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Der kleine Trommler

Der kleine Trommler

Dai Sijie
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Drei chinesische Geschichten

„Die Poesie macht seine Prosa faszinierend leicht, trotz bedrückender Szenen (...) und schockierenden Wendungen.“ - Stuttgarter Nachrichten

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Der kleine Trommler — Inhalt

Der Kantinendirektor kauft den dreizehnjährigen Neffen der Stummen füreinen monströsen Plan … Die kleine Eistänzerin ist überzeugt davon, dass ihr Vater, der Wächter des Stausees, ihre Mutter ermordet hat … Die alte Schmiedin schürt noch einmal das Feuer, um eine Kette herzustellen, mitder sie ihren Sohn an einen Baum fesseln kann …Auf der Insel der Edlen gibt es eigentlich nur Müll und die Ärmsten der Armen, die versuchen, durch „Wertstoffgewinnung“ ihr Leben zu bestreiten. Vor dieser sehr realen Kulisse, die dennoch jedem Science-Fiction-Film zurEhre gereichen würde, spielen drei gespenstisch gute Geschichten, in denen Dai Sijie dem modernen China ein unvergessliches Gesicht gibt.

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 09.10.2012
Übersetzt von: Eike Findeisen
160 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-95843-1
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Leseprobe zu „Der kleine Trommler“

Ho Chi Minh


Eines Abends im September 2002 geriet das Auftauchen eines Fremden bei den zwei Bewohnern des alten Containers zu einem Ereignis, auf das die beiden in keiner Weise gefasst gewesen waren.
Selbst der älteste Container auf der Insel der Edlen – vielleicht sogar der älteste ganz Chinas –, der sich die Gelegenheit nie entgehen ließ, wenn es darum ging, sich in einen Marktplatz zu verwandeln, in einen Ort also, wo Käufer und Verkäufer um die vielfältigsten Waren feilschen … Nudelmarkt, Möhrenmarkt, Kohlmarkt, Tomatenmarkt, Gurkenmarkt, [...]

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Ho Chi Minh


Eines Abends im September 2002 geriet das Auftauchen eines Fremden bei den zwei Bewohnern des alten Containers zu einem Ereignis, auf das die beiden in keiner Weise gefasst gewesen waren.
Selbst der älteste Container auf der Insel der Edlen – vielleicht sogar der älteste ganz Chinas –, der sich die Gelegenheit nie entgehen ließ, wenn es darum ging, sich in einen Marktplatz zu verwandeln, in einen Ort also, wo Käufer und Verkäufer um die vielfältigsten Waren feilschen … Nudelmarkt, Möhrenmarkt, Kohlmarkt, Tomatenmarkt, Gurkenmarkt, Fleischmarkt, Polizeihundemarkt, Ausweiskartenmarkt, Pferdemarkt, Haarmarkt, Fernsehermarkt, Computerschwarzmarkt …, selbst dieser altehrwürdige Container, der schon so viele hinterlistige Verkaufsverhandlungen erlebt hatte, bei denen nicht selten beträchtliche Summen auf dem Spiel standen, war nicht auf diesen abendlichen Besucher vorbereitet, dank dem er einen Rekordpreis erreichte, der alle seine bisherigen Erfolge in den Schatten stellen sollte.
Der Mann erschien gegen neunzehn Uhr, kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Der Neffe der Stummen sah ihn als Erster. Er versuchte gerade, mittels eines von ihm selbst gebastelten Windrads genug Strom zu produzieren, um damit eine Glühbirne zu speisen. Er unterbrach seine Arbeit, lehnte sich ans Windrad und beobachtete den Fremden, der, mit einem Köfferchen in der Hand, über die Steinbrücke kam. Es war kühl. Der Wind trieb die Blätter vor sich her. Der Min-Fluss riffelte sich golden. Dunkle Schatten krochen über den Weg.
Der Unbekannte, er mochte um die fünfzig sein, trug über seinem Fettwanst eine abgewetzte offene Wildlederjacke, und sein Doppelkinn wabbelte, als er keuchend und hustend den Damm hinaufschritt. Der glatt rasierte Schädel hob sein schlaffes Gesicht und seinen kräftigen Kiefer noch hervor.
Natürlich hatte man ihm gesagt, was er zu sehen bekäme. Aber auf diesen Anblick war er doch nicht vorbereitet gewesen.
„Du bist nicht zufällig …?“, vor Schreck verschlug es ihm die Sprache.
„Ja, das bin ich“, antwortete der Neffe, weil er glaubte, der Mann frage nach seiner Verwandtschaft mit der Stummen.
„Ich bin der Direktor der Gefängniskantine. Ich kenne deine Tante gut.“
Er wandte den Blick ab, und um seine Verlegenheit zu verbergen, brach er in dröhnendes Lachen aus, und die auf dem Dach sitzenden Sperlinge flatterten erschrocken davon.
Die Stumme kannte ihn tatsächlich. Er gehörte zu denjenigen, die weder Freund noch Feind waren und mit denen sie Geschäftsbeziehungen pflegte. Ein Tofukunde also, aber ein guter Kunde, der einer Kantine für täglich fünfhundert Personen vorstand.
Die Stumme wiederum hatte die verschiedensten Positionen inne: Sie war die Chefin; sie war die Buchhalterin; sie war die Einkäuferin der Sojabohnen und der anderen für die Produktion erforderlichen Zutaten, und sie war die Arbeiterin. Ihr Tofu war weitum berühmt, denn sie fügte fein gehacktes, pfannengerührtes Gemüse hinzu, was ihm ein ganz besonderes Aroma verlieh. Und das Häutchen darum herum war so zart, dass es auf der Zunge zerging. Und schließlich war sie auch noch die Händlerin: Um nichts in der Welt hätte sie einem anderen das Vergnügen überlassen, ihren Tofu zu verkaufen oder die Münzen für jede verkaufte Portion zu zählen. Dennoch: die Konkurrenz schlief nicht. Und war gnadenlos. Eine Stumme konnte es nur schwer mit Rivalinnen aufnehmen, die die Kunden mit flötender Stimme anlockten. Ihre Waffe war eine Trommel. An jeder Straßenkreuzung im Zentrum der Insel, vor jeder Mietskaserne, vor jedem Amtsgebäude, das über eine Kantine verfügte, stoppte sie ihre mit Tofu beladene Rikscha und schlug die Trommel, mit der sie anhand von Rhythmus- und Lautstärkewechsel ihre verschiedenen Erzeugnisse anpries.
Ihr Tofu war auf der Insel so beliebt, dass jedermann mittels der Trommelschläge gleich verstand, was für eine Tagesspezialität sie anbot: roter Tofu mit Fisch und Tomate, grüner Spinattofu, gelber Tofu; orangerötlicher oder schwarzer Tofu … je nach dem beigemischten Gemüse.
Es ging sogar das Gerücht, dass einer der größten Fans ihres Tofu – der Expräsident der Bezirksregierung und Exparteisekretär der Insel, der seit Kurzem einsaß – in seiner Zelle ebenfalls die Trommel schlug, um seinem Busenfreund, dem Direktor der Gefängniskantine, mitzuteilen, was er an dem Tag gern essen wolle.
Die Stumme war darüber zwar etwas erstaunt, aber keineswegs geschmeichelt. Im Gegenteil. Und an besagtem Abend wirkte sie eher beunruhigt, sowohl über das Überraschende dieses Besuchs als auch darüber, wie diskret der Kantinendirektor gekommen war – ohne jegliche Begleitung und auch nicht in seinem funkelnagelneuen Audi 4, den alle Welt kannte, sondern keuchend und schwitzend zu Fuß, gekleidet wie ein einfacher Arbeiter und mit einem Handelsreisendenköfferchen in der Hand.
Sie empfing ihn misstrauisch. Und ihr Neffe dolmetschte ihre misstrauischen Gesten.
Der Neffe übersetzte:
„Sie fragt, warum Eure Stimme anders klingt, und ob euer Zahnfleisch schmerzt.“
Der Direktor antwortet:
„Mein Zahnfleisch geht sie einen feuchten Dreck an.“
Der Neffe:
„Sie meint, Eure Lippen seien schmaler als sonst. Sie sagt, Ihr würdet sie beim Sprechen kaum bewegen.“
Der Direktor:
„Machen wir es kurz: Mein Besuch gilt weder ihr noch ihrem Tofu, sondern dir.“
Seine müden Augen unter den schlaffen Lidern fixierten den Jungen.
Der Direktor:
„Man hat es mir zwar gesagt, aber ich hab’s völlig vergessen. Wie heißt du?“
Der Neffe:
„Wie ich heiße? Keine Ahnung … Sie müssen in der Schule fragen … die Lehrerin … ist schon eine Weile her …“
Das Gestotter nervte den Direktor, und er verzog ungeduldig das Gesicht. Vielleicht stotterte der Junge ja nur, um ihn zu ärgern.
Der Direktor:
„Verstehe! Hat dich, außer in der Schule, nie jemand bei deinem Namen gerufen? Mit der Schule ist es für dich doch schon lange aus, oder?“
Der Neffe:
„Ja, weil sie Angst haben.“
Der Direktor:
„Ich weiß. Sie wollen dich nicht mehr in der
Schule, weil sich die Eltern der anderen Schüler über deine Anwesenheit beschwert haben.“
Der Neffe:
„Ja, so ungefähr … ist nicht weiter schlimm. Ich mag die Schule eh nicht.“
Der Direktor:
„Und wie wär’s, wenn ich dir einen Namen gebe? Von jetzt an heißt du Ho Chi Minh. Was meinst du?“
(Er brach wieder in Gelächter aus, in endloses dröhnendes Gelächter. Er kugelte sich, hielt sich den Bauch vor Lachen, musste sich an der neben dem Container geparkten Fahrradrikscha festhalten. Und je verunsicherter der Junge von diesem Gelächter war, je weniger konnte der Direktor aufhören zu lachen und gluckste vor Lachen und musste sich die Lachtränen abwischen.)
Der Direktor:
„Sag mal, mein lieber Ho Chi Minh, hat dich deine Tante gelehrt, die Trommel zu schlagen?“
Der Junge (ohne zu stammeln):
„Das musste sie mir nicht beibringen.“
Der Direktor:
„Du hast es von selbst gelernt? Einfach so?“
Der Neffe:
„Ich musste es doch gar nicht lernen. Ich kann’s einfach.“
Der Direktor:
„Also los, zeig mir, was du kannst.“
Das runzelige Gesicht verwandelte sich mit einem Mal, die schlaffen Lider öffneten sich über leuchtenden Augen. Der Junge ging die Trommel holen, und der Direktor nutzte den Moment, um vor den Augen der Stummen sein Köfferchen aufzuklappen: Es war bis oben mit Hundert-Yuan-Scheinen gefüllt, die im Licht der vom Windrad angetriebenen Lampe sanft glänzten. Er gab ihr durch rudimentäre Gesten zu verstehen, dass sie ihr gehörten … wenn sie damit einverstanden sei, dass er ihren Neffen mitnehme.
Sie willigte nicht gleich ein. Wollte zuerst wissen, ob er ihn nicht etwa in einem Zirkus auftreten lassen wollte …? Doch er konnte ihre Gesten nicht deuten und beschränkte sich darauf, mit den Schultern zu zucken.
Also streckte die Alte Zeigefinger und Mittelfinger in die Luft.
Diese Geste hingegen verstand er.
„Miststück!“, brüllte er. „Du wagst es, das Doppelte zu verlangen, bevor du überhaupt nachgezählt hast, wie viel es ist?“
Er knallte wütend das Köfferchen zu, stand auf und ging.
Die Stumme verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln, wusste sie doch genau, dass hinter seinem Getue nichts anderes steckte als Handelsgebaren, so alt wie die Welt.
Als der Neffe, Gegenstand des Geschäfts, mit der Trommel zurückkam, stapfte der Kerl bereits den Uferdamm hinunter.
„Sag deiner Idiotin von einer Tante“, rief er ihm über die Schulter zu, „sie kann dich ruhig in ihrem verschimmelten Container behalten. Aber sie sollte eigentlich wissen, dass noch nie ein Progeriekranker älter als dreizehn geworden ist. Du bist jetzt zwölf, oder?“
Der Junge versuchte, diesen Satz möglichst anschaulich für seine Tante zu übersetzen, doch wie ließ sich das ominöse Wort „Progerie“ – eine genetische Krankheit, die den Körper vorzeitig vergreisen lässt – in Gebärden umsetzen?
Das zornige Gebrüll des Gefängniskantinendirektors hallte noch lange in den Ästen nach und vermischte sich mit dem Rauschen des an den Blättern zerrenden Windes.
Die Hilflosigkeit des Jungen, jenen letzten Satz zu übersetzen, führte schließlich dazu, dass seine Tante den Handel nicht am selben Abend abschließen konnte. Denn als sie beschloss, ihre Strategie zu ändern, und ihrem Neffen befahl, den Käufer zurückzuholen, war es zu spät.
Er war viel zu forsch vorgegangen, sagte sich Letzterer. Er hätte sich nicht von seinem Zorn hinreißen lassen dürfen. Ja, er hatte es ungeschickt angefangen. Man stelle sich vor: eine Ware, ein Käufer und eine stumme Verkäuferin. Wenn die Verkäuferin durch Gesten oder durch die Übersetzung ihres Dolmetschers zu verstehen gibt, dass sie keine Lust hat zu verkaufen, muss der Käufer auf Zeit spielen – so will es die Regel – und durch denselben Dolmetscher zu verstehen geben, dass er es überhaupt nicht eilig hat zu kaufen. Und dass die Ware – in diesem Fall der Übersetzer – von Tag zu Tag an Handelswert verliert. Um zu einem Abschluss zu kommen, braucht es also eine doppelte Lüge: eine uralte Weisheit, die niemand je wird widerlegen können.

Dai Sijie

Über Dai Sijie

Biografie

Dai Sijie, geboren 1954 in der Provinz Fujian in China, wurde von 1971 bis 1974 im Zuge der kulturellen Umerziehung in ein Bergdorf geschickt. Nach Maos Tod studierte er Kunstgeschichte und emigrierte 1984 nach Paris. „Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“, sein erster Roman, wurde ein...

Pressestimmen
Stuttgarter Nachrichten

„Die Poesie macht seine Prosa faszinierend leicht, trotz bedrückender Szenen (...) und schockierenden Wendungen.“

Weltexpress

„Erschütternd, faszinierend, bildstark und unvergesslich!“

Deutschlandradio Kultur

„Sprachlich brillant entwickelt Dai Sijie seine Geschichten mit einem jeweils überraschenden Ende. Sie sind kurzweilig und berührend. Selten ist eine Anklage gegen unmenschliche Lebensbedingungen so fein und humorvoll geschrieben worden.“

Tiroler Tageszeitung

„Es schnürt dem Leser die Kehle zu, so voller leichtfingriger Empathie wird hier von menschlichen Tragödien im heutigen China erzählt.“

Living At Home

„Drei kleine, kluge Geschichten über das moderne China.“

PTA - Das Magazin

„Der Autor erzählt mit bezaubernder Leichtigkeit, die auch schwere Schicksale trägt. Bewegend.“

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