revuen, Manöver und Uniformen. Alexandra hat ihren Mann immer gerne ins Manöver begleitet, und als sie 1826 Chefin des noblen Chevaliers- Gardes-Regiments wurde, zeigte sich, dass sie sich beim Militär auskannte. Sie war eine ausgezeichnete Reiterin.
Alexandras großes Verdienst bestand darin, mäßigend auf die impulsive Natur und das autoritäre Gehabe ihres Mannes eingewirkt zu haben. Auch auf dem Thron wollte sie „nur seine Freundin“ sein, und diese Rolle wusste er wohl zu schätzen. Er hat ihr immer vertraut. Ihre bloße Anwesenheit genügte, um ihn freundlich zu stimmen. Sie konnte ihm Dinge sagen, die auszusprechen sich sonst niemand getraut hätte. Man muss sich daher fragen, ob seine Herrschaft mit einer anderen Frau an seiner Seite anders verlaufen wäre. Noch strenger, noch autoritärer ?
Die zaristischen Historiker haben dieses Herrscherpaar mehr oder weniger in den Himmel gehoben. Scharfe Kritik an Nikolaus’ Herrschaftsstil und Alexandras Lebensweise kam seit den 1840er-Jahren nur von Autoren der jungen russischen Emigration. Dass die sowjetrussischen Historiker an Nikolaus kein gutes Haar gelassen haben, versteht sich beinahe von selbst. Dieser „kleinliche Tyrann “ (Jurij Lotman) hatte lange regiert, und sein Sündenregister war auch lang. Hatte er nicht den Dekabristen-Aufstand niedergeschlagen und dessen Anführer hängen lassen? Hatte er Russland nicht zum Polizeistaat gemacht und jeden liberalen Funken im Lande erstickt? Hatte er nicht die Aufstände in Polen und Ungarn niedergeschlagen? War er nicht mitverantwortlich für den Tod Puschkins? Steckte er nicht hinter der Scheinhinrichtung Dostojewskijs ? War sein Russland nicht der Hort der monarchischen Reaktion in Europa gewesen, hatte er seine Herrschaft nicht auf so obskure Prinzipien wie Orthodoxie, Autokratie und Volkstum gegründet ?
Auch das Image Alexandra Fjodorownas hat sich in der Sowjetzeit verändert. Ursache dafür waren vor allem die Erinnerungen der Hofdame Anna F. Tjuttschewa, die 1928/29 erstmalig in Moskau herauskamen, wieder aufgelegt und jahrzehntelang zitiert wurden. Darin erscheint Alexandra als infantile, verwöhnte, leichtsinnige und verantwortungslose Frau, die schuld an der Demoralisierung der russischen Gesellschaft war und sich nicht um das Wohl des Volkes scherte. Anna Tjuttschewa selbst teilte dieses Urteil nicht, zählte Alexandra aber doch zu den Herrscherinnen, die – wie angeblich Marie Antoinette – in der Lage waren, „ naiv zu fragen, warum das Volk nicht Brioches isst, wenn es kein Brot hat “.
Außerdem beschrieb sie die „despotische Vergötterung“, mit der Kaiser Nikolaus seine Frau umgab, da er sich als ihr „ einziger Herrscher und Gesetzgeber“ fühlte. „Für ihn war das ein bezauberndes Vögelchen, das er in einem goldenen, mit kostbaren Steinen verzierten Käfig hielt, das er mit Nektar und Ambrosia fütterte und mit Melodien und Aromen einlullte, dessen Flügel er aber gnadenlos abgeschnitten hätte, wenn es aus den vergoldeten Gittern seines Käfigs hätte ausbrechen wollen. Aber in seinem phantastischen Gefängnis erinnerte sich das Vögelchen nicht einmal mehr an seine Flügelchen “, schrieb die Tjuttschewa. Sein Leben lang habe Nikolaus seine Frau „wie ein verwöhntes Kind “ behandelt. Das entsprach dem sowjetischen Frauenbild so wenig, dass Alexandra Fjodorowna bei aller Herzensgüte und Sanftheit allenfalls Mitleid erregte.
Erst mit dem Ende der Sowjetunion änderte sich die Sicht der Dinge. Das „moderne“ Russland, ruiniert und enttäuscht von der mehr als 70-jährigen Sowjetherrschaft, machte sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit und entdeckte seine Zaren und Zarinnen wieder. Dabei erwies sich Nikolaus I., dessen 200. Geburtstag im Sommer 1996 bevorstand, als besonders attraktiv. Über keinen anderen Selbstherrscher ist seither so viel publiziert worden wie über ihn. Jüngere Historiker sehen in ihm nun sogar eine tragische Figur, einen „Ritter der Autokratie“, der manche gute Absicht nicht verwirklichen konnte, weil er nur wenige fähige Mitarbeiter hatte und sich auf falsche Freunde stützte. Immerhin hatte er genug Weitsicht, um seinen Sohn Alexander, den Thronfolger, von liberalen Männern erziehen zu lassen und ihn frühzeitig zu den Regierungsgeschäften heranzuziehen. Das war aber auch ein Verdienst seiner Frau.
Und so stellt sich die Frage, ob die Preußin auf dem Zarenthron so „harmlos“ war, wie sie wirkte. War sie das schwache, unpolitische Wesen, das „Vögelchen“, als das Anna Tjuttschewa und andere nach ihr sie geschildert haben? Starke Zweifel sind geboten, weil sich neben Nikolaus Pawlowitsch, der nach dem Urteil aller Zeitgenossen ein vorbildlicher Familienvater war, nur eine Frau mit Charakter behaupten konnte. Und das war Alexandra. Sie war eine starke Frau, die immer Haltung bewahrte und, modern gesprochen, ihren anstrengenden Job perfekt erledigte. Viele Indizien deuten darauf hin, dass sie es war, die das Familienleben dominierte, womit die beiden einander eher ergänzt hätten. Sie empfand sich jedenfalls als sein Alter Ego. „Ich habe mein ganzes Leben innigst darum gebetet, dass wir zusammen sterben können “, zitiert Anna Tjuttschewa die Unglückliche in der Todesstunde ihres Mannes, „aber wenn einer den anderen überleben sollte, dann wollte ich lieber diejenige sein, die diesen Kummer erleidet. Was wäre denn ohne mich aus ihm geworden ? “
Ebenso wenig war Alexandra das „ schlichte “ apolitische Wesen, als das Memoirenschreiber und Reisende sie dargestellt haben. Der umfangreiche Briefwechsel mit dem kaiserlichen Gemahl und der Berliner Verwandtschaft, aber auch mit Peter von Meyendorff, dem langjährigen russischen Gesandten in Berlin, zeigt vielmehr, dass sie eine politisch sehr interessierte Frau mit guten historischen Kenntnissen war. Genau genommen weisen schon die „Hohenzollernbriefe“ aus den Freiheitskriegen der Jahre 1813/15 den Backfisch Charlotte, die „ beste Lottenlott “, als politisch wache Beobachterin aus, die sich bei den Brüdern Friedrich Wilhelm („Fritz“) und Wilhelm („Wims“) nach dem genauen Verlauf der entscheidenden Schlachten gegen Napoleon erkundigt und über die Siege der Verbündeten freut. Schon in diesen Jahren fiel dem Vater die „ ziemliche Schreibseligkeit der Geschwister “ auf.
Später sah Alexandra die diplomatische Korrespondenz des Kaisers und die offiziellen Depeschen oft noch vor dem Außenminister durch, und häufig las Nikolaus sie ihr sogar vor. Aktuelle Neuigkeiten aus Berlin erfuhr sie vor allem durch die Brüder. „Tausend innigen Dank für Deine treuen Briefe, wodurch ich fortlebe unter Euch und in der Familie und in der politischen Lage Preußens“, schrieb sie Wilhelm nach einem Vierteljahrhundert in Russland. Sie blieb auch durch ihre vielen Geschenke in der Familie präsent. So bedankte sich der Vater u. a. für „Kisten mit Porzellan“, „maqnifique Christall Schaalen“ und „ungemein sauber ausgemalte Teller mit preußischen Militairs“, eine „ganz allerliebste Dose mit Turquoisen “ zum 51. Geburtstag, „ niedliche Malachitsachen“ zu Weihnachten 1822, die von ihm gewünschte „Winterbekleidung“ zu Weihnachten 1832 und „Schreibzeug in Elephanten-Gestalt masquiert“ zu Weihnachten 1839. Doch manchmal kam auch Kulinarisches, wie dem Kammerdiener-Journal des Prinzen Carl vom 5. Januar 1856 zu entnehmen ist, nämlich: „1 Kästchen mit frischem Kaviar und 20 Stück Haselhühner“, Gaben für Ihre Königlichen Hoheiten, den Bruder und die Schwägerin.
Die enge familiäre Verbundenheit förderte den politischen Austausch. Somit war Alexandra detailliert über die politische Entwicklung informiert, auch wenn sie die Augen vor der sozialen Realität Russlands verschloss und wenig Gespür für die Strömungen der Zeit zeigte. In den Unruhejahren 1848/49 hat sie es jedenfalls nicht an eindeutig reaktionären Äußerungen ihren Brüdern gegenüber fehlen lassen, und die „Revolutionsbriefe“ aus dem Nachlass Friedrich Wilhelms IV. belegen, dass sie sich sogar massiv im Sinne ihres Gemahls in die preußische Politik eingemischt hat. Kurzum: Auf der politischen Bühne war sie Statistin, hinter den Kulissen einflussreiche Beraterin. „Nie habe ich in meinem ganzen Leben etwas Wichtiges unternommen, ohne vorher ihren Rat und ihren mütterlichen Segen einzuholen “, schrieb Nikolaus I. in seinem Testament.

Marianna Butenschön

Über Marianna Butenschön

Biografie

Marianna Butenschön, geboren 1943 in Rotenburg, ist promovierte Historikerin, Journalistin und Autorin zahlreicher Publikationen über Russland und das Baltikum. Sie lebt in Hamburg. 2009 wurde Marianna Butenschön für ihr Buch „Ein Zaubertempel für die Musen. Die Ermitage in St. Petersburg“ mit dem...

Pressestimmen
Berliner Morgenpost

„Ein sehr schönes, gut recherchiertes Buch, das eine ganz neue Welt erschließt.“

Deutschlandradio Kultur

„Die Autorin versteht es, die russische und die preußische Geschichte so mit der persönlichen Biografie Charlottes zu verweben, dass ein ausgewogenes und spannendes Buch entstanden ist. (...) Marianna Butenschön erzählt in einer einfachen, klaren und anschaulichen Sprache. mit souveräner Selbstverständlichkeit verbindet sie Personen und Ereignisse so, dass auch der weniger kundige Leser leicht einen Einblick in die komplizierte Geschichte Russlands erhält.“

Neue Zürcher Zeitung

„Obwohl man dem Buch die wissenschaftliche Ernsthaftigkeit abnehmen darf, geht diese keineswegs zulasten der Erzählung. (…) Der Autorin gelingt es, in der Schilderung des Zusammenspiels des kaiserlichen Paares – besonders geglückt ist die Beschreibung des herrscherlichen Alltags- und Arbeitslebens im Petersburger Winterpalast – die Wesenszüge Alexandras plastisch hervortreten zu lassen.“

Mitteilungen Geschichte

„Das Buch enthält im Anhang eine Zeittafel, ein Glossar, 15 Seiten Anmerkungen, eine Bibliografie und ein ausführliches Personenregister. 32 farbige Abbildungen runden die stimmige Biografie von hohem dokumentarischem und erzählerischem Niveau ab. Empfehlenswert.“

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