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Der Sommer der WildschweineDer Sommer der Wildschweine

Der Sommer der Wildschweine

Birgit Vanderbeke
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Roman

„Ein Buch, das sich leicht liest und sofort Nähe herstellt, aber nie banal wird und sich nicht unsichtbar macht, wenn es ausgelesen ist.“ - Tiroler Tageszeitung (A)

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Der Sommer der Wildschweine — Inhalt

Milan und Leo machen Ferien. Zum ersten Mal seit ewig. Durch die Wirtschaftskrise sind sie mit einem blauen Auge gekommen, und allmählich haben sie sich wieder daran gewöhnt, „am Leben zu sein“. Sie mieten in dem südfranzösischen Örtchen Fontarèche ein Haus – doch auch dort holt sie die Welt ein, die sie für ein paar Wochen hinter sich lassen wollten. Ein Roman voller Leidenschaft, Furor und klugen Beobachtungen.

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 13.07.2015
160 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-30559-4
Download Cover
€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 10.03.2014
160 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-96603-0
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Leseprobe zu „Der Sommer der Wildschweine“

Es war der Sommer der Wildschweine.

Und es war der Sommer, in dem alles anders wurde.

Wenn man genau überlegt, was in diesem Sommer passiert ist: eigentlich nicht viel. Jedenfalls uns nicht.

Aber manchmal muss gar nicht viel passieren, und dennoch steht hinterher kein Stein mehr auf dem anderen, und tatsächlich stand hinterher kein Stein mehr auf dem anderen, und vielleicht war das gut so.

Aber es ist gefährlich.

Im Laufe des Sommers hat der Boden unter unseren Füßen angefangen, sich zu bewegen, es gab erst leise und dann immer stärkere tektonische [...]

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Es war der Sommer der Wildschweine.

Und es war der Sommer, in dem alles anders wurde.

Wenn man genau überlegt, was in diesem Sommer passiert ist: eigentlich nicht viel. Jedenfalls uns nicht.

Aber manchmal muss gar nicht viel passieren, und dennoch steht hinterher kein Stein mehr auf dem anderen, und tatsächlich stand hinterher kein Stein mehr auf dem anderen, und vielleicht war das gut so.

Aber es ist gefährlich.

Im Laufe des Sommers hat der Boden unter unseren Füßen angefangen, sich zu bewegen, es gab erst leise und dann immer stärkere tektonische Reibungen, Zerrungen, Deformationen, irgendwelche lithosphärischen Vorgänge, kein Erdbeben natürlich, kein Vulkanausbruch, nur eben dass der Boden, auf dem du stehst, keine sehr stabile Grundlage für deine Schritte mehr ist, wir haben alle vier angefangen zu schwanken, obwohl Johnny und Anouk anfangs gar nicht dabei waren, und dazu kamen auch noch die Wildschweine.

Solche tektonischen Vorgänge gibt es in jedem Leben, in Ihrem sicherlich auch. In unserem Leben haben wir uns gewissermaßen daran gewöhnt, dass von Zeit zu Zeit die Erde bebt, und dann überlegst du: Erdbeben oder Weltuntergang. Seit wir denken können, schwankt uns immer mal wieder der Boden unter den Füßen, dass wir denken, das war’s jetzt, Weltuntergang, weil demnächst die Miete fällig ist oder der Winter kommt. Mit dem Winter ist das Heizen dran, und sonderbarerweise bebt die Erde nur selten im Sommer, jedenfalls unter unseren Füßen, sondern immer ab Oktober, November, wenn das Heizen demnächst dran ist, es hat mit der Weltwirtschaft zu tun, die gern nach den Sommerferien und noch lieber nach den Wahlen zusammenkracht, und gewählt wird meistens im Herbst, jedenfalls in den Ländern, die entscheiden, wann die Weltwirtschaft zusammenkracht. Bei den anderen bebt die Erde im Grunde rund ums Jahr, also können sie auch wählen, wann sie wollen, das hat mit der Weltwirtschaft nichts zu tun, aber nach unserer Erfahrung jedenfalls bricht die Weltwirtschaft kurz vor dem Winter zusammen, auch wenn sich so ein Zusammenbruch oft schon im Sommer ankündigt; allerdings sind im Sommer immer alle, die so einen Zusammenbruch logistisch organisieren müssen, in Urlaub; es ist eine Menge Logistik nötig, damit örtliche Zusammenbrüche nicht nur einzelne Länder und Volkswirtschaften erwischen, sondern die Wirkung möglichst weltweit durchschlägt, und natürlich müssen die Typen, die mit dem Zusammenbruch, Abteilung globale Logistik, also flächendeckend, befasst sind, im Sommer genauso in Urlaub fahren wie alle anderen Menschen auch, wie die Parlamentarier und Premierminister, die Kanzler und Studienräte und wer sonst noch so im Sommer in Urlaub fährt, um sich anschließend frisch erholt und frohgemut dem Zusammenbruch logistisch widmen zu können, dass er ordnungsgemäß zustande kommt, bevor im Winter das Heizen dran ist und wir uns fragen, wie wir die nächste Miete zahlen sollen.

Aber diesmal war es keine Weltwirtschaftskrise mit den üblichen tektonischen Verwerfungen, es war etwas anderes. Schon wegen der Wildschweine.

Alles fing harmlos an. Es war unser erster Urlaub seit ewig.

Seit der Bretagne, sagte Milan.

Seit Tunesien, sagte ich.

Tunesien zählt nicht, sagte Milan, und in gewisser Weise hatte er recht, weil wir last minute nach Tunesien gefahren waren, als wir alle nach der Lungenentzündung gerade so halbwegs wieder auf den Beinen standen und uns mühsam daran gewöhnen mussten, noch am Leben zu sein, es war ein ekelhafter März, nass und ganz ohne Sonne, Johnny war gerade mal drei und die Kleine noch nicht auf der Welt.

Charter zählt nicht, Charter ist das, wo die Leute schon beim Abflug Bermudashorts anhaben; im Flugzeug fotografieren sie mit ihren Handys die Wolken, saufen sich einen an, und bei der Landung wird geklatscht.

Also seit der Bretagne. Da war Johnny auch noch nicht auf der Welt, da waren wir noch zu zweit.

Weißt du noch, die Kuhwiese mit den Schafen und Ziegen, sagte Milan.

Und ob, sagte ich.

VW-Käfer, defekte Bremsen, irgendwo in der Pampa und trotzdem nicht weit von Paris. Wir schlittern von der Autobahn runter, es ist schon dunkel, wir sind die ganze Strecke von Frankfurt am Stück gefahren; Milan tritt die Bremse durch, und nichts tut sich, ich sage, ausrollen lassen, einfach nur langsam ausrollen lassen, und der VW rollt in eine Wiese aus, in eine stockrabenschwarz dunkle Wiese.

Man braucht eigentlich gar kein Zelt, um draußen zu schlafen, sagte Milan, jedenfalls wenn’s nicht regnet.

Es regnete nicht. Es war warm, und über uns war ein samtschwarzer Himmel mit Sternen.

Braucht man nicht, sagte ich, obwohl ich noch nie unter den Sternen geschlafen hatte und nicht sicher war, ob man es tun könnte.

A la belle étoile, sagte Milan, als wir in unseren Schlafsäcken lagen. Milan konnte Französisch, weil seine Großmutter Französin war und kein Wort Deutsch konnte.

Es war ganz still.

Rotwein hatten wir keinen, den hatten wir unterwegs noch kaufen wollen, aber nicht an der Tankstelle, sondern wo Richtiges, in einem Weingut womöglich, und dann war kein Weingut gekommen, natürlich nicht, weil es an der Autobahn keine Weingüter gibt, und wir waren durchgefahren, bis die Bremsen hin waren.

Am nächsten Morgen schien die Sonne, als wir aufwachten. Es war neun Uhr. Um uns herum standen erst zwei und dann, nachdem wir die Augen vor Schreck ziemlich schnell aufgekriegt und die Lage erfasst und durchgezählt hatten, siebenundzwanzig Kühe. Die Schafe und Ziegen haben wir gar nicht erst gezählt.

Ich glaube, wir sollten dann mal, sagte Milan und sprang aus unserem Schlafsack, der eigentlich aus zwei alten Armeeschlafsäcken vom Flohmarkt bestand, die wir mit den Reißverschlüssen zu einem Doppelschlafsack verbunden hatten, in dem wir machen konnten, was wir wollten.

Wir sollten dann mal zügig, sagte Milan. Bevor noch der Bauer auftaucht.

Und während im nächsten Ort ein Garagiste begeistert die Bremse an unserem VW-Käfer reparierte und es nicht fassen konnte, dass eine echte antike Coccinelle bei ihm gestrandet war, aßen wir, wie es sich für Frankreichurlauber gehört, Croissants und tranken den schlechtesten Milchkaffee unseres Lebens.

H-Milch, sagte Milan nach seinem ersten Schluck, um mich zu warnen, aber es war schon zu spät.

A la belle étoile haben wir in diesem Sommer noch öfter geschlafen, weil Gregor und Maja unausstehlich waren, sich die ganze Zeit nur langweilten und das Ferienhaus in der Bretagne mit ihrer Unausstehlichkeit und Langeweile angefüllt war, weil in dem Haus und in der Bretagne und wahrscheinlich überhaupt in ganz Frankreich nichts los war. Sobald ihnen klar geworden war, dass nichts los war und auch nichts los sein würde, wurden sie vor Langeweile unausstehlich.

Es ist kaum zu glauben, hat Milan abends oft gesagt, wie schlechte Laune so ein Haus füllen kann, es gibt keine Ecke, in die sie nicht reinkriecht.

Sogar in unser Schlafzimmerchen kroch die schlechte Laune von Gregor und Maja, wie können Menschen nur auf Dauer so schlecht gelaunt sein, und schließlich haben wir meistens gegen Mitternacht unseren Doppelschlafsack genommen und sind auf den Kartoffelacker neben dem Haus gegangen.

Eigentlich haben wir in dem Sommer meistens à la belle étoile geschlafen, allerdings mit Rotwein, den wir im Fünfliterkanister gekauft hatten, Cabernet Sauvignon stand auf der Zapfsäule in der Cave Coopérative.

Blödsinn, hatte Milan gesagt, Cabernet Sauvignon. Hast du jemals von bretonischem Wein gehört?

Jedenfalls war es Rotwein, jedenfalls haben wir à la belle étoile geschlafen und in unserem Doppelschlafsack gemacht, was wir wollten, und dann wurde Johnny geboren, und mit Ausnahme der Chartertour nach Tunesien ein paar Jahre später haben wir nie wieder Urlaub gemacht.

Der Ziegenbauer im Westerwald zählt nicht, obwohl es da immer sehr schön war: ein Wochenende hier, ein paar Brückentage dort, Fronleichnam und einmal zu Ostern.

Seit der Bretagne also.

Diesmal fuhren wir nicht in die Bretagne, sondern ins Languedoc, weil Jeremiah von dort kommt. Jeremiah ist einer von den Technikern, die Milan engagiert, wenn er für Sunset zu tun hat, und irgendwie hat er eigentlich meistens mit Sunset zu tun. Jeremiah kommt aus Fontarèche, das ist ein kleines Provinzkaff da unten, und er wird sicher auch wieder dorthin ziehen, wenn er erst einmal in Rente ist, sagt er, aber solange steht das Haus leer. Es ist das Haus seiner Familie, und weder seine Schwester noch er können im Augenblick viel damit anfangen: Ferien über Ostern und Weihnachten, im Sommer kümmert sich eine Immobilienagentur um die Vermietung, die Schwester lebt in Paris, geschieden, nicht direkt in Paris natürlich, kein Mensch lebt direkt in Paris, das ist ganz und gar unbezahlbar, also Issy, Ivry, Aubervilliers, was weiß ich, und da wird sie auch bleiben, weil es im Languedoc keine Arbeit gibt. Im Languedoc wird im März gewählt, in ganz Frankreich im Frühling.

Den Unterhalt für das Haus schaffen sie mit der Vermietung, das kommt Pi mal Daumen auf null raus. Man glaubt nicht, was so ein leeres Haus kostet. Zweitwohnsitzsteuer, Strom, Alarmanlage, um die Wartung kümmert sich die Agentur, die dafür saftig kassiert: die Oleanderhecke gießen, Rasen mähen, Oliven schneiden, den Pool versorgen, den die Eltern vor dreißig Jahren haben bauen lassen, weil sie hofften, die Kinder blieben, aber die Kinder sind natürlich nicht geblieben, kein Mensch bleibt wegen eines gechlorten Wasserlochs in einem Kaff, in dem es keine Arbeit gibt, und jetzt kümmert die Agentur sich darum, ums Chlor, dass die Filter gereinigt und alle paar Tage die Skimmer geleert werden, im September wird alles auf Winterbetrieb gestellt, und dann fallen auch schon die Blätter; ab November muss gelegentlich die Heizung angestellt werden, selbst bei leeren Häusern ist im Winter das Heizen fällig, solche leeren Häuser werden leicht feucht, das kostet; die Putzkolonne, wenn am Samstag die einen Gäste morgens abreisen, und am Nachmittag kommen die nächsten.

Wenn du Glück hast, kommen am Nachmittag schon die nächsten, sagt Jeremiah. Wenn nicht, steht das Haus wochenweise sogar im Sommer leer.

Am Vorabend unserer Reise hatte Milan noch ein Telefonat mit Dennis.

Dennis ist der Chef von Sunset, und bei Dennis ist es so: Erst kümmert er sich um nichts, dann fällt ihm plötzlich das Techno-Event in Harvestehude ein, von dem er Milan noch kein Wort verraten hat, und dann muss alles ganz schnell gehen – Stühle organisieren, möglichst wieder von diesem tschechischen Verleih, der nur drei Euro nimmt, Party- und Eventbedarf, die Bühne mit Standsicherheitsnachweis wie beim letzten Mal, aber lieber nicht die mit dem Giebeldach, obwohl die größer ist, aber sie sieht so popelig aus und ist auch noch teurer als die Tonnenbühne; nein, für die Contac 175 reicht das Budget nicht aus; Ton, Beleuchtung, LED oder Laser, Kamera, Technik, Slide-Show, Screen-Filling, mengenweise Wasserflaschen, es ist überall heiß bei Techno-Events, ausreichend Behindertenparkplätze, das ganze Programm.

Oder die Knott-Immobilien Consulting will mit sechshundert Gästen ihr zehnjähriges Jubiläum begehen, spätestens übermorgen; aber nicht mit dem obligaten Buffet, das allen schon zum Halse raushängt, Tomaten, Mozzarella, Basilikum und so weiter, Hühnchenbrust in allen Variationen, sondern stilgerecht; schlicht, aber stilvoll. Austern mal nicht gleich, ach, Ihnen fällt dazu schon was ein.

Ein Incentive mit Portweinverkostung steht am Wochenende an, eine drittklassige Hollywood-Hochzeit, Kitsch as Kitsch can, aber sie zahlen, ohne hinzugucken. Und wenn Milan sagt, mal ehrlich, Dennis, das weißt du doch nicht erst seit gestern, schiebt Dennis alles auf den Kunden.

Du kennst doch die alte Knott, diesen Drachen. Hast du doch mal kennengelernt, kannst du dich nicht erinnern? Knott junior seine Schwiegermutter, sagt er und versucht dann noch, Milan die Ausgaben für die Techniker zu drücken.

Es war ein mittleres Wunder, dass Milan überhaupt freibekommen hatte, er selbst vermutete, es hinge mit Dennis’ eigenen Reiseplänen und dem Jakobsweg zusammen, den er in diesem Sommer gehen wollte, aber kurz vor der Reise rief er natürlich an.

Ich hörte Milan telefonieren.

No way, sagte er. Oh nein, absolut nicht. Da kannst du ganz sicher sein.

Dann kam er wieder rüber und packte seine Sachen weiter ein.

Und, sagte ich.

Wenn du mich fragst, sagte Milan, und ich sagte, tu ich.

Dann ist das nichts als reiner Sadismus, sagte Milan.

Oder einfach nur Blödheit, sagte ich.

Milan schwieg.

Nach einer Pause sagte ich vorsichtig: Kann dich den Job kosten.

Und wenn schon, sagte Milan.

Dennis ist wirklich ein Trottel, sagte ich, und Milan sagte, das hatten wir schon.

Milan fährt seit zwanzig Jahren zweigleisig, und immer wenn ihn etwas den Job gekostet hat, wenn die Stadt ihre Aufträge nicht bezahlt hat, wenn er wo rausgeflogen ist, hatte er noch etwas anderes in petto, Messebau, die Lautsprecherboxen, inzwischen läuft sein Blog, und er verdient mit „Sound and Fury“ gelegentlich richtig Geld. Ich habe es genauso gemacht, weil es schwachsinnig gewesen wäre, nicht mehrgleisig zu fahren, wo alle paar Jahre ein Erdbeben, eine Krise kommt und Existenzen zunichtemacht, zumal Existenzen mit Kindern im Gepäck, und unsere beiden Kinder waren jetzt zwar groß und standen auf eigenen Füßen, aber genau das mit den Füßen wurde in diesem Sommer ein echtes Problem, weil darunter – zunächst unter unseren Füßen – diese tektonischen Bewegungen anfingen, diese lithosphärischen Vorgänge, die im Languedoc entstanden und sich bis nach New York erstreckten, bis unter die Füße von Anouk, die sonderbarerweise am Vorabend unserer Reise unruhig war, und beinah hätte es sogar Krach gegeben, während Johnny aus Manchester anrief, um uns kurz zu sagen, dass Manchester die scheußlichste Stadt der Welt sei, aber das wüssten wir ja schon, und im Übrigen fahrt vorsichtig.

Johnny sitzt in Manchester nur in der Warteschleife, weil Deborah dort sitzt und vermutlich noch nicht weiß, dass sie auch in der Warteschleife sitzt, weil Johnny den Teufel tut, seiner Frau rundheraus ins Gesicht zu sagen, dass er demnächst sehen wird, wie er schleunigst aus Manchester rauskommt, egal wohin, zur Not nach China oder Korea.

Es ist komisch mit unseren Kindern: Als Johnny dreizehn war, schaffte er es zum ersten Mal per Computersimulation, einen der zweidimensionalen Saurier aus einem seiner Saurierbücher zum Leben zu erwecken, 3-D. Er war von klein auf besessen davon, alles Zweidimensionale aus dem platten Zustand räumlich zu kriegen, und wegen seines dreidimensionalen Ticks war klar, dass es ihn in die IT-Branche verschlagen würde. Wohin sonst. Additive Manufacturing heißt das heute.

Zum Glück hat es ihn in die IT-Branche verschlagen, sagt Milan, wenn ich mich beschwere, dass ich kein Wort von dem verstehe, womit Johnny sein Geld verdient, weil ich nur die Sprache studiert habe, die in Romanen oder Gedichten oder überhaupt in Büchern steht, und natürlich die, mit der ich beim Bäcker meine Brötchen einkaufen kann, solange es den Bäcker noch gibt, während Johnny Vertices extrudiert und auf U- oder V-Value-Positionen herumpixelt, Root, Head, Body, Tip or Tail, und jedenfalls überall auf der Welt eine globale Programmiersprache hat, mit der er wahrscheinlich sogar in China und Korea seine Brötchen kaufen kann, auch wenn’s dort gar keinen Bäcker gibt. In China und Korea gab’s überhaupt noch nie Bäcker, jedenfalls bis vor Kurzem. Hier gab’s eigentlich immer Bäcker, aber seit auch in China gebacken wird, gibt’s hier kaum noch welche.

Zum Glück hat es Johnny in die IT-Anwendung verschlagen, zum Glück für ihn und für uns auch, denn ohne Johnny und seine Programmiersprache wären wir aus der letzten Krise wohl kaum mit einem blauen Auge davongekommen. Es war Johnny, der die geniale Idee mit der 3-D-Pullover-Software hatte, und es war Anouk, die den Namen dafür fand: Einer für alle.

Die Titelidee war geklaut, aber es war klar, dass Anouk gar nicht merkte, dass sie geklaut war.

Anouk hatte Elizabeth Zimmermann entdeckt.

Wundern Sie sich nicht, dass Sie Elizabeth Zimmermann nicht kennen. Sie können sie eigentlich gar nicht kennen, auch wenn sie eine der größten Ikonen aller Zeiten ist, aber da kommen Sie natürlich nicht drauf, solange sie nicht übersetzt ist.

Anouk las Elizabeth Zimmermann im Original. Sie las Tag und Nacht, und wenn sie nicht las, probierte sie aus, was sie gerade gelernt hatte. Elizabeth Zimmermann ist die Größte. Nicht nur für Anouk. Sie ist eine echte Tricoteuse, aber natürlich kennt sie kein Mensch, weil kein Mensch sie übersetzt, weil kein Mensch mehr strickt und kein Mensch mehr über die Revolution nachdenkt, also auch nicht über die Tricoteusen. Anouk sprach ehrfürchtig nur noch von EZ und lernte, während sie EZ las, nebenbei Englisch. Auch das, ohne es zu merken, so wie Generationen von Kindern Englisch gelernt haben, während ihre Lehrer in Urlaub waren, einfach weil Generationen von Kindern Harry Potter lesen wollten, bevor es ihn auf Deutsch oder Finnisch oder Chinesisch gab und man sich wunderte, warum es ihn dann später überhaupt auf Deutsch und Finnisch und Chinesisch gab, weil kein Verlag ihn eigentlich haben und übersetzen wollte. Genau wie Elizabeth Zimmermann.

Anouk strickt, seit Milans Firma kurz vor der Jahrtausendwende pleitegegangen war, also praktisch, seit sie drei oder vier war und wir auf Milans Kredit saßen und nicht genau wussten, wie wir das Geld an die Bank zurückzahlen und weitermachen sollten. Es hatte damals eines von den mittleren Erdbeben gegeben, die eine mathematische Menge A Menschen die Existenz kosten und – wie das bei Erdbeben immer so ist – eine andere mathematische Menge B Menschen stinkreich machen, und die Gesetze dieser Erdbeben gehen immer gleich: Die Menge A ist ein exponentielles Vielfaches der Menge B.

Wir gehörten, genau wie Sie vermutlich auch, zur ersten Kategorie, auch wenn es uns nicht gleich die Existenz gekostet hat, aber es war knapp, weil ab irgendwann nicht nur die Kommunen, sondern alle anfingen zu sparen, und natürlich sparten sie überall. Milan hat Industriedesign gemacht, und in gewisser Weise macht er das immer noch, nur leider nicht mehr für seinen eigenen Laden.

Sicherheitshalber hörten wir jedenfalls auf, ins Kino, zum Friseur, in Bioläden oder essen zu gehen und Dinge zu kaufen, die nicht unmittelbar nötig waren. Als es dann nicht mehr nur sicherheitshalber gewesen wäre, hatten wir immerhin schon sicherheitshalber damit aufgehört und merkten den Übergang beinah gar nicht. Ich fing an, unsere Pullover selber zu stricken. Die Handschuhe, Schals, Pullover und einiges andere auch. Mizzi zum Beispiel. Mizzi war und ist bis heute Anouks Lieblingspuppe. Für Mizzi strickte ich dann noch Stück für Stück einen Tierpark aus Schafen, Eseln, Schweinchen und allem möglichen anderen Getier, zu dem ich die Anleitungen in einem alten Naturbastelbuch aus den frühen Achtzigern gefunden hatte. Simple Anleitungen, meistens kraus rechts, weil ich eigentlich anderes zu tun hatte, als zu stricken, schließlich saßen wir auf einem Kredit und mussten sehen, wie es weiterging, nachdem die öffentliche Hand amputiert worden war, jedenfalls so weit amputiert, dass sie ihre Rechnungen an kleine Firmen wie Milans nicht mal mehr halbwegs pünktlich bezahlte.

Außerdem hatte ich nie mehr gestrickt, seit meine Großmutter es mir beigebracht hatte. Als ich ein paar Pullover gestrickt hatte, merkte ich: Stricken ist gut gegen die Angst. Von da an machte ich weiter, und mit der Zeit wurde es natürlich etwas mehr als nur kraus rechts. Irgendwann war es sogar ganz gut.

Bei Anouk schlug es ein, bevor sie noch in den Kindergarten ging, wo alle Kinder ihre Barbiepuppen mitbrachten und sich über Mizzi lustig machten, aber weil Mizzi damals schon älter war als der Kindergarten und die Barbiepuppen, machte Anouk sich nichts daraus, sondern strickte einfach weiter.

Offenbar hat sie es in den Genen, sagte Milan.

Mit Puppendeckchen für Mizzi und Topflappen für uns fing es an, dann kamen die Lochmuster, Zöpfe, Noppen, all die Muster, die sie sich selbst ausdachte, bevor sie entdeckte, dass es sie schon gab, Ajour, Entrelac, Jacquard, sie dachte sich asymmetrische Formen aus, verkürzte Reihen, sie lernte Tricks, von denen wir nie herausfanden, wo sie sie herhatte, weil weit und breit kein Mensch mehr strickte, nachdem alles Selbstgemachte in Verruf geraten war und jeder alles nur noch kaufte, seit aus Bürgern Verbraucher geworden waren, die alles kaufen, blitzschnell verbrauchen und wegschmeißen mussten, weil es mit dem Kaufen zugleich kaputtbar wurde. Kaputtbar war ein großartiges Wort. Alles, was so ein Verbraucher kaufte, war schon beim Kaufen kaputtbar und also der herrlichste Müll, und den Barbiepuppen fielen wie dem öffentlichen Sektor massenhaft Hände, Arme und Beine ab.

Nur Mizzi blieb heil. Die hatte ich für Anouk gemacht, als sie noch nicht einmal lesen konnte. Inzwischen trägt Mizzi nur noch Anouks Designerklamotten, und was Anouk entwirft, wird an Mizzi ausprobiert.

Sie muss es in den Genen haben, sagte Milan regelmäßig.

Von mir hat sie es jedenfalls nicht, sagte ich.

Mit sechs hatte sie längst ihre erste Modekollektion für Mizzi entworfen, weil die Kinder im Kindergarten ihren Barbies auch immer viele verschiedene Kleider anzogen; später baute sie ihren Zoo eigenhändig aus und strickte Giraffen, Krokodile und Elefanten und natürlich auch ein paar Saurier aus Johnnys Büchern.

In dimensional, sagte sie stolz und schenkte Johnny zum Geburtstag einen dimensionalen Sauropoden, der seitdem auf seinem Schreibtisch steht.

Als sie größer wurde, ging sie in die städtische Bibliothek, bis die wegen allgemeiner Sparsamkeit geschlossen wurde, und holte sich mit ihrem Kinderausweis alte „Constanze“-Hefte, die dort noch vereinzelt herumgammelten und heute Vintage heißen und unbezahlbar geworden sind; später fand sie auf Flohmärkten Bücher: „Tausend Ideen mit Pfiff“, Bertelsmann Gütersloh. „Das aktuelle Jahrbuch für alle Maschenfans“ von 1985, Orbis Verlag München. „Auf die richtige Masche kommt es an“ mit Strickmusterschule, Lingen Verlag. „Modische Maschen“ mit Schnittmusterbogen aus dem Verlag für die Frau. Bei Gelegenheit der „Modischen Maschen“ mit Schnittmusterbogen lernte sie, dass Leipzig in der DDR gelegen hatte. Komisch, wie schnell das alles in den Staub und ins Vergessen geraten ist, und vielleicht wäre es dort auch geblieben.

Aber dann kam das Netz. Aus Verbrauchern wurden User.

Dann kam Ravelry. Ravelry ist die beste Community, die es im Internet gibt. Sagt Anouk. Eine Offenbarung.

Und damit kam System in ihre Obsession, ein global-anarchisches System natürlich, das hätte man auch wissen können, ohne Elizabeth Zimmermann gelesen zu haben, aber ich hatte.

Mit dreizehn war ihr und ihrer Umgebung klar, dass es sie in die Maschenkunst verschlagen würde, sie grub sich in die amerikanischen Klassiker, wünschte sich Barbara G. Walkers vier Schatzbücher zum Geburtstag, sie studierte die Tudor-Rosen von Alice Starmore, die ein paar Jahre lang nur unterm Ladentisch zu kriegen waren, und natürlich fand sie Elizabeth Zimmermann. Die stand damals schon bei mir im Regal.

Bei Elizabeth Zimmermann geht es immer ums Ganze. Um Witz und ums Leben, um Geduld und um Mathematik. Um Liebe.

Manchmal kommt es mir vor, als wäre sie meine richtige Oma, sagte Anouk, deren richtige Oma väterlicherseits längst tot ist, und die andere ist Welten von Witz, Leben, Geduld und Mathematik entfernt. Von Liebe sowieso.

Ganz sicher merkte Anouk nicht, dass der Name geklaut war, den sie auf der Stelle aus dem Ärmel zog, als Johnny uns alle nach der letzten Krise mit seiner genialen 3-D-Pullover-Stricksoftware aus der Tinte holte: „Einer für alle“.

Johnny sagte, guter Name. Denkt man gleich an die Musketiere.

Ich dachte an Elizabeth Zimmermann und ihr Buch: „Knit one knit all“, aber ich sagte nichts.

Es war schon damals ein phantastischer Titel und eine phantastische Idee: alles nur kraus rechts. Ihr Verlag hatte ihn abgelehnt. Den Titel und die Idee. Als sie tot war, hatte der Verlag sich von ihrer Tochter dazu breitschlagen lassen. Phantastisches Buch. Phantastischer Titel. Zu Lebzeiten nicht zu machen. Schicksal.

Es war natürlich nicht die erste Pullover-Software der Welt, die Johnny uns da entwarf.

Man muss das Rad ja nicht unbedingt neu erfinden, sagte er, während er daran herumbastelte, aber auch wenn er das Rad nicht neu erfand: Es wurde eine ungemein brauchbare Software, mit der wir fürs Erste gerettet waren.

„Einer für alle“ kam gut an, weil jeder das Programm benutzen kann, der so in etwa zwei Stricknadeln halten kann.

Sobald nämlich jemand zwei Stricknadeln halten und das Programm herunterladen und befolgen kann, wird ein Pullover daraus, in welcher Größe auch immer, und selbst in Größe 54 sehen die Leute gut darin aus.

Anouk machte die Entwürfe, V-Ausschnitt, U-Boot, Polo-, Umlege- oder Schalkragen, Raglan von oben, Raglan von unten, nahtlos einmal quer, einmal längs überschnitten oder mit eingesetzten Ärmeln, sie tobte sich aus. Milan und ich übertrugen die Entwürfe.

Als er sie bekam, ging Johnny die Wände hoch. Versteht ihr denn nicht, ich brauche Sektionen, sagte er, ich brauche keine gut gemeinten Gesamtmodelle, wir spielen hier nicht Dior oder Lagerfeld. Ich brauche alles in Sektionen, sonst kann ich das nicht rendern.

Anouk konnte Mathematik.

Milan und ich zerschnipselten Anouks mathematische Entwürfe à la Dior oder Lagerfeld in Sektionen, Johnny raufte sich immer seltener die Haare, wir verstanden kein bisschen, wie er das Render Mesh des Infiltrators irgendwie ins Control Rig kriegte, und nach ein paar Monaten hatten wir das Programm.

Kundenbezogen, sagte Johnny zufrieden. Benutzerfreundlich.

Kurz darauf heiratete er und ging mit Deborah nach Manchester in die Warteschleife, bastelte hier und da an Tutorials herum und wurde gelegentlich von irgendeinem Spieleentwickler oder, wenn es gut lief, für einen Blockbuster engagiert, denen er Landschaften herstellte. Manchmal auch Geschöpfe oder Innenräume.

Kurz darauf hatte „Einer für alle“ uns so viel Geld eingespielt, dass wir zum ersten Mal seit Langem Ferien machen konnten. Milan und ich. Ganz ohne unsere Kinder und trotzdem nicht wie früher.

Als die Kinder groß waren, dachte ich manchmal, vielleicht könnte man sich ja wieder herausbekommen nach dieser Zeit, die manchmal lang gewesen war, aber, alles in allem, auch wieder nicht so lang gewesen zu sein schien. Vielleicht wäre es anschließend wie früher, als wir in der Bretagne waren und à la belle étoile geschlafen hatten. Könnte ja schließlich sein, dachte ich, so lang war es auch wieder nicht gewesen, das Leben mit den Kindern.

Aber das war ein Irrtum. Man kriegt sich nicht wieder heraus. Weil sich einfach alles verändert hat. Wir auch. Wegen der Unumkehrbarkeit der Zeit. Das weiß ich seit Gregors Magisterarbeit.

Nur Gregors schlechte Laune ist unverändert, aber damit haben wir nicht mehr sehr viel zu tun, weil wir uns noch manchmal daran erinnern, Gregor aber seit vielen Jahren nicht mehr sehen. Seit der Magisterarbeit im Übrigen. Seit „Thomas Pynchon und die Entropie“. Also seit zwanzig Jahren.

Am Abend vor der Reise machten wir einen Crémant auf, der noch von Johnnys Hochzeit übrig war, auf den ersten Urlaub seit ewig, und bevor wir ins Bett gingen, sagte Milan, lass uns kurz noch mal in New York anrufen.

Meine Agentur war knapp ein halbes Jahr alt. Ich hatte sie „text und textil“ genannt, und wesentlich hatte diese Agentur damit zu tun, dass Anouk dringend anfangen wollte, ihre Entwürfe ins Netz zu stellen, einen Blog aufzumachen, der Welt mitzuteilen, was sie tat, YouTube-Filme hochzuladen, eigentlich alles, was man mit achtzehn so tut.

Für alles ist sie mit achtzehn vielleicht ein bisschen jung, hatten wir gesagt und „text und textil“ ins Leben gerufen.

Johnny hatte seiner kleinen Schwester und also stellvertretend mir die Homepage gemacht. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte die Seite ausgesehen, als wären wir eine Porsche-Vertretung. Porsche mitten in digitalem Environment.

Webpräsenz, sagte er. Ohne Design geht gar nichts.

Milan und ich konnten ihn so weit bremsen, dass das Ganze nur lustig aussah. Und natürlich hatte ich ein paar Leuten davon erzählt, weil Johnny das Wort Networking ins Spiel gebracht und behauptet hatte, es sei ein Zauberwort. Nicht dass ich noch an Zauberwörter geglaubt hätte nach all den Jahren, aber Johnny ist noch keine dreißig. Er darf noch.

Ein paar Kunden hatte ich aus meiner Promi-Texter-Zeit mitgenommen, weil da immer noch ein bisschen Geld floss, auch wenn die Zeit ein für alle Mal vorbei ist, wo sich Leute dafür interessierten, ob die Sängerin X wirklich nicht operiert ist, sondern allein makrobiotisch und per Mineralwasser ihre Figur hält oder die Politikergattin ihren Mann mit Hausmannskost ins Grab treibt, aber man mag es gar nicht glauben: Die Eitelkeit ist selbst bei den Hampelmännern aus Film und Fernsehen noch nicht vorbei, denen man inzwischen ins Gesicht sagen kann, dass sie Hampelmänner sind und zu der mathematischen Menge A gehören, die bei der nächsten Krise abgeräumt wird, sie glauben immer noch, die Welt nähme Anteil daran, dass sie sich allmorgendlich die Stöpsel ihrer Headsets gefährlich in die Nähe ihres Kleinhirns schieben, sich am Mainufer stundenlang die Zunge aus dem Hals hecheln, keinen Massenmarathon auslassen und den Rest ihres pathologischen Waschbrettbauchs auch im Vorruhestand noch für Geflügelwurst in die Kamera halten, wo die Geflügelwurstfirma sich längst schon nach einem jüngeren Waschbrettbauch umgesehen hat und nicht vorhat, den Werbevertrag zu verlängern.

Eitelkeit ist etwas Großartiges.

Das Wesen von Dienstleistungen ist, dass man seinen Kunden nicht sagt, wofür man sie hält oder wie man ihre Aufträge findet, hat Johnny mir eingebläut, als ich Anneli Schachtschneider die Sache mit der Beckenbodengymnastik ausreden wollte.

Anneli Schachtschneider hatte es eigentlich gar nicht nötig, ein Buch über Beckenbodengymnastik zu schreiben. Sie war lange Zeit ordentlich in der Moderedaktion der Frauenzeitschrift untergekommen, bei der ich die Glosse hatte. Für Anneli, deren Mann in irgendeinem Vorstand saß und zur Menge B gehörte, die aus jeder Krise millionärer rauskommt, als sie reingegangen ist, war das ein netter Zeitvertreib, für mich war die Glosse praktisch eine Lebensversicherung: Egal, was dir eingefallen ist, du hattest einen gemütlichen Vorlauf und immer dazwischen zwei Wochen Zeit. Das ging gut bis zu dem Tag, als die gesamte Frauenredaktion ins reife Alter verschoben wurde, weil die Leserinnen des Blattes ihrerseits im reifen Alter angekommen waren und Nachwuchs nicht in Sicht war, jedenfalls nicht für bedrucktes Papier, das nur etwas fürs reife Alter ist, und im reifen Alter wiederum gab es nur Anti-Aging und keine Glossen mehr, die wohl eher ins mittlere Alter gehören, weil es danach aufhört, komisch zu sein; also war ich als Erste draußen, aber wie das bei solchen Verschiebungen ist: Nach und nach wurde die gesamte Redaktion gefeuert, wobei feuern natürlich freisetzen heißt, und frei, wie sie war, fing Anneli Schachtschneider an, über die Beckenbodengymnastik nachzudenken und mich zu fragen, ob ich ihr das Projekt texten würde.

Ich hatte längst aufgehört, mich darüber zu wundern, was die Leute sich so alles schreiben lassen, seit das, was man ihnen schreibt, nicht mehr eine Biografie oder ein Ghostwriter-Krimi ist, eine Rede, ein Vortrag, eine Doktor- oder Gregors Magisterarbeit, sondern irgendwann wurde alles getextet, und sehr bald darauf hieß es Content. Content ist was anderes als Gregors Magisterarbeit über die Entropie bei Thomas Pynchon oder eine Jubiläumsfestschrift der Initiative Schwimmen in Kefelbach: Bei Content geht es um moderne Streetstylebrillen, hochwertige Tageslinsen auch bei Hornhautverkrümmung, Botox oder Hyaluronsäure, es geht um so wesentliche Aufträge wie: „Habe meinen Mercedes-Schlüssel verloren, was tun“ („bitte kurz und knapp und strikt an die Fakten halten, 1800 Anschläge, der Nutzer soll finden, was er sucht“, da kann er lange suchen, mit 1800 Anschlägen kriegt er seinen Schlüssel nicht wieder), es geht um rutschfeste Beläge, Putzlappen günstig, So baut man einen Hühnerstall, die robuste Indoor-Hängematte. Hintergrundsysteme fürs kleine Fotostudio. Betreuungsgeld 2014.

Es geht um jedes Wort: suchmaschinenoptimiert, in zehn Sprachen, gut geklaut ist besser als schlecht aus den Fingern gesaugt. Die Software für Wörter kommt demnächst auf den Markt.

Ich hätte also ohne Weiteres für Anneli Schachtschneider, solange die Software noch nicht auf dem Markt war, auch noch die Beckenbodengymnastik schreiben können, zumal sie mehr zahlen wollte als die Textbörse mit ihren läppischen zwei Euro vierundzwanzig für zweitausend Zeichen Schwarzkümmelöl gegen Haarausfall. Aber ich mochte Anneli, und ich stellte mir vor, dass sie sich möglicherweise irgendwann später einmal schämen würde für die Beckenbodengymnastik, deswegen hatte ich innerlich schon tief Luft geholt und war entschlossen, sie davon abzubringen, aber Johnny bläute mir das Wesen von Dienstleistungen ein, ich biss mir auf die Lippen, und wenn Annelis Mann nicht gestorben wäre, hätte ich vermutlich auch diesen Job übernommen.

Aber Annelis Mann starb, Herzinfarkt, und danach war Anneli wirklich sehr frei, sie räumte sein Konto, zog aus Frankfurt weg nach New York, hieß fortan nicht mehr Anneli Schachtschneider, sondern nannte sich und ihr Label Adèle S*, hatte von Tuten und Blasen keine Ahnung, so wenig wie Dennis, weil es darum längst nicht mehr geht, Hauptsache, das Marketing stimmt, und fragte mich, ob ich ihr nicht das Technical Editing machen könnte.

Klar konnte ich.

Nicht dass ich zu der Zeit genau gewusst hätte, was Technical Editing ist.

Anleitungen schreiben, sagte Anouk.

Anouk war in den letzten Jahren ihrer Schulzeit eine gefragte Teststrickerin bei Ravelry und arbeitete schwarz für eine finnische und eine italienische Designerin.

Manche Leute können pfeifen, aber keine Noten, sagte sie. Die brauchen so was. Andere können stricken oder häkeln oder solarbetriebene Toaster entwickeln oder was weiß ich, aber wenn sie’s aufzuschreiben versuchen, wird daraus nichts.

Analphabeten, sagte ich.

Adèle S* wurde meine erste Kundin. Es stellte sich heraus, dass sie ihre Zeit in der Moderedaktion damit zugebracht hatte, die Werbetexte, die ihr die verschiedenen Firmen zugeschickt hatten, zu redaktionellen Beiträgen zu erklären und sich ansonsten zu merken, wer angesagt war und wer nicht.

Am Abend vor der Reise machten wir also einen Crémant auf und riefen Anouk an.

Es war keine gute Idee gewesen, Anouk nach dem Abitur zu Anneli Schachtschneider nach New York gehen zu lassen. Praktikum.

Praktikum hieß, dass Anouk für irgendwelche japanischen oder kanadischen Markengarnfirmen eilige Lace-Anleitungen schrieb, die im Februar schon hätten fertig sein müssen, sowie die Muster für die Winterkollektion, weil Anneli Schachtschneider mit diesen japanischen Firmen Verträge hatte und Geschäfte machte.

Frustierend, sagte Anouk. Manche Analphabeten haben nicht mal von der Materie eine Ahnung, die sie verticken.

Perlen vor die Säue, sagte Milan, der ziemlich genau wusste, wovon er sprach.

Dazu noch für ein Taschengeld.

Wirklich keine gute Idee. Aber was ist schon eine gute Idee. Oder so herum: Gute Ideen gäbe es viele, und Anouk hat eine ganze Menge davon, aber es gibt Zeiten, da hat die Welt keine Lust auf gute Ideen, und die Jahre zwischen den Krisen sind meistens eine Zeit, in der die Welt keine Lust auf gute Ideen hat, weil jeder versucht, sich irgendwie an der Börse und auf den Beinen zu halten, und sobald jemand kommt und eine gute Idee hat, wissen alle, dass so eine Idee nicht klappen kann, weil sie nur eine Idee ist und keine Aktiengesellschaft mit PayPal-Dollars oder überhaupt gleich fiktivem Geld; und natürlich war es keine gute Idee, dass Anouk ein Praktikum bei Anneli Schachtschneider machte, die auf einem Sack davon saß, mit japanischen und kanadischen Markengarnfirmen Geschäfte machte, von denen sie nichts verstand, und Ramie für eine Art Paketschnur hielt.

Sagte Anouk. Immerhin bekam ich ihre Lace-Anleitungen und eine Menge japanisches Markengarn, weil Anneli Schachtschneider es bekam und zu den anderen Garnen packte, mit denen sie auch nichts anfangen konnte.

Abschreibungsgarn, sagte Anouk. Da kannst du Ideen haben, so viel du willst, wenn du für wen arbeitest, der Ramie für eine Art Paketschnur hält, kannst du dir gleich die Kugel geben, sagte sie aufgebracht, wenn Milan sie zu trösten versuchte, und irgendwann sagte Milan, ich weiß genau, wovon du sprichst. Ich hab da gerade so einen Lieblingskunden. Sven. Sven hat auch von Tuten und Blasen keine Ahnung.

Anouk sagte, aber Sven ist immerhin nur dein Kunde und nicht dein Chef, und Milan sagte, aber Dennis ist mein Chef. Ob Kunde oder Chef: Das läuft im Grunde aufs selbe raus. Schließlich einigten sie sich darauf, dass sie ein Leben ohne Kunden und Chefs führen wollten, und sie versprachen sich jedes Mal feierlich, darüber nachzudenken, wie so was ginge.

In der letzten Zeit vor dem Abitur war Anouk wegen der Sache mit den Pinguinen unverhofft vom Mauerblümchen zum Star der gesamten Schule avanciert. Nicht dass sie sich viel daraus gemacht hätte, aber es tat ihr gut, nicht die ganze Zeit nur mit dem Rücken an der Wand zu stehen, um nicht umzukippen. Aber die Sache mit den Pinguinen half ihr natürlich bei Anneli Schachtschneider nicht sehr viel weiter, obwohl es gerade diese Sache gewesen war, weshalb sie das Praktikum überhaupt bekommen hatte, nachdem die Martin-Luther-Schule wegen der Pinguine in die Hessenschau gekommen war, und die Pinguine waren nun einmal Anouks Idee gewesen, weil Anouk einen Aufruf zur Rettung der verklebten Pinguine auf Facebook gelesen und später mitsamt der Strickanleitung für Pinguinpullover verteilt und das Thema im Unterricht für eine Doppelstunde durchgesetzt hatte.

Das Projekt sah vor, die Pinguine in der Südsee und die gesamte Umwelt zu retten.

Nach ihrem Vortrag hatte sie angeboten, jedem, der sich an der Aktion beteiligen wollte, Strickunterricht zu geben. Wer wolle, könne sich also in die Liste einschreiben, die sie am Anschlagbrett ausgehängt habe, oder per Facebook auf Anouks Seite, wo auch alle Einzelheiten dokumentiert waren.

Bei Tierschutz wollen sich immer alle beteiligen, und so wurde Anouk also zum Star des Kurses und später der ganzen Schule, und niemand nahm ihr mehr übel, dass sie gut in Mathe war.

Die brechen sich bald die Finger, hatte sie erzählt, als sie ihre erste Strickstunde abgehalten hatte, und ihre Stimme hatte dabei vor Entzücken gequietscht, weil ihre Strickkurse enormen Zulauf hatten, und mit Beharrlichkeit und Geduld brachte sie tatsächlich achtundvierzig Schüler aus der Mittel- und Oberstufe dazu, aus achtfädiger Wolle und mit Vier-Millimeter-Nadeln Pinguinpullover zu verfertigen. Das Ganze hatte mit Ölverpestung zu tun und damit, dass Pinguine krepieren, wenn sie sich putzen und das Öl dabei fressen. Dagegen helfen natürlich Pullover, und außerdem halten sie schön warm, weil das Gefieder durch die Ölsauerei verpappt ist und nicht mehr wärmt.

Das leuchtete nicht nur Schülern ein, und der Naturpark Melbourne konnte sich vor Pinguinpullovern nicht retten, die ihm aus der ganzen Welt wegen der fehlenden Wärme zugeschickt wurden, aber vor allem kam das Ganze in die Hessenschau, und achtundvierzig dieser zigtausend Strickwerke gingen eben auf Anouk zurück, die in dem Beitrag namentlich erwähnt und kurz interviewt wurde; der Lehrer lobte ihr Engagement und forderte alle anderen auf, sich an unserer Tochter ein Beispiel zu nehmen.

Birgit Vanderbeke

Über Birgit Vanderbeke

Biografie

Birgit Vanderbeke, geboren 1956 im brandenburgischen Dahme, lebte bis zu ihrem Tod Ende 2021 im Süden Frankreichs. Ihr umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Kranichsteiner Literaturpreis. 2007 erhielt sie die...

Pressestimmen
Tiroler Tageszeitung (A)

„Ein Buch, das sich leicht liest und sofort Nähe herstellt, aber nie banal wird und sich nicht unsichtbar macht, wenn es ausgelesen ist.“

SonntagsZeitung Online (CH)

„Vanderbeke beschreibt die Idylle, die keine ist, die Ausbeutung der Natur und die Abhängigkeit vom Internet – engagiert und lakonisch.“

Stuttgarter Nachrichten

„Mit kenntnisreichen Beobachtungen, filigran austarierten Sätzen und einer spannungsgeladenen Struktur fängt Vanderbeke einen ein. Ihr abwechslungsreicher Erzählstil – mal wütend anklagend, mal lakonisch beschreibend – lässt einen nicht mehr los.“

Nürnberger Nachrichten, Magazin am Wochenende

„Vanderbekes herrlich-lakonischer Erzählton passt hervorragend zu dieser erstaunlich aktuellen Geschichte.“

Altmühl-Bote

„Mit einer gehörigen Portion Zynismus und einem geschärften Blick für die Schwachpunkte des gesellschaftlichen Gefüges entpuppt sich Vanderbekes vermeintlicher Urlaubsroman als ein kleines, aber feines politisches Lehrstück von hoher literarischer Qualität.“

Dithmarscher Landeszeitung

„›Der Sommer der Wildschweine‹ ist höchst unterhaltsam. (...) Eine wunderbare Mischung zwischen Vertrautem und Überraschendem.“

NDR Kultur

„›Der Sommer der Wildschweine‹ ist gewürzt mit Humor und klugen, aber auch kritischen Beobachtungen. (...) Eine lesenswerte Familiengeschichte, die davon erzählt, wie die Welt im Kleinen und Großen so tickt.“

Stuttgarter Zeitung

„Unsere Gegenwart lakonisch-ironisch betrachtet - trotzdem ein heiteres Sommerbuch!“

HAZ Nordhannoversche Zeitung

„Birgit Vanderbeke übt in ihren Romanen in lakonisch-ironischem Tonfall Kritik an Entwicklungen unserer Zeit - verpackt in wunderbare Geschichten.“

Ruhr Nachrichten

„Ein engagierter Roman, der amüsante Lektürestunden im typischen Vanderbeke-Sound beschert.“

Stern

„Man bekommt Lust zu stricken, wenn man ›Der Sommer der Wildschweine‹ von Birgit Vanderbeke liest. Und auf das einfache Leben sowieso.“

Frankreich Magazin

„Ein sehr persönlicher und zorniger Roman, in dem die Autorin mit einem scharfen Blick auf das Leben erzählt.“

Kommentare zum Buch
Unterhaltsam und nachhaltig - absolut lesenswert!
Blog Lesegenuss am 08.08.2015

Urlaub auf dem Land, fernab von all dem täglichen Stress. Milan und Leo haben in Südfrankreich von einem Bekannte das Haus gemietet. Fontarèche, ein kleines Dorf, was für ein krasser Gegensatz zur Großstadt Frankfurt, wo beide wohnen. Die Kinder sind außer Haus und haben ihr Glück im Ausland gefunden. Nach jahrelangem Kampf ums Überleben gönnen sich die beiden endlich mal wieder einen Urlaub. Während der Weltwirtschaftskrise hatte Milan den Verlust seines Unternehmen hinnehmen müssen, und nur dank seines Sohnes Jonny haben sie die Durststrecke weitestgehend überlebt. "Es war der Sommer der Wildschweine. Und es war der Sommer, in dem alles anders wurde. Wenn man genau überlegt, was in diesem Sommer passiert ist: eigentlich nicht viel. Jedenfalls uns nicht." Buchanfang   Ich hatte von Birgit Vanderbeke noch kein Buch gelesen, aber der Name war mir nicht unbekannt. Der Titel des Buches "Der Sommer der Wildschweine" ist etwas irreführend, warum lest selbst. Zu Beginn erfährt man einiges aus dem Leben der Familie. Erzählt wird die gesamte Handlung aus der Sicht von Leo. War ich anfangs etwas irritiert über die Schreibweise, legte sich das sehr schnell und man steckt mitten drin. Wahrlich ein schöner Fleck, das Örtchen Fontarèche. Doch auch hier steht die Zeit nicht still. Um das Grundstück herum ein hoher Zaun. Die Erklärung gibt den beiden Pierre, der Verwalter. Weitere Ratschläge erhalten sie für ihren Aufenthalt. Man kann sich Leos Erzählweise nicht entziehen. Sie spricht von ihren Sorgen, Hoffnungen und "hoffentlich wackelt der Boden nicht in diesem Sommer für uns". Ich hätte gern noch etliche Zitate mit eingebaut, aber war dann der Meinung, bei dem 160 Seiten umfassenden Buch rate ich zum Kauf! Mit einem Hauch von Selbstironie nimmt Leo den Leser mit auf eine besondere Lesezeit. Die Covergestaltung finde ich gut gelungen. Insgesamt habe ich mich gut unterhalten gefühlt - das Buch war wieder einmal ein Glücksgriff!

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