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Die Moral des Krieges

Die Moral des Krieges

Wilfried Hinsch
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Für einen aufgeklärten Pazifismus

„Hinsch ist überzeugt, dass es ohne die Bereitschaft, notfalls auch militärisch einzugreifen, kein friedliches Miteinander auf der Welt geben kann. ›Die Moral des Krieges‹ ist insofern auch eine Weiterentwicklung seines Buches ›Menschenrechte militärisch schützen‹, das vor elf Jahren erschienen ist.“ - Deutschlandfunk

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Die Moral des Krieges — Inhalt

Darf man zu den Waffen greifen, um Frieden zu schaffen? Ist der Schutz der Menschenrechte gerechtfertigt – selbst um den Preis, dass dabei Menschen getötet werden? Kaum irgendwo werden diese Fragen so leidenschaftlich diskutiert wie hierzulande. Der moralische Bankrott des Jahres 1945 sitzt den Deutschen tief in den Knochen. Doch die großen Krisenherde der Welt (Syrien, der Terror des „IS“ und die Bürgerkriege in Afrika) fordern nicht nur von Politikern neue Antworten. Der Streit um Deutschlands Rolle in der Welt geht quer durch alle Lager. Zwischen den Extremen steht Wilfried Hinschs so kluges wie eindringliches Plädoyer für einen aufgeklärten Pazifismus. Einer der führenden Denker auf dem Gebiet der Moralphilosophie weist damit auf die dringliche, weil universelle Frage: An welchen Werten wollen wir uns als Gesellschaft künftig orientieren?

€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 03.04.2017
Mitautor: Peter Sprong
272 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97600-8
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Leseprobe zu „Die Moral des Krieges“

Vorwort

„Sie sind ja ein Bellizist“

 

Dieses Buch hat eine lange Vorgeschichte, die bis in die 1990er-Jahre zurückreicht. Die militärische Intervention unter Führung der Vereinigten Staaten gegen die gewaltsame Besetzung Kuwaits durch den Irak (1990 – 1991), der Bosnienkonflikt (1992 – 1995), der Völkermord an den Tutsi in Ruanda (1994) und die auf Vertreibung und Völkermord zielende serbische Politik unter dem damaligen Präsidenten Slobodan Milosevic im Kosovo führten zu erregten Diskussionen: Dürfen sich deutsche Soldaten an militärischen Maßnahmen zum [...]

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Vorwort

„Sie sind ja ein Bellizist“

 

Dieses Buch hat eine lange Vorgeschichte, die bis in die 1990er-Jahre zurückreicht. Die militärische Intervention unter Führung der Vereinigten Staaten gegen die gewaltsame Besetzung Kuwaits durch den Irak (1990 – 1991), der Bosnienkonflikt (1992 – 1995), der Völkermord an den Tutsi in Ruanda (1994) und die auf Vertreibung und Völkermord zielende serbische Politik unter dem damaligen Präsidenten Slobodan Milosevic im Kosovo führten zu erregten Diskussionen: Dürfen sich deutsche Soldaten an militärischen Maßnahmen zum Schutz von Menschenrechten und zur Sicherung des Friedens beteiligen? Für viele hieß die Antwort damals wie heute klar und deutlich: „Nein.“ Niemals könne es zulässig sein, dass Deutschland sich wo immer in der Welt an militärischen Interventionen beteilige.

Während des sogenannten Ersten Irakkrieges, der immerhin durch die Resolution 678 des UN-Sicherheitsrats völkerrechtlich legitimiert war, hingen überall in Deutschland weiße Bettlaken aus den Fenstern, um gegen den US-amerikanischen „Bellizismus“ zu protestieren. Ich erinnere mich an eine Freundin, die damals für eine französische Presseagentur arbeitete und alles andere als unreflektiert war. Sie warf mir, weil ich den Krieg gegen den Irak Saddam Husseins zur Befreiung Kuwaits verteidigte, schließlich vor, ein ruchloser Karrierist zu sein, der vor nichts zurückschrecke, um sich auf die Seite der Mächtigen zu schlagen. Ein Vorwurf, der mir alles andere als zutreffend zu sein schien.

Im Umfeld der Kosovo-Intervention von 1999 wiederholten sich ähnliche Diskussionen. Freunde, die in den 1970er-Jahren noch Geld gesammelt hatten, um in Nicaragua die Sandinisten in ihrem Befreiungskampf gegen das Unrechtsregime von Somoza zu unterstützen, betrachteten nun offenbar die staatliche Souveränität Serbiens als einen höchsten unverletzlichen Wert. Und der UN-Sicherheitsrat, der diese Intervention nur aufgrund des Widerstands Russlands und Chinas nicht durch eine Resolution autorisierte, galt ihnen als moralisch letzte Instanz, wenn es um den Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz grundlegender Menschenrechte geht. Mir erscheint dies bis heute moralisch und intellektuell unbegreiflich.

Wenn Menschenrechte wie das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person tatsächlich höchste ethische Werte sind, so meine Überzeugung, dann muss es zumindest prinzipiell auch zulässig sein, sie nötigenfalls mit Waffengewalt zu schützen – selbst dann, wenn dies mit Opfern und hohen Kosten verbunden ist. Warum das so ist, versucht dieses Buch zu erklären. Dabei werden die offenkundigen Tatsachen keineswegs bestritten. So fordern militärische Interventionen und Kriege in den allermeisten Fällen viel zu viele Opfer und verschlingen Ressourcen, die anderweitig zur Armutsbekämpfung oder zur weltweiten Gesundheitsfürsorge besser eingesetzt werden könnten. In vielen Fällen erscheint es zudem unwahrscheinlich, dass selbst begrenzte und an sich untadelige Interventionsziele mit Waffengewalt erreicht werden. Die Lage in Afghanistan und religiöse Bürgerkriege im Nahen Osten zeigen die kaum überschaubare Komplexität der sogenannten neuen Kriege und lassen Zweifel aufkommen, ob es überhaupt möglich ist, sie durch gewaltsame internationale Interventionen zu beenden und einem gerechten Frieden auch nur näher zu kommen.

Dies ändert jedoch nichts daran, dass eine kategorische Absage an den Einsatz militärischer Gewalt zum internationalen Menschenrechtsschutz und zur Friedenssicherung aus der moralischen Perspektive einer universalistischen politischen Ethik in hohem Maße fragwürdig und darüber hinaus praktisch-politisch gesehen weltfremd ist. Die Annahme, dass es ohne die internationale Bereitschaft, notfalls auch militärisch einzugreifen, so etwas wie ein weltweites friedliches Miteinander ohne bösartige Kriege, extreme Armut und massenhafte Menschenrechtsverletzungen geben könne, ist abwegig.

Schon 2006, drei Jahre nach dem zu Recht weithin kritisierten zweiten Irakkrieg unter amerikanischer Führung, habe ich diese Position gemeinsam mit Dieter Janssen in dem Buch Menschenrechte militärisch schützen vertreten – und mir damit scharfe Vorwürfe eingehandelt. In einer Podiumsdiskussion etwa hielt mir ein Vertreter der deutschen Friedensbewegung in Berlin entgegen: „Sie sind ja ein Bellizist, und Sie unterstützen die Politik der Bush-Regierung.“ Das war nicht nur unbegründet, es ging auch entschieden am eigentlichen moralisch und politisch drängenden Problem vorbei.

Denn eine Sache ist es, die Vereinigten Staaten und ihre Regierung mit Recht für deren schwankende und heuchlerische Rechtfertigung des Zweiten Irakkriegs und für ihre gravierenden Menschenrechtsvergehen im Irak und anderswo zu kritisieren. Eine ganz andere Sache ist es, darüber nachzudenken, unter welchen Bedingungen der Einsatz militärischer Gewalt zum Menschenrechtsschutz und zur Friedenssicherung aus der Perspektive einer politischen Ethik zulässig und unter Umständen sogar geboten sein kann.

Wer sich ernsthaft dafür interessiert, wie politische Entscheidungen über Krieg und Frieden unter moralischen Gesichtspunkten zu bewerten sind (und gerade darum geht es ja vielen Menschen, die sich in der Friedensbewegung und andernorts engagieren), dessen erste Sorge sollte nicht sein, wessen Politik wir unterstützen, so, als ob schon vorab klar wäre, wer die Guten und wer die Schlechten sind. Worauf es um der intellektuellen und moralischen Klarheit willen ankommt, ist eine unvoreingenommene und für alle Fakten und Gesichtspunkte offene und insofern zunächst unparteiische Betrachtungsweise. Die erste Frage ist nicht, welchen Politikern oder Regierungen wir folgen sollen, sondern auf Grundlage welcher Prinzipien und Werte wir verantwortbare Entscheidungen in einer Welt allgegenwärtiger barbarischer Gewalt treffen wollen – und ob wir mit diesen Prinzipien und Werten zu einer moralischen Haltung finden, die erstens in sich plausibel und widerspruchsfrei ist und die zweitens eine konsistente und verlässliche Friedens- und Sicherheitspolitik erlaubt.

Um die Grundlinien einer solchen Haltung und die ihr zugrunde liegende politische Ethik geht es in diesem Buch. Es geht hingegen nicht darum, die Frage zu beantworten, in welchen konkreten Konfliktfällen eine militärische Intervention zur Friedenssicherung und zum Menschenrechtsschutz – unter Berücksichtigung aller relevanten Kriterien – gerechtfertigt war oder gerechtfertigt wäre. Eine Antwort auf diese Frage würde differenzierte und fallbezogene ethische, politische und strategische Erwägungen erfordern und müsste eine Fülle empirischer Informationen berücksichtigen. Im Rahmen einer philosophischen Abhandlung über die Moral des Krieges ist dies nicht zu leisten.

Es kann auch nicht die Aufgabe der Moralphilosophie oder der politischen Ethik sein, auf alle drängenden Fragen des politischen Lebens eindeutige Antworten zu geben. Zum einen kann eine Moral oder Ethik (ich verwende die Ausdrücke weitgehend austauschbar), die sich nicht auf göttliche Offenbarung und religiöse Heilsgewissheiten, sondern lediglich auf die menschliche Vernunft stützt, keine alternativlosen letzten Wahrheiten liefern. Was sie uns zu bieten vermag, sind allenfalls gut begründete, aber gleichwohl im Prinzip bestreitbare allgemeine Grundsätze und Wertvorstellungen. Zum anderen lässt sich im Rückgriff auf eben jene Grundsätze im konkreten Fall typischerweise mehr als eine Antwort rechtfertigen. Moralische Prinzipien und Werte sind stets interpretationsbedürftig, und oft gibt es mehr als eine vertretbare Auslegung. Auch setzt ihre Anwendung in konkreten Fällen von Krieg und Frieden zahlreiche Kenntnisse über den jeweiligen Konflikt und die beteiligten Parteien, die Handlungsmöglichkeiten Dritter sowie über die kurz- und längerfristigen Folgen möglicher Interventionen voraus. All diese Kenntnisse beruhen auf Erfahrung und sind, wie alles Erfahrungswissen, fehlbar und nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit verlässlich. Selbst bei einem Einverständnis im Prinzipiellen mögen deshalb verschiedene gleichermaßen „wohlinformierte“ Personen, die denselben Prinzipien folgen, zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen gelangen – zum Beispiel, weil sie empirische Befunde unterschiedlich gewichten oder aufgrund unterschiedlicher Einschätzungen von Wahrscheinlichkeiten.

Aus der Perspektive derer, die nach moralischen Leitlinien für ihr Handeln suchen, scheint die Schwäche der Moralphilosophie und politischen Ethik insofern weniger darin zu liegen, dass sie keine Antwort auf drängende praktische Fragen gibt, als vielmehr darin, dass sie zu viele vertretbare Antworten zulässt.

Auch im Folgenden werden deshalb keine moralisch begründeten Handlungsanweisungen für aktuelle militärische Konflikte gegeben. Ziel des Buches ist es vielmehr, in den Fragen von Krieg und Frieden eine grundsätzliche moralphilosophische Orientierung zu bieten – und zwar nicht für philosophisch vorinformierte Leserinnen und Leser, sondern auch für die breite Öffentlichkeit, in der die hier behandelten Themen ja täglich anhand aktueller Problemstellungen diskutiert werden.

Um dieses Ziel möglichst hoher Allgemeinverständlichkeit zu erreichen, verzichtet der Text nicht nur weitgehend auf Literaturverweise, Fußnoten und die Diskussion verschiedener philosophischer „Schulen“. Er wurde darüber hinaus in enger Zusammenarbeit mit dem Kölner Historiker, Buchautor und Redenschreiber Peter Sprong auch redaktionell so gestaltet, dass trotz der zum Teil komplexen Erörterung philosophischer Argumente die allgemeine Lesbarkeit gewahrt bleibt. Zugleich spiegelt sich in diesem Vorgehen die Überzeugung, dass sich die Aufgabe gerade der „praktischen“ akademischen Philosophie nicht darin erschöpfen sollte, an den Universitäten und in der Fachwelt zu wirken. Vielmehr soll sie darüber hinaus ihren Beitrag zu einer Verbesserung der öffentlichen Debatten- und auch Entscheidungskultur leisten. Wenn oftmals verkürzte oder grob vereinfachende Argumentationen durch substanziellere Darlegungen ersetzt werden können, entstehen damit zugleich bessere (wenn auch noch keinesfalls hinreichende) Voraussetzungen für besser begründete Entscheidungen der konkret Handelnden.

Für den Zusammenhang dieses Buches bedeutet dies vor allem, dass erläutert wird, warum die hierzulande verbreitete Auffassung, Deutschland dürfe sich niemals an militärischen Einsätzen beteiligen – auch nicht zur internationalen Friedenssicherung und zum Menschenrechtsschutz –, aus der Perspektive einer universalistischen politischen Ethik unhaltbar erscheint. Darüber hinaus soll erklärt werden, warum der moralische Standpunkt einer politischen Ethik seine Berechtigung hat und warum es eine „moralfreie“ Politik weder geben kann noch geben sollte.

Schließlich werden fünf Grundsätze einer „Moral des Krieges“ vorgestellt, die eingehalten werden müssen, wenn der Einsatz kriegerischer Mittel zum Zweck der Friedenssicherung und des Rechtsschutzes moralisch gerechtfertigt sein soll. Es wird sich dabei zeigen, dass die Androhung und die Anwendung militärischer Gewalt in vielen Fällen nicht nur erlaubt, sondern sogar moralisch geboten ist. Gleichwohl wird dem Gewalteinsatz häufiger noch zu widersprechen sein. Aktuelle und historische Konstellationen liefern reichhaltiges Anschauungsmaterial dafür, dass militärische Interventionen in konkreten Konfliktfällen moralisch – nach Erwägung aller relevanten Gesichtspunkte – nicht zu rechtfertigen sind. Wer diesen Mangel an Rechtfertigung aufzuzeigen weiß, der kann sich in den tagespolitischen Diskussionen über Krieg und Frieden gegen den Krieg positionieren – allerdings nicht mit den moralisch fragwürdigen Argumenten des klassischen Pazifismus, sondern im Namen einer universalistischen Moral und eines „aufgeklärten Pazifismus“, der militärische Gewalt nicht per se verdammt, wohl aber deren macht- und wirtschaftspolitischen Missbrauch.

 

 

1 „Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz“

Ein deutsches Dilemma

 

Zwei Reden, dazwischen 15 Jahre: Joschka Fischer, damals Außenminister, versucht 1999 beim Sonderparteitag von Bündnis 90/Die Grünen, seine Parteifreunde davon zu überzeugen, dass ein militärisches Eingreifen im Kosovo notwendig ist. Er wird beschimpft und angegriffen. Die zweite Rede hält Bundespräsident Joachim Gauck 2014 bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Er fordert von Deutschland ein entschiedeneres Auftreten in außenpolitischen Fragen. Deutschland müsse in der Welt mehr Verantwortung übernehmen – auch militärisch! Und wieder hagelt es Proteste, in den Medien ist von „verbaler Aufrüstung“ die Rede und von „Außenpolitik mit Helmpflicht“.

Wenn es um Krieg und Frieden geht, schlagen die Wellen in Deutschland noch immer hoch. Zwar wird das Thema auch in anderen Ländern seinem Ernst entsprechend kontrovers diskutiert. So moralisch wie in Deutschland geht es dabei jedoch nur selten zu. „Kriegshetze“ lautet der Vorwurf auf der einen, „Naivität“ auf der anderen Seite. Von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik ist die Rede, und immer wieder von der „besonderen“ historischen Verantwortung, die Deutschland trage. Wie belastbar sind diese Positionen? Welche Argumente sind tragfähig, welche erweisen sich bei näherem Hinsehen als rhetorische Hülsen?

 

Gegen den Krieg und für die Menschenrechte: Das Problem der doppelten Umkehr nach 1945

Um diese Fragen zu beantworten und um zu verstehen, warum über Krieg und Frieden in Deutschland so leidenschaftlich und oft auch erbittert gestritten wird, ist ein Rückblick auf die Geschichte dieser Diskussion unerlässlich. Sie ist mindestens 100 Jahre alt und erreichte ihren ersten Höhepunkt nach dem Ersten Weltkrieg. Dessen Materialschlachten hatten zum ersten Mal überdeutlich vor Augen geführt, was der moderne, der technisierte Krieg bedeutet: millionenfachen Tod, die Auszehrung der Krieg führenden Gesellschaften bis an den Rand ihrer Existenz und politische Umwälzungen des internationalen Staatensystems von epochalem Charakter. Der Erste Weltkrieg und seine zerstörerische Macht stellten alles bisher Dagewesene in den Schatten. 10 Millionen Soldaten waren gefallen, 20 Millionen verwundet. Hinzu kamen 7 Millionen zivile Opfer sowie 380 000 bis 1,8 Millionen Opfer des Völkermords an den Armeniern. Nicht nur bei den unterlegenen Mächten, auch bei den Siegern formierten sich unter dem Eindruck dieser Schreckensbilanz erstmals systematische Zweifel an der Sinnhaftigkeit und Rationalität des Krieges überhaupt. Der 1. August, Beginn des Ersten Weltkriegs, wurde nach 1918 von der pazifistischen Bewegung zum Antikriegstag erklärt. Der Journalist und spätere Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky sowie der Schriftsteller Kurt Tucholsky gründeten zusammen mit anderen den „Friedensbund der Kriegsteilnehmer“ und organisierten in Berlin erste Massendemonstrationen unter dem Titel „Nie wieder Krieg“.

Ohne diesen ersten Schock der Zeitenwende vor nunmehr einem Jahrhundert kann man auch aktuelle deutsche Politik im Kontext von Krieg und Frieden nicht verstehen. Und man kann sie erst recht nicht ohne die 80 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust verstehen, nicht ohne die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, und nicht ohne die äußerst reale Gefahr eines Atomkriegs während des Kalten Krieges.

Man kann die deutsche Politik allerdings auch nicht verstehen, ohne die ökonomischen Interessen eines Landes in den Blick zu nehmen, dessen wirtschaftlicher Wohlstand zu beachtlichen Teilen auf dem Export von Maschinen und Industriegütern – und eben auch von Rüstungsgütern – beruht, und ohne darüber hinaus die Auswirkungen zu bedenken, die ein nach 1945 schnell wachsender Wohlstand und ein weitgehend ungestörter europäischer Frieden auf die Lebensvorstellungen und die Moral der Nachkriegsgenerationen in der Mitte Europas hatten.

Das Jahr 1945 markiert für Deutschland nicht nur die größte militärische und politische Niederlage seiner bisherigen Geschichte. 1945 ist auch das Jahr seiner vollständigen moralischen Kapitulation. Die Konfrontation mit den in ihrem Namen, mit ihrer Duldung und vielfach auch unter ihrer Mitwirkung begangenen Verbrechen hat bei den Deutschen kollektive Schuld- und Schamgefühle ausgelöst, die weithin verleugnet und unverstanden bis heute wirksam sind – und zwar auch bei denen, die aufgrund ihrer „späten Geburt“ frei von individueller Schuld am nationalsozialistischen Unrecht sind. Fast alle Bereiche des öffentlichen politischen und des Alltagslebens der deutschen Gesellschaft blieben nach 1945 von den Fernwirkungen des nationalsozialistischen Terrors und der von Deutschen begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit geprägt.

Insbesondere die Haltung zur Frage von Krieg und Frieden wurde zum Prüfstein des richtigen Umgangs mit den Bürden der Vergangenheit. Dies gilt sowohl für den Einzelnen, der sich persönlich etwa für oder gegen den Dienst mit der Waffe zu entscheiden hatte, aber auch für die politisch Handelnden: Während in der DDR das Dogma vom antifaschistischen Widerstand und dem „besseren Deutschland“ die vermeintlich richtige Reaktion auf das Geschehene kollektiv vorgab, rangen in der außen- und sicherheitspolitischen Arena der Bundesrepublik zunächst Neutralisten mit Atlantikern, später dann Revanchisten mit Entspannungspolitikern. Immer aber wurden die Diskussionen offen oder verdeckt im Schatten der Ereignisse von 1933 bis 1945 geführt.

Schließlich konnte die Bilanz der Zerstörung 1945 kaum deutlicher ausfallen: Mehr als 100 Millionen Opfer hatten die beiden Weltkriege gefordert und zudem unüberschaubare Verwüstungen hinterlassen, in Europa, aber auch in Japan, wo die beiden Atombombenabwürfe dem Schrecken des Krieges eine weitere Dimension hinzugefügt hatten. In den ehemaligen Kolonialreichen der Europäer, in Afrika und im Nahen Osten, hinterließen die Weltkriege ein Erbe, das mit willkürlichen Grenzziehungen, Vertreibungen und Umsiedlungen ebenso die Saat für unzählige Nachfolge-, Bürger- und Stellvertreterkriege legte wie für den Terrorismus unserer Tage. Selbst aus europäischer Sicht entlegene Gebiete in Asien sowie in Mittel- und Südamerika wurden im Zuge der neuen bipolaren Ost-West-Ordnung der Welt zum Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen.

So waren die Jahre nach 1945 nur für einen Teil der Welt eine „Nachkriegszeit“. Für die Koreaner etwa begann mit dem Koreakrieg (1950 – 1953) schon sehr bald eine neue Kriegszeit. In Europa allerdings, zögerlicher auch im weiterhin Krieg führenden Amerika, bildete sich im Gefolge von Wirtschaftswunder und Wiederaufbau ein breiter politischer Konsens aus, der von Regierenden und Regierten gleichermaßen getragen und immer wieder beschworen wurde. Zwei Weltkriege und zwei Atombomben hatten überdeutlich bewiesen, dass Krieg ein Übel darstellt, das um jeden Preis vermieden werden muss. Dies sollte für die westliche Haltung entscheidend werden. So knüpfte etwa General Dwight D. Eisenhower an die Möglichkeit eines Atomkrieges zwischen den Großmächten die Vorstellung eines „Endes der Geschichte der Menschheit“.

Zugleich zeigten das apokalyptische Grauen des Holocaust und – im kleineren Maßstab und damals am Rande der öffentlichen Aufmerksamkeit, aber in der Sache nicht minder entsetzlich – der Völkermord an den Armeniern in den Jahren 1915 und 1916 die schrecklichen Konsequenzen ideologischer Konstrukte und Weltanschauungen, die glaubten, ohne Achtung für den Wert und die Würde jedes menschlichen Wesens jenseits aller ethnischen oder religiösen Unterschiede und Zugehörigkeiten auskommen zu können.

Unter dieser Voraussetzung musste um jeden Preis verhindert werden, dass die zunehmend feindseligen und konfliktträchtigen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den Staaten des Ostblocks auf der einen sowie den USA und den westlichen liberalen Demokratien auf der anderen Seite zu einem kriegerischen Konflikt zwischen den beiden Blöcken führten, der in einen Atomkrieg münden würde und das Ende der Menschheit zur Folge hätte.

Das machte die internationale Friedenssicherung zum obersten Gebot, das in der bis heute gültigen Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta) von 1945 institutionell ausgestaltet und völkerrechtlich verbindlich wurde. Für die Außenpolitik der Bundesrepublik bildet die UN-Charta bis heute einen nicht hintergehbaren oder überschreitbaren Rahmen.

Fast gleichzeitig errichtete die internationale Gemeinschaft jedoch noch einen zweiten Rahmen vergleichbarer Art: Mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 wurden die Achtung der Menschenwürde und der Schutz grundlegender individueller Rechte zu einem obersten Gebot der internationalen Moral, dessen Erfüllung von allen Staaten kategorisch zu fordern war: „[…] einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen, [gilt] das höchste Streben des Menschen […]“, heißt es in der Präambel. Die zunächst nicht rechtsverbindliche Erklärung wurde erst 1976 mit dem Inkrafttreten der beiden internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zu positivem Recht.

Allerdings ändert selbst dieser mühsam erreichte Status juristischer Verbindlichkeit nichts daran, dass in der Praxis der internationalen Beziehungen sowohl die UN-Charta als auch die Erklärung der Menschenrechte oft zu wenig Beachtung finden. Zumindest gerät die in beiden Dokumenten zum Ausdruck gebrachte hohe Gesinnung der Vereinten Nationen immer wieder in Widerspruch zu dem, was deren Mitgliedstaaten taten und tun, um ihre machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen zu sichern. Die Liste der Verletzungen des Gewalt- und Interventionsverbots der UN-Charta seit 1945 ist lang, selbst wenn man sich auf die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats und völkerrechtlich mehr oder weniger unstrittige Fälle beschränkt. Als Beispiele seien hier die Interventionen der Sowjetunion in Ungarn (1956), in der Tschechoslowakei (1968) und in Afghanistan (1979) sowie die Interventionen der USA in Grenada (1983), Panama (1989) und Irak (2003 – 2011) genannt. Großbritannien intervenierte zusammen mit Frankreich in Ägypten (1956) und im Irak (2003 – 2009).

Die Liste staatlich betriebener und ausgedehnter systematischer Verletzungen grundlegender Menschenrechte überall auf der Welt ist noch um ein Vielfaches länger. Zu denken wäre hier beispielsweise an den „großen Sprung nach vorne“ im China Mao Zedongs. Allein im Rahmen des Fünfjahresplans zwischen 1958 bis 1962, der eine gigantische Hungersnot nach sich zog, verloren in China zwischen 15 und 45 Millionen Menschen ihr Leben. Hinzu kamen rund eine halbe Million Tote infolge der Verhaftungen und der Folter, mit der das kommunistische Regime 1956 und 1957 die Mitglieder der Hundert-Blumen-Bewegung verfolgte. Und die von Mao ausgerufene „Kulturrevolution“ forderte von 1966 bis 1976 etwa 400 000 Todesopfer und brachte millionenfach Inhaftierung und Folter mit sich.

Ebenfalls als eklatante Menschenrechtsverletzung müssen die Flächenbombardements der US-Armee gegen die Vietcong während des Vietnamkrieges gelten. Über 460 000 Tonnen Bombenmaterial, darunter das berüchtigte „Agent Orange“, wurden allein zwischen 1965 und 1967 bei insgesamt 212 000 Einsätzen abgeworfen. Geschätzt zwei bis fünf Millionen Vietnamesen, davon 1,3 Millionen Soldaten, kamen dabei ums Leben.

Und auch wenn auf dem europäischen Kontinent „Nachkriegszeit“ herrschte, war mit Frankreich eine europäische Großmacht in ausgedehnte und systematische Menschenrechtsverletzungen verwickelt: Im Algerienkrieg (1954 – 1962), ein Begriff, der von der französischen Nationalversammlung überhaupt erst seit 1999 zum öffentlichen Sprachgebrauch zugelassen ist, wurden nach Angaben der algerischen Befreiungsbewegung Front de Libération Nationale (FLN), die seit 1999 den Staatspräsidenten stellt, 1,5 Millionen Algerier verwundet oder getötet. Demografische Rückrechnungen haben eine Anzahl von 300 000 Toten ergeben, während die offiziellen Zahlen Frankreichs „nur“ 16 000 zivile algerische Todesopfer ausweisen. Rund 3 Millionen Algerier wurden vertrieben, etwa 2,3 Millionen Hektar Land enteignet.

In Indonesien kostete die Kommunistenverfolgung in den Jahren 1965 und 1966 unter dem Diktator Suharto geschätzt zwischen 500 000 und 3 Millionen Menschen das Leben. Die USA und Großbritannien unterstützten die Verfolgung. So stellten die Amerikaner eine Liste mit Tausenden Mitgliedern der verfolgten Kommunistischen Partei (PKI) zur Verfügung, halfen dem Diktator mit Waffenlieferungen. Es gab seitdem keinerlei Aufarbeitung der Verbrechen. Im Gegenteil: Überlebende PKI-Mitglieder und -Sympathisanten tragen bis heute besondere Kennzeichnungen in ihren Pässen, haben keine Bürgerrechte und wurden mit Berufsverboten belegt.

Für Südamerika schließlich sind beispielhaft die nach französischem Vorbild und mit französischer Beratung durchgeführten Verfolgungen von Regimegegnern durch die argentinische Militärjunta zwischen 1976 und 1983 zu nennen. Geschätzt 30 000 Menschen sind dort „verschwunden“.

Die Reihe ließe sich bis in unsere Tage fortsetzen. Und gerade dieser Befund spielt für die Entwicklung der moralischen Bewertung internationaler Konflikte und Beziehungen bis heute eine überragende Rolle. Er scheint auf den ersten Blick jenen Recht zu geben, die das Gebiet der Politik schlechthin zur „moralfreien Zone“ erklären. An die Stelle moralisch motivierter Empörung, wie sie etwa von Menschenrechtsorganisationen vorgetragen wird, setzen sie die empirisch vermeintlich gut abgesicherte Erkenntnis, dass neben den jeweiligen Machtinteressen der Staaten allen anderslautenden Vereinbarungen zum Trotz keinerlei sonstige Aspekte das Handeln der Verantwortlichen bestimmen – erst recht keine moralischen Aspekte. Diese als „Realismus“ bekannt gewordene Sichtweise politischer und historischer Zusammenhänge scheint plausibel. Wie für den Pazifismus der Nachkriegszeit lassen sich zahlreiche Argumente für sie vorbringen. Wie der Pazifismus zeigt jedoch auch sie von einer moralischen Perspektive aus betrachtet gravierende argumentative Schwächen, von denen später noch die Rede sein wird. Davon abgesehen müssen auch Realisten einräumen, dass sowohl die UN-Charta als auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die auf diese folgenden völkerrechtlichen Verträge zum Schutz der Menschenrechte inzwischen zu international anerkannten Maßstäben der moralischen und der rechtlichen Bewertung staatlichen Handelns geworden sind – eine Entwicklung, die beide Dokumente dann doch zu einem „realen“ Faktor der internationalen Politik macht. Sie werden in ihren öffentlichen Verlautbarungen und Stellungnahmen selbst von denen als Grundlage ihrer rechtfertigenden Selbstdarstellung in Anspruch genommen und zitiert, die sie eklatant verletzen.

Hinzu kommt ein weiterer Aspekt, der in Deutschland nach 1945 eine besondere Rolle spielte, aber darüber hinaus für alle politischen Gesellschaften von Bedeutung ist. Moralische Überzeugungen, Vorstellungen inner- und zwischenstaatlicher Gerechtigkeit sowie die Menschenrechte werden in demokratischen und nichtdemokratischen Gesellschaften zu höchst realen Faktoren der Politik. Dies haben jüngst die Aufstände des Arabischen Frühlings und deren Folgen bis hin zum Bürgerkrieg in Syrien gezeigt. Aber auch und gerade in funktionierenden Demokratien werden moralische Urteile in Form der gewährten oder verwehrten Wählergefolgschaft zu einem handfesten Faktor der Realpolitik.

Wilfried Hinsch

Über Wilfried Hinsch

Biografie

Prof. Dr. Wilfried Hinsch, geb. 1956 in Hamburg, lehrt Philosophie an der Universität zu Köln. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Politischen Philosophie, Moralphilosophie und Sozialtheorie. Er ist Herausgeber des „Handbuchs für politische Philosophie und Sozialphilosophie“. Von 2006 bis 2012...

Pressestimmen
Deutschlandfunk

„Hinsch ist überzeugt, dass es ohne die Bereitschaft, notfalls auch militärisch einzugreifen, kein friedliches Miteinander auf der Welt geben kann. ›Die Moral des Krieges‹ ist insofern auch eine Weiterentwicklung seines Buches ›Menschenrechte militärisch schützen‹, das vor elf Jahren erschienen ist.“

wasliestdu.de

„Die vielfältigen ethisch-moralischen Fragestellungen im Zusammenhang mit diesem komplexen Thema werden von den Autoren in übersichtlicher und gelungener Form dargestellt. Der Leser wird in die Argumentationskette mitgenommen - ohne zu bevormunden.“

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