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Die Kalorien-Königin

Die Kalorien-Königin

Blanca Imboden
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Roman

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Die Kalorien-Königin — Inhalt

Fettpolster? Die sollen bitte verschwinden! Männer? Die dürfen gerne bleiben, vor allem, wenn sie so knusprig sind wie die afrikanische Ferienbekanntschaft, die unverhofft vor der Haustür steht! So denkt jedenfalls die Journalistin Lucy, die mit zwei Mitbewohnerinnen in einer fröhlichen WG lebt. Sie schreibt eine wöchentliche Kolumne, ist auf Diät und berichtet in der Illustrierten über ihre Abnehmerfolge. Bald wird sie von ihren Lesern zur „Kalorien-Königin“ gekürt. Ein unbequemer Thron. Und der Afrikaner, von Lucys Mitbewohnerin angeschleppt, bringt die eingespielte Frauen-WG ganz schön durcheinander … Ein Buch voller Witz und Wärme.

€ 4,99 [D], € 4,99 [A]
Erschienen am 10.12.2013
272 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-98013-5
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Leseprobe zu „Die Kalorien-Königin“

Leseprobe


„Wer jeden Tag zehn Minuten lang herzhaft lacht, verbraucht dabei bis zu 50 Kalorien und kann im Jahr damit zwei Kilo abnehmen.“


Die Kalorien-Königin


Dieses Buch widme ich

meinem „Enkelkind“ Jebet.

Mit den Einnahmen aus dem Buchverkauf unterstütze ich auch Jebets Familie.






Ich habe viele persönliche Erlebnisse in diese Geschichte eingewoben. Schließlich nehme ich tatsächlich selber häufiger ab und zu als der Mond. In Kenia und Spanien habe ich persönlich recherchiert. Trotzdem möchte ich betonen: Diese Geschichte ist frei erfunden.

Schweiz, Ibach

Siebe [...]

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Leseprobe


„Wer jeden Tag zehn Minuten lang herzhaft lacht, verbraucht dabei bis zu 50 Kalorien und kann im Jahr damit zwei Kilo abnehmen.“


Die Kalorien-Königin


Dieses Buch widme ich

meinem „Enkelkind“ Jebet.

Mit den Einnahmen aus dem Buchverkauf unterstütze ich auch Jebets Familie.






Ich habe viele persönliche Erlebnisse in diese Geschichte eingewoben. Schließlich nehme ich tatsächlich selber häufiger ab und zu als der Mond. In Kenia und Spanien habe ich persönlich recherchiert. Trotzdem möchte ich betonen: Diese Geschichte ist frei erfunden.

Schweiz, Ibach

Sieben extra große Gartenzwerge im Multipack.

Was soll ich damit?

Tabletten in allen Farben und für jede Gelegenheit:

Sie machen aus Depressiven lustige Clowns, blasen die Müdigkeit weg oder bringen erlösenden Schlaf.

Wer kauft denn so was im Internet?

Ein Störgerät, das Mörder vom Haus fernhalten soll.

Mörder? Sicher ein Tippfehler.

Die haben bestimmt MARDER gemeint.

Ich schüttle lächelnd meinen Kopf.

Mein E-Mail-Konto ist ein Ramschladen geworden!

Heute will ein Online-Kasino mir einen Bonus offerieren.

Eine Firma möchte, dass ich ihren Blumendünger teste. Es ist verrückt!

Jeden Morgen starte ich noch im Halbschlaf meinen Computer und rufe meine E-Mails ab. Und jeden Morgen ärgere ich mich aufs Neue über die vielen Spam-Mails, die mir Möglichkeiten zur Penisverlängerung oder Rolex-Uhren aus Italien anbieten, Viagra in der Großpackung verkaufen wollen, günstige Sportsocken anpreisen oder mir erklären, dass auf dieser und jener Homepage „Susi ihre prallen Möpse tanzen lässt“.

Keine einzige persönliche E-Mail! Ich haue unfreundlich auf die Löschtaste. Lucys Ramschladen ist geschlossen.

Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass nun mein Tag irgendwie versaut ist? Genauso beginnen sie nämlich, die schwarzen Tage, an welchen die Milch im Kaffee sauer wird, das Datum des Jogurts im Kühlschrank längst abgelaufen und meine einzige Jeans, in die ich noch hineinpasse, über Nacht nicht trocken geworden ist.

Dabei liebe ich eigentlich diese frühen Morgenstunden, wenn es im Haus noch ruhig ist und ich alle Räume für mich alleine habe. Ich bin eine leidenschaftliche Frühaufsteherin. Am großen Küchentisch trinke ich schon kurz nach sechs meinen Kaffee und höre im Radio die Nachrichten. Gegen sieben Uhr kommt dann Kim heim. Sie trägt in aller Frühe in Ibach Zeitungen aus. Diesen Job, den keiner sonst haben will, nimmt sie von der sportlichen Seite. Jeden Tag versucht sie, ihre Strecke noch schneller zu bewältigen. Sie rennt oder fährt mit dem Fahrrad. Dazu hört sie Musik aus ihrem MP3-Player. Ab und zu holt sie dazu auch meinen alten VW-Golf aus der Garage. Wenn sie alle ihre Zeitungen in die Briefkästen gestopft hat, kommt sie heim, hat frische Brötchen eingekauft und bringt die Post mit hoch. Ein wunderbarer Service. Meist kriecht dann auch Laura aus dem Bett, noch nicht richtig wach und schlecht gelaunt. Aber das tragen wir mit Fassung. Laura arbeitet in unserem Einkaufszentrum als Friseurin und muss erst um neun anfangen.

Ich werfe die Kaffeemaschine an und hole mein Light-jogurt aus dem Kühlschrank. Lustlos stochere ich mit dem Löffel darin herum. Es ist so unglaublich farb-, geschmack- und kalorienlos. Ja, ich versuche wieder einmal, mein Übergewicht loszuwerden. Wie immer im Frühling. Und im Sommer. Und überhaupt. Wenn ich so zurückblicke, dann scheint mein Leben eine einzige Abfolge von Diäten zu sein.

Laura kann darüber nur lachen.

„Du bist wie der Mond“, meinte sie neulich zu mir, „du nimmst ständig ab und zu.“ Es ist wirklich ärgerlich, dass meine beiden Mitbewohnerinnen so schlank sind. Schlank, jung und hübsch. Das ist nicht immer leicht zu ertragen.

Schnell, bevor es jemand sieht, mische ich zwei Löffel Zucker in das Jogurt und garniere mein Werk mit zwei Löffeln der selbst gemachten Traubenmarmelade, die uns Kims Mutter geschenkt hat. Jetzt sieht das Ganze schon besser aus. Dazu eine Prise Zimt. Lecker! Von null auf über hundert Kalorien in wenigen Sekunden. Das ist für mich eine leichte Übung.

Warum wird es heute eigentlich nicht hell?

Ich strecke vorsichtig meinen Kopf zum Fenster raus und sehe, dass sich über den Mythen, unseren Hausbergen, riesige Wolken auftürmen. Schwarze Wolkenwände schieben sich von Einsiedeln her zu uns rüber. Es braut sich ein böses Gewitter zusammen. Das Donnergrollen wird immer lauter und kommt bedrohlich schnell näher. Der Wind rüttelt an den Fensterläden. Ich denke an Kim, die ihre Tour hoffentlich noch schafft, bevor es anfängt zu regnen.

Zu spät!

Ich schließe die Fenster, und schon peitschen die ersten Regentropfen an die Scheiben.

Ein Scheißtag.

Das hab ich doch gleich gespürt.

Aus dem Radio versucht Carlos Santana, mich mit vollem Einsatz aufzumuntern. Er lässt seine Gitarre wunderbar melodiös und gefühlvoll jaulen. Ich setze mich an den Küchentisch und lege meine Füße hoch. Immerhin gehört es mir, das Haus, inklusive Küchentisch. Dieses Gefühl genieße ich ab und zu ganz bewusst. Ich lasse mich von Santanas Musik einlullen und leiste mir Erinnerungen an bessere Zeiten. Gerade als sich in mir ein Gefühl wohligsten Wohlbehagens breitzumachen beginnt, rumpelt Kim die Treppe hoch.

„So ein Sauwetter“, schimpft sie und schüttelt sich wie ein nasser Hund. „Fehlt jetzt nur noch, dass ich böse Anrufe bekomme, weil ein paar Zeitungen nass geworden sind. ICH bin nass geworden! Und wie!“

Sie schimpft wie ein Rohrspatz, und dabei rinnt das Wasser aus ihren dunklen Haaren, die in ungewohnt hässlichen Strähnen herunterhängen.

„Kann man sich denn auf keinen Wetterbericht mehr verlassen?“ Sie schubst meine Füße vom Tisch und knallt mir Post und Zeitungen vor die Nase. Und die frischen Brötchen, die ich doch eigentlich von meinem Speiseplan gestrichen habe, duften mir verlockend entgegen.

„Ich ziehe mir schnell trockene Sachen an. Machst du mir schon einen Kaffee?“ Weg ist sie.

Kim ist natürlich nicht wirklich eine richtige, echte Zeitungsausträgerin aus Leidenschaft. Sie ist Pianistin. Kim hat Musik studiert und sogar einen Abschluss als Klaviersolistin gemacht, nur um dann am Ende festzustellen, dass eigentlich niemand auf sie gewartet hat, dass es tausend andere und bessere Pianisten gibt, die sich um Ruhm und Ehre prügeln. So ging sie den Weg, den die meisten Musiker irgendwann gehen, freiwillig oder nicht: sie fing an zu unterrichten.

Aber sie hielt das nicht durch. Sie konnte nicht so viele Schüler annehmen, dass sie wirklich davon hätte leben können. Das hielten ihre Nerven nicht aus.

„Ich muss mir einen neuen Job suchen“, erklärte sie mir eines Tages unter Tränen. „Heute saß ein blond gelocktes Engelchen von acht Jahren neben mir auf der Klavierbank. Ein wirklich süßes Kind. Und ich hätte es beinahe erwürgt, bloß weil es falsch gespielt hat. Ich konnte mich nur mit großer Mühe zurückhalten. Meine Güte: Tine kann nach einem Jahr Unterricht noch keine einzige Melodie im Rhythmus spielen! Ich würde bestimmt vor jedem Gericht mildernde Umstände bekommen, oder?“

Kim war völlig aufgelöst, lachte und weinte gleichzeitig.

Inzwischen hat sie ihr Leben wieder im Griff. Sie hat ihr Unterrichtspensum verkleinert und trägt dafür frühmorgens Zeitungen aus. Zwischendurch lässt sie sich von kleineren Orchestern als Solistin buchen oder begleitet andere Musiker.

Sicher eine ungewöhnliche Frau, aber sind wir nicht alle etwas eigenartig?

Jedenfalls in diesem Hause?

Könnten wir sonst zusammenwohnen?

Und dies schon seit drei Jahren?

Ich decke also den Tisch und hole all die leckeren Sachen aus dem Kühlschrank, die ich eigentlich ignorieren wollte: Nutella, Honig, Butter, Leberwurst, würzigen Käse. Da liegen sogar noch ein paar alte Scheiben Salami herum. Hmm! Es geht einfach nichts über ein ausgiebiges Frühstück.

Noch während Kim unter der Dusche steht, höre ich Lauras Wecker klingeln. Klingeln, das ist vielleicht das falsche Wort. Sie hat ihren Wecker so programmiert, dass sie jeden Morgen mit dem kenianischen Lied „Malaika“ geweckt wird.

Wie bereits gesagt:

Wir sind ein komischer Haufen.

Auch Laura hat ihre Ticks. Sie schwärmt für Kenia und war schon achtmal dort, dabei ist sie erst fünfundzwanzig Jahre alt! Als blonde Schönheit ist sie in Afrika eine Attraktion. Sie scheint dies jeweils sehr zu genießen und hat wohl schon einige Männerherzen gebrochen. Laura liest jedes Buch über Kenia und Afrika. Wenn im Fernsehen ein Film über Afrika gezeigt wird, dann haben wir keine Chance, etwas anderes zu sehen. Ihr Zimmer ist vollgestopft mit Souvenirs, von der Holzgiraffe über Massai-figuren bis zur CD-Sammlung mit afrikanischer Musik. Der Teppich hat ein Löwenmuster, und ihre Bettwäsche ist mit Geparden bedruckt. Ihre Yukkapalmen verstärken das afrikanische Ambiente. Fehlt nur noch ein Affe, der im Zimmer herumturnt. Sogar als Handysignal ertönen Buschtrommeln.

Lauras Tag fängt also einmal mehr mit „Malaika“ an. „Engel“ heißt das in Suaheli. Ja, wir lernen viel von ihr, unfreiwillig, versteht sich. „Malaika“ können wir jedenfalls schon vorwärts und rückwärts pfeifen.

So sitzen wir mal wieder gemeinsam beim Frühstück. Laura hat sich in bunte afrikanische Tücher gehüllt und blinzelt mit ihren blauen Augen aus dem leicht verquollenen Gesicht. Kim trägt einen Pyjama, weil sie sich nach dem Frühstück noch einmal ein paar Stunden Schlaf gönnen wird.

Die Zeitung wird in Teile zerlegt, und schnell findet Laura die neusten Nachrichten aus Kenia. Empört liest sie uns vor, dass Kenia nun die versprochenen fünf Millionen Euro Aufbauhilfe von verschiedenen Gebernationen nicht erhalte, weil der neue Präsident Kibaki seine Wahlversprechen breche.

„Er ist genauso korrupt, wie es der alte Präsident schon war. Es ist wirklich traurig. Am Anfang sah alles so gut aus. Das ganze Land war in Aufbruchstimmung. Alle hofften auf bessere Zeiten. Jetzt macht Kibaki einfach genau dort weiter, wo der alte Sack, der Moi, aufgehört hat.“

Wir horchen auf und sind mit entrüstet. Immerhin fühlen wir uns langsam selber, als wären wir halbe Kenianer. Zwangsläufig fühlen wir uns mit dem fernen Land immer mehr verbunden.

„Ha!“, schreit Kim, die gerade im Kulturteil einen riesigen Artikel über ihren Exfreund entdeckt hat, mit vollem Mund.

„Schaut ihn euch mal an!“

Sie zeigt sein großes Bild in die Runde. Nun, er sieht gut aus, der Rockmusiker, mit wallendem Haar, den obligaten Tätowierungen und in der unabdingbaren Lederkluft. Ein knackiger Kerl. Doch Kim ist nur voller Spott und Hohn:

„Wie cool er aussieht, der kommende Star. Wenn DIE wüssten! Schade, dass ich keine Videoaufzeichnung von unserem letzten Streit habe. Die könnte ich jetzt vergolden. Damals ging es um seine kostbaren Alpakasocken. Ich hatte sie in der Maschine gewaschen. Ein Skandal! Barbarei! Ich hätte sie von Hand und mit Liebe im lauwarmen Wasser mit Haarwaschmittel zart kneten und wenden müssen. Und jetzt macht er auf Rockstar.“

Laura und ich schauen uns an und versuchen, das Lachen zu verkneifen. Kim rastet selten so aus. Und wenn, dann ist es immer dieses eine Thema: Mario, ihr Exfreund, der ihr GAR NICHTS MEHR bedeutet.

„Jetzt hat er für seine neue CD einen Preis gewonnen. Newcomer des Jahres. Wie hat er es bloß geschafft, mit den drei Harmonien, die er auf der Gitarre spielen kann, eine ganze CD zu füllen?“

Inzwischen lachen Laura und ich aus ganzem Herzen. „Und glaubt ja nicht, dass seine Tätowierungen echt sind. Mario würde sich doch nie im Leben freiwillig Schmerzen zufügen lassen. Nein, er hat sich die Tattoos alle aufmalen lassen. Er ist ein elendes Weichei“, ereifert sich Kim weiter.

„Was um alles in der Welt sind Alpakasocken?“, prustet Laura, und ein bisschen Kaffee rinnt aus ihren Mundwinkeln.

„Ein Alpaka ist eine Lamaart, so eine Mischung aus Schaf und Kamel. Es hat eine ganz besondere Wolle, die gut wärmt, weil sie so fetthaltig ist, und die Wolle ist total weich“, klärt Kim uns leicht pikiert auf.

Ich sag’s doch immer: So eine Wohngemeinschaft ist ungemein bereichernd und bildend. Wir lernen voneinander, Tag für Tag. Hätte ich noch ein paar Untermieterinnen mehr, könnte ich sicher bald in jeder Quizshow im Fernsehen mitmachen. Aber auch so profitiere ich von meinen Mitbewohnerinnen. Schließlich bin ich Journalistin von Beruf. Ich habe in der Illustrierten FRAUEN POWER eine feste monatlich erscheinende Kolumne. Das Alpakatier wird da ganz bestimmt einmal drin vorkommen. Auf der Suche nach Themen, über die ich mich schriftstellerisch hermachen könnte, sind mir Kim und Laura immer behilflich, meist unbewusst und unfreiwillig.

Natürlich lebe ich nicht von der monatlichen Kolumne. Ich bin freie Mitarbeiterin bei vier verschiedenen Illustrierten und einer Tageszeitung. Darum bin ich immer so früh auf und rufe meine E-Mails ab. Manchmal warte ich auf Aufträge. Meist kommen dann alle zusammen.

Aber ich bin in einer sehr privilegierten Position: Ich habe ein eigenes Haus und ein wenig Vermögen geerbt. Ich brauche also nicht in Panik auszubrechen, wenn ich eine Weile keine Arbeit habe. Geld beruhigt ungemein. Ich werde meiner Patentante für immer dankbar sein, dass sie mich in ihrem Testament so großzügig bedacht hat. Deshalb lasse ich den Kontakt zu ihr auch nach ihrem Tode nicht abreißen. Wir sind immer im Gespräch. Tante Thea weiß alles über mich. Ich bin überzeugt, dass sie voller Wohlwollen auf unsere lustige Wohngemeinschaft hinunterschaut. Das hätte sie sicher selber gerne gehabt, so eine Weiber-WG.

Allerdings muss man auch einiges einstecken können in so einer Frauengemeinschaft. Gerade jetzt, wo ich meinen Gedanken nachhänge, liest Laura Kim aus der neuen Ausgabe von FRAUEN POWER meine Aprilkolumne vor. Und dabei lachen sie über mich oder über meine Zeilen. Es ist mir immer irgendwie unangenehm, dabeizusitzen, wenn sie sich über meine Texte auslassen. Ich fürchte mich vor ihren direkten, ungeschönten Kommentaren. Es steckt meist viel Herzblut in den Zeilen. Manchmal sind es allerdings auch lieblose, in Not und Verzweiflung herausgequetschte Kolumnen. Aber diese hier finde ich selber ganz gelungen:


Ein neues Sommerkleid

Bald beginnt der Frühling, und ich drehe mich übermütig in meinem liebsten Sommerkleid vor dem Spiegel. Es ist natürlich noch viel zu kalt für Sommergarderobe. Aber ein wenig träumen wird man ja wohl dürfen. Außerdem habe ich so meine Befürchtungen, und ein kritischer Blick in den Spiegel gibt mir recht:

Ich habe zugenommen!

Nein, ich bin gar nicht zufrieden mit dem, was ich da sehe:

Das Kleid spannt hinten und vorne, und auch an der Seite fällt der blumige Stoff nicht locker, sondern klebt sich meinen Speckröllchen entlang nach unten.

Von wegen „figurumspielend“!

Ich sehe darin aus wie eine Wurst. Hat sich der Winterspeck nun tatsächlich in Frühlingsrollen verwandelt?

Ich habe einfach kein Durchhaltevermögen mehr, wenn es um Diäten geht. Zu oft habe ich schon ab- und zugenommen. Meine Freundinnen lachten neulich und meinten: „Du bist schon wie ein Mond. Bald werden die Holzer ihre Bäume nach deinem Diätkalender schlagen. Und die Gärtner rufen dich vorher an, wenn sie etwas pflanzen wollen.“

Sie sind manchmal wirklich böse, meine Freundinnen, und sie sind schlank.

Wie werde ich also meine Kilos los? Fettabsaugen, das sah im Fernsehen neulich sehr hässlich aus. Appetitzügler machen mich immer so aggressiv. Kohlsuppe kann ich schon lange nicht mehr riechen. Für ein operativ eingesetztes Magenband bin ich (noch) zu schlank. Einen Bandwurm möchte ich auch nicht unbedingt schlucken.

Meine Nachbarin Edith gab mir gestern eine CD. Damit habe sie selber ganz einfach abgenommen.

„Soll ich sie essen oder daran lecken oder sie unters Kopfkissen legen?“, fragte ich mit einem gequälten Lächeln, innerlich ziemlich genervt.

Nein, das sei eine Meditations-CD. Diese werde mein Unterbewusstsein umprogrammieren.

Das Unterbewusstsein umprogrammieren? Das klingt doch phantastisch!

So eine Umprogrammierung erscheint mir wesentlich bequemer als Hungern oder Joggen. Nachbarschaftshilfe ist wirklich etwas ganz Feines.

Danke, liebe Edith!

Vor dem Einschlafen würge ich also die kleinen Kopfhörer in meinen Gehörgang und starte die Umprogrammierungs-CD. Zuerst plätschert Musik. Leises Geklimper auf einem billigen Keyboard. Beruhigende Streicher im Hintergrund. Eine tiefe, warme, männliche Stimme begrüßt mich. Nach ein paar Atemübungen liege ich schon entspannt da, bereit für alle Umprogrammierungen der Welt.

„Holen Sie sich jetzt ein Glücksgefühl aus Ihrer Erinnerung. Lassen Sie sich dafür einen Moment Zeit. Versuchen Sie sich an ein besonderes Glücksgefühl zu erinnern, an einen unvergesslichen Moment. Dieser kann auch bereits etwas weiter zurückliegen. Denken Sie ganz fest daran, und kosten Sie das Gefühl aus, halten Sie es eine Weile fest.“

Ein Glücksgefühl?

Ich war schon oft glücklich.

Wie soll ich mich so schnell entscheiden? Aber ich darf mir ja Zeit nehmen. Immerhin bin ich an einem Sonntag geboren. Wie sagt meine Mutter so schön: „Sonntagskinder haben immer Glück.“ So war es eigentlich auch.

Und so ist es noch immer.

Ich glaube, mein größtes Glück ist eine Art innere Zufriedenheit; die Tatsache, dass ich gar kein so großes Glück brauche, um glücklich zu sein. Wenn beispielsweise die Sonne auf meinen Balkon scheint und ich mit einem dicken Buch in der Hängematte liege, dann ist das für mich ein perfekter Moment. Mit meinen Freundinnen einen Abend lang nur zu reden und dabei Zeit und Raum zu vergessen, das sind glückliche Stunden.

Mehr brauche ich nicht.

Glücksgefühle besonderer Güte hatte ich im Herbst, als ich mit eigener Kraft den Großen Mythen bezwungen hatte und oben auf dem Gipfel stand, erschöpft und stolz. Manchmal reicht auch ein schöner Song im Radio, der mich an besondere Zeiten erinnert, um mich einen Augenblick lang glücklich zu machen. Manchmal, ich geb’s zu, macht mich auch ein riesiges Stück Schwarzwälder Torte glücklich.

Was?

Jetzt ist doch die CD fertig!

Die haben einfach mit der Umprogrammierung ohne mich weitergemacht, während ich noch voll mit meinen Glücksgefühlen beschäftigt war!

Aber ich liege nun völlig entspannt im Bett. Es hat mir gutgetan, mich darauf zu besinnen, was für ein glücklicher Mensch ich eigentlich bin, und mir wird schlagartig klar, wie unwichtig meine überflüssigen Pfunde im Grunde genommen sind.

Ich werde mir morgen ein neues Sommerkleid kaufen. Aber nur so nebenbei und für alle Fälle:

Wo bekommt man eigentlich Bandwürmer?


„Schreiben kann sie wirklich, unsere Lucy“, lacht Kim und beißt gut gelaunt in ein Nutella-Brötchen. „Ich werde in Zukunft unsere Post mit besonderer Vorsicht sortieren. Vielleicht meint ja irgend so ein abgedrehter Fan, er müsse dir Bandwürmer schicken. Wäääh!“

Laura legt entrüstet ihr Leberwurstbrot auf den Teller zurück. Ihr ist der Appetit vergangen.

„Und das mit dem Mond“, amüsiert sich Kim unbeirrt weiter, „das wirst du wohl noch häufiger zu hören bekommen.“

„Na ja, ich denke kaum, dass mir die Nachbarn über den Gartenzaun zurufen werden, ob ich denn nun gerade abnehmend oder zunehmend sei, denn sie wüssten gerne, ob sie ihren Rasen schneiden könnten“, kontere ich.

Wir lachen alle.

„Das war von mir“, betont Laura und stochert mit ihrem Zeigefinger Luftlöcher in meine Richtung. „ICH habe das mal gesagt, das mit dem Mond. Du müsstest mir eigentlich einen Teil deines Zeilengeldes abtreten.“ Wenn DIE wüssten, wie oft ich ihnen schon Zeilengeld hätte abtreten müssen …

Ja, das sind sie eben, die Glücksmomente. So ein Frühstück im Trio, das kann unglaublich wohltuend und belebend sein.

„Ich muss los, unter die Dusche“, schreckt Laura plötzlich auf. Sie braucht sehr lange, bis sie morgens schön genug ist, um das Haus verlassen zu können. Deshalb rennt auch Kim davon, um vorher noch kurz etwas aus dem Badezimmer zu holen.

Laura hat ihre eigenen Morgenrituale. Sie kämmt das Haar zuerst nach rechts, dann nach links, um es schließlich doch als Turmfrisur hochzustecken oder hinten zusammenzubinden oder vielleicht einfach lose um ihr Gesicht wallen zu lassen. Mit Lack und Gel wird die jeweilige Frisur fixiert. Dann malt sie sich sorgfältig an. Das sei Pflicht in ihrem Job, meint sie. Wenn Laura dann endlich das Bad verlässt, ist meist der ganze Raum eingenebelt in eine Wolke aus Parfüm und Haarspray.

Es ist ein Wunder, dass das Badezimmer nicht viel öfter Streit und Ärger hervorruft. Immerhin gibt es im zweiten Stock eine zusätzliche kleine Toilette, die wirklich echte Notfälle gar nicht aufkommen lässt.

Ich räume die Küche auf und höre Laura unter der Dusche irgendetwas Afrikanisches singen. Dazu macht Kim auf dem Klavier ein paar Arpeggioübungen, bevor sie schlafen geht.

Ein ganz gewöhnlicher Tag in unserer ungewöhnlichen Wohngemeinschaft hat begonnen.

Ein paar Stunden später klingelt das Telefon. Ich bin ganz froh darüber, habe ich doch gerade brütend über meinen Computertasten gesessen, ohne dass mir irgendwelche schlauen Zeilen in den Sinn gekommen wären. Es ist der Chefredakteur von FRAUEN POWER. Ich schnelle von meinem Stuhl hoch und stehe stramm, wie eine Soldatin. Noch nie hat er mich persönlich angerufen.

„Wann hätten Sie denn Zeit, mal in der Redaktion vorbeizukommen? Ich möchte Sie gerne persönlich kennenlernen. Ich hätte heute Nachmittag frei. Ich möchte mit Ihnen auch über Ihre letzte Kolumne sprechen.“

Er will mich kennenlernen?

Und mit mir reden?

Wozu denn das?

Bisher funktionierte es doch recht gut mit uns, per E-Mail. Ein männlicher Chef einer Frauenzeitschrift ist mir ohnehin suspekt. Da würde ich ganz gerne auf Distanz bleiben. Der Kontakt mit seiner Sekretärin reicht mir völlig.

„Ich könnte so um sechzehn Uhr bei Ihnen sein“, höre ich mich sagen.

Das findet der Boss perfekt. Schon habe ich eine Verabredung, und die Telefonleitung ist tot, keine Chance mehr für einen Rückzieher.

Ich bin verwirrt und verunsichert. Immerhin ist FRAUEN POWER mein liebster Arbeitgeber. Dort bekomme ich meist alle Freiheiten, die ich brauche. Man gibt mir ein Thema und überlässt mir dann die Umsetzung.

Also was will er nun von mir, der Chef, persönlich?

Mich befördern?

Mich bevormunden?

Mich beleidigen?

Ich suche mir im Internet einen Zugfahrplan. Mit dem Auto fahre ich nicht gerne nach Zürich. Ich bin halt ein Landei.

Und dann die große Frauenfrage:

Was ziehe ich an?

Als Kim das Haus verlassen will, um zu ihren Klavierschülern zu fahren, drehe und wende ich mich gerade vor dem Spiegel. Sie lacht mich aus.

„Spielst du jetzt deine eigene Kolumne nach? Was hast du vor?“

„Ich habe heute eine Vorladung bei meinem Chef in Zürich.“

„Viel Glück!“, wünscht sie, rauscht davon und lässt mich alleine mit meinen Problemen.

Mein Spiegel ist gnadenlos: Er zeigt mir ohne Mitgefühl, dass mein Übergewicht inzwischen nicht mehr mit schwarzen Kleidern oder längsgestreiften Mustern getarnt werden kann. Ich werde mich also in meine alten Jeans quetschen, voller Vertrauen in die zuverlässige Arbeit der Levis-Mitarbeiterinnen. Dazu trage ich ein T-Shirt und eine mordsmäßig große, lange Jacke, alles in unauffälligen Farben, versteht sich.

Und meine Haare!

Gut, ich muss immerhin nicht lange überlegen, welche Frisur ich zu welchem Anlass tragen möchte. Ich habe einfach Haare, weder kurz noch lang. Ich werde sie mit Gel etwas frecher frisieren. Das war’s.

Nein, mit meinem Äußeren werde ich bei meinem Chef wenig Punkte holen können. Und wenn ihm schon meine Aprilkolumne nicht gefällt, die zweifellos eines meiner gelungensten Werke ist, dann werde ich ohnehin einen schweren Stand haben. Ich werde also meinen Charme einsetzen und mit meiner Intelligenz brillieren müssen. Das kann anstrengend werden!

Auf dem Weg nach Zürich stehen meine Gedanken nicht still. Ich bin ernsthaft beunruhigt. Ich war doch gerade jetzt so richtig schön zufrieden mit meinem Leben. FRAUEN POWER vermittelte mir interessante Jobs und Themen und gab mir trotzdem das Gefühl, frei und ungebunden zu sein.

Für mich kann dieses Gespräch gar keine Verbesserung der Situation bringen.

Elmar Grün heißt mein Chef bei FRAUEN POWER. Seine junge, blonde Sekretärin, die ein knallgrünes Stretchkleid trägt, welches ich bestimmt zum Platzen bringen würde, lässt mich sofort zu ihm durch. Er kommt mir entgegen, locker und aufgekratzt. Mit seinen langen Haaren hat er wohl versucht, ein wenig davon abzulenken, dass er als Mann hier eigentlich fehl am Platze ist. In seinem Leinenanzug mit T-Shirt sieht er allerdings wirklich gut aus. Eigentlich ist er genau mein Typ, stelle ich mit Schrecken fest. Vielleicht nur ein paar Jahre zu jung.

„Lucy, schön, dass wir uns endlich kennenlernen“, sagt er und strahlt mich an. „Ich freue mich immer, Ihre Texte zu lesen. Gerade Ihre letzte Kolumne war wieder unglaublich amüsant.“

Dabei hört er nicht auf, meine Hand zu schütteln und seinen Blick in meinen zu bohren.

Mit einem Schlag fällt alle Nervosität von mir ab. Ich erkenne sofort, wenn sich einer bei mir einschleimen will. Und hier ist das eindeutig so. Das kann nichts anderes heißen, als dass ER etwas von MIR will. Ich lehne mich also entspannt in meinem Stuhl zurück. Elmar dagegen scheint immer nervöser zu werden. Was kann er bloß von mir wollen? Plötzlich schaut er mich ernst an und fragt:

„Wie viel Übergewicht haben Sie eigentlich?“

Ich bin platt. Fast verschlucke ich mich an meiner eigenen Zunge, kann sie aber doch im letzten Moment wieder an die richtige Stelle zurückhusten.

Bestimmt habe ich mich verhört.

Und wenn nicht: Was soll das?

Kann er nur noch schlanke Frauen beschäftigen, weil sonst das Image seiner trendigen Zeitschrift leidet?

Ist er so nervös, weil er mich nun entlassen muss, es aber eigentlich gar nicht möchte?

„Wie bitte?“, frage ich schließlich, und mein Gesicht ist sicher ein einziges Fragezeichen.

Jetzt lacht Elmar nervös.

„Ich bin so etwas von ungeschickt und falle oft einfach mit der Tür ins Haus, wenn ich nicht weiß, wie ich vorgehen soll. Bitte entschuldigen Sie mich. Es ist mir wirklich ein Rätsel, wie ich hier Chefredakteur werden konnte, mit meinem Talent für Diplomatie.“

Nette Worte. Aber das große Fragezeichen in meinem Gesicht bleibt. Und in meiner Magengrube breitet sich langsam Ärger aus, ziemlich heftiger sogar. Aus dem Alter bin ich raus, wo ich mich von einem Lümmel im Chefsessel beleidigen lasse. Ein Auge macht sich schon selbstständig und peilt einen dicken, großen Briefbeschwerer an, einen Igel aus Bleikristall. Eine Hand überlegt sich gerade ernsthaft, ob man diesen nicht ergreifen könnte. Vor meinem geistigen Auge sehe ich bereits Blut über Elmars kostbaren Leinenanzug tropfen.

Elmar fängt an zu stottern: „Bitte verzeihen Sie mir … lassen Sie mich erklären … bitte geben Sie mir noch eine Chance. Es geht um Folgendes: Der Frühling beginnt, und ich weiß, das ist DIE Jahreszeit, wo sich die meisten Frauen mit ihrer Figur beschäftigen und wo das Interesse an Diäten aller Art am größten ist.“

Wem sagt er das.

„Nach Ihrer letzten Kolumne dachte ich, dies sei vielleicht ein Thema, das Sie interessiert. Unsere Leser haben sehr positiv auf Ihre originelle Art, mit dem heiklen Thema umzugehen, reagiert. Ich habe da so eine Vorstellung: Wir würden Ihnen helfen abzunehmen, und Sie würden uns jede Woche eine Kolumne dazu liefern, über Ihre Erfolge, Misserfolge, Tiefs und Hochs und so weiter. Dies wäre natürlich alles sehr persönlich, zugegeben. Und dazu mit einem Foto.“

Okay, er hat sich in letzter Minute gerettet.

Hirn an Hand: Igelattacke abgeblasen.

„Können Sie mir das noch genauer erklären? Vor allem das mit dem Helfen“, frage ich, und meine Nase rümpft sich automatisch ein wenig. „Sie wollen mich doch hoffentlich nicht höchstpersönlich über die Finnenbahn jagen, Tag für Tag? Oder mich in eine Hungerklinik stecken, wo man viel bezahlt und nichts zu essen bekommt?“

„Wir haben einen guten Inserenten, die Firma SN, Slim Now. Das ist ein Weltkonzern, von dem Sie sicher auch schon gehört haben. Wir würden Sie gerne dort anmelden. Sie gehen zu den wöchentlichen Treffen, stellen Ihre Ernährung um und nehmen ab.“

In meinem Kopf arbeitet es wie wild. Wie gerne würde ich endlich abnehmen. So eine Kolumnenserie wäre natürlich ein großartiger Ansporn, es auch tatsächlich zu schaffen. Und von den SNs habe ich schon sehr viel gehört. Ihre Art abzunehmen erscheint mir vernünftig. Allerdings graust es mir vor Gruppentreffen im Stil von Selbsthilfegruppen. Gemeinsames Jammern und gegenseitiges Bemitleiden, das ist eigentlich nicht mein Ding. Und ist so eine Kolumnenserie über mich nicht ein wenig Big-Brother-Niveau?

Seelenstriptease?

Es wird schon sehr persönlich, das Ganze.

„Wir würden Ihnen ein üppiges Spesenbudget zur Verfügung stellen. Natürlich nicht für Schwarzwälder Torten, aber für den Besuch von Fitnesscentern, Hallenbädern, SN-Produkten und so weiter.“

„Das klingt alles interessant und verlockend, doch jetzt kommt das große ABER: Was, wenn ich keinen Erfolg habe? Was wird Ihr Inserent sagen? Ich kann Ihnen keine Erfolgsgarantie geben und SN bestimmt auch nicht.“

„Nun, SN ist immerhin so von ihrem System überzeugt, dass sie Ihnen eine Erfolgsprämie von 200 Franken pro abgenommenes Kilo anbietet. Dies nebst unserem üblichen Honorar und dem unüblichen Spesenrahmen.“

Das klingt für mich zwar eher so, als wären sie nicht allzu sehr von ihrem System überzeugt und müssten mich um jeden Preis dazu bringen, mitzumachen und vor allem dabeizubleiben. Meine leicht eingerostete innere Rechenmaschine fängt an zu rotieren: fünfzehn Kilo Übergewicht, dreitausend Franken. Könnte ich nicht locker zwei Kilo pro Woche abnehmen? Dazu die wöchentliche Kolumne, allerdings größer als die monatliche. Ich könnte tatsächlich reich UND schlank gleichzeitig werden.

Elmar Grün und ich, wir diskutieren noch eine Weile hin und her. Alle Wenn und Aber werden abgewogen. Er hat sogar einen Vertrag vorbereitet. Darin gibt es keine Klauseln für den Fall, dass ich nicht abnehme. Ich muss mich zuerst einmal nur für drei Monate verpflichten. Dann wird neu verhandelt. Das Angebot scheint mir rundum verlockend. Natürlich unterschreibe ich den Wisch nicht hier und jetzt. Dafür bin ich eine zu alte Häsin und ein zu oft gebranntes Kind.

„Wir würden die Serie gerne am 2. Mai starten. Ihr erstes Treffen wäre am 5., an einem Donnerstag, in Luzern. Davor möchten wir Sie noch wiegen, ausmessen und fotografieren. Also entscheiden Sie sich bitte schnell.“

„Aber ja. Morgen haben Sie meine Antwort.“

„Und wie viel Übergewicht haben Sie nun?“, getraut er sich wieder zu fragen.

„Locker fünfzehn Kilo.“

Elmar Grün muss schlucken.

„Da bin ich ja total gespannt, wie Sie ohne diese Kilos aussehen werden.“

„Ich auch.“

Dann bin ich entlassen, nach einem freundlichen Händedruck und ein paar netten Worten. Ich stehe auf der Straße, mitten in Zürich, und weiß nicht so recht, ob ich lachen oder weinen soll. Vielleicht war das der Start zu einem neuen Leben?

Oder habe ich mich verkauft?

Teuer genug?

Wie in Trance fahre ich im Zug heimwärts. Ich gestatte mir ein trockenes Salamisandwich und kaue genüsslich darauf herum, als wäre es mein allerletztes. Städte und Dörfer ziehen an mir vorbei, und in mir überschlagen sich die Gedanken. Schließlich zupfe ich meinen MP3-Player aus der Handtasche und dröhne meine Ohren mit Santana voll. Das tut mir gut.

Hoffentlich sind meine Freundinnen daheim. Es gibt Zeiten, da braucht man seine Freundinnen, sind sie auch noch so schlank.

Ja, sie sind daheim. Ich bin unglaublich froh.

„Kim, Laura, ich muss euch etwas erzählen!“, platze ich heraus, kaum habe ich die Küche betreten, wo die beiden zusammen ein Glas Wein trinken.

„Du hast dich in den Chefredakteur verliebt?“, wagt Kim zu raten.

„Du bist selber Chefredakteurin geworden?“, gibt Laura ihren Tipp ab.

„Du bist schwanger?“, spekuliert Kim und lacht dabei.

Aber dann erzähle ich, sprudle mit meinen Neuigkeiten heraus, berichte jedes Detail, und die beiden sind ziemlich überrascht.

„Das ist doch eine großartige Chance“, meint Kim.

„Endlich wird aus dem hässlichen Entlein wieder ein Schwan“, textet Laura.

Und sie lachen und kichern, meine schlanken Freundinnen.

Nur ich bleibe ernst.

„Hei, ihr beiden. Ich mache das. Okay. Aber nur, wenn ihr mir versprecht, mich zu unterstützen.“

Sofort nicken beide.

„Wir müssen die Einkäufe trennen. Den Kühlschrank unterteilen. Ich brauche ein eigenes Fach im Küchenschrank. Ich will von euch nicht ein einziges Mal in Versuchung geführt werden. Im Gegenteil. Kann ich mich auf euch verlassen?“

Wir reichen uns die Hände wie zu einer großen Verschwörung.

„Reich und schlank“, sagt Kim feierlich, und wir wiederholen den „Schwur“ und trinken dann ein Glas Wein auf unser „Bündnis“.

Reich und schlank.

Könnte ich wählen, wäre mir schlank wesentlich wichtiger. Ich kann mich schließlich noch gut erinnern, wie ich mich in Kleidergröße 36 gefühlt habe: attraktiv und sexy und unschlagbar. Ich hatte herrliche Kleider. Nie habe ich so viel Zeit vor dem Kleiderschrank oder dem Spiegel verbracht wie heute. Das Leben war einfacher. Ich war nicht nur attraktiver, sondern auch aktiver. Wie in einem Teufelskreis bewegt man sich mit zunehmendem Übergewicht immer weniger. Auch habe ich schon lange keine Lust mehr, schwimmen zu gehen. Wen wundert’s.

„Pass auf, dass dich die Umweltschützer nicht ins Wasser zerren, wenn du am Strand liegst, weil sie denken, du wärst ein gestrandeter Wal“, musste ich mir mal von einem guten Freund anhören. Er fand es natürlich witzig und hatte es „nicht so gemeint“.

Warum sagen viele Leute immer Dinge, die sie „gar nicht so meinen“?

Außerdem ist der Witz so alt, dass er bereits schimmelt.

Aber unter uns: Ich fühle mich oft wie ein gestrandeter Wal …

Und jetzt soll aus dem Wal ein Goldfischlein werden?

Ich verbringe eine unruhige Nacht, gequält von konfusen Träumen, und stehe richtig gerne am Morgen wieder früh auf. Längst erwache ich ohne Wecker jeweils um sechs Uhr. Meine Patentante sagte immer: „Der frühe Vogel fängt den Wurm.“

Ich unterschreibe den Vertrag und beschließe, ihn gleich selber zur Post zu bringen. Durch den kühlen Aprilmorgen zu spazieren, ist erfrischend und belebend. Die klare Morgenluft macht meinen Kopf frei. Es wird langsam hell. Die immer noch zugeschneiten Berggipfel leuchten und verkünden einen schönen Tag, genau richtig für einen Neuanfang.

Wieder zu Hause, setze ich mich mit einer Tasse Kaffee an den großen Küchentisch und höre Radio. Dann räume ich den Kühlschrank um. Jetzt gibt es ein leeres Fach, nur für mich. Hier werden all die gesunden, kalorienarmen Lebensmittel Platz finden. Innerlich schüttelt es mich ein wenig beim Gedanken an Knäckebrot und Blattsalat, und ich schaue neidisch auf die Leberwurst in Kims Fach. Auch im Schrank mache ich Platz und räume die Butterkekse, die Schokoriegel und den Honigkuchen aus meinem Gesichtsfeld.

Kim kommt von ihrem Zeitungsjob zurück.

„Heute habe ich schon mal Vollkornbrötchen mitgebracht“, lacht sie und legt sie vor mich hin. Ich schalte also wieder die Kaffeemaschine ein, und dann schauen wir uns die Post an. Gemeinsam durchwühlen wir die Tageszeitung nach interessantem Lesestoff.

Plötzlich lacht Kim glucksend vor sich hin.

„Was ist?“

„Ich weiß nicht, ob du das hören willst.“

„Sicher will ich.“

Sie kichert. Dann liest sie mit gestelzter Betonung:

„Viel Sex macht schlank und verjüngt. Sex ist der ideale Schlankmacher. Die bei heißen Liebesspielen verbrannten Kalorien reduzieren schädliches Körperfett. Regelmäßiger Sex strafft das Bindegewebe der Haut.“ Jetzt lachen wir beide. Und ich schüttle meinen Kopf dazu.

„Aber weißt du, etwas Sex würde dir bestimmt nicht schaden. Und so weit möchte ich ja nicht einmal gehen. Es wäre schon ein Fortschritt, wenn du wieder einmal ausgehen und einfach mehr unter die Leute kommen würdest.“

„Warum, ich habe es doch schön daheim?“

Und dann sehe ich gleich auf der nächsten Seite einen Artikel. Wasser auf meine Mühlen.

„Hör mal zu, liebe Kim, ich liege nämlich total im Trend.“

Jetzt bin ICH dran mit dem großspurigen Zitieren:

„Sozialpsychologen haben einen neuen Trend ausgemacht: ›Cocooning‹. Cocooning heißt, sich in einen Kokon einspinnen. Der Mensch hüllt sich in einen Kokon ein, er kapselt sich ab und nutzt seine eigene Wohnung vermehrt als Lebens-, Einkaufs- und Arbeitswelt. Was vorher verpönt war, der Rückzug ins Private, in die eigenen vier Wände, gilt auf einmal als Lebenskunst.“

Ich freue mich und triumphiere:

„Ich bin hip und trendy. Eine Lebenskünstlerin. Ausgehen ist nicht mehr in. Ha! Und bald bin ich auch noch reich und schlank. Also, was willst du?“

Kim gibt auf.

„Ich muss jetzt eine Stunde schlafen. Und dann gehe ich in die feindliche Welt hinaus zu meinen unmusikalischen Kindern. Spinn du dich nur weiter ein, meine Lebenskünstlerin.“

„Wer spinnt?“, fragt Laura, die gerade noch halb schlafend hereinkommt, und tapst zur Kaffeemaschine.

„Wahrscheinlich die, die diese harten, trockenen, total gesunden Vollkornbrötchen gekauft hat“, beantwortet sie sich ihre Frage gleich selber und mustert misstrauisch das neue Gebäck.

Die Brötchen waren tatsächlich sehr gut. Aber es ist mir wichtig, etwas klarzustellen: „Ich möchte eigentlich nicht, dass ihr wegen mir eure Ernährung umstellt. Ihr seid schlank und schön. Und ich will euch nicht die Freude am Essen verderben. Ich werde keine Probleme damit haben, wenn ihr weiterhin so lebt wie bisher und all die fetten Dinge, die so lecker schmecken, in euch reinstopft. Lasst mich einfach essen, was ich darf, und kauft weiterhin so ein wie immer.“

„Genau“, meint Laura und beißt missmutig in ein Vollkornbrötchen, das sie vorher dick mit Butter und Nutella bestrichen hat.

In meinem Zimmer rufe ich meine E-Mails ab. Elmar Grün ist anscheinend auch ein Frühaufsteher. Er schreibt:


„Wenn Sie den Vertrag abgeschickt haben, was ich ganz fest hoffe, dann reservieren Sie sich schon mal den Freitag, 29. April, 10.30 Uhr. Wir werden Sie fotografieren, wiegen und ausmessen. Und am Montag, 2. Mai, erscheint Ihre erste Kolumne. Abgabe bis Samstagabend. Ihre Gefühle davor und Ihre Erfahrungen bisher mit Diäten und so. Ihnen fällt bestimmt etwas ein.“


Heute ist Donnerstag. Morgen ist die Fotosession. Und am Montag erscheint eine Kolumne. Am Donnerstag darauf ist mein erstes SN-Treffen. WER spinnt denn hier nun wirklich? Das artet ja in Arbeit aus. Und an meine reguläre Maikolumne muss ich auch noch denken.

Ich gebe in einer Internet-Suchmaschine ein: „Ich bin dick“.

Und dann werde ich erschlagen von Diätvorschlägen, Medikamentenwerbung und so weiter. Überrascht sehe ich den Titel „Besser abnehmen mit der Bibel“.

Beten gegen Übergewicht?

Verbrennt Rosenkranzbeten Kalorien?

Versetzt der Glaube nicht nur Berge?

Voller Neugierde klicke ich mich auf die entsprechende Seite. Hier wird auf das Alte Testament verwiesen. Aus dem ersten Buch Mose wird zitiert: „Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu eurer Speise.“ Man solle also mehr von den Grundnahrungsmitteln essen, meint der Begleittext.

Ernährungstipps aus der Bibel?

Durch übermäßiges Essen – so weitere Zitate – „wird das Herz beschwert“, „verarmt der Mensch in materieller Hinsicht“, und „es entstehen Krankheit und Verdruss“.

Verdruss auf jeden Fall.

Und all dies hat man schon zu biblischen Zeiten gewusst.

Aber in materieller Hinsicht haben mich bisher all die unzähligen Versuche abzunehmen viel mehr belastet als das Essen an sich: teure Tabletten, exklusive Tropfen, undefinierbare Pülverchen, biologische Quellmittel, entschlackende Tees, entwässernde Kapseln … Dann die unzähligen Bücher, die neue, unschlagbare Diäten beschreiben oder geistiges Umdenken propagieren … Und die dämlichen Fitnessvideos, die ich mir ganz gerne angesehen habe, allerdings nur einmal, dazu fröhlich ein Käsebrot kauend … Ja, das alles hat Geld gekostet. Plötzlich finde ich noch so eine lustige Seite im Internet. Die Biertrinker verkünden ihre Theorien: Eine Kalorie sei notwendig, um ein Gramm Wasser um ein Grad zu erwärmen. Der Mensch brauche also etwa 7400 Kalorien, um ein Glas eiskaltes Wasser auf Körpertemperatur zu erwärmen. Das habe mit Thermodynamik zu tun und sei wissenschaftlich erwiesen. Der Körper benutze zur Erwärmung die einzige Energiequelle, die ihm kurzfristig zur Verfügung stehe: das Körperfett.

Aber jetzt kommt’s:

„Trinkt man also ein großes Glas Bier, verliert man etwa 14 800 Kalorien. Jetzt muss man noch die Kalorien des Bieres abziehen (ca. 800 Kalorien für 400 Gramm Bier). Unter dem Strich verliert man dann immer noch 14 000 Kalorien bei einem eiskalten Glas Bier. Der Kalorienverlust ist umso größer, je kälter das Bier ist.“ Diese tollen Theorien könne man auch aufs Eisessen anwenden. „Bei einer Portion Eis nehmen wir etwa 1000 Kalorien auf, verlieren aber durch die Erwärmung auf Körpertemperatur 7400 Kalorien. Es ist also fast egal, was wir essen oder trinken, nur eiskalt muss es sein“, ist die Schlussfolgerung des Artikels im Internet.

Diese Logik macht mich sprachlos.

Abnehmen mit Biertrinken und Eisessen?

Vor meinem geistigen Auge hole ich gerade eine Bratwurst oder eine Schwarzwälder Torte aus dem Eisfach und versuche, diese mit dem Eispickel in mundgerechte Stücke zu zerschlagen.

Fehlt nur noch eine Homepage für den Verkauf von Bandwürmern.

Jetzt reicht’s.

Ich muss raus hier. Cocooning hin oder her.

Ich spaziere nach Schwyz und besuche meinen Vater. Diese Besuche bringen mich immer wieder auf den Boden zurück, wenn ich dabei bin, irgendwie abzuheben.

Das Altersheim Bergfrieden liegt direkt beim Friedhof. Anfangs fand ich das sehr geschmacklos. Ich dachte, es sei eine Zumutung, dass die Alten und Kranken von ihren Fenstern aus auf den Friedhof schauen müssen. Aber ich glaube, das war nur meine eigene Sichtweise. Meinen Vater hat es jedenfalls nie gestört, und manchmal kommt es mir fast vor, als würde er sehnsüchtig zu all den Toten hinausblicken.

„Die haben alles schon hinter sich“, meinte er einmal, beinahe neiderfüllt.

Ich marschiere mit schnellen Schritten hinauf nach Schwyz. Wie oft bin ich diesen Weg schon gegangen. Jedes Mal wird es mir bange, und die Gefühle kommen hoch, die ich sonst so gut verdrängen kann. Ich weiß nie, was mich erwartet, wenn ich meinen Vater besuche. Seine Altersdemenz schreitet langsam fort. Er ist oft verwirrt und manchmal depressiv. Immerhin muss ich mich nicht mehr ständig um ihn sorgen. Als er noch alleine wohnte, war das manchmal sehr belastend. Zweimal fackelte er fast seine Wohnung ab. Einmal ließ er eine Kerze auf dem Fernseher brennen, beim zweiten Mal hatte er eine Herdplatte angedreht und ging spazieren. In einer Nacht rief mich die Polizei an, weil man ihn irgendwo im Urnerland aufgegriffen hatte, durchnässt und unterkühlt, völlig verwirrt. Dazwischen sind sicher Dutzende von Zwischenfällen passiert, von denen ich nichts erfuhr, denn irgendwann war mein Vater plötzlich freiwillig bereit, ins Heim zu gehen. Er hatte wohl selber gemerkt, dass etwas nicht mehr stimmte, dass er sich verändert hatte, dass in seinem Kopf etwas passierte.

Manchmal fühle ich mich meinem Vater sehr nahe. Näher als je zuvor. Vielleicht ist das Mitleid, Mitgefühl? Wenn er einen guten Tag hat, dann reden wir von früheren Zeiten. Wenn er auch einiges durcheinanderbringt, so ist er doch ganz bei sich. Oft spüre ich dann eine tiefe Traurigkeit in seinem Innern. Wenn ich das Heim verlasse, bin ich selber meist niedergeschlagen und bedrückt.

Im Heim kommt mir David entgegen, einer von Vaters Pflegern.

„Prima, ich wollte dich gerade anrufen“, meint er. „Deinem Vater geht es heute erstaunlich gut. Wäre schade gewesen, wenn du das verpasst hättest.“

Und tatsächlich: Man hat ihn in einen Sessel gesetzt, direkt vors Fenster, und die Sonne scheint auf sein eingefallenes Gesicht. Sein Körper wirkt klein und zerbrechlich unter den dicken Decken. Trotzdem sieht er irgendwie zufrieden aus, wie er da auf den Friedhof und die Mythen blickt.

„Da oben war ich hundert Mal“, erzählt er und zeigt mit zittriger Hand auf den Gipfel des Großen Mythen. Und dann fängt er an, mir Bergerlebnisse zu erzählen, die ich alle schon kenne. Trotzdem: Es tut gut, einfach neben ihm zu sitzen und ein klein wenig Lebensfreude zu spüren, ja überhaupt zu spüren, dass er noch lebt. Mein Vater erzählt, wie er einst das Matterhorn bestiegen und mich als Kleinkind auf den Schultern von Goldau auf die Rigi getragen hat. Er kann endlos erzählen. Dass er nicht nach mir fragt, ist nichts Neues. Er hat sich auch als gesunder Vater nie groß für mich interessiert. Nur wenn es ihm schlechtgeht und er müde in den Kissen liegt, dann komme ich zu Wort.

Nein, unsere Beziehung war nie einfach, ist sie auch heute nicht. Aber ich bin nun mal seine Tochter, und er ist mein Vater.

Eine Schicksalsgemeinschaft.

Nach einer Stunde nickt mein Vater erschöpft ein in seinem Stuhl. Ich gebe David Bescheid.

Es bedeutet mir viel, diesen Pfleger an Vaters Seite zu wissen. David arbeitet mit Herz, und er leidet unter den schwierigen Arbeitsbedingungen.

„Wir haben immer weniger Zeit für unsere Patienten. Manchmal schäme ich mich wirklich, wenn ich jemanden abwimmeln muss, der unbedingt reden möchte. Hoffentlich muss ich meine Eltern nicht auch einmal in ein Heim bringen.“

„Ja, David, das habe ich auch immer gedacht. Und jetzt bin ich froh, dass es in diesem Heim Menschen wie dich gibt. Das beruhigt mein schlechtes Gewissen, wenn ich meinen Vater hier zurücklassen muss.“

Wir reichen uns die Hände. David muss weiter.

Ich spaziere noch über den Friedhof, um meine Patentante zu besuchen. Eigentlich seltsam, dass ich nie traurig werde, wenn ich an ihrem Grab stehe. Vielmehr lege ich dort manche meiner Sorgen ab.

Theas Grab liegt im Schatten einer mächtigen Birke. Ich stehe oft hier und halte stumme Zwiesprache mit ihr. Manchmal rede ich auch laut oder schimpfe gar vor mich hin. Obwohl ich nicht wirklich an ein Leben nach dem Tode glaube, jedenfalls nicht so, wie wir es im Religionsunterricht gelernt haben, bin ich überzeugt, dass es Thea gutgeht da, wo sie jetzt ist. Sie war eine herzensgute, fröhliche Frau. Und sie musste nicht so elendiglich dahinvegetieren wie mein Vater. Nein, sie starb auf einer exotischen Insel an einem Herzinfarkt. Passend, irgendwie.

Ich bin ein typisches Scheidungskind. Die Ehe meiner Eltern war ein einziger Kriegsschauplatz. Irgendwann flüchtete meine Mutter, weg aus der furchtbaren Beziehung, in die Arme eines anderen Mannes. Und der Scheidungskrieg war noch einmal grausam. Diesmal geriet ich völlig zwischen die Fronten, denn es ging dabei um mich. Mein Vater bekam schließlich das Sorgerecht, und ich verlor meine Mutter für immer, weil sie nach Neuseeland auswanderte. Als wäre damals nicht schon Muotathal unerreichbar weit weg für mich gewesen. Mein Vater verbot mir jeden Kontakt zu ihr, und ich war zu klein, um dieses Verbot zu missachten. Als Teenager wollte ich es tun und hörte, dass meine Mutter gestorben sei. Ich trauerte, weinte, und ich hatte eine riesige Wut in mir. Auf meine Mutter und auf meinen Vater. Manchmal auf die ganze Welt.

Gut, dass es immer Thea gab, diese warmherzige Frau, die Schwester meines Vaters. Wie eine Rettungsinsel lebte sie in unserer Nähe, und ich klopfte regelmäßig an ihre Tür. Heute muss ich sie auf dem Friedhof besuchen. Und selbst hier gibt sie mir noch Kraft.

Daheim stürze ich mich in die Arbeit. Ich bereite die erste Kolumne vor, indem ich im Internet nach interessanten Infos suche. Ich schreibe die ersten Zeilen. Dann eröffne ich ein Tagebuch, damit ich auch wirklich keine Gefühle und Erlebnisse vergesse und sie meinen Lesern vorenthalte.

Am frühen Abend schon kommt Laura heim. Sie klopft an meine Zimmertür, was sie eigentlich nie macht. Dann lässt sie sich auf mein Bett fallen und sagt:

„Lucy, ich habe mich verliebt.“

Sie erzählt dies aber nicht mit Freude und Begeisterung, sondern so, als hätte sie gerade etwas Furchtbares erlebt.

„Das ist doch schön. Es ist Frühling. Du hast dich verliebt. Ich beneide dich.“

„Ich weiß nicht.“

Na, wirklich gesprächig ist sie nicht. Aber SIE ist ja schließlich zu MIR gekommen. Also will sie doch reden. Ja, auch Frauen haben es nicht immer leicht, Frauen zu verstehen.

„Was ist los? Ist er hässlich? Verheiratet? Hat er Furunkel im Gesicht oder am Hintern? Will er dich nicht haben?“

Laura schüttelt den Kopf.

„Es ist verrückt: Er sieht gut aus, er ist ledig, und er will mich.“

„Na also. Alles perfekt. Meinen Segen habt ihr.“

„Er ist mein Chef!“

Aha. Der Friseurmeister Ricardo persönlich. Ihm gehört eine riesige Kette von Casa-Ricardo-Läden. Bei Laura hat er bisher nur selten vorbeigeschaut. Sie hat jedenfalls kaum von ihm gesprochen.

„Wo ist das Problem? Umso besser, könnte man doch sagen.“

Laura seufzt und starrt nachdenklich Löcher in die Luft. Selbstverständlich kann ich mir vorstellen, dass es da Probleme geben könnte. Wenn alles schiefgeht, steht sie am Ende nicht nur wieder alleine da, sondern auch noch ohne Job. Schlimmstenfalls. Und im Idealfall? Sie hätte einen Mann, der den gleichen Beruf hat wie sie. Das verbindet. Und sie könnte aufsteigen, zur Frau Chefin. Sie hätte einen wohlhabenden Partner.

„Ich habe Angst. Aber er ist wirklich süß“, strahlt sie vor sich hin. „Er war übrigens schon viermal in Kenia.“

Na, wenn das nicht ein Omen ist. Damit hat er bei Laura natürlich ganz schön gepunktet.

„Ricardo hat mich eingeladen.“

„Nach Kenia?“

„Nein, Spinnerin! An Pfingsten. Nach Winterthur. Dort findet immer ein afrikanisches Festival statt. Afropfingsten. Mit einem riesigen Markt, mit Straßenmusik und abends Konzerten.“

Schlauer Kerl. Hut ab! Meinen Respekt hat er. So muss man es machen, wenn man Laura erobern will.

Schließlich schwebt sie davon und meint noch:

„Ich lass dich jetzt wieder mit deinen Diäten alleine.“

„Warte mal, Laura. Hast du eigentlich noch gar nie eine Diät gemacht? Warst du schon immer so schlank?“

Sie lacht:

„Wenn ich merke, dass ich etwas übertrieben habe mit dem Essen, dann halte ich mich bei den nächsten Mahlzeiten etwas zurück. Ich esse alles. Habe ich schon immer getan. Aber du weißt ja: Ich bin schnell satt.“

Tja, genauso sollte es wohl sein.

Im Internet gebe ich bei der Buchhandlung Bol das Stichwort „Diät“ ein und werde fast erschlagen von 86 Seiten voller Bücher über Diäten! 86 Seiten! Die Markert-, Atkins-, Montignac- und Müller-Diät. Nicht zu vergessen die Kreta- und die Glyxdiät, sowie das Basenfasten und die Blutgruppendiät. Sogar eine Candida-Diät gibt es, was mir gefährlich nach irgendeiner krummen Tour mit Zahnpaste klingt. „Schlank mit Yoga“ hört sich dann doch besser an oder „Klevers-Fett-weg-Plan“.

Diese unzähligen Diätbücher in ihrer bunten Vielfalt täuschen mich nicht darüber hinweg, wie viel Leid und Elend dahinterstehen. Dieser riesige Markt und dieses unglaubliche Angebot zeigen doch nur, wie viele Menschen verzweifelt nach einer Lösung für ihr Problem mit dem Übergewicht suchen.

Ich muss weg vom Internet.

Es stimmt mich traurig.

Ich mache mir in der Küche eine Tasse Kaffee und esse dazu etwas Schokolade aus dem Kühlschrankfach von Kim. Ja klar, so war das mit der neuen Fächerverteilung natürlich nicht gedacht.

Aber noch bin ich ja nicht wirklich auf Diät. Damit starte ich erst in einer Woche. Und es graust mir jetzt schon davor.

Am Freitag erlebe ich erstmals, worauf ich mich wirklich eingelassen habe. Ich werde in Zürich gestylt und geschminkt und von allen Seiten fotografiert. Wir machen auch Symbolbilder für meine Kolumne: Lucy vor einem grünen Salat, Lucy in Sportkleidung, Lucy am Computer, Lucy auf der Waage, Lucy mit Einkaufswagen, Lucy von hinten und von vorne. Ich werde tatsächlich ausgemessen und gewogen. Aber natürlich lasse ich nicht einfach alles mit mir machen: Mit Händen und Füßen wehre ich mich gegen die Idee, ein „Vorherbild“ im Badeanzug sei ein unbedingtes Muss.

Oh nein!

Alles hat seine Grenzen. Und hier ist meine. Abgesehen davon kenne ich meinen Vertrag genau. Ich spüre, dass ich ein paar Leute verärgere, aber damit kann ich locker umgehen. Sollen die sich doch selber im Badeanzug fotografieren lassen.

Einen ganzen Tag verbringe ich in Zürich, als wäre ich ein Star. Alles dreht sich nur um mein Äußeres. Ein ganzes Team kümmert sich um mich. Ich sehe auf den Fotos am Ende so gut aus, dass ich mir wirklich überlege, wozu ich eigentlich noch eine Diät machen soll. Aber die Visagistin hat fast eine Stunde in meinem Gesicht herumgemalt. Die hauseigene Friseurin hat aus meinen Haaren eine Frisur gemacht. Ich habe jetzt freche Stacheln, mit Gel geknetet. Die Kleidertante hat mich neu eingekleidet und mir viele interessante Tipps gegeben. Und doch krieche ich am Ende des Tages fast auf allen Vieren zum Bahnhof, so geschafft bin ich. Im Zug kaue ich wieder genüsslich auf einem trockenen Salamibrot aus dem Büfettwagen herum. Zugfahren und Salamibrot – irgendwann muss ich diese beiden Dinge voneinander trennen können. Aber ich werde noch viel müssen in nächster Zeit.

Daheim spinne ich mich in meinen Kokon ein und mache mir Gedanken über die erste Kolumne, die ich bis morgen Abend abgeliefert haben sollte, mein großes Ich-bin-fett-Outing. Ganz beflügelt von Ideen haue ich schließlich in die Tasten und beschreibe erst einmal schonungslos meine Fettleibigkeit und meinen Frust.


„Es bleibt mir nur die Flucht nach vorne oder die Flucht in ein Land, wo ich mich für immer in einem Tschador verhüllen kann oder muss. Ich könnte mich auch mit dem Künstlerpaar Christo verbünden und mich von ihnen einpacken lassen. Aber eigentlich möchte ich den Kampf gegen die Pfunde noch einmal aufnehmen, mit meiner eigenen Frauenpower und mit der Unterstützung meiner Leser.“


Ich rechne meinen Body-Mass-Index aus: Körpergewicht geteilt durch Körpergröße in Metern hoch zwei. Natürlich mache ich das nicht im Kopf. Zahlen waren noch nie mein Ding. Dafür gibt es schließlich Computer. Mein BMI ist 29.

Ab 30 würde man mich als krankhaft fettsüchtig bezeichnen. Schon ab 24 ist man übergewichtig.

Tja.

Nicht, dass mich mein BMI noch erschrecken könnte, und doch ist so eine Zahl gnadenlos. Sie lässt sich nicht unter schwarzen Kleidern oder Längsstreifen verstecken.

Dann die Broca-Formel: Körpergröße in Zentimetern minus 100. Mein Normalgewicht wäre also 60 Kilo. 15 Kilo Übergewicht!

Und jetzt kommt es noch schlimmer: Der Waist-to-Hip-Faktor, der das Verhältnis von Taille und Hüften wiedergibt. Taillenumfang in Zentimetern geteilt durch Hüftumfang in Zentimetern. Der Faktor sollte bei Frauen unter 0,8 liegen. Und bei mir? Mir schwant Furchtbares, als ich mit meinem Maßband und dem Rechner zu Werke gehe. Glück gehabt! Ich komme mit einem Faktor von 0,78888 gerade noch gut weg.


„Trotzdem: Meine Hüftknochen habe ich schon viel zu lange nicht mehr gesehen. Ich bin sicher, dass ich welche habe, denn früher, als ich mal schlank war, habe ich mich oft schmerzhaft daran gestoßen. Ich würde trotzdem gerne den Kontakt zu ihnen wieder aufnehmen.“


Ich erzähle von all meinen bisherigen Diätexperimenten. Da waren durchaus auch Erfolge zu feiern. Aber darin kann ich mich nun auch nicht mehr sonnen, wenn ich jetzt so viel wiege wie nie zuvor.


„Manchmal aß ich so viel Rohkost, dass die Kaninchen von nebenan mich schon als Artgenossin akzeptierten. Bei einer anderen Diät gab es so viel Fleisch, dass ich nachts Albträume bekam. Ich sah mich mit riesigen Reißzähnen voller Blutrünstigkeit über die Kaninchen meiner Nachbarn herfallen. Einmal ernährte ich mich wochenlang von grässlichen Drinks. Jeder davon war eine Mutprobe. Ich kam mir vor wie Daniel Kübelböck im Dschungelcamp.“


Am Ende rufe ich meine Leser auf, mit mir in Kontakt zu treten, mir ihre Tipps zu verraten und ihren Kummer mit mir zu teilen oder mich einfach nur anzuspornen.

Ich lehne mich zurück und bin mit meinem ersten Werk zu meiner neuen Serie ganz zufrieden. Jetzt könnte ich mich doch mit einem schönen Stück Linzer Torte belohnen. Oder einem Leberwurstbrot, dekoriert mit einer dicken Essiggurke. Aber nein, ich lebe jetzt ja light.

Da fällt es mir ein: Ich habe total vergessen einzukaufen. Ich wollte mich doch mit gesundem grünem Zeug eindecken, mit Leckereien ohne Zucker und ohne alles, mit Käse, der wie Kaugummi schmeckt, und so weiter.

Aber ich werde fündig in den Fächern unseres Küchenschranks und klaue einmal mehr ein wenig von den Vorräten meiner Freundinnen. Kein Wunder, dass die schlank sind … So bekomme ich ein Käsebrot mit wirklich rezentem Schwyzer Käse und zur Nachspeise einen Schokopudding. Immerhin war ich ja noch nicht bei Slim Now und weiß ja noch gar nicht, wie die Diät dann wirklich aussehen soll. Also stelle ich mich doof und denke, Schokopudding mache sicher nicht nur glücklich, sondern auch schlank und schön.

Schlank und schön.

Schlank und reich.

Mein neues Mantra.

Ich lasse es im Bett vor meinem geistigen Auge erscheinen und kann dabei wunderbar einschlafen.

Am Samstagmorgen schicke ich meine erste Diätkolumne in aller Frühe per E-Mail ab. Unterschreiben tue ich in einem Anflug von Übermut mit „Lucy, die Kalorien-Königin“. Später sollte ich diese Idee noch verwünschen und verfluchen. Aber ich tippe oft viel schneller, als ich denke.

Für meinen Fleiß werde ich mit einem traumhaften Wochenende belohnt. Der Frühling macht erstmals seinem Namen alle Ehre. Die Sonne ist warm, und Kim und ich schrubben den Winterdreck von unseren Balkonmöbeln. Wir haben einen riesengroßen Balkon. Und wir wohnen im Freien, wann immer es der Wettergott zulässt.

Am Sonntag ist Tag der Arbeit, und wir liegen zu dritt faul auf unseren Liegestühlen, reden über Gott und die Welt, trinken gespritzten Weißwein und hören Radio.

Eigentlich ist es noch ein wenig zu kalt für solche Gelage, aber wir haben ja Kleider. Laura wickelt sich sogar ein afrikanisches Tuch um den Kopf.

Am Montagmorgen stehe ich noch früher auf als sonst. Ich tigere durch die Wohnung und warte auf die Post, bin nervös und unruhig.

Was haben sie wohl gemacht, mit all den Bildern, mit meinem Text?

Wie wollen sie diese Diätgeschichte überhaupt ankündigen, verkaufen?

Hätte ich mir die fertige Seite nicht unbedingt vor dem Druck anschauen sollen?

Kann ich meinen Leuten vertrauen?

Was, wenn sie mich der Lächerlichkeit preisgegeben haben?

Ich esse schon die dritte rohe Mohrrübe, als Kim endlich von ihrer Zeitungstour heimkommt. Lachend schwenkt sie meine Zeitschrift über ihrem Kopf. Allerdings vergeht ihr das Lachen, als wir die Illustrierte gemeinsam auspacken. Auf dem Titelbild prangt riesengroß ein Bild von Mario, ihrem Ex.

„Schaut mal: Er hat es in die Hitparade geschafft mit seinem einfältigen Lied“, staunt sie. „Jetzt hebt er sicher völlig ab.“

Was interessiert mich Mario!

In einer Ecke des Titelblattes gibt es auch ein Bild von mir. Und ich sehe gut aus. Sehr gut.

„Möchten Sie abnehmen? Tun Sie es gemeinsam mit Lucy, unserer Kalorien-Königin. Mehr auf Seite 4.“

Was?

Kalorien-Königin?

„Was ist mit der Königin?“, fragt Laura, die wieder einmal verschlafen in die Küche schlurft.

Ich ignoriere sie.

Mit zittrigen Händen öffne ich die Zeitschrift, und dann erschrecke ich wirklich: Eine ganze Seite hat man meiner Wenigkeit gewidmet. Ich komme extrem prominent daher. Meine Diätserie hat den Titel „Lucy, die Kalorien-Königin“ bekommen. In einem Kasten erfahren die Leser, dass ich jetzt jede Woche über meine Diät berichten werde und wie sie mit mir Kontakt aufnehmen können. Immerhin steht nicht meine private E-Mail-Adresse drin. Drei Fotos umrahmen meinen Text. Es sieht gut aus. Ein wenig übertrieben groß, aber gut.

Länger kann ich die Zeitung nicht mehr halten.

Kim und Laura reißen sie mir aus den Händen.

„Kalorien-Königin“, spotten sie lachend. „Hat noch nichts abgenommen und klaut unsere Schokolade, aber soll eine Kalorien-Königin sein!“

Laura bringt es auf den Punkt:

„Das ist zu viel des Guten. Du wirst nicht mehr durchs Dorf gehen können, ohne dass alle auf deinen Hintern starren und sehen wollen, ob er jetzt schon kleiner geworden ist. Alle mustern ab sofort deine Figur, auch Leute, denen dein Übergewicht bisher gar nicht aufgefallen war. Und stell dir vor, du gehst einkaufen: Da schaut doch jeder, was du in deinem Einkaufskorb liegen hast. Du wirst es gar nicht mehr wagen, in einem Café eine Schwarzwälder Torte zu essen. Weißt du, was ich glaube: Du MUSST jetzt einfach abnehmen.“

„Und was ist schlecht daran?“, fragt Kim. „Es ist wirklich Zeit, dass sie abnimmt. Ein wenig Druck wird ihr schon nicht schaden.“

Von „ein wenig Druck“ kann bald schon keine Rede mehr sein. Das wäre untertrieben. Diese ganze Diätgeschichte schlägt ein wie eine Bombe. Ich bekomme Anrufe, Briefe und E-Mails. Es scheint nicht schwierig zu sein, mich in Ibach ausfindig zu machen. Das Dorf ist ja nun wirklich klein. Fehlt nur noch, dass Leute vor der Haustür stehen und auf mich warten. Und dabei habe ich meine Diät noch nicht mal angefangen und noch kein einziges SN-Treffen besucht! Ich bin sehr beunruhigt und rufe in der Redaktion an.

Elmar Grün ist begeistert.

„Es scheint, als hätten wir DEN wunden Punkt unserer Leserinnen getroffen“, schwärmt er. „Bei uns kommen E-Mails, Briefe und Pakete für Sie an, als wären Sie ein Popstar. Wir hatten vorhin eine Sitzung und beschlossen, dass gerade am Anfang unbedingt möglichst alle Briefe und E-Mails beantwortet werden müssen.“

Super! Wie stellt er sich das vor?

„Ihr denkt, ich komme dann auch gar nicht mehr zum Essen, weil ich nur noch Antwortbriefe schreibe? Aber so wie es aussieht, werde ich auch nicht mehr zum Schlafen und zum Leben kommen.“

„Nein, Sie alleine schaffen das nicht. Wenn es Ihnen recht ist, dann stellen wir hier eine Studentin ein, die alles liest und sortiert. Die normalen Schreiben wird sie mit einer Postkarte von Ihnen beantworten und einem Brief, der erklärt, dass es Ihnen bei der Flut von Post nicht möglich sei, jedes Schreiben persönlich zu beantworten. Außergewöhnliche Briefe und E-Mails werden an Sie weitergeleitet. Die können Sie ja vielleicht in Ihre Kolumnen einbauen.“

Ich seufze tief und laut. Es artet wirklich in Arbeit aus. „Sie können alle diese Stunden aufschreiben, die Sie brauchen, um Ihren Lesern zu antworten. Wir werden Sie gut bezahlen, denn wir halten das einfach für wichtig, jedenfalls jetzt am Anfang. Das gibt eine gute Leserbindung.“

Schlank und reich.

Reich und schlank.

Am Donnerstag bin ich bereits ein bunter Hund, als ich in Luzern das SN-Treffen besuche. Ich hätte es mir anders gewünscht, anonymer. Ich hätte gerne unauffällig meine Mitstreiterinnen beobachtet. Aber ich werde offiziell vorgestellt, mit Applaus begrüßt, und dann erklären mir alle gemeinsam das System. Zuerst muss ich kurz mein Punktekonto berechnen, aufgrund des Alters, Gewichts sowie der Größe.

19 Punkte darf ich pro Tag verbrauchen.

Die Lebensmittel haben Punkte. Allerdings kann ich Gemüse und Obst fast unbeschränkt essen, ohne mein Punktebudget anzugreifen. Auch kann ich mir mit Sport ein paar Punkte dazuverdienen. Ich bekomme eine Punktetabelle und Pläne, in die ich meine täglichen Fressorgien eintragen und in Punkte umrechnen soll. Ich kaufe einen Einkaufsführer. Sogar einen Taschenrechner finde ich im Angebot, mit dem ich jedes Produkt sofort in Punkte umrechnen kann. Es gibt bei SN Schokoriegel, die nur einen Punkt zählen, und Bonbons, die nur einen halben Punkt kosten. Ich kaufe großzügig ein, denn es geht ja schließlich auf Spesenrechnung. Billig ist das ohnehin alles nicht. Mit einer Selbsthilfegruppe ist das Ganze nicht zu vergleichen. Nein, hier geht es eindeutig ums Geld. Aber wenn’s hilft, ist es vielleicht jeden Rappen wert. Zuerst zahle ich 45 Franken Einschreibegebühr und dann jedes Mal 25 Franken, um überhaupt am Treffen teilnehmen und auf die Waage steigen zu dürfen.

Aber eben: Der Zweck heiligt die Mittel.

Um mich zu motivieren, dürfen die erfolgreichsten Mitglieder mir erzählen, wie viel sie schon abgenommen haben. Alle scheinen irgendwie von ihrem Idealgewicht noch weit entfernt zu sein und haben doch schon acht oder zehn Kilo abgenommen.

In meinem Ausweis steht es nun, mein Ausgangsgewicht: 75 Kilo. Immerhin in Kleidern und Schuhen.

Unsere Leiterin heißt Gundula, und sie ist mager und hager, wie ein Pinocchio. Sie betont, einmal 20 Kilo schwerer gewesen zu sein. Das muss lange her sein. Ich glaube, sie hat ihr Idealgewicht längst unterschritten. Aber für das SN-System ist sie natürlich eine gute Werbung.

Ich fahre im Zug heimwärts, ohne mein gewohntes Salamisandwich. Aber ich kann mich gut ablenken mit den ganzen SN-Unterlagen. Diese Punkte interessieren mich natürlich brennend. Sie werden schließlich in Zukunft mein Leben bestimmen. Als Erstes schlage ich unter Schwarzwälder Torte nach. Aha, Volltreffer! Ein Stück hat sieben Punkte! Ein Croissant sogar achteinhalb Punkte! Und eine einzige mickrige Scheibe Salami zählt zwei Punkte. Für zwei Punkte könnte ich dagegen zehn Scheiben Bündnerfleisch essen. Ein Vollkornbrötchen hat zwei Punkte. Also könnte man für ein Salamibrötchen mit vier Scheiben Salami und – oh Schreck! – sicher auch noch etwas Butter nach meiner groben Berechnung locker zwölf Punkte berechnen. Ein Salamibrot und eine Schwarzwälder Torte, und schon ist mein Tagesbudget ausgeschöpft. Dann müsste ich den Rest des Tages mit Äpfeln, Birnen oder grünem Salat vorliebnehmen.

Tja, da ist wohl wirklich Umdenken angesagt.

Ich rechne und rechne und fahre dabei fast am Bahnhof Schwyz vorbei.

Auf dem Heimweg kaufe ich in unserem Einkaufszentrum ein. Hier wird mir unvermittelt mein Hauptproblem bewusst: Tief in meinem Innern habe ich eine unerklärliche, unverständliche Abneigung gegen alles, was gesund ist. Ich mag nur wenig Obst, und zu Gemüse muss ich mich fast zwingen, außer es ist Salat, und dieser wiederum sollte in einer Sauce schwimmen. Dagegen werde ich kämpfen müssen. Sonst habe ich gar keine Chance. Ich liebe Bananen und Mangos, aber gerade die haben auch Punkte, genauso wie Kirschen und Trauben. Muss am hohen Zuckergehalt liegen. Gemüse gibt es endlos ohne Punkte. Algen, Artischocken, Auberginen, Austernpilze … bis hin zur Zwiebel.

Isst wirklich jemand Algen?

Und Austernpilze?

Wieso steht der Rhabarber beim Gemüse?

Und was um alles in der Welt ist Topinambur? Es zählt einen Punkt. Ich werde es von meinem täglichen Speiseplan streichen. Irgendwo muss ich ja mit dem Streichen anfangen. Topinambur esse ich ab sofort nicht mehr. Da bin ich konsequent.

Ich fahre langsam mit meinem Einkaufswagen durch den Laden und werde irgendwie ganz trübsinnig. Da gibt es einen neuen Brotaufstrich von Ovomaltine. DAS wäre lecker. Ich aber kaufe eine Diätmargarine, zuckerfreie Konfitüre, Lightjogurts, einen fettreduzierten Streichkäse, eine Familienpackung Knäckebrot. Dazu Tomaten, Zwiebeln, Kohl, Gurken, Mohrrüben, Äpfel und Birnen. Aus dem Eisfach hole ich Blumenkohl und Brokkoli sowie Bohnen und Lightvanilleeis. Bei den Büchsen finde ich Ananas, die nicht im Zuckersirup liegen. Ananas mag ich wirklich gerne. Ich kaufe noch dies und das, und mein Wagen wird langsam voll. Ich versuche beim Einkaufen ein begeistertes, glückliches, topmotiviertes Gesicht zu machen, falls ich irgendwie beobachtet werde. Vielleicht lauern ja hinter dem Raviolibüchsen-Berg die Paparazzi. Die Frau an der Kasse, die mit mir zur Schule ging, lacht jedenfalls und meint:

„Du hast ja wirklich vorbildlich eingekauft. Da kann nichts mehr schiefgehen. Viel Glück!“

Sie kann gut lachen, denn sie ist schlank.

Am Abend zu Hause bin ich müde und übellaunig und mag überhaupt gar nichts essen. Aber nichts essen, das ist eben auch verboten. Und leider habe ich nun keinen Topinambur im Hause. Ich beiße lustlos in einen Apfel und denke, dass die früher auch irgendwie besser geschmeckt haben. Im Fernsehen schaue ich eine Talkshow, wo lauter extrem dicke Weiber sich gegenseitig versichern, dass sie mit ihrem Gewicht absolut zufrieden sind. „Dicke Leute sind viel gemütlicher. Sie wissen noch, wie man genießt. Sie frieren auch nicht ständig“, erklärt eine Frau, und während sie spricht, starre ich fasziniert auf ihr vielschichtiges Doppelkinn, das sich dermaßen bewegt, als würde es ihre Worte noch in Gebärdensprache übersetzen wollen.

Blödes Gerede!

Als würden nicht alle gerne ein wenig frieren, wenn man sie dafür aus ihrem Fettpanzer befreite.

Auf einem anderen Sender bekochen sich Promis gegenseitig, und mir läuft das Wasser im Munde zusammen.

Im Hintergrund höre ich Kim am Klavier Czerny-Übungen klimpern, mit denen sie ihre Finger stundenlang malträtieren kann. Laura kommt heute gar nicht heim. Sie ist wohl mit ihrem Ricardo verabredet.

Ich gehe früh ins Bett und träume irgendeinen wirren Traum, in welchem unzählige Punkte vorkommen.

Ich fange mein neues Diätprogramm recht unkonventionell an. Immerhin wird ja genau das so gepriesen: SN kann jeder in seinen Alltag integrieren und seinem Geschmack anpassen.

Zum Frühstück esse ich Büchsenananas und ein Brötchen mit Streichkäse. Da komme ich gerade mal auf drei Punkte. Danach marschiere ich schnellen Schrittes nach Schwyz und besuche meinen Vater. Zur Belohnung für diesen „Sport“ genieße ich später daheim eine Banane. Am Mittag, nach einer Gemüsesuppe, fühle ich mich einfach super.

Den Nachmittag verbringe ich damit, Briefe und E-Mails zu lesen. Es gibt so viele nette Worte von Leidensgenossinnen. Anna aus Basel schreibt, dass sie von ihrem Mann verlassen wurde. Er habe ihr zum Abschied gesagt, er könne ihre ekligen Fettwürste nicht mehr länger anschauen. Trotzdem sei es ihr nach Monaten noch immer nicht gelungen, ihr Übergewicht loszuwerden. „Sie haben mir jetzt wieder Mut gemacht. Ich werde mich auch bei SN anmelden und mit Ihnen gemeinsam kämpfen“, schreibt Anna.

Susanne aus Oberägeri berichtet, dass sie im Internet einen Reiseveranstalter gefunden hat, der auf Teneriffa Ferien für Dicke anbietet. „Dort habe ich einen dicken Mann kennengelernt, mich verliebt, und seither denke ich gar nicht mehr ans Abnehmen, sondern genieße endlich das Leben. Was für eine Erleichterung! Sie sollten Ihren Leserinnen sagen, dass es auch ein schönes Leben MIT Übergewicht gibt. Bitte denken Sie darüber nach.“ Sie habe über Jahre ganz vergessen zu leben, weil sie immer so mit ihrem Gewicht beschäftigt gewesen sei. Diese Susanne gefällt mir. Ich werde sie bestimmt in meiner Kolumne zitieren.

Hans aus Zug schreibt, dass er Frauen, die auf Diät sind, nicht um sich herum haben will. „Sie sind unzufrieden, gehässig und verbreiten schlechte Stimmung.“ Dabei sollten sie doch wirklich lachen. Hans zitiert eine Studie aus den USA: „Lachen macht schlank. Der Mensch verbrennt beim Lachen 20 Prozent mehr Kalorien als sonst. Wer jeden Tag zehn Minuten herzhaft lacht, verbraucht dabei bis zu 50 Kalorien und kann im Jahr zwei Kilo abnehmen.“

Ach, könnte ich doch nur besser rechnen!

Wie viel müsste ich denn nun pro Tag lachen, um in einem Monat zwei Kilo abzunehmen?

Und was genau ist „herzhaft“?

Es macht mir Spaß, mit meinen Lesern zu kommunizieren. Ich komme mir ein wenig vor wie eine Briefkastentante. Zum Essen habe ich gar keine Zeit. Vier Stunden lang beschäftige ich mich mit meinen Lesern.

Abends esse ich zwei Brote mit Bündner Fleisch und zwei Äpfel. Es sieht so aus, als hätte ich am Ende meines ersten Diättages tatsächlich noch Punkte übrig.

Ich kann mir also noch einen SN-Schokoriegel leisten. Der schmeckt richtig schön süß. Ganz so, als hätte er Kalorien. Ich bin glücklich.

Am Samstag haue ich locker meine zweite Diätkolumne in die Tasten. Ich komme darin sehr optimistisch rüber, schreibe aber auch vom Kummer meiner Leser. Und ich erzähle vom Punktesystem und davon, dass ich mich gar nicht mehr getraue, fetthaltige Lebensmittel einzukaufen oder gar an einem Imbiss in der Öffentlichkeit eine Bratwurst zu essen, weil ich doch die Kalorien-Königin bin. Eine Königin wider Willen. Aber die meisten gekrönten Häupter werden ja nicht groß gefragt, ob sie denn nun wirklich möchten.

Am Sonntag ist mein Vater so gut drauf, dass wir im Park ein wenig spazieren gehen. Er ermüdet sehr schnell, aber es hat ja Parkbänke an jeder Ecke. Ich liebe den Frühling. Er auch. Alles grünt und duftet, und der Vogelgesang schon am frühen Morgen erstaunt mich jeden Tag aufs Neue. Das hat mir Tante Thea mit auf den Lebensweg gegeben: „Füttere die Vögel im Winter, dann singen sie für dich das ganze Jahr über besonders schön.“ Heute ist ja das Vogelfüttern umstritten, aber ich halte mich nach wie vor daran.

Am Montag kommt ein Kleinbus aus Zürich und bringt mir meine Fanpost. Zwei riesige Kisten stellt man mir vors Haus. Es ist ein wenig wie Weihnachten, denn es sind auch Pakete dabei. Leider ist deren Inhalt nicht so spannend. Viele Firmen schicken mir ihre Diätprodukte und hoffen, ich würde darüber schreiben. Ein Mann aus Gersau, er heißt Jürgen, schickt mir ein Springseil.

„Sport ist Mord“, schreibt er dazu, „aber Mord für deine Fettpolster.“

Ein Brief von unserer Lokalzeitung ist dabei. Die haben doch tatsächlich einen offenen Sporttreff ganz in der Nähe meines Hauses. Dort sei ich ganz herzlich willkommen zum Walken. „Nordic Walking ist für Sie ganz bestimmt die beste Sportart. Man kann sehr gut dabei abnehmen, weil man mit dem Puls immer im Fettverbrennungsbereich bleibt. Kommen Sie doch einfach mal vorbei.“

Es geht mir gut mit dieser SN-Diät. Hunger habe ich nicht. Manchmal werde ich gequält und gefoltert von Gelüsten. Ich kann nur an Ravioli denken oder an Linzer Torte, an Lebkuchen mit Schlagsahne oder Kartoffelgratin, überbacken mit viel Käse. Dann werde ich ziemlich ungemütlich, und meine Freundinnen „umfahren mich großräumig“. Ich reiße mich zusammen und steige nicht jede Stunde auf die Waage, auch wenn ich es gerne täte.

Die Tage sind wunderschön. Es wird immer früher hell am Morgen. Ich erwache bei mehrstimmigem Vogelgezwitscher. In meinem Garten grünt und blüht es. Und es wächst einfach alles: kleine Blumen in allen Farben, deren Namen ich noch nie kannte und mich auch nicht wirklich interessieren. Natürlich auch das Unkraut. Gartenarbeit ist nun mal nicht mein Ding. Ich lasse wachsen, was kommt, und bisher hat mich mein Garten nicht enttäuscht. Jeden Sommer blühen die buntesten Blumen für mich. Ein Erbe meiner Tante.

Immer öfter nehme ich meinen Laptop auf den Balkon und arbeite draußen. Das genieße ich immer ganz besonders. Das Rauschen in meiner großen Birke und die warmen Sonnenstrahlen kitzeln die besten Ideen aus mir heraus. Was mir dabei aber oft auf die Nerven geht, das sind die Rasenmäher. Und wir haben eine ganze Menge davon in unserem Quartier.

Das ist es!

DIE Idee für meine Maikolumne, die ich bald abgeben sollte. Schon hasten meine Finger über die Tasten. Meine Rasenmäherkolumne schreibt sich fast von selbst.


Von Rasenmähern, Schafen und Außerirdischen

Neulich saß ich mit meinem Laptop auf dem Balkon. Arbeiten im Freien, DAS ist Lebensqualität! Die Vögel zwitscherten lieblich in allen Tonlagen, und die Sonne schien milde auf mein Haupt. Die wahre Idylle! Gerade fühlte ich mich inspiriert, und die Finger huschten wie von selber über die Tasten, da fing es wieder an:

Wie auf geheime Absprache hin, holten zwei Nachbarn gleichzeitig ihren Rasenmäher aus dem Keller und machten sich mit viel Getöse über ihren Rasen her.

Eine ganze Weile blieb ich trotzdem sitzen und versuchte den aufdringlichen Lärm zu ignorieren.

„Ich bin die Ruhe selbst. Nichts und niemand kann mich aus der Ruhe bringen“, flüsterte ich leise und beschwörend vor mich hin. Aber wenn man so vor sich hin murmelt, kann man auch nicht mehr richtig arbeiten, und irgendwann gab ich es auf, räumte den Balkon und schloss frustriert Fenster und Türen.

Vielleicht liegt es an mir? Bin ich innerlich zu wenig gefestigt, um dem Lärm zu widerstehen? Es ist doch alles nur eine Frage der Einstellung. Rasenmäher gehören zum Frühling wie blühende Blumen und der Gesang der Vögel.

Früher, in dieser fernen Zeit, als alles noch ganz anders und natürlich alles besser war, gab es diesen Lärm noch nicht. Ich lebte damals schon hier in der Nähe. Das Gras ließ man fröhlich vor sich hin wachsen, und wenn mein Vater mal einen Energieschub hatte oder ein paar Aggressionen zu viel, nahm er die Sense und mähte. Wir Kinder spielten dann vergnügt mit den Grashaufen.

Damals gab es auch noch nicht so viele Rasenflächen. Man hatte noch Garten. Heute hat die Mehrzahl meiner Nachbarn ihre Gärten in Grünflächen verwandelt. Dies macht nicht mehr so viel Arbeit, dafür mehr Lärm. Auch wir haben jetzt Rasen, dort, wo früher Schnecken über unsere Erdbeeren herfielen oder Bohnen ordentlich an Stangen wuchsen. Und wir haben einen Rasenmäher.

Meine Abneigung gegen Rasenmäher begann in späterer Kindheit, als mein Vater seinen ersten gekauft hatte. Das Gerät hatte einen Elektromotor, und ich musste hinter meinem Vater herlaufen, als Kabelträgerin. Phantasievoll, wie ich damals war, stellte ich mir immer vor, eine wichtige Funktion beim Fernsehen zu haben und mein Kabel hinter einem berühmten Kameramann herzutragen. Aber der Lärm holte mich schnell wieder auf den Rasen der Realität zurück.

Nun, einfach jammern, das bringt natürlich nichts. Lösungsvorschläge sind gefragt. Wie gefällt Ihnen das: Beton statt Rasen! Mehr Parkplätze braucht das Land! Etwas freundlicher wäre folgender Vorschlag: Wir kaufen ein paar Schafe. Die Rasenflächen werden eingezäunt, und dann können unsere Gemeinschaftsschafe loslegen. Geräuschlos und auch noch hübsch anzuschauen, Streichelzoo inbegriffen! Bisher stieß ich auch mit diesem Vorschlag nur auf taube Ohren. Ich glaube nämlich, dass sich gar kein Nachbar von seinem Rasenmäher trennen will. Man hat wohl ein gewisses Gefühl von Macht und Bedeutung, wenn man so viel Lärm machen kann und Herr über seinen Rasen und den Frieden der anderen ist.

Ein paar Häuser weiter, da wohnt eine Familie, die von mir den „Friedens-Lucy-Preis“ bekommen würde. Die haben einen Rasenmäher, den ich für mich „den Außerirdischen“ getauft habe: Wie ein kleines Ufo schwebt da eine elegante Maschine völlig geräuschlos und selbstständig stundenlang über den Rasen, mit Solarzellen auf dem Rücken. Jedes noch so kleine Gräschen, welches es sich erlaubt, ein Millimeterchen zu wachsen, wird sofort diskret und unauffällig niedergemetzelt. Der Rasen traut sich schon gar nicht mehr zu wachsen. Immer wieder bleibe ich vor diesem Außerirdischen stehen und bewundere das Wunder der Technik. Inzwischen gibt es ja sogar Staubsauger dieser Art. Faszinierend! Die perfekte Lösung für mein Problem. Und doch: Das Ding erfüllt mich irgendwie mit Unbehagen.

Vor meinem geistigen Auge tauchen Bilder auf, die ich nicht sehen möchte. Ich stelle mir vor, wie ich durchs Eigenwies spaziere, und überall fahren solche Ufos herum, die Rasen mähen, Straßen wischen, Unkraut jäten oder den Müll rausbringen. Wer grüßt mich dann noch, und mit wem kann ich dann übers Wetter reden?

Ich werde mich im Laufe des Sommers wieder an den Lärm der Rasenmäher gewöhnen. Aber immerhin muss ich nicht auch noch ins gleiche Horn blasen: Ich habe mir einen Handmäher gekauft, der mit meiner eigenen Frauenpower betrieben wird. Und den Spott meiner Nachbarn nehme ich gelassen hin. Nichts und niemand kann mich aus der Ruhe bringen.


Am Donnerstag bin ich sehr aufgeregt, als ich mit dem Zug nach Luzern fahre. Viel zu früh spaziere ich über die Brücke und bewundere die ersten Tretboote auf dem Vierwaldstätter See. Ich bummle noch ein wenig durch die schöne Altstadt. In Luzern komme ich immer in Ferienstimmung. Hier fühle ich mich wie eine Touristin.

Schließlich finde ich mich im Kurslokal ein und stehe in der Schlange, um auf die Waage zu steigen.

Was, wenn ich mich blamiere?

Nein. Ich war wirklich brav. Ich habe das Programm genau befolgt. Gut, da war mal dieser Anfall von Schokoladenwahnsinn. Da habe ich doch tatsächlich eine halbe Tafel Schokolade gegessen, und Kim war nachher ganz schön sauer auf mich. Aber sonst …

„74,1 Kilo“, verkündet Frau Pinocchio und meint strahlend: „Das ist doch großartig. Nur weiter so. Das ist genau richtig.“

Nun, weniger wäre noch großartiger gewesen und noch genau richtiger für mich. Aber okay, es IST ein Erfolg. Und wir sollen ja langsam abnehmen.

Wir sind heute fünfzehn Frauen im Kurs.

Warum eigentlich nur Frauen? Werden nur Frauen fett? Oder können Männer locker ihre Bäuche mit sich herumtragen, ohne darunter zu leiden?

Wir reden heute über das Thema „Ersatzbefriedigung“.

Man esse oft, weil man frustriert sei, unzufrieden, gelangweilt, müde. Aber man könne sich doch auch anders belohnen oder aufmuntern.

Beispiele sind gefragt.

„Man könnte ein Bad in einem kostbaren Badeöl nehmen und Musik hören dazu“, meint eine Frau, und ich höre am Tonfall ihrer Stimme, dass sie selber nie im Leben auf so eine Idee käme. Stell dir vor, du hast Hunger und sollst baden! Der Bauch knurrt, und du überlegst dir verzweifelt, ob du in die Seife beißen sollst und wie viele Punkte wohl ein Stück Lavendelseife hat. Hat Kernseife weniger Kalorien als Cremeseife?

„Ich kaufe mir Blumen“, erklärt eine junge Frau.

Mein Pech. Schnittblumen mag ich grad gar nicht. Weder essen noch kaufen. Ich mag den Blumen nicht beim Sterben zuschauen.

„Ich gehe rennen, das lenkt mich ab“, erklärt eine Frau. Sie hat ein Gesicht, das mich an einen Windhund erinnert. „Danach bin ich in so guter Stimmung, dass ich wieder locker auf Fressorgien verzichten kann.“

Langsam fange ich an, mich zu ärgern, und darum kann ich meinen Mund nicht halten:

„Ich beiße meine Fingernägel ab. Ich würde wohl auch meine Zehennägel abbeißen, aber ich komme da nicht mehr gut ran“, gebe ich zum Besten, und es ist nicht einmal gelogen.

Ein paar Kursteilnehmerinnen lachen prustend los, „herzhaft“ könnte man auch sagen, und werden damit gleich auf nette Art ein paar Kalorien los. Andere schütteln pikiert den Kopf (ohne Kalorienverbrauch). Bei Frau Pinocchio zucken zuerst ein wenig die Mundwinkel, aber sie hat sich schnell wieder unter Kontrolle. Ob sie wohl auch, ganz im Geheimen …

Gut, dass die Zeit bald um ist und wir in die neue Woche entlassen werden.

Wir reden noch ein wenig, klopfen uns gegenseitig auf die Schultern und verabschieden uns dann gestärkt und voll von neuen Ideen.

Dafür, dass es erst mein zweites Treffen war, bin ich schon reichlich zynisch. Und viel beigetragen habe ich nicht zu unserem Gespräch. Ich fasse den Vorsatz, mir beim nächsten Mal mehr Mühe zu geben.

Direkt neben dem Kurslokal gibt es eine Eisdiele. Ich fühle mich frustriert, und da ich jetzt weder baden noch Blumen kaufen kann, gönne ich mir eine einzige winzige Eiskugel. Zitrone. Und während ich über die Brücke zum Bahnhof marschiere, lecke ich genüsslich daran.

Ich nehme also tatsächlich ab.

Gott sei Dank!

Ich entdecke meine Freude an Kohl. Meine Mitbewohnerinnen danken es mir allerdings nicht. Ich habe enorme Blähungen, und manchmal kugeln wir uns alle fast vor Lachen, weil ich so die Luft verpeste und nichts dagegen tun kann. Es ist peinlich.

Außerdem habe ich Lighteis entdeckt, das außerordentlich gut schmeckt. Ich versuche, mich mit Vollkornnudeln anzufreunden, was mir nicht gelingen will. Und ich trinke, als gäbe es morgen kein Wasser mehr: literweise, ständig, überall.

Die vielen Zuschriften meiner Leser beschäftigen mich sehr und lenken mich vom Denken an Ravioli und Raclette ab.

Ich bekomme von Marietta aus Seewen einen Zeitungsausschnitt. Darin wird eine Studie zitiert, die zeigt, dass übergewichtige Frauen erhebliche Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt hätten.

„Sie werden für weniger intelligent gehalten, und ihnen wird fehlende Selbstdisziplin und Motivation unterstellt. Dicke Frauen verdienen im Schnitt weniger als schlanke.“

Mir kommen da natürlich spontan gemeine Gedanken hoch: Eigentlich brauchen doch dickere Frauen mehr Lohn, weil sie teure Diäten machen müssen und danach wieder viel Geld für Essen ausgeben. Auch Sondergrößen bei Kleidern sind teuer.

Ist Selbstironie der beste Weg zur Besserung?

Das Wochenende verbringt Laura mit ihrem Ricardo in Winterthur. Afropfingsten. Schon Tage zuvor läuft sie wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend. Kim hingegen malträtiert uns mit Schubert-Liedern. Sie begleitet am Pfingstsonntag eine Sängerin, und übungshalber singt sie selber wieder und wieder das Programm rauf und runter. Kim ist schon eine komische Nummer, wenn sie auf „Sängerin“ macht. Manchmal lacht sie am Ende selber mit, wenn sie mit Inbrunst zum fünften Mal in Folge das Lied von der „launischen Forelle“ durchs Haus geschmettert hat. Ihre Stimme ist wirklich gut. Aber irgendwie haftet ihrem Gesang immer etwas Parodistisches an, wenn sie zum Beispiel mit übertriebenem Ernst singt: „Dein ist mein Herz. Dein ist mein Herz und soll es ewig, ewig bleiben.“

Erst am Dienstag nach Pfingsten treffen wir uns wieder gemeinsam am Frühstückstisch.

„Laura, komm, lass uns ein wenig teilhaben an deinem Glück. Unser Liebesleben ist zurzeit so was von tot, da möchten wir gerne ein wenig von deinem hören.“

Laura wird fast ein wenig verlegen.

„Ja, es war super.“

Dann beißt sie in ihr Brötchen und kaut in aller Gemütsruhe darauf herum.

„Super? Wie wär’s mit ein paar Details?“, meckert Kim und stößt ihr den Ellenbogen in die Seite.

„Geht’s auch ein wenig ausführlicher?“, dopple ich nach und stochere dabei in meinem rosaroten Lightjogurt herum auf der Suche nach der Andeutung einer Erdbeere.

Laura holt tief Luft und fängt an zu schwärmen:

„Wir haben in einem schönen Hotel gewohnt. Aber wir waren eigentlich immer unterwegs. Der Markt in der Innenstadt war eindrücklich. So viel Afrika, mitten in der Schweiz! Ricardo hat mir eine riesige Holzgiraffe gekauft. Aus Kenia, versteht sich. Und ich habe viel kenianischen Tee gekauft. Er ist im obersten Fach.“ Sie deutet auf unseren Küchenschrank.

„Wir aßen an all den verschiedenen Ständen exotische Delikatessen. Ricardo kannte viele Kenianer. Ich war erstaunt. Abends besuchten wir verschiedene Konzerte. Die Stimmung war riesig. Wir haben getanzt und gefeiert.“

Sie strahlt, und die Frage, ob denn Ricardo noch immer der Richtige sei, erübrigt sich völlig. Außerdem trägt Laura einen neuen Ring.

„Er ist natürlich aus Kenia, versteht sich“, spöttelt Kim.

„Genau“, meint Laura, gar nicht streitsüchtig, und lächelt nur in sich hinein.

„Muss Liebe schön sein“, murmelt Kim vor sich hin. Sie hat nicht wirklich gute Laune.

„Wie war denn dein Konzert?“, frage ich trotzdem vorsichtig.

Sie ersticht mich fast mit ihrem bösesten Blick, nimmt einen großen Schluck aus ihrer Kaffeetasse und wirft schwungvoll ihre Haare nach hinten, bevor sie loslegt: „Ich habe noch nie eine so schlechte Sängerin begleitet. Ich kannte die Lieder fast besser als sie. Ich musste mich voll am Riemen reißen, um nicht einfach mit einzusetzen. Die Frau hatte eine wirklich gute Stimme, aber von Rhythmus und Intonation keine Ahnung. Sie war total unmusikalisch. Ich habe mich geschämt auf der Bühne. Am liebsten wäre ich in meinen Flügel hineingekrochen und hätte den Deckel zugemacht.“

Und nach einem weiteren Schluck:

„Aber sie sah wunderschön aus in ihrem langen rosaroten Kleid und ließ ihre Brüste in voller Größe aus dem Ausschnitt quellen. Manchmal, wenn sie tief Atem holte, um einen besonders hässlichen Ton besonders laut zu singen, dachte ich: Jetzt fallen sie raus, die Titten. Das hätte dem Ganzen noch die Krone aufgesetzt.“

Jetzt lacht sie schon wieder, unsere Pianistin.

„Es war ja nur eine kleine Gesellschaft, und so hoffe ich, dass mein Ruf als Musikerin nun nicht völlig ruiniert ist. Und bezahlt hat die Tante sehr gut. Also was soll’s.“

„He, schau mal, da ist ja ein Brief für mich!“

Kim dreht und wendet den Umschlag misstrauisch in ihren Händen.

„In letzter Zeit bekomme ich nur noch Rechnungen oder Werbung“, mault sie. „Briefe bekommt ja nur noch unsere Königin.“

Aber dann geht ein Strahlen über ihr Gesicht.

„Das ist doch die Firma mit dem Preisausschreiben! Da, wo wir unsere Feriengeschichte eingereicht haben!“

Ich erinnere mich. Die Reisegesellschaft hatte eine originelle Feriengeschichte gesucht. Kim hatte eine recht witzige Geschichte erlebt, und ich schrieb sie auf. Das Gemeinschaftswerk reichten wir unter Kims Namen ein.

„Los mach schon auf“, ruft Laura.

Ich reiche Kim den Brieföffner rüber.

Sie macht es spannend und spielt Theater. Sie liest langsam und lange, als müsste sie die Bedeutung jedes Buchstabens einzeln ergründen, und ihre Miene verändert sich überhaupt nicht.

Laura und ich, wir schauen uns an und beschließen, ganz cool zu bleiben und nicht zu fragen. Schließlich platzt es aus Kim heraus:

„Wir haben eine Woche in Spanien gewonnen!“

Jetzt reiße ich ihr den Wisch aus den Händen.

Tatsächlich! Wir können eine Woche in einem Hotel in Spanien verbringen. Direkt am Strand. Vollpension.

„Und die Geschichte wird in einem Buch veröffentlicht, mit vielen anderen Feriengeschichten“, lese ich weiter. „Unter dem Titel REISELUST.“

Die Geschichte, die uns nach Spanien bringt, hatte sich in China zugetragen.


Der Volksheld und ich

Wie aus einer Teetasse ein Fettnäpfchen wurde

Im letzten September habe ich mir, gemeinsam mit meiner Mutter, einen Traum erfüllt: eine Rundreise durch China. Mit einer bunt gemischten, fröhlichen Gruppe besuchten wir unter ausgezeichneter Führung Peking, Xian, Guilin, Kanton und Hongkong. Es war eine Reise voller Höhepunkte. Meine Favoriten: die Große Mauer in Peking, die gigantische Stadt Hongkong und die bizarre Karsthügellandschaft von Guilin. Wir besichtigten eine endlose Anzahl von Tempeln und Palästen. Am Ende der Reise waren wir völlig erschlagen von all den großartigen Eindrücken. Diese Erinnerungen wird uns keiner mehr nehmen können.

Eine kleine Geschichte wird mir jedoch ganz speziell im Gedächtnis bleiben, und wenn ich denn Kinder hätte, würde ich mich schon auf die Enkelkinder freuen, denen ich sie erzählen könnte …

Haben Sie schon von der Terrakottaarmee in Xian gehört? Erst 1974 entdeckte ein Bauer, der nach Wasser graben wollte, diese unterirdische Grabanlage. Ein nicht nur größenwahnsinniger, sondern auch sehr grausamer Kaiser ließ lange vor Christus etwa 700 000 Zwangsarbeiter für sich schuften und ganze Armeen von Terrakottasoldaten in Lebensgröße vor seinen unterirdischen Grabeingang stellen.

Viele Arbeiter waren echte Künstler und wurden nach vollendetem Werk umgebracht, damit sie den Standort des Monumentalgrabes nicht verraten konnten. Bis heute wurde erst ein kleiner Teil der unzähligen Soldaten und Pferde freigelegt. Die Anlage erstreckt sich über Kilometer, und man muss einfach dort gewesen sein, um einen Eindruck davon zu bekommen. Man sagt, dieses Grabmal müsste eigentlich als ein weiteres Weltwunder gelten.

Und was ist aus dem Bauern geworden, der die Grabanlage zufällig entdeckt hat? Sein Land wurde natürlich nicht enteignet, denn es hatte ihm in dem kommunistischen Land ja nie gehört. Es wurde ihm weggenommen. Dafür darf er jetzt im Museumsladen an einem Tisch sitzen, den ganzen Tag über Autogramme geben, rauchen, Tee aus einer kunstvollen Tasse trinken und sich von Touristenhorden anstarren lassen. Er ist eine Art Star geworden und auf jeden Fall ein Volksheld. Ob er sich nicht manchmal zurücksehnt nach der Zeit, wo er mit seiner Familie noch draußen arbeiten durfte, selbstständig, in der Natur, mit Tieren? (Könnte er die Zeit zurückdrehen, würde er das gegrabene Loch vielleicht einfach wieder zuschütten und den historischen Fund geheimhalten?)

Ich wollte ihn natürlich auch sehen, diesen ganz besonderen Bauern. Und ich drängelte mich wohl doch ein wenig zu sehr vor. Dann geschah es: Ich stieß mit meinem – zugegeben nicht gerade kleinen – Hintern an den Tisch des Bauern. Damit brachte ich seine kunstvolle Porzellantasse zu Fall, und sie zerbrach in tausend Stücke. Die Tasse des Volkshelden!!! Einen ganz winzig kleinen Moment lang blieb die Welt stehen. Alle hielten den Atem an. Unsere chinesische Reiseleiterin wurde blass und klein. Hatte ich nun eine diplomatische Krise ausgelöst? Würde ich des Landes verwiesen? Wie hatte unser Schweizer Reiseführer erzählt: In China ist die Todesstrafe noch an der Tagesordnung!

Nach dem ersten Schrecken konnte ich nicht anders: Ich ging hinter den Tisch, streckte dem Volkshelden meine Hand entgegen und stotterte in Englisch eine Entschuldigung, die er natürlich nicht verstand. Aber es war sofort Wachpersonal zur Stelle. Die dachten wahrscheinlich, nun wollte ich endgültig zum Angriff übergehen. Am schlimmsten wurde der Tumult, als ich sagte, ich möchte ihm gerne diese kostbare Tasse bezahlen. Dabei hatte ich doch längst gelesen, dass ein Chinese nie sein Gesicht verlieren will. Nein, ich müsse die Tasse sicher nicht bezahlen, erklärte eine beleidigte Dame mit unbeweglicher Miene.

Mir tat aber alles so leid, der Bauer, die Aufregung und überhaupt. Das war so peinlich. Ich stand mit rotem Kopf vor einem riesigen Touristenpublikum. Im Museumsladen kaufte ich eine wirklich schöne, viel zu teure, einem Volkshelden eindeutig würdige neue Teetasse und brachte sie ihm. Schon wieder ein Fehler! Der Bauer habe längst eine neue Tasse (hatte er tatsächlich), und man brauche meine Tasse nicht. Sämtliche chinesischen Fettnäpfchen hatten in Xian wirklich nur auf mich gewartet!

Da bewiesen die Aufseherinnen mehr Diplomatie, als man hätte erwarten können. Sie erklärten, die Tasse (meine, wohlverstanden) sei ein Geschenk vom Bauern an mich. Er schenke sie mir. Der Volksheld schrieb sogar mit einem dicken Stift seine wunderschönen verschnörkelten Namenszeichen darauf.

Jetzt steht die Teetasse in meiner Wohnung auf einem Ehrenplatz. Chinas Volksheld hat mir eine Teetasse geschenkt! Wer kann schon so etwas von sich behaupten? Nicht, dass ich sonderlich stolz darauf wäre, denn auch die Peinlichkeit des Augenblicks wird mir immer in Erinnerung bleiben.


Nach Spanien.

Warum auch nicht.

Ich freue mich, dass „meine“ Geschichte der Jury gefallen hat. Der Preis selber versetzt mich nicht gerade in Ekstase. Ein Stück Schwarzwälder Torte würde mich im Moment mehr begeistern.

„Zeig mir den Brief!“, sagt Laura streng, und auf ihrer Stirn erscheint eine hässliche Falte. „Ich will mir mal das Kleingedruckte anschauen. Man weiß doch, wie mit diesen Feriengewinnen Schindluder getrieben wird. Am Ende ist jeder von euch verpflichtet, noch zwei Leute mitzunehmen, die dann voll bezahlen müssen. Oder die Fahrt ist nicht inbegriffen. Oder ihr müsst nebenbei noch als Zimmermädchen arbeiten. Zeig mal her!“

Nichts entgeht dem gestrengen Auge von Laura, unserer Reiseexpertin. Aber sie gibt dann Entwarnung: „Glückwunsch, ihr Lieben! Ich kann da nichts Schlimmes finden. Außer, dass ihr die Reise noch vor der Hauptsaison antreten müsst. Ist eigentlich eine Frechheit, so etwas.“

Jetzt schauen wir uns betreten an, Kim und ich.

Wird Kim ihre Schüler loswerden? Kann ich eine Kolumne aus Spanien einreichen?

Darf ich bei SN ein Treffen schwänzen, wo ich doch erst gerade angefangen habe?

Werde ich in einem luxuriösen Ferienhotel mit verführerischen Mahlzeiten meine Diät halten können?

Am gleichen Morgen noch telefoniere ich mit Elmar Grün.

„Sind Sie auch immer schön brav und zählen Ihre Punkte?“, will er wissen. Das findet er wohl witzig.

„Ja, das tue ich“, antworte ich ein wenig spitz.

„Ihre Kolumne ist ein Hit. Wir sind begeistert über die Reaktionen. SN hat gerade wieder für eine extrem hohe Summe Inserate bei uns geschaltet. Auch andere Diätfirmen wollen jetzt in der Nähe Ihrer Seite inserieren.“

Seeehr interessant. Gäääähn. Die Qualität meiner Texte würde doch kein Schwein interessieren, wenn die Kasse nicht so sehr klingelte. Langsam beleidigt mich das irgendwie.

„Elmar, ich habe ein Problem. Ich möchte eine Woche nach Spanien fahren. Bald.“

Einen Moment lang wird es still in der Leitung.

„Elmar, ich muss doch normal leben können. Dazu gehört nun mal auch Urlaub. Ich werde das Thema passend in die Kolumne einflechten. Das ist schließlich ein altbekanntes Problem: Wie halte ich in den Ferien meine Figur oder eben meine Diät?“

Elmar sieht das ein.

„Aber geben Sie mir früh genug Ihren Reisetermin bekannt. Ich habe nämlich einige Sachen für Sie geplant. Sie werden sich wundern. Als Erstes möchte bald eine Fernsehstation bei Ihnen vorbeikommen.“

„Was?“

„Ja, für die Sendung ›fit und gesund‹. Eine bessere Werbung für unser Heft könnten wir gar nicht bekommen.“

Da muss ich mehrmals leer schlucken.

Schlank und reich, schlank und reich, beschwöre ich mich selber und halte die Klappe.

„Außerdem habe ich noch eine Einladung für Sie von einer Kurklinik in Deutschland. Eine F.-X.-Mayr-Schnupperkur. Aber darüber reden wir dann später einmal.“

Eine was?

Schlank und reich.

Könnte es sein, dass mir bald alles über den Kopf wächst?

Dabei habe ich doch gerade erst angefangen!

Die Auszeit in Spanien kommt genau richtig.

Beim nächsten SN-Treffen in Luzern klettere ich schon ganz routiniert auf die Waage.

„73 Kilo!“, ruft Gundula entzückt und trägt das neue Gewicht fröhlich in meinen SN-Pass ein.

Nun, ja: zwei Kilo in zwei Wochen. Deswegen braucht sie nicht so zu brüllen. Und doch bin ich stolz auf mich. Immerhin geht der Zeiger nach unten.

Vor meinem geistigen Auge tanzen 400-Franken-Stücke!

Ich nehme ab!

Schlank und reich.

Heute reden wir über Bewegung. Bis zu zwölf Extrapunkte pro Woche kann man sich gönnen, wenn man intensiv Sport betreibt.

Sport!

Ich bin ein Bewegungsmuffel, durch und durch, und kann mich nur für Fingerübungen auf der Computertastatur begeistern. Aber schließlich versprechen wir alle brav, uns in der kommenden Woche mehr zu bewegen. Die Frau mit dem Windhundgesicht strahlt. Vor ihrem geistigen Auge läuft sie uns schon allen davon und rennt und rennt und rennt.

Ich spaziere nachdenklich zum Bahnhof und versuche schließlich, meinen Schritt ein wenig sportlich zu beschleunigen. Mein Puls erschrickt.

Mir kommen Briefe meiner Leser in den Sinn. Einige haben tatsächlich mit viel, viel Sport abgenommen. Aber die Geschichte einer Luise aus Bern, die kann ich auch nicht vergessen: sie hatte extrem hohes Übergewicht. Der Arzt empfahl ihr, sich einen Hund zu kaufen. So müsse sie wenigstens regelmäßig spazieren gehen. Tatsächlich kaufte sie sich einen lebendigen, übermütigen Mischling namens Kasimir. Und Kasimir brauchte sehr viel Bewegung. Etwas völlig Neues für Luise. Schon nach einem Monat war ihr Knie ruiniert, und sie musste sich sogar operieren lassen! Jetzt geht Kasimir mit der Nachbarin spazieren, die ohnehin schon schlank und rank ist.

Aber gut: Ich werde mich bemühen.

Mehr Bewegung.

Versprochen.

Hatte nicht unsere Lokalzeitung so ein Nordic-Walking-Angebot angepriesen? Den Brief finde ich daheim schnell wieder.

Kim meint: „Ich schenke dir meine Stöcke. Die stehen doch sowieso nur rum.“

Stöcke?

So weit ist es nun mit mir gekommen. Jetzt gehe ich schon an Stöcken.

„Das macht Spaß!“, muntert mich Kim auf. „Dieser Sport ist ideal zum Fettverbrennen, das kann man doch zurzeit überall lesen.“ Inzwischen habe sogar die Schweizer Armee diese Disziplin in ihr offizielles Sportprogramm aufgenommen. Klar. Ich habe noch nie viel von unserer Armee gehalten. Und wenn die jetzt auch schon an Stöcken geht …

Sie zeigt mir, wie man die Hände richtig in die Schlaufen einwickelt, und stellt mir auch gleich die passende Höhe ein. Ich mache meine ersten gestöckelten Schritte durch die Wohnung und komme mir ein wenig lächerlich vor.

Aber:

Mehr Bewegung!

Schlank und reich.

Gut, dass der nächste Walkingtreff gleich am nächsten Tag, am Freitagabend, stattfindet. Länger hätte ich meine guten Vorsätze wohl nicht aufrechterhalten können. So spaziere ich also mit meinen ultraleichten Superstöcken Richtung Wintersried. Meine Freundinnen schauen mir nach, winken und lachen mich aus, und ich würde sie zu gerne mit diesen schönen Stöcken verhauen, aber ich muss ja zum Treff. Das Sportzentrum ist nur zehn Minuten von meinem Haus entfernt. Es ist ein kleines Leichtathletikstadion. Bisher bin ich solchen Tempeln des Sports immer ausgewichen. Jetzt betrete ich die heiligen Hallen ungeniert. Es ist 19.45 Uhr. Die Sonne scheint noch über dem Urmiberg. Rund siebzig Sportler haben sich eingefunden. Da sind natürlich auch Fastprofis dabei. Die sportlichen Outfits sind sehr unterschiedlich, der Umfang der Muskeln auch. Wir Walker werden getrennt vom großen rennenden Haufen. Fünfzehn Frauen bleiben übrig. Zuerst machen wir ein kurzes Warm-up auf dem Vorplatz. Dann erklären zwei Leiter uns die Grundregeln.

„Der Körper soll immer aufrecht sein, als würdet ihr einen Tonkrug auf dem Kopf tragen, wie eine stolze Afrikanerin“, erklärt unsere Leiterin. Die war wohl auch schon etwas zu oft in Kenia. Aber egal. Ich habe ja Phantasie und stelle mir gleich zwei imaginäre Tonkrüge auf den Kopf, so einsatzbereit bin ich.

„Die Schritte sollen lang sein, die Füße müssen abrollen.“ Über den richtigen Einsatz der Stöcke darf ich nicht zu viel nachdenken, sonst falle ich noch drüber.

„Die Hände mit dem Stock nehmen wir nur so weit nach vorne, als würden wir jemandem die Hand schütteln.“

Als ich fast schon denke, dass das ja ein ganz angenehmer Abend war, da ziehen wir los. Der Weg führt über die Eisenbahnbrücke Richtung Brunnen.

Da geht vielleicht die Post ab!

Haben die es aber eilig!

In Nu habe ich einen roten Kopf. Das kann ich sogar fühlen. Der Puls geht hoch. Das Herz klopft.

„Mit den Stöcken trainieren wir gleichzeitig die Brust-, Arm- und Beinmuskulatur“, erklärt die Trainerin begeistert. „Halten Sie sich aufrecht. Lassen Sie sich die Sonne auf die Brust scheinen.“ Ich höre sie allerdings nur noch von Weitem, weil ich das Schlusslicht der ganzen Gruppe bilde, zusammen mit dem Trainer, der mich immer wieder aufmunternd antreibt:

Blanca Imboden

Über Blanca Imboden

Biografie

Blanca Imboden, geboren 1962 in der Zentralschweiz, war dreizehn Jahre lang Tanzmusikerin und arbeitet heute bei der Neuen Schwyzer Zeitung. Ihre zweite Heimat ist Kenia. Schon fünfzehn Mal reiste sie durch das ostafrikanische Land, immer abseits von ausgetretenen Touristenpfaden. Ihre Begeisterung...

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