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Der Oligarch (Gabriel-Allon-Reihe 9)

Der Oligarch (Gabriel-Allon-Reihe 9)

Daniel Silva
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Thriller

„Spannender Thriller von Daniel Silva.“ - Kronen Zeitung Wien (A)

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Der Oligarch (Gabriel-Allon-Reihe 9) — Inhalt

Eine internationale Intrige bedroht die Welt, und zwei erbitterte Feinde stellen sich dem tödlichen Duell. In den tief verschneiten Wäldern nordöstlich von Moskau trifft Gabriel Allon auf seinen härtesten Gegner, und er weiß: Wenn er das überlebt, wird nichts mehr sein wie zuvor.

€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 18.06.2012
Übersetzt von: Wulf Bergner
416 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-27466-1
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Leseprobe zu „Der Oligarch (Gabriel-Allon-Reihe 9)“

Für Marilyn Duckworth
für viele Jahre Freundschaft,
Unterstützung und Lachen.
Und wie immer für meine Frau Jamie
und meine Kinder Nicholas und Lily.


Muss einem Mann eine Verletzung zugefügt werden, sollte sie so schwer sein, dass seine Rache nicht zu fürchten ist.
Machiavelli


TEIL I


Eröffnungszüge


I


WLADIMIRSKAJA OBLAST, RUSSLAND


Pjotr Luschkow war im Begriff, ermordet zu werden, und dafür war er dankbar.
Es war Ende Oktober, aber der Herbst war längst nur mehr eine Erinnerung. Er war kurz und unansehnlich gewesen – eine alte Babuschka, die hastig einen [...]

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Für Marilyn Duckworth
für viele Jahre Freundschaft,
Unterstützung und Lachen.
Und wie immer für meine Frau Jamie
und meine Kinder Nicholas und Lily.


Muss einem Mann eine Verletzung zugefügt werden, sollte sie so schwer sein, dass seine Rache nicht zu fürchten ist.
Machiavelli


TEIL I


Eröffnungszüge


I


WLADIMIRSKAJA OBLAST, RUSSLAND


Pjotr Luschkow war im Begriff, ermordet zu werden, und dafür war er dankbar.
Es war Ende Oktober, aber der Herbst war längst nur mehr eine Erinnerung. Er war kurz und unansehnlich gewesen – eine alte Babuschka, die hastig einen fadenscheinigen Kittel abstreift. Und nun dies: bleigrauer Himmel, arktische Kälte, Schneeverwehungen. Der Startschuss für Russlands endlosen Winter.
Pjotr Luschkow, ohne Hemd, barfuß, die Hände auf dem Rücken gefesselt, nahm die Kälte kaum wahr. Tatsächlich hätte er in diesem Augenblick Mühe gehabt, sich an seinen Namen zu erinnern. Er glaubte, von zwei Männern durch ein Birkenwäldchen geführt zu werden, aber er wusste es nicht sicher. Dass sie in einem Wald waren, war nur logisch. Dies war der Ort, den Russen für ihre blutige Arbeit bevorzugten. Kurapaty, Bykiwnia, Katyn, Butowo … immer in den Wäldern. Luschkow war im Begriff, einer großen russischen Tradition teilhaftig zu werden. Luschkow stand davor, unter Bäumen zu sterben.
Im Zusammenhang mit Morden gab es einen weiteren russischen Brauch: das absichtliche Zufügen von Schmerzen. Pjotr Luschkow war dazu gezwungen worden, Berge von Schmerzen zu erklimmen. Sie hatten ihm die Finger und beide Daumen gebrochen. Sie hatten ihm die Arme und sämtliche Rippen gebrochen. Sie hatten ihm Nase und Unterkiefer gebrochen. Sie hatten sogar noch auf ihn eingeschlagen, als er schon bewusstlos gewesen war. Sie hatten ihn geschlagen, weil es ihnen befohlen worden war. Sie hatten ihn geschlagen, weil sie Russen waren. Vorübergehend aufgehört hatten sie nur, wenn sie Wodka tranken. Als es keinen Wodka mehr gab, hatten sie noch erbarmungsloser zugeschlagen.
Jetzt befand er sich auf der Schlussetappe seiner Lebensreise, dem langen Weg zu einem unbezeichneten Grab. Die Russen hatten einen Ausdruck dafür: wyschaja mera, die höchste Form der Bestrafung. Im Allgemeinen war sie für Verräter reserviert, aber Pjotr Luschkow hatte niemanden verraten. Er hatte sich von der Frau seines Herrn übers Ohr hauen lassen, und sein Herr hatte deswegen alles verloren. Dafür musste jemand büßen. Letzten Endes würden alle dafür büßen.
Er konnte seinen Herrn jetzt sehen, wie er allein zwischen den zündholzdürren Stämmen der Birken stand. Schwarzer Ledermantel, silberne Mähne, ein Schädel wie der Turm eines Panzers. Er blickte auf die großkalibrige Pistole in seiner Rechten hinab. Das musste Luschkow anerkennen: Es gab nicht viele Oligarchen, die den Schneid hatten, ihre Morde selbst zu verüben. Aber es gab natürlich auch nicht viele Oligarchen wie seinen Herrn.
Das Grab war bereits ausgehoben. Luschkows Herr inspizierte es sorgfältig, als wolle er sich davon überzeugen, dass es wirklich groß genug war, um eine Leiche aufzunehmen. Als Luschkow sich hinknien musste, konnte er das unverwechselbare Rasierwasser riechen. Sandelholz und Rauch. Der Geruch von Macht. Der Gestank des Teufels.
Der Teufel schlug ihn ein letztes Mal ins Gesicht. Luschkow spürte diesen Schlag nicht einmal mehr. Dann drückte der Teufel ihm die Mündung der Pistole ins Genick und wünschte ihm einen angenehmen Abend. Luschkow sah das rosa Aufblitzen seines eigenen Bluts. Dann nur mehr Dunkel. Er war endlich tot. Und dafür war er dankbar.


2


LONDON, JANUAR


Die Ermordung Pjotr Luschkows blieb weitgehend unbemerkt. Niemand trauerte um ihn; keine Frauen trugen seinetwegen Schwarz. Keine russischen Polizeibeamten ermittelten wegen seines Todes, und keine russische Zeitung machte sich die Mühe, seinen Tod zu melden. Nicht in Moskau. Nicht in St. Petersburg. Und erst recht nicht in der russischen Großstadt, die unter dem Namen London bekannt war. Hätte die Nachricht von Luschkows Tod die Bristol Mews erreicht, wo der russische Überläufer und Dissident Oberst Grigorij Bulganow wohnte, hätten ihn Gewissensbisse geplagt. Hätte Grigorij den armen Pjotr nämlich nicht in Iwan Charkows privaten Tresor gesperrt, hätte der Leibwächter noch leben können.
In Führungskreisen des Thames House und von Vauxhall Cross, den an der Themse liegenden Zentralen von MI5 und MI6, galt Grigorij Bulganow seit jeher als charismatisch und stand im Mittelpunkt vieler Diskussionen. Die Meinungen waren geteilt, aber das war meistens der Fall, wenn die beiden Dienste zum selben Thema Position beziehen mussten. Er sei bestenfalls ein Mann mit vielen Facetten, murmelten seine Verleumder. Ein Spötter aus der Führungsetage des Thames House beschrieb ihn als Überläufer, den die Downing Street so dringend brauche wie ein undichtes Dach – denn in London, wo mittlerweile über eine Viertelmillion Russen lebten, sei wohl kaum noch Platz für einen weiteren Unzufriedenen, der es darauf anlege, dem Kreml Schwierigkeiten zu machen. Besagter MI5-Mann gab seine Prophezeiung, eines Tages würden sie alle bereuen, Grigorij Bulganow Asyl gewährt und ihm einen britischen Pass ausgestellt zu haben, sogar zu Protokoll. Aber selbst ihn verblüffte, wie rasch dieser Tag kam.
Grigorij Bulganow, ehemals Oberst in der Abteilung Spionageabwehr des russischen Föderalen Sicherheitsdiensts, besser als FSB bekannt, war im Spätsommer des vergangenen Jahres an Land geschwemmt worden – ein unerwartetes Nebenprodukt einer multinationalen Geheimdienstoperation gegen einen gewissen Iwan Charkow, einen russischen Oligarchen und Waffenhändler. Nur eine Handvoll britischer Beamter kannte das wahre Ausmaß von Grigorijs Beteiligung an diesem Unternehmen. Noch weniger wussten, dass ohne sein beherztes Eingreifen ein ganzes israelisches Geheimdienstteam auf russischem Boden umgekommen wäre. Wie die KGB-Überläufer vor ihm verschwand Grigorij zunächst in einer Welt aus sicheren Häusern und einsam gelegenen Landsitzen. Ein angloamerikanisches Befragungsteam quetschte ihn Tag und Nacht aus, erst über die Struktur von Charkows Waffenschmuggelunternehmen, für den Grigorij schändlicherweise als bezahlter Agent gearbeitet hatte, dann über die Arbeitsweise seines ehemaligen Diensts. Die britischen Vernehmer fanden ihn charmant, die Amerikaner weniger. Sie bestanden darauf, ihn unter Druck zu setzen, was im Agency-Jargon bedeutete, dass er sich einem Lügendetektortest unterziehen musste. Er bestand ihn mit Bravour.
Als die Vernehmer genug hatten und die Entscheidung getroffen werden musste, was letztendlich mit ihm geschehen sollte, berieten die Bluthunde der Abteilung Innere Sicherheit unter strengster Geheimhaltung darüber und gaben ihre Empfehlungen ab – ebenfalls strikt geheim. Am Ende gelangten sie zu dem Schluss, dass, auch wenn seine früheren Kameraden ihn beschimpften, Grigorij keine ernstliche Gefahr drohe. Selbst der einst gefürchtete Iwan Charkow, der in Russland seine Wunden leckte, schien zu keiner konzertierten Aktion imstande.
Der Überläufer hatte drei Forderungen gestellt: Er wollte seinen Namen behalten, in London wohnen und nicht sichtbar bewacht werden. Auf diese Wünsche – vor allem den dritten – ging der MI5 bereitwillig ein. Personenschutz war teuer, und für das dafür notwendige Personal gab es bessere Verwendung, beispielsweise im Kampf gegen die einheimischen Dschihadisten. Man kaufte ihm in einer ruhigen Seitenstraße bei Maida Vale eine zu einem hübschen Wohnhaus umgebaute ehemalige Stallung, erteilte einen Auftrag für monatliche Zahlungen und überwies einen Einmalbetrag – der einen Skandal bewirkt hätte, wenn er publik geworden wäre – auf ein Londoner Bankkonto. Ein MI5-Anwalt handelte in aller Stille mit einem angesehenen Londoner Verlag einen Buchvertrag aus. Die Höhe des Vorschusses erstaunte die Führungskräfte beider Dienste, von denen viele an eigenen Büchern arbeiteten – natürlich im Geheimen.
Eine Zeit lang schien sich Grigorij als der seltenste aller Vögel in der Geheimdienstwelt erweisen zu wollen: als ein Fall ohne Komplikationen. Mit fließendem Englisch stürzte er sich in das Londoner Leben wie ein entlassener Häftling, der verlorene Zeit wettmachen will. Er ging ins Theater und besuchte Museen. Dichterlesungen, Ballett, Kammermusik – für alles war er zu begeistern. Er arbeitete regelmäßig an seinem Buch und ging einmal in der Woche mit seiner Lektorin, die zufällig eine 32-jährige Schönheit mit Porzellanteint war, zum Lunch. In seinem neuen Leben fehlte ihm nur das Schachspiel. Sein MI5-Führungsoffizier schlug daher vor, er solle in den Central London Chess Club eintreten, eine im Ersten Weltkrieg von Staatsbeamten gegründete, altehrwürdige Vereinigung. Sein Mitgliedsantrag war ein Meisterstück an Unverbindlichkeit. Er gab keine Adresse, keine private Telefonnummer, keine Handynummer, auch keine E-Mail-Adresse an. Als Beruf trug er „Übersetzer“, als Arbeitgeber „selbstständig“ ein. In das für sonstige Hobbys oder Interessen vorgesehene Feld schrieb er „Schach“.
Andererseits sind Aufsehen erregende Fälle niemals ganz frei von Kontroversen, und die alten Hasen warnten, sie hätten noch keinen Überläufer – vor allem keinen russischen – erlebt, mit dem nicht von Zeit zu Zeit die Pferde durchgingen. Das passierte Grigorij an dem Tag, an dem der englische Premierminister bekannt gab, ein gefährlicher Terroranschlag sei verhindert worden. Anscheinend hatte die al-Qaida geplant gehabt, mit russischen Fla-Raketen – von Grigorijs ehemaligem Paten Iwan Charkow gekauft – mehrere Verkehrsflugzeuge abzuschießen. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden saß Grigorij vor BBC-Kameras und behauptete, bei diesem Unternehmen eine Hauptrolle gespielt zu haben. In den folgenden Tagen und Wochen war er in England und anderswo ein Dauergast im Fernsehen. Nachdem er so zu einer Berühmtheit geworden war, begann er sich in russischen Emigrantenkreisen zu bewegen und mit russischen Dissidenten jeglicher Couleur zu verkehren. Dass er plötzlich im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stand, verführte ihn dazu, seine neu gewonnene Berühmtheit als Plattform zu nutzen, um wilde Anschuldigungen gegen seinen alten Dienst und den russischen Präsidenten zu verbreiten, den er als einen angehenden Hitler bezeichnete. Als der Kreml mit finsteren Andeutungen über Russen reagierte, die auf englischem Boden einen Staatsstreich planten, empfahl Grigorijs Führungsoffizier ihm, sich etwas zu mäßigen. Das tat auch seine Lektorin, die noch ein paar Enthüllungen für das Buch aufheben wollte.
Der Überläufer mäßigte sich widerstrebend, allerdings nur geringfügig. Statt sich weiter mit dem Kreml zu streiten, konzentrierte er seine beachtlichen Energien jetzt auf sein geplantes Buch und das Schachspiel. In diesem Winter nahm er an dem jährlichen Clubturnier teil und pflügte mühelos durch die Gruppe seiner Gegner – wie ein sowjetischer Panzer durch die Straßen von Prag, grollte eines seiner Opfer. Im Halbfinale setzte er den Titelverteidiger matt, ohne sich auch nur anstrengen zu müssen. Sein Turniersieg schien unvermeidlich.
Am Nachmittag vor dem Finale aß er mit einem Journalisten der Zeitschrift Vanity Fair in Soho zu Mittag. Auf dem Nachhauseweg kaufte er bei Clifton Nurseries eine Topfpflanze und holte bei seiner Wäscherei in der Elgin Avenue einen Stapel Hemden ab. Nach einem kurzen Nickerchen, das zur Vorbereitung auf jede Partie gehörte, duschte er, zog sich sorgfältig an und verließ seine Wohnung wenige Minuten vor 18 Uhr.
Was erklärt, weshalb Grigorij Bulganow, Überläufer und Dissident, am zweiten Dienstag im Januar um 18.12 Uhr auf der Londoner Harrow Road unterwegs war. Aus Gründen, die sich erst später klären würden, bewegte er sich in rascherem Tempo als gewöhnlich fort. Was das Schachturnier betraf, war dieses inzwischen das Letzte, woran er dachte.


Die Partie war für 18.30 Uhr im Clublokal, der Alten Sakristei der St. George s Church in Bloomsbury, angesetzt. Simon Finch, Grigorijs Gegner, traf um 18.15 Uhr ein. Während er Wassertropfen von seinem Regenmantel schüttelte, las er mit zusammengekniffenen Augen die drei Mitteilungen am Schwarzen Brett. Eine verbot das Rauchen, eine andere warnte davor, den Korridor (Fluchtweg bei Brandgefahr!) zu blockieren, und eine dritte, die Finch selbst angepinnt hatte, forderte alle dazu auf, den eigenen Müll zur Wiederverwertung mit nach Hause zu nehmen. Wie George Mercer, Club Captain und sechsmaliger Club Champion, es ausdrückte, war Finch „ein Fundi aus Camden Town“, der alle politisch korrekten Überzeugungen seines Stammes zur Schau trug. Freiheit für Palästina. Befreit Tibet. Stoppt den Völkermord in Darfur. Truppenabzug aus dem Irak. Recycel oder stirb. Die einzige Sache, an die Finch nicht zu glauben schien, war Arbeit. Seiner eigenen Aussage nach war er ein „gesellschaftlicher Aktivist und freiberuflicher Journalist“, was Clive Atherton, der reaktionäre Schatzmeister des Clubs zutreffend mit „Gammler und Schnorrer“ übersetzte. Aber selbst Clive gab bereitwillig zu, dass Finch wirklich wundervoll spielte: flüssig, künstlerisch, instinktiv und skrupellos wie eine Schlange. „Simons teure Ausbildung war nicht völlig umsonst“, sagte Clive gern, „nur falsch ausgerichtet.“
Sein Nachname – Fink – beschrieb ihn nicht richtig, denn Finch war lang und träge, mit glattem braunem Haar, das ihm fast bis zu den Schultern reichte, und einer Nickelbrille, die den entschlossenen Blick des Revolutionärs vergrößerte.
An das Schwarze Brett hängte er jetzt eine vierte Mitteilung – einen überschwänglichen Dankesbrief der Regent Hall Church, die dem Club dafür dankte, dass er das erste alljährliche Schachturnier der Heilsarmee für Obdachlose ausgerichtet hatte –, dann folgte er dem schmalen Gang zu der improvisierten Garderobe, wo er seinen Mantel an einen Kleiderständer auf Rollen hängte. In der kleinen Einbauküche warf er zwanzig Pence in ein riesiges Sparschwein und goss sich aus einer Thermoskanne mit der Aufschrift CHESS CLUB einen Becher lauwarmen Kaffee ein. Als er aus der Küche trat, rempelte er Young Tom Blakemore – auch ein irreführender Name, denn Young Tom war Ende achtzig – versehentlich leicht an. Finch schien das jedoch nicht einmal zu bemerken. Als Young Tom später vom MI5 vernommen wurde, sagte er aus, er habe ihm das nicht übel genommen. Schließlich habe kein einziges Clubmitglied Finch auch nur eine Außenseiterchance auf den Gewinn des Cups zugebilligt. „Er sah aus wie ein Mann, der zum Galgen geführt wird“, sagte Young Tom. „Nur die schwarze Kapuze hat noch gefehlt.“
Finch betrat den kleinen Lagerraum und nahm aus durchgebogenen Regalen ein Schachbrett, eine Schachtel Figuren, eine analoge Turnieruhr und einen Spielbogen mit. Mit seinem Kaffee in der einen Hand und dem Spielzubehör in der anderen betrat er den größten Raum der Sakristei. Dieser hatte senfgelbe Wände und vier schmutzige Fenster: drei blinzelten auf die gepflasterte Little-Russell-Street, das vierte auf den Hof hinaus. An einer Wand hing unter einem kleinen Kruzifix der Spielplan. Nur eine Partie war noch zu spielen: S. FINCH VS. G. BULGANOW.
Finch drehte sich um und begutachtete den Raum. Für den heutigen Spielabend waren sechs Platten zu Tischen aufgebockt worden: einer für das Finale, die übrigen für gewöhnliche Partien – „Freundschaftsspiele“, wie sie im Jargon des Clubs hießen. Als glühender Atheist wählte Finch den am weitesten von dem Kruzifix entfernten Platz und bereitete sich methodisch auf die Partie vor. Er kontrollierte die Spitze seines Bleistifts, dann notierte er Datum und Brettnummer auf dem Spielbogen. Er schloss die Augen und sah die Partie vor sich, wie sie sich hoffentlich entfalten würde. Dann, eine Viertelstunde nachdem er Platz genommen hatte, blickte er auf seine Armbanduhr. 18.42 Uhr. Grigorij verspätete sich. Merkwürdig, dachte Finch. Der Russe kam sonst nie unpünktlich.
Finch fing in Gedanken an Steine vom Brett zu nehmen – sah einen König resigniert auf der Seite liegen, sah wie Grigorij beschämt den Kopf hängen ließ – und beobachtete dabei den unaufhaltsamen Marsch der Uhrzeiger.
18.45 … 18.51 … 18.58 …
Wo bist du, Grigorij?, dachte er. Wo zum Teufel steckst du?


Letztlich würde Finchs Rolle unbedeutend und sein Auftritt nach Meinung aller Beteiligten dankbar kurz sein. Es gab einige, die sich seine teils bedauerlichen politischen Verbindungen gern etwas genauer angesehen hätten. Es gab andere, die sich weigerten, sich überhaupt mit ihm abzugeben, weil sie Finch korrekterweise als einen Mann einschätzten, der nichts mehr genießen würde als eine publikumswirksame Auseinandersetzung mit den Sicherheitsdiensten. Am Ende sollte sich jedoch zeigen, dass sein einziges Verbrechen eine Unsportlichkeit war. Denn um punkt 19.05 Uhr – diese Uhrzeit hatte er mit eigener Hand auf dem Spielbogen eingetragen – übte er sein Recht aus, den Sieg für sich zu beanspruchen, weil sein Gegner nicht angetreten war. So wurde er als erster Spieler Clubmeister, ohne einen einzigen Stein gezogen zu haben – eine zweifelhafte Ehre, die ihm die Schachspieler der britischen Geheimdienste nie verziehen.
Ari Schamron, der berüchtigte israelische Meisterspion, würde später sagen, niemals zuvor habe ein so bescheidenes Ereignis zu so viel Blutvergießen geführt. Aber selbst Schamron, der manchmal zu rhetorischen Schnörkeln neigte, wusste recht gut, dass diese Bemerkung keineswegs zutreffend war. Denn die wahre Ursache der nun folgenden Ereignisse lag nicht in Grigorijs Verschwinden, sondern in einer Fehde, die Schamron selbst begonnen hatte. Grigorij, vertraute er seinen engsten Gefolgsleuten an, sei nur ein Schuss vor ihren selbstgefälligen Bug gewesen. Ein Signalfeuer auf einem fernen Wachtturm. Und der Köder, mit dem Gabriel aus der Deckung gelockt werden sollte.
Am folgenden Abend befand sich nicht nur der Spielbogen, sondern der gesamte Turnierordner mit den Spielberichten im Besitz des MI5. Die Amerikaner wurden vierundzwanzig Stunden später von Grigorijs Verschwinden benachrichtigt, aber aus nie ganz geklärten Gründen warteten die britischen Geheimdienste noch vier lange Tage, bevor sie endlich die Israelis benachrichtigten. Für Schamron, der im israelischen Unabhängigkeitskrieg mitgekämpft hatte und die Briten noch immer hasste, kam diese Verzögerung nicht überraschend. Binnen Minuten telefonierte er mit Uzi Navot, um ihm seinen Marschbefehl zu erteilen. Navot gehorchte widerstrebend. Darauf verstand er sich hervorragend.

Daniel Silva

Über Daniel Silva

Biografie

Daniel Silva war bis 1997 Top-Journalist des CNN und verbrachte lange Jahre als Auslandskorrespondent im Nahen Osten und am Persischen Golf. Heute ist er einer der erfolgreichsten amerikanischen Thrillerautoren und seine Bücher sind in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Wie kein anderer versteht...

Pressestimmen
MDR Hörfunk

„›Der Oligarch‹ von Daniel Silva ist ein packender, rasanter Thriller, der durch halb Europa führt und – tief in menschliche Abgründe.“

Kronen Zeitung Wien (A)

„Spannender Thriller von Daniel Silva.“

Westfalenpost

„Mit der Figur des israelischen Geheimagenten Gabriel Allon hat er bereits viele Millionen von Lesern rund um die Erde bei zahlreichen Abenteuern in immer wieder atemloser Spannung gehalten. Sein jüngster Thriller Der Oligarch treibt nun den Grusel einmal mehr auf eine neue Spitze.“

Oberhessische Presse

„Spannend bis zur letzten Seite… ›Der Oligarch‹ ist ein handwerklich sauber geschriebener und temporeicher Thriller, der seinem Genre gerecht wird.“

Die Welt

„Der internationale Top-Thriller - perfekt konstruiert und temporeich.“

BuchMarkt

„Thrillermäßig Spitze, furchtbar spannend, dabei ganz aktuell, der Plot fast ein Politikum. (…) Silvas Krimis befassen sich immer mit Gegenwartsproblemen und sind dadurch mehr als reine Verschlingware.“

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