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Der demokratische Terrorist (Coq-Rouge-Reihe 2)

Der demokratische Terrorist (Coq-Rouge-Reihe 2)

Jan Guillou
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Ein Coq Rouge-Thriller

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Der demokratische Terrorist (Coq-Rouge-Reihe 2) — Inhalt

Die RAF jagt die Akademie der deutschen Bundeswehr in die Luft. Und auch in Schweden scheint sie mit einer gewaltsamen Aktion ein Zeichen setzen zu wollen. Das ist die Gelegenheit für den schwedischen Geheimdienst, einen Undercover-Agenten in die Terrorszene einzuschleusen. Agent Hamilton alias „Coq Rouge“ gelingt es, bis in den innersten Kreis der RAF vorzudringen. Er ködert seine Genossen mit dem Plan, die CIA-Zentrale in Stockholm angreifen zu wollen. Doch die Mission gerät außer Kontrolle: Hamilton wir gefangen genommen, die geplante Waffenlieferung nach Deutschland ist nicht mehr zu stoppen... Jan Guillou gilt als Kultklassiker unter den schwedischen Thriller-Autoren.

€ 2,49 [D], € 2,49 [A]
Erschienen am 10.12.2013
Übersetzt von: Hans Joachim Maass
432 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-98024-1
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Leseprobe zu „Der demokratische Terrorist (Coq-Rouge-Reihe 2)“

Leseprobe

1

Der Tod kam per Bierwagen. Hinterher war die Polizeiführung im Präsidium Beim Strohhause 31 natürlich schlauer. Zunächst aber hatte es so ausgesehen, als handelte es sich nur um einen der täglich rund 200 Kraftfahrzeugdiebstähle in Hamburg. Dabei war es außerdem noch unklar gewesen, welche Abteilung der Anzeige nachgehen sollte. War es einfacher Diebstahl oder die schwerere Form des Transportdiebstahls, da der Bierwagen mit 4000 Flaschen Ratsherrn-Pils beladen gewesen war? Der Gedanke lag nahe, daß ein paar Jugendliche sich an diesem [...]

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Leseprobe

1

Der Tod kam per Bierwagen. Hinterher war die Polizeiführung im Präsidium Beim Strohhause 31 natürlich schlauer. Zunächst aber hatte es so ausgesehen, als handelte es sich nur um einen der täglich rund 200 Kraftfahrzeugdiebstähle in Hamburg. Dabei war es außerdem noch unklar gewesen, welche Abteilung der Anzeige nachgehen sollte. War es einfacher Diebstahl oder die schwerere Form des Transportdiebstahls, da der Bierwagen mit 4000 Flaschen Ratsherrn-Pils beladen gewesen war? Der Gedanke lag nahe, daß ein paar Jugendliche sich an diesem Montagmorgen, am 14. November, mit einem reellen Vorrat eingedeckt hatten, um ihren Nachdurst vom Wochenende zu löschen.

Überdies hatte der Sicherheitsoffizier der Führungsakademie der Bundeswehr vom Hamburger Verfassungsschutz eine Warnung erhalten.

Da die Ausbildung ausländischer Offiziere an der Führungsakademie wieder einmal in die öffentliche Kritik geraten war – diesmal waren es keine Kadetten aus Chile, denen eine Spezialausbildung zuteil wurde, sondern, noch schlimmer, Offiziere aus Honduras –, durfte man davon ausgehen, daß es zu Demonstrationen kommen würde. Vor allem, da ein Pressesprecher der Bundeswehr bekanntgegeben hatte, daß einige hohe Generale in zwei Tagen beim offiziellen Abschluß des Kurses anwesend sein würden.

Vorstellbar waren beispielsweise gewalttätige Demonstrationen und diverse Sachbeschädigungen, wie etwa Attacken von Graffiti-Künstlern. In einem in der Stadt anonym verteilten Flugblatt hieß es, die Bundesrepublik habe sich wieder einmal offen an die Seite des US-Imperialismus gestellt, indem sie sich der Ausbildung von dessen Lakaien und damit auch direkter kriegerischer Handlungen gegen die Revolution in Nicaragua schuldig gemacht habe.

Schon die in dem Flugblatt geäußerten Gedanken sowie der Umstand, daß es anonym war, hätten größtmögliche Sicherheitsvorkehrungen auslösen müssen.

Möglicherweise hatte sich der Sicherheitschef der Führungsakademie das auch vorgenommen, jedoch nicht vor dem Eintreffen der Generale, das als der kritische Zeitpunkt betrachtet werden mußte.

Die Führungsakademie der Bundeswehr liegt in der Manteuffelstraße 20 in einem idyllischen Villenviertel zwischen Blankenese und Nienstedten, einem einst ländlichen Vorort Hamburgs. Die roten Klinkerbauten dienten im Zweiten Weltkrieg schon der Wehrmacht als Kasernen.

Der Bierwagen, der auf dem Weg nach Blankenese die Villen an der Elbchaussee hinter sich gebracht hatte und in die Manteuffelstraße einbog, war ein alltäglicher Anblick. Zwar hatte der Posten beim Einfahrtstor wie das gesamte Wachpersonal militärischer Anlagen sowohl der Bundesrepublik wie der NATO in den letzten Jahren zahlreiche Verhaltensvorschriften erhalten, was die Kontrolle von Personen und Fahrzeugen betraf. Besucher und militärisches Personal wurden minuziös überprüft. Truppenausweise boten keine Sicherheit mehr, da es Terroristen schon mehrmals gelungen war, sich solche Papiere zu beschaffen. So war es etwa den Angehörigen der Streitkräfte in den meisten Anlagen verboten, mit Privatfahrzeugen Militärgelände zu befahren.

Der Bierwagen wurde jedoch ohne weiteres durchgewinkt. Der Wachtposten erklärte am nächsten Tag, daß das Kennzeichen des Fahrzeugs seit langem bekannt und daß es zur gewohnten Stunde erschienen sei.

Später stellte sich heraus, daß der Fahrer sich äußerst kaltblütig verhalten hatte. Er hatte auf dem Gelände kurz angehalten und einen vorbeigehenden Leutnant gefragt, in welcher Baracke die lateinamerikanische Delegation wohne, da er dort Bier anliefern solle. Der Leutnant hatte es ihm erklärt.

Zehn Minuten später, als 22 junge Offiziere aus Honduras zur Mittagspause in ihr Quartier zurückkehrten, stand der Bierwagen vor der Eingangstür.

Um diese Zeit hatte aber die Hauptwache schon Verdacht geschöpft und einen Feldwebel namens Heinrich Behnke losgeschickt, um der Sache nachzugehen. Behnke fand den Bierwagen leer vor. Merkwürdig, dachte er, als er sich auf das Trittbrett stellte und an den Türgriff faßte. Es war das letzte, was er dachte.

Soweit sich nachträglich feststellen ließ, mußte der Bierwagen mit mindestens 25 Kilogramm TNT sowie rund 20 Gasflaschen beladen gewesen sein.

Die Druckwelle der Explosion hatte in einem Umkreis von 500 Metern sämtliche Fenster zertrümmert, und die Rauchwolken waren fast in ganz Hamburg zu sehen. Vier deutsche und neun ausländische Offiziere kamen bei dem Anschlag ums Leben.

Nach den Maßstäben der westdeutschen Terroristen mußte dies als der erfolgreichste Angriff gelten, den sie in der Bundesrepublik je verübt hatten. Die noch am selben Nachmittag den Zeitungen zugespielten Erklärungen enthielten ungefähr das, was zu erwarten gewesen war. Wieder einmal hätten die europäischen Guerilleros gegen das Herzstück des kapitalistischen Staates zugeschlagen. Man habe direkt den Krieg der NATO gegen die Völker der Dritten Welt attackiert und das Kommando nach einem nicaraguanischen Revolutionshelden benannt.

Im nachhinein erschien alles logisch und vorhersagbar, obwohl die deutschen Terroristen zum ersten Mal einen so massiven Angriff gegen eine Einrichtung der Bundeswehr gerichtet hatten.

Neu hingegen war, daß den Bekennerbriefen zufolge nicht nur die Rote Armee Fraktion an dem Anschlag beteiligt war, was sowohl Polizei wie Verfassungsschutz vermuteten, als sie von der Katastrophe erfuhren, sondern auch die belgische Terroristenorganisation CCC. Früher hatte die RAF mit ihren französischen Genossen von der Action Directe zusammengearbeitet, sowohl bei Mordanschlägen wie bei Sabotageakten. Jetzt war also auch die belgische Organisation bei Aktionen dieses Schlages mit von der Partie. Die Terroristen waren dabei, ihre Internationale zu schaffen.

Ein verwirrendes Detail war die Tatsache, daß man nicht wußte, wo der vermeintliche Bierfahrer geblieben war, nachdem er den Wagen verlassen hatte. Man vermutete, daß er ganz einfach davonspaziert war oder eine Toilette aufgesucht hatte, um dann in dem Chaos nach der Explosion zu verschwinden. Wie dem auch sei: Sein Auftritt war gespenstisch kaltblütig gewesen.

Als noch am selben Nachmittag der Hamburger Senat zusammentrat, wurden zwei Dinge hervorgehoben: Dies sei erstens der schlimmste Anschlag in der Geschichte des westdeutschen Terrorismus. Und zweitens: Im Kampf gegen diesen Terrorismus gelte es jetzt, mit aller Kraft zurückzuschlagen – um jeden Preis. Der demokratische Staat müsse sich verteidigen.

Um jeden Preis.

2

Das Bundeskriminalamt, abgekürzt BKA, hat sein Hauptquartier in einem kleinbürgerlichen Villenviertel am Rande Wiesbadens. Der unscheinbare, von Fernsehkameras überwachte Eingang an der Thaerstraße 11 macht eher den Eindruck, als führe er in ein unbedeutendes Bürogebäude oder eine Berufsschule. Die Thaerstraße ist eine Sackgasse, die beim BKA endet, und erst wenn man sich etwas genauer umsieht, entdeckt man, daß sich hier in Wahrheit ein großer Komplex von vier bis fünf Gebäuden verbirgt, die hinter Stacheldraht und Alarmanlagen durch verglaste Gänge verbunden sind. Dies ist das polizeiliche Gehirn der Bundesrepublik Deutschland und ein Arbeitsplatz für mehrere tausend Menschen.

Kriminaloberkommissar Dietmar Werth verließ ganz gegen seine Gewohnheit das Gelände, um essen zu gehen. Obwohl er nun schon mehr als zwei Jahre in der Antiterror-Abteilung des BKA arbeitete, mußte er sich beim Verlassen des Geländes jedesmal bei den Wachtposten ausweisen. Es war ihnen offenkundig nur möglich, sich das Aussehen der allerhöchsten Chefs einzuprägen, und Werth verabscheute es, mit einem Plastikkärtchen am Jackenaufschlag herumzulaufen, als gehörte er zu irgendeiner Putzkolonne oder zum Bodenpersonal eines Flugplatzes.

Eigentlich hatte er Hunger. Das einzige Restaurant in der Nähe war ein kleines italienisches Lokal, das wie eine umgebaute Garage aussah und es vermutlich auch war. Dietmar Werth kam zu dem Schluß, daß er einen Spaziergang nötiger hatte als etwas zu essen und daß der kühle Nieselregen ihm guttun würde. Denn in zwei Stunden lief er Gefahr, sich zu blamieren.

Punkt 14 Uhr sollte er sich bei seinem Abteilungspräsidenten Klaus-Herbert Becker einfinden, dem Chef der Antiterror-Abteilung des BKA. Punkt 14 Uhr mußte Dietmar Werth eine Empfehlung parat haben, und er war fast schon entschlossen, ein riskantes Unternehmen vorzuschlagen, nämlich daß der Herr Abteilungspräsident sich entschließen möge, die Angelegenheit vom BKA an die Konkurrenz in Köln abzugeben, an den Verfassungsschutz.

Mit einem solchen Vorschlag konnte er sich eigentlich nur unbeliebt machen. Bislang war es mit seiner Karriere schnell und direkt aufwärtsgegangen, bis zu diesem Punkt, an dem sie ein abruptes Ende finden konnte, sofern nämlich der Oberst so wütend wurde, wie im schlimmsten Fall zu befürchten war, wenn er den Vorschlag seines Untergebenen zu hören bekam.

Dietmar Werth ging ziellos zur Innenstadt hinunter, bog beim Stadttheater an der Wilhelmstraße ab und ging auf den Spazierwegen im Kurpark weiter. Das Wetter machte ihn zu einem einsamen Flaneur. Draußen im Teich schwammen zwei Stockenten, im übrigen schien die Gegend wie ausgestorben zu sein.

Von Anfang an war Werth der ganze Fahndungsansatz viel zu weit hergeholt erschienen. Irgendein übereifriger Drogenfahnder von der FD 6 („Sonderermittlungen“) in Hamburg hatte sich eine Woche lang der wenig beneidenswerten Aufgabe gewidmet, sämtliche Gespräche aus zwei nebeneinanderliegenden Telefonzellen im Hurenviertel – einen Steinwurf von der Reeperbahn und der Herbertstraße entfernt – abzuhören und zu analysieren. Mein Gott, was mußte der arme Kerl für besoffenes Gequatsche und dummes Zeug mitangehört haben.

Aber dann hatte sich in dem Mann irgendwie der Eindruck verfestigt, daß eines der Telefonate als konspiratives Gespräch von zwei Terroristen gedeutet werden mußte, mochte es auf den ersten Blick auch so wirken, als unterhielten sich zwei jüngere Geschäftsleute in gepflegtem Deutsch über ein vor kurzem abgeschlossenes Geschäft, als planten sie einen weiteren Vorstoß auf die Märkte Belgiens oder Schwedens.

Das Gespräch hatte elf Minuten gedauert. Die automatische Aufzeichnung hatte es vermerkt: am Mittwoch, dem 16. November von 14.03 Uhr bis 14.14 Uhr. Die Abschrift umfaßte zwölf getippte Seiten in Dialogform, und das Gespräch selbst war der Form nach natürlich unschuldig und inhaltlich nichtssagend.

Nur notierte der Computer seit einiger Zeit auch die angerufene Telefonnummer. Und dieses zweite Telefon befand sich in dem italienischen Restaurant Cuneo, was deshalb auffallend war, da zwischen Restaurant und Telefonzelle kaum mehr als 200 Meter lagen.

Wie kommt es, hatte sich der Kollege von der Drogenfahndung FD 6 gefragt, daß zwei Personen elf Minuten lang ein geschäftliches Telefongespräch führen, wenn sie kaum anderthalb Minuten Fußweg voneinander entfernt sind? Wollten sie es nicht riskieren, zusammen gesehen zu werden?

So war es zum Anfangsverdacht gekommen, und damit war das Ganze rein formal zum Fahndungsauftrag in einer Strafsache geworden. Aber statt der gewohnten Routine zu folgen, die Abschrift zu zerstören und das Gespräch im Computer zu löschen – denn diese sogenannte Überschuß-Information hatte offenkundig nichts mit strafbarem Drogenhandel zu tun, und die Abhörerlaubnis galt nur für Drogenstraftaten –, hatte sich der Drogenfahnder von der FD 6 mit der Abschrift hingesetzt und seiner Phantasie freien Lauf gelassen. Damit wurde die Angelegenheit zur Fahndungssache.

Ein einzelner Polizeibeamter hatte sich hingesetzt und Vermutungen angestellt. Seine erste Vermutung war, daß hier zwei Terroristen vom harten Kern der RAF erstens den Terroristenanschlag erwähnten, den sie soeben begangen hatten, das Bombenattentat in Hamburg, zweitens die Tatsache kommentierten, daß belgische Terroristen an der Aktion teilgenommen hatten, und drittens die Wahl zwischen neuen Terrorakten in Belgien oder Schweden erörterten, wobei die zweite Alternative viertens die Schwierigkeit aufwarf, daß man mit einem hinlänglich kompetenten schwedischen Terroristenkollegen Kontakt aufnehmen mußte.

Das Ganze schien zunächst weit hergeholt, um nicht zu sagen völlig aus der Luft gegriffen zu sein. Es war dem Drogenfahnder aber offenbar gelungen, seinen Einfall so mitreißend darzulegen, daß er seinen Chef von der FD 6, einen Kriminaldirektor Soundso, dazu gebracht hatte, die Angelegenheit formell der Terrorismus-Abteilung beim BKA in Wiesbaden zu übergeben, und so war sie drei Tage nach der Aufzeichnung des Telefonats und fünf Tage nach dem Bombenattentat in Hamburg auf Dietmar Werths Schreibtisch gelandet.

Dieser hatte die weitgehende Deutung des Telefongesprächs zunächst nicht einen Augenblick ernst genommen und es daher vorgezogen, diese Bagatellsache auf dem schnellsten Weg wieder loszuwerden. Die FD 6 hatte nämlich in erster Linie darum ersucht, das BKA möge prüfen, ob eine der Stimmen auf dem Tonband zu identifizieren sei.

Folglich hatte Werth Abschrift und Tonband an die technische Abteilung geschickt, um dort eine Analyse vornehmen zu lassen. In der Bundesrepublik sind bei der Polizei 700 Personen als gesuchte Terroristen oder als Personen registriert, die im Verdacht stehen, Sympathisanten zu sein. Von rund 80 dieser Personen besitzt das BKA Tonbandaufzeichnungen, die in einem Tonarchiv gespeichert sind.

Die moderne Computertechnik hat Stimmen inzwischen zu einer fast ebenso sicheren Identifikationsquelle wie Fingerabdrücke gemacht. Die Ausrüstung des Wiesbadener BKA reicht aus, um eine gespeicherte Stimme mit fast hundertprozentiger Sicherheit wiederzuerkennen. Und damit begann die Sache ernst zu werden. Denn eine der Stimmen gehörte einem gewissen Horst Ludwig Hahn, 29 Jahre alt, einen Meter fünfundsiebzig groß, besondere Kennzeichen: eine Narbe auf der Stirn. Er war in der unteren linken Ecke des Fahndungsplakats zu finden, das die Bilder der 22 meistgesuchten deutschen Terroristen zeigte. Auf jeden war ein Kopfgeld von 50 000 DM ausgesetzt. Das rot-lila Plakat mit den schwarzweißen Bildern war in mehr als einer Million Exemplaren verteilt worden und hing in jedem Amt, in jeder Behörde der Bundesrepublik, auch an der Tür zu Dietmar Werths Dienstzimmer. Vorsicht, Schußwaffen! stand am unteren Rand des Plakats.

Die Identität des zweiten Gesprächspartners ließ sich nicht mit gleicher Sicherheit bestimmen. Seine Stimme war jedenfalls nicht archiviert, aber sein Dialekt sowie ein paar einfache Schlußfolgerungen hatten Dietmar Werth zu der Annahme gebracht, daß es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um einen gewissen Martin Beer handeln mußte: 25 Jahre alt, einen Meter fünfundneunzig groß, kräftiger Körperbau und auf dem linken Oberarm eine sechs Zentimeter lange Narbe.

Auf Martin Beers Kopf waren ebenfalls 50 000 DM ausgesetzt. Sein Bild fand sich rechts unten auf dem Plakat.

Also: Zwei Tage, nachdem sie in Hamburg einen Anschlag begangen hatten, hatten sich zwei der meistgesuchten Terroristen des Landes in dem Hurenviertel rund um die Reeperbahn aufgehalten. Sie hatten die Stadt nicht verlassen, so daß man davon ausgehen konnte, daß sie gegenwärtig von Hamburg aus operierten.

Die beiden hatten über eine Entfernung von rund 200 Metern ein konspiratives Telefongespräch geführt, statt sich zu treffen. Der Schluß lag nahe, daß sie irgendwo auf St. Pauli konspirative Wohnungen besaßen. Übrigens gar nicht so dumm, sich gerade hier zu verstecken. Zwar sind die Kriminalbeamten von der Sitte ebenso wie die für die Bekämpfung von Gewaltverbrechen und Drogenvergehen zuständigen Polizisten auf St. Pauli ständig im Einsatz, einem Gebiet mit der höchsten Kriminalitätsdichte der Bundesrepublik. Dies bedeutet aber auch, daß die Aufmerksamkeit der Polizei auf andere Dinge gerichtet ist als auf terroristische Aktivitäten.

Daraus hätte das BKA normalerweise den Schluß ziehen müssen, in diesem Viertel verstärkt zu fahnden. Falls sich die Terroristen irgendwo auf St. Pauli versteckt hielten, bestanden recht gute Aussichten, einen oder mehrere von ihnen zu finden. Kurz: Man würde die Zahl der Gesichter auf den überall im Land hängenden rot-lila Plakaten verringern können, was die Steuerzahler auch billigerweise erwarten durften.

Man durfte aber auch auf keinen Fall den Öffentlichkeitserfolg – die Ergreifung von ein oder zwei Terroristen unter großem Getöse – mit einem effektiven Ergebnis verwechseln. Der innere Kreis der deutschen Terroristen, der sogenannte harte Kern, war nie sonderlich groß gewesen und hatte im Verlauf von bald 20 Jahren immer wieder Verluste erlitten, ohne daß sich deswegen die Zahl der Terroristen verringert hätte. Es fiel ihnen leicht, Nachwuchs anzuwerben, und es schien ihre erklärte Taktik zu sein, nur Verluste zu ersetzen und den inneren Kreis nicht weiter zu vergrößern. Das war optimales Sicherheitsdenken; je mehr Eingeweihte, um so größer die Risiken.

Aus diesem Blickwinkel war es strategisch also nicht sonderlich sinnvoll, einen oder zwei Terroristen zu ergreifen, wenn man nicht gleichzeitig einen größeren Schlag gegen die Zentrale führen konnte, gegen den Kopf der Hydra.

Und hier ergab sich jetzt eine naheliegende und verführerische Möglichkeit, die die Lage angesichts der im BKA zu fassenden Beschlüsse komplizierte.

Die nachträgliche Lektüre der Abschrift des Gesprächs, als feststand, daß es sich um zwei identifizierte Angehörige des harten Kerns der RAF handelte, ließ den Inhalt des Gesprächs sonnenklar erscheinen.

Zunächst beglückwünschten sich die beiden Terroristen zu ihrem vor kurzem in Hamburg erfolgreich abgeschlossenen Geschäft („Vorgestern“ – was mit dem Zeitpunkt des Bombenanschlags übereinstimmte). Es folgte eine Anspielung auf die gelungene Zusammenarbeit mit den belgischen Kollegen. Da die RAF und die belgische Terrororganisation CCC (Cellules Communistes Combattantes) am Tag nach dem Attentat ein gemeinsames Kommuniqué in Umlauf brachten, in dem von ihrem „militärischen Angriff“ auf den Hauptfeind NATO die Rede war, paßte auch das perfekt ins Bild.

Dann folgte eine interessante Komplikation mit dem Hinweis auf Schweden. Die Alternative zu einer Fortsetzung des belgisch-deutschen Geschäfts in Belgien sei offenbar „der wirklich große Schnitt in Schweden“. Aber, so hatte der mutmaßliche Martin Beer eingewandt, dazu fehle ein schwedischer Kollege mit den notwendigen Spezialkenntnissen, denn die seien „technisch hochkompliziert und erforderten einen neuen Maschinenpark, bei dem schon die Grundinvestitionskosten erheblich sein dürften“. Der schwedische Partner sei auch notwendig, um „die Marktlage in Schweden besser beurteilen zu können“.

Die Drogenfahnder der FD 6 waren zu der Schlußfolgerung gelangt, daß die Terroristen jemanden suchten, der nicht nur Schwede sein und sich in Schweden auskennen mußte. Er sollte überdies militärtechnisch ausgebildet und versiert sein, eine Eigenschaft, die den westdeutschen Terroristen fast ausnahmslos fehlte. Sie hatten mit der Zeit gelernt, Bomben herzustellen – und das sogar recht geschickt. Und mit einfacheren Handfeuerwaffen konnten die meisten von ihnen zumindest notdürftig umgehen. Aber hier suchten sie offensichtlich einen Mann, der über ein breites Repertoire militärischen Wissens verfügen sollte. Und zudem wollten sie wohl ihr Arsenal mit schwereren Waffen erneuern.

Dietmar Werth mußte sich widerwillig eingestehen, daß er selbst zu ungefähr den gleichen Schlüssen gekommen war. Was den schwedischen Teil des Telefongesprächs betraf, gab es keine andere Deutungsmöglichkeit, selbst wenn sich rein theoretisch denken ließ, daß es sich etwa um eine Investition in Lastwagen handelte, um irgendeinen spektakulären Transport von entführten Personen oder etwas Ähnliches zu arrangieren. Solche Aktionen paßten aber nicht zur modernen Strategie der Terroristen. Sie hatten die Entführungs-Strategie aufgegeben und wollten neuerdings „direkt“ und mit „militärischen Aktionen“ gegen den „Hauptfeind“ zuschlagen.

Die FD 6 in Hamburg hatte drei Fragen gestellt und sollte auf dem Dienstweg Antwort erhalten. Aber bei der Formulierung der Antworten würde man unausweichlich gleichzeitig den entscheidenden Entschluß treffen müssen. Die drei Fragen der FD 6 lauteten:

1) Läßt sich die Identität einer oder beider Personen feststellen?

2) Sind besondere Fahndungsmaßnahmen zu ergreifen?

3) Sollte die Angelegenheit, vor allem was den Aspekt der Gewinnung von Erkenntnissen mit besonderen Methoden betrifft, dem Verfassungsschutz übergeben werden?

Was mit der letzten, etwas unbeholfen und euphemistisch formulierten Frage gemeint war, war vollkommen klar. Die besonderen Methoden, die in Frage kommen konnten, bestanden also darin, jemanden zu finden, der den Wünschen der Terroristen entsprach, ihn nach St. Pauli zu schicken und darauf zu hoffen, daß jemand anbiß.

Es war ungewöhnlich, daß die Terroristen diesmal außerhalb ihres Sympathisantenkreises, den sie gut kannten oder zumindest gut beurteilen konnten, einen Rekruten suchten. Ein unbekannter Schwede war etwas völlig anderes. Das eröffnete ganz andere Möglichkeiten, und das hatten sogar die Drogenfahnder begriffen.

Der Grund für die Übergabe der Angelegenheit an den Verfassungsschutz, die dazu führen würde, daß der Kriminalpolizei eine fette Beute entging, war in sowohl verwaltungstechnischer wie gesetzlicher Hinsicht offenkundig. Die reguläre deutsche Polizei hat weitgehende Freiheiten, wenn es beispielsweise darum geht, das organisierte Verbrechen zu unterwandern oder Scheingeschäfte mit Drogenhändlern abzuschließen, um zu Beweisen zu kommen. Diese Unterwanderungstechnik hat jedoch einen Haken: den Beamtenstatus der Ermittler. Ein Beamter darf sich nicht strafbar machen, jedenfalls nicht außerhalb eines bestimmten Rahmens von Gesetzesübertretungen. Und die Verbrechen, in die ein Beamter verwickelt werden kann, der mit Terroristen in Berührung kommt, sind weit schwerer als alles, was sich beispielsweise ein Drogenfahnder der FD 6 in Hamburg erlauben durfte.

Dem Verfassungsschutz war es auch nicht möglich, sein eigenes Personal in ein solches Abenteuer zu schicken. Ein Funktionsträger beim Verfassungsschutz ist ebenso Beamter mit entsprechender Verantwortung wie ein normaler Polizist. Der Verfassungsschutz hatte jedoch weit größere Möglichkeiten, sich außenstehender V-Männer zu bedienen. In diesem Fall ging es überdies ja noch darum, einen Ausländer zu engagieren. Für die reguläre Polizei wäre das sowohl technisch wie juristisch unmöglich. Der Verfassungsschutz konnte es unter Umständen möglich machen.

Folglich sollte die Sache an den Verfassungsschutz mit der Anfrage gehen, ob dieser interessiert sei, den Fall zu übernehmen. Weshalb es Dietmar Werth angesichts der bevorstehenden Empfehlung an seine Vorgesetzten im BKA nicht ganz wohl war, hatte nicht allzuviel mit Logik zu tun. Denn logisch stand zweifelsfrei fest, daß der Fall beim Verfassungsschutz am besten aufgehoben war. Die Konkurrenzsituation zwischen dem BKA und dem Verfassungsschutz lud jedoch nicht gerade dazu ein, derart interessante Fahndungsaufträge einfach aus der Hand zu geben. Beim BKA betrachtete man die Kollegen vom Verfassungsschutz als Schreibtisch-Polizisten und Bürokraten. Beim Verfassungsschutz hielt man die Kollegen vom BKA bestenfalls für primitive „Bullen“ und im schlimmeren und normalerweise leider üblichen Fall für geistig minderbemittelte Paviane.

Dennoch hatte sich Dietmar Werth schon entschieden, als er die beiden einsamen Stockenten im Teich des Kurparks betrachtete, einen Erpel und ein Weibchen. Er wollte das Risiko auf sich nehmen, wollte der Logik vor der Angst, sich bei seinen Vorgesetzten zu blamieren, Vorrang geben. Er würde empfehlen, die Angelegenheit an den Hamburger Verfassungsschutz abzugeben, verbunden mit der Anfrage, ob man dort irgendwelche Möglichkeiten zu speziellen Operationen sehe, besonders im Hinblick auf den von den Terroristen offenbar gewünschten schwedischen Mitkämpfer.

Wahrscheinlich würde der Abteilungspräsident verrückt spielen, wahrscheinlich würde das Ganze dazu führen, daß man sowohl beim Hamburger wie beim Kölner Verfassungsschutz dankend ablehnte, und damit würde die Sache wieder beim BKA in Wiesbaden landen. Dort würde dann Dietmar Werth der Dumme sein und die Sache zum zweiten Mal auf den Schreibtisch bekommen. Das befürchtete er jedenfalls. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, daß dies tatsächlich der richtige Weg war, daß er zu der Besprechung beim Abteilungspräsidenten genau mit diesem Vorschlag gehen mußte. Er zog den Mantel enger um sich, da der Nieselregen allmählich dichter wurde, und ging mit schnellen, zielbewußten Schritten den Abhang zur Thaerstraße hinauf.

Er hatte sich mit seinen pessimistischen Vermutungen geirrt. Der Abteilungspräsident lobte ihn für die schwierige, nach Lage der Dinge aber korrekte Beurteilung, die es geraten sein lasse, die Sache an den Verfassungsschutz abzugeben. Und dieser sollte nun wider alle Vernunft und gegen alle Hoffnung den perfekten Infiltranten finden.

3

Gemessen an seiner Funktion im Sicherheitsapparat der Bundesrepublik hatte Loge Hecht eine seltsame Angewohnheit. Er fuhr jeden Morgen mit der U-Bahn zum Hamburger Hauptbahnhof und ging dann zu Fuß, regelmäßig wie ein Uhrwerk, das kurze Stück zum Johanniswall 4. Seine Kollegen – zumindest die, die etwa den gleichen Dienstrang besaßen wie er – fuhren in einem dunkelblauen Mercedes 190 mit Chauffeur und dunklem, gepanzertem Glas zur Arbeit. Sie taten das zu unregelmäßigen Zeiten und benutzten nur selten den Haupteingang.

Hecht blieb kurz vor dem Portal mit den sechs runden Spiegelglasscheiben stehen und warf einen Blick in den Schnapsladen, wo Slogans wie Sonderangebot und Sensationelles Angebot verkündeten, daß der Beaujolais Nouveau des Jahres schon jetzt ausverkauft werde. Hecht zögerte, ob er zugreifen sollte, solange er das seiner Frau, einer geborenen Französin, gegebene Versprechen noch nicht vergessen hatte.

Loge Hecht war in mehr als nur einer Hinsicht ein konservativer Mann. Er bevorzugte deutsche Weine, zur stillen Verzweiflung seiner Frau sogar deutsche Rotweine. Er war Mitglied der CDU, saß aber trotz des sozialdemokratischen Senats in Hamburg fest im Sattel. Seine fachliche Kompetenz war einfach über alle parteipolitischen Bedenken erhaben; er galt allgemein als einer der fähigsten Männer beim deutschen Verfassungsschutz. Gerade deshalb mochten einige seiner Gewohnheiten exzentrisch erscheinen.

Jetzt verharrte er reglos vor dem Eingang zu seiner Dienststelle, einen Meter von dem diskreten, unauffällig braunen Schild mit den verrußten Goldbuchstaben entfernt, auf dem Behörde für Inneres steht. Das erweckt den Eindruck, als handle es sich hier um irgendeine Unterabteilung der Innenbehörde. (Das Telefonbuch gibt jedoch darüber Auskunft, daß der Hamburger Verfassungsschutz unter dieser Adresse zu erreichen ist.)

Daß er mit seiner schlichten, korrekten Kleidung, seinem untersetzten Körper und dem runden Kopf mit dem naßgekämmten Scheitel eher wie ein durchschnittlicher deutscher Wursthändler als wie ein Verfassungsschutz-Chef aussah, hatte keine Bedeutung und sollte auch keine Entschuldigung sein. Sein Bild war schon etliche Male in den Zeitungen erschienen, und er war sogar im Fernsehen aufgetreten. Er war ohne weiteres zu identifizieren. Jetzt stand er wie eine Zielscheibe vor dem Portal und überlegte, ob er die versprochene Menge französischen Wein, der seiner Ansicht nach nur etwas für Frauen war und nach Saft schmeckte, kaufen sollte oder nicht.

Er zuckte die Achseln, nickte einer der geschickt verborgenen Überwachungskameras oben im Eingangsgewölbe zu und ging entschlossen, also ohne den Beaujolais Nouveau zu kaufen, an dem Wachtposten in seinem Glaskäfig vorbei und betrat einen der weißen Paternoster. Als Kind hatte er es geliebt, in solchen Fahrstühlen über das rote Warnschild hinauszufahren, in der Dunkelheit über den Scheitelpunkt hinweg und dann hinunter in den Keller und wieder hinauf ins Licht.

Loge Hechts Selbstbewußtsein war nicht allzu knapp bemessen. Er war sich durchaus klar darüber, daß man ihn für einen der fähigsten Terroristenjäger der Bundesrepublik hielt. Andere Sicherheitsleute, die konventioneller dachten als er, neigten dazu, sich für erstrangige potentielle Terroristenopfer zu halten. Diese Kollegen würden nie mit der U-Bahn zur Arbeit fahren, niemals wie eine Zielscheibe mehrere Sekunden vor dem Eingang stillstehen, nie zu Fuß gehen, nie einem regelmäßigen Tagesschema folgen.

Aber Der Hecht, wie er auch im Ausland genannt wurde, hatte eine wohlbegründete Auffassung davon, was ihn auf einer hypothetischen Entführungs- oder Mordliste von Terroristen so weit unten placierte, daß er wohl kaum unter den 200 interessantesten Opfern landen würde. Für ihn war das Ganze einfach und logisch. Für die Terroristen war die NATO der „Hauptfeind“. Sie hatten begonnen, in militärischen Begriffen zu denken, wollten den „Hauptfeind“ treffen, so oft sie konnten, und das machte mehr als 2000 denkbare menschliche Ziele und militärische Einrichtungen der NATO weit interessanter als einen anderen Bürger der Bundesrepublik, selbst wenn er beim Verfassungsschutz arbeitete.

Loge Hecht war vermutlich von den Bürgern der Bundesrepublik derjenige, der die reichhaltige Flora von Sympathisantenliteratur und Denkschriften des harten Kerns am ausgiebigsten und aufmerksamsten gelesen hatte; sicher auch genauer und vollständiger als jeder Terrorist. Aus dieser Lektüre hatte er eine sehr einfache Erfahrung gewonnen: Die Terroristen nahmen ernst, was sie schrieben. In der politischen Linken wurde mindestens genausoviel gelogen wie in der Politik überhaupt, aber davon durfte man bei Terroristen nicht ausgehen. Diese mußten sich immer erklären, vielleicht nicht mehr „den Massen“, wohl aber ihrem engeren Kreis von Sympathisanten. Daher meinten sie auch, was sie schrieben. Aus diesem Grund waren ihre Kommuniqués Loge Hechts wichtigste Erkenntnisquelle. Er war sich seiner Sache sicher und kannte den Feind.

Als er sein Büro im dritten Stock betrat, hatte sein engster Mitarbeiter, der auf die Minute genau wußte, wann Hecht erscheinen würde, gerade den Kaffee serviert. Siegfried Maack war Anfang dreißig, sah aber wegen seiner zunehmenden Kahlköpfigkeit und seiner randlosen Brille etwas älter aus.

Die beiden Männer nickten einander kurz zu und machten sich sofort an die gewohnte morgendliche Routine. Die gestrige Eilanfrage des BKA in Wiesbaden war das wichtigste Gesprächsthema. Das BKA hatte vorgeschlagen, der Verfassungsschutz solle einige Fahndungshinweise übernehmen, um daraus „eine Operation mit besonderen Methoden“ zu entwickeln, wie die etwas verkorkste Umschreibung des BKA lautete. Das BKA verlangte jedoch einen raschen Bescheid des Verfassungsschutzes, da es „für den Fall einer dortigen negativen Entscheidung“ (also für den Fall, daß Hecht ablehnen sollte) ohne weitere Verzögerung selbst eine konventionelle Fahndung aufziehen müsse. Das BKA wollte sich in diesem Fall darauf beschränken, möglichst bald einen oder am liebsten beide der identifizierten Terroristen zu ergreifen oder unschädlich zu machen. Natürlich lag dem BKA an einer schnellen Entscheidung, da der Verfassungsschutz selbst keine Festnahme vornehmen durfte.

Denn der westdeutsche Verfassungsschutz hat als wohl einziger Sicherheitsdienst der Welt nicht das Recht, Bürger festzunehmen. Sobald eine Festnahme oder eine Haussuchung angezeigt ist, weil Fahndungsergebnisse oder anderes Beweismaterial das erforderlich machen, muß er die normale uniformierte Polizei um Amtshilfe bitten.

Die Erklärung für diese deutsche Besonderheit ist einfacher, als man vielleicht glauben könnte. Vor weniger als einer Generation gab es hier einen Sicherheitsdienst, der noch heute eine der bekanntesten und verhaßtesten Abkürzungen der Welt verkörpert: Gestapo.

Bei der Gründung des Sicherheitsdienstes des neuen demokratischen Staates Bundesrepublik Deutschland wurde es daher zu einer selbstverständlichen Forderung, daß es den Sicherheitsorganen nie möglich sein dürfe, nachts in die Wohnung eines Bürgers einzudringen oder ihn auch nur abzuführen. Nie mehr durfte es dazu kommen, daß Männer des Sicherheitsdienstes nachts irgendwo die Treppe hinaufstiefelten und vor einer Tür standen.

Kollegen aus aller Welt waren immer wieder über diese anscheinend blödsinnig unpraktische Regelung erstaunt. Es fiel ihnen jedoch, meist ein wenig verlegen, leicht, die einfache historische Erklärung zu akzeptieren. Nur äußerst selten erlaubte sich ein ausländischer Kollege einmal den ironischen Hinweis darauf, daß der Sicherheitsdienst des zweiten deutschen Staates, der DDR, sich durch solche historischen Bedenken keineswegs gehemmt fühle.

Loge Hecht liebte es, im Gespräch mit ausländischen Kollegen gerade auf dieses Thema zu kommen. Da er in der EG-Kommission zur Bekämpfung des Terrorismus die Bundesrepublik vertrat, hatte er recht oft Gelegenheit dazu. Das System hatte seiner Ansicht nach einige entscheidende Vorteile.

Wenn man nämlich einen Verdächtigen nicht festnehmen darf, ist man dazu auch nicht verpflichtet. Ein normaler Polizeibeamter hat, um es brutal auszudrücken, die Pflicht, gegen jede Gesetzesübertretung vorzugehen, die er beobachtet oder die zu seiner Kenntnis gelangt. Dies ist möglicherweise der Grundsatz, den die Polizei in aller Welt am häufigsten verletzen muß.

Wenn man aber von der Verpflichtung entbunden ist, dem sogenannten Legalitätsprinzip zu folgen, erweitert das auch die Möglichkeiten, verbrecherische Zusammenschlüsse zu beobachten oder gar zu unterwandern, ohne daß man sich dabei ständig um die Grenzen der dienstlichen Rechte und Pflichten sorgen muß.

Loge Hecht empfand trotzdem einen starken Widerwillen gegen den vagen Vorschlag des BKA, die schwedische Kontaktmöglichkeit für eine Under-Cover-Operation zu nutzen. Auch für das Problem der Unterwanderung hatte Hecht wie für die meisten anderen Problemstellungen seines Dienstes eine fundierte Theorie parat, und in diesem Fall mußte seine Theorie das ihm nahegelegte Vorgehen in der Praxis verbieten.

Der Infiltrant mußte erstens ein Außenstehender sein. Ein Beamter des Verfassungsschutzes wäre zwar nicht verpflichtet, gegen irgendwelche verbrecherischen Aktivitäten einzuschreiten, aber als Beamter durfte er sich auch nicht an kriminellen Handlungen beteiligen. Es mußte irgendwo eine angemessene Grenze für das geben, was Hecht eher scherzhaft Verbrechen im Dienst nannte. Unter Terroristen lief man jedoch Gefahr, diese Grenze schon nach fünf Minuten zu überschreiten.

Möglicherweise würde es gelingen, Methoden zu finden, mit denen sich diese juristische Sackgasse auf halbwegs legalem Weg umgehen ließ. Aber danach würden sich gleichwohl praktische Hindernisse auftürmen, die fast unüberwindlich waren. So durfte der Infiltrant weder verheiratet sein noch Familie haben, und er mußte über eine echte „Legende“ verfügen, durfte also keine erfundene Geschichte aus einer erfundenen Vergangenheit auftischen.

Und in diesem Fall sollte er überdies ein Schwede sein, dazu ein Schwede mit besonderer militärischer Kompetenz und eine Person, die von der Bundesrepublik irgendwie auf dem Dienstweg rekrutiert werden konnte – Freiwilligkeit war in diesem Zusammenhang ja kaum denkbar. Es konnte sich also nur um einen Schweden handeln, der beim Sicherheits- oder Nachrichtendienst arbeitete.

Als Hecht am gestrigen Nachmittag mit Siegfried Maack die Situation erstmals besprochen hatte, hatte er das ganze Projekt mit einem verächtlichen Schnauben abgetan.

„Zusammengefaßt“, hatte er seine Überlegungen beendet, „suchen wir also folgendes: einen schwedischen Sicherheitsbeamten im Alter zwischen 25 und 30 Jahren, der in irgendeiner Form eine revolutionäre Vergangenheit hat. Schon daran dürfte die Sache aus naheliegenden Gründen scheitern. Selbst in Schweden dürften Linke beim Sicherheitsdienst ziemlich ungewöhnlich sein. Außerdem soll er noch militärische Sonderkenntnisse haben. So etwas gibt es auf dieser Welt nicht.“

Aber Auftrag ist Auftrag und muß erledigt werden. Die schnellste Methode, bis zum Ende dieser Sackgasse vorzudringen, bestand selbstverständlich darin, über die Verfassungsschutzzentrale in Köln anzufragen, ob dort oder mit Hilfe des Bundesnachrichtendienstes in Pullach jemand aufzutreiben sei, der dem Wunschbild auch nur nahekam. Nach dem selbstverständlich negativen Bescheid würde die Angelegenheit für Loge Hecht beendet sein und an das BKA in Wiesbaden zurückgehen.

Hecht arbeitete seit drei Jahren mit Siegfried Maack zusammen, und so hätte er eigentlich schon beim Betreten des Zimmers bemerken müssen, daß sich in dem heutigen Papierstapel etwas Besonderes befand. Er hätte es ihm anmerken müssen, noch vor dem Augenblick, in dem Maack, nachdem er wie gewöhnlich abgewartet hatte, bis sein Chef einen Schluck Kaffee getrunken hatte, ihm wortlos das Fernschreiben des BND über den Tisch schob. Hecht las mit wachsender Verblüffung:

Antwort auf Anfrage, Telex Abteilung III VS/Hamburg/ Hecht über VS/Z-Köln, 23. November. Nach der gegebenen Beschreibung kommt folgendes Objekt in Frage: Carl G. Hamilton, Marineleutnant, Alter 30. Beamter mit besonderen Aufgaben beim Sicherheitsdienst RPS/ Säk/Stockholm. Registriert wegen verfassungsfeindlicher (marxistisch-leninistischer) Verbindungen, Zugehörigkeit zur Studentenvereinigung Clarté sowie zu pro-palästinensischen Gruppen etc. Sonderausbildung als Marinetaucher sowie unbekannte weitere Ausbildung, vermutlich außerhalb Schwedens. Im vergangenen Jahr Einzeleinsatz gegen vier israelische Operateure (vgl. Archiv, Israel, unter dem Codewort „Stockholmer Fiasko“). Alle vier Israelis wurden bei der Konfrontation getötet. Bewaffnet; vermutlich umfangreiche waffentechnische Kenntnisse. Warnung: größte Vorsicht bei evtl. Konfrontation. Codename: Coq Rouge. Kein Foto. Ende der Mitteilung.

„Es fällt mir schwer, das zu glauben“, flüsterte Loge Hecht, nachdem er das lakonische Fernschreiben des BND langsam durchgelesen hatte. „Solche Tiere gibt’s doch nicht. Nicht mal bei Hagenbeck würden sie ihren Augen trauen.“

„Da hast du deine echte Legende, um mal damit anzufangen“, sagte Maack mit einem feinen Lächeln. Soweit er sich erinnern konnte, sah er seinen Chef zum ersten Mal verblüfft. „Was soll denn das übrigens heißen, marxistisch-leninistisch?“ fuhr Maack sanft fort, um sich seinem Chef, der offensichtlich aus dem Gleichgewicht war, nicht allzu taktlos aufzudrängen.

Loge Hecht hatte sein Gleichgewicht aber schon selbst wiedergefunden und antwortete in seinem gewohnten, zusammenfassenden Stakkato-Tonfall.

„Studentische Linke, wütende Gegner des individuellen Terrors, wie es in ihrer Sprache heißt. Er ist theoretisch bestens gedrillt, beherrscht vermutlich die gesamte antiimperialistische Terminologie, also auch in dieser Hinsicht perfekte Voraussetzungen. Besser hätte es gar nicht kommen können.“

„Und in militärischer und technischer Hinsicht? Welches Stockholmer Fiasko der Israelis meinen sie, sollte es tatsächlich ein einziger Mann gewesen sein, der?“ fragte Maack weiter, obwohl er die unangenehme Fortsetzung der Frage gleichsam aus Pietät in der Schwebe ließ. Jetzt war er sich seiner Sache noch sicherer als am Morgen, als er das Fernschreiben zum ersten Mal gesehen hatte. Hier ergaben sich offenbar erstaunliche Perspektiven.

„Das Stockholmer Fiasko mußt du doch kennen. Die Israelis hatten sich in den Kopf gesetzt, das Personal des Stockholmer PLO-Büros auszuschalten, warum, habe ich vergessen, jedenfalls ging die Sache furchtbar daneben. Soviel ich damals hörte – obwohl ich es für reinen Klatsch hielt –, war es ein einziger Mann des schwedischen Sicherheitsdienstes, der alle vier Israelis erledigte. Und hier haben wir ihn wieder. Wir haben es also mit einem qualifizierten Mörder zu tun, der dazu noch eine kommunistische Vergangenheit hat. Netter Bursche, was?“

„Bei dieser Vergangenheit besteht doch aber die Gefahr, daß er sympathisiert?“

„Nein, bei dieser Vergangenheit ist es so gut wie ausgeschlossen; wenn er einen derartigen marxistisch-leninistischen Hintergrund hat, ist er erheblich mehr gegen die Terroristen eingestellt als unsere grünen Umweltfreunde. Außerdem ist er Beamter.“

„Und wie wird er es bei uns?“

Loge Hecht stand auf und ging in dem länglichen Dienstzimmer auf und ab. Diese Frage ließ sich kaum leicht und schnell beantworten. Er blieb am Bücherregal neben der Tür stehen und zog nachdenklich eines seiner Lieblingsbücher heraus, die Memoiren des einzigen Spions, den er wirklich bewunderte, die Erinnerungen von Leopold Trepper, des Mannes, der während des Zweiten Weltkriegs Moskaus Spionageorganisation Rote Kapelle leitete. Hecht wog das Buch kurz in der Hand, dann stellte er es wieder ins Regal und kehrte zu seinem Schreibtisch mit dem brisanten Fernschreiben zurück.

„Laß uns zunächst eines klären“, begann er. „Wenn das stimmt, was hier steht, und im Augenblick gibt es keinen Grund, daran zu zweifeln, haben wir hier einen Mann mit geradezu perfekten operativen Voraussetzungen. Das ist eine goldene Gelegenheit, unbestreitbar. Der nächste Schritt muß jetzt so aussehen: Klärung der Frage, ob ein Mann des schwedischen Sicherheitsdienstes nach den Gesetzen der Bundesrepublik als Beamter oder ganz allgemein als Ausländer, also als Privatperson, anzusehen ist. Du siehst ein, warum?“

„Ja, natürlich. Wenn er rechtlich als Beamter anzusehen ist, platzt das Ganze, nicht wahr?“

„Richtig. Das solltest du mit der Rechtsabteilung in Köln klären. Wenn die grünes Licht geben, können wir den nächsten Schritt vorbereiten. Diese Rechtsfrage sollte aber als erstes geklärt werden.“

4

Sektionschef Henrik P. Näslund war beim Besuch der deutschen Kollegen vom ersten Augenblick an leicht unbehaglich zumute. Jetzt saß er da und hörte mit einem halben Ohr zu, während einer von ihnen mit deutscher Umständlichkeit bestimmte neue „objektive Voraussetzungen“ in der Strategie der Bundesrepublik gegen die sogenannte vierte Terroristengeneration darlegte. Der Vortrag wäre ihm auch in schwedischer Sprache unerträglich langsam vorgekommen, aber jetzt trat durch die Übersetzung des Dolmetschers noch eine weitere Verzögerung ein. Die Deutschen sprachen kein Englisch, die Schweden kein Deutsch.

Näslund unterdrückte ein Gähnen und zog sich nachdenklich einen Kamm durchs Haar, ohne zu bemerken, daß seine Gäste erstarrten. Es war ein Montagmorgen um halb neun, draußen war es dunkel, und seine Sekretärin hatte in einem eigenhändig gebastelten Kerzenhalter mit kleinen Trollen und grauem Moos eine Stearinkerze angezündet. Sie hatte Kaffee mit vermutlich selbstgebackenen Safran-Krapfen serviert, da gerade erster Advent gewesen war. Näslund haßte dieses Vorverlegen der Vorweihnachtszeit von Jahr zu Jahr – Safran-Krapfen etwa sollte man nicht vor dem Lucia-Fest am 10. Dezember essen –, kam aber zu dem Schluß, daß ihm jetzt gerade die frühe Tageszeit am unappetitlichsten erschien.

Hinzu kam das Unbehagen, daß er sich nicht hatte darüber klar werden können, wo und wie die an und für sich wichtigen deutschen Kollegen placiert werden sollten. Wäre er selbst an seinem Schreibtisch sitzen geblieben, wären seine Besucher zu Untergebenen geworden, die mit übereinandergeschlagenen Beinen vor ihm gesessen hätten. Das wäre kein guter Einfall gewesen. Aber jetzt saßen sie alle fünf (er selbst, der Leiter der Terroristen-Abteilung des schwedischen Sicherheitsdienstes, der stellvertretende Polizeipräsident Christian Kallén, ein vereidigter Dolmetscher sowie die beiden hochrangigen deutschen Kollegen) an einem zu kleinen und zu niedrigen schwedischen Amtszimmertisch, der außer für einen Chef für höchstens zwei Besucher gedacht war, und folglich saßen alle beengt. In einem Konferenzzimmer des Sicherheitsdienstes hätten sie wiederum zu weit auseinander gesessen, was auch nicht gut gewesen wäre. Es war ein lächerliches, ihn aber gleichwohl irritierendes Problem.

Außerdem spürte Näslund, daß es ihm zunehmend schwerer fiel, seine Ungeduld zu zügeln. Die Deutschen hatten mit höchster Priorität um ein möglichst rasches Zusammentreffen und zudem um Amtshilfe gebeten. Jedenfalls hatte man ihr kurzgefaßtes Fernschreiben so ausgelegt.

Und statt gleich zur Sache zu kommen, begannen sie mit sogenannten Hintergrundinformationen, die in ein paar einfachen Worten hätten zusammengefaßt werden können.

In letzter Zeit gibt es nicht mehr allzu viele Terroristen, aber sie machen uns trotzdem zu schaffen, und es ist schwieriger geworden, sie zu fassen. Wenn es uns aber gelingt, die Übriggebliebenen zu fassen, haben wir die Möglichkeit, das Terroristenproblem endgültig zu lösen.

Das war in dürren Worten der Inhalt des Vortrags der ersten dreißig Minuten. Von der Mühe der Deutschen, zur Sache zu kommen, einmal abgesehen, hätte die Situation Näslund angenehm sein müssen. Normalerweise war die schwedisch-deutsche Zusammenarbeit eine Einbahnstraße wie die Kooperation Schwedens mit seinen sonstigen Verbündeten überhaupt: Die andere Seite leistete die Dienste, die Schweden gerieten in eine Dankesschuld.

Da haben wir’s, dachte Näslund. Das ist ja gerade das Unangenehme. Denn wenn sie jetzt ihre Schuld eintreiben wollen, brauchen sie mit ihren Forderungen nicht sonderlich zurückhaltend zu sein, und bis jetzt haben die Kerle nicht mal angedeutet, worum es geht.

Jetzt war der kleinere und rundere Deutsche an der Reihe, der wie ein kleiner Wursthändler aussah und bisher nicht viel gesagt hatte.

„Ich möchte gern mit der rein operativen Voraussetzung beginnen. Danach komme ich auf die rechtliche Problematik zu sprechen“, leitete Loge Hecht kurz seine Darlegungen ein und wühlte in seinen Papieren, während er die Übersetzung des Dolmetschers abwartete.

Teufel auch, jetzt geht es noch einmal von vorn los, dachte Näslund. Loge Hechts Darstellung unterschied sich jedoch deutlich von der seines Vorgesetzten aus Köln. Hecht brauchte nur eine Minute, um das Interesse der beiden schwedischen Kollegen zu wecken.

Also. Der Verfassungsschutz habe mit relativ großer Sicherheit feststellen können, daß der harte Kern der Rote Armee Fraktion sein Hauptquartier von Südwestdeutschland nach Hamburg verlegt habe. Man habe zwei Mitglieder der Gruppe bei einem Telefongespräch identifiziert, und hier seien die Unterlagen (Hecht referierte das mitgeschnittene Telefonat und schob die Abschrift über den Tisch).

Damit eröffneten sich zwei Arten des Vorgehens. Die eine sei natürlich, das hätten die geschätzten schwedischen Kollegen sicher schon selbst gesehen, durch verstärkte Fahndungstätigkeit in St. Pauli und Hamburg das Versteck der Gruppenmitglieder zu lokalisieren, das wahrscheinlich aus einer oder mehreren konspirativen Wohnungen bestand.

Da das mitgeschnittene Telefonat eine größere Operation der Terroristen in Schweden vermuten lasse, vielleicht auch ein Unternehmen in Zusammenarbeit mit schwedischen Terroristen, begründe schon das den Wunsch nach Zusammenarbeit mit den schwedischen Kollegen. Es dürfte im Interesse beider Parteien liegen, jede Terroraktion deutschen Ursprungs auf schwedischem Territorium zu verhindern. Vor allem deshalb, weil man es mit einer Gruppe zu tun habe, von der ein rücksichtsloses Vorgehen zu erwarten sei, wenn es nicht gelinge, rechtzeitig zu intervenieren.

Die wichtigste Voraussetzung dafür sei, daß die Terroristen jetzt einen schwedischen Mitarbeiter suchten, den sie soeben ausführlich beschrieben hätten.

Es liege in der Natur der Sache, daß solche seltenen Tiere der Polizei in der Bundesrepublik nicht zur Verfügung stünden.

„Voraussetzung für eine derartige Operation ist folglich“, fuhr Loge Hecht mit Nachdruck fort, „daß wir in Ihrer Organisation oder durch sie den Mann finden können, den wir für dieses Unternehmen brauchen.“

Darauf griff er nach einem neuen Papierstoß, während er auf die Übersetzung des Dolmetschers und die Wirkung seiner Worte wartete.

„Bevor ich aber zu unserem theoretischen operativen Modell komme, möchte ich Ihnen gern einige Aspekte der rein juristischen Problematik darlegen“, fuhr Hecht in den etwas gestelzten Worten des Dolmetschers fort.

Ein schwedischer Staatsbürger, ein Angestellter des schwedischen Sicherheitsdienstes ebenso wie ein gewöhnlicher Tourist, könne in dieser Situation mit viel größerer Handlungsfreiheit vorgehen als ein deutscher Beamter. Es gebe nämlich keinerlei juristische Möglichkeit, die Dienstpflichten und den Amtseid eines deutschen Beamten zu umgehen, sofern man davon ausgehe, daß der Betreffende in eine verbrecherische Aktivität hineingezogen werde, wie sie im Zusammenhang mit terroristischen Aktionen unzweifelhaft zu erwarten sei.

Es komme folglich darauf an, daß ein schwedischer Staatsbürger in einer möglichen Operation seinen Einsatz nicht wegen des Legalitätsprinzips würde abbrechen müssen, obwohl er mit den beteiligten deutschen Stellen natürlich sehr eng zusammenarbeiten sollte.

Hecht bemerkte, daß die zwei Schweden, die sehr gespannt zugehört hatten, neugieriger wirkten als erwartet, und so entschloß er sich zu einer kurzen Erläuterung.

Er wolle folglich sagen: Der Verfassungsschutz sei nicht verpflichtet, der Arbeit eines solchen Partners Einhalt zu gebieten, völlig unabhängig davon, was dieser unternehmen werde. Die Gesetzgebung der Bundesrepublik sei in dieser Hinsicht ziemlich eindeutig.

Das sei die eine Seite der Angelegenheit. Die andere bestehe in der denkbaren Komplikation, daß die deutsche Polizei vielleicht aus irgendwelchen Gründen gegen eventuelle Verbrechen des Operateurs vorgehen müsse. Aber auch da gebe es eine juristisch vertretbare Lösung: Sollte die Polizei gegen den Schweden vorgehen, gebe es an und für sich keine Möglichkeit, ein Strafverfahren von vornherein niederzuschlagen. Nach deutschem Recht müßten alle auf deutschem Boden begangenen Straftaten vor Gericht untersucht werden. Aber – und dies sei der entscheidende Punkt – ein solches Gerichtsverfahren werde mit Rücksicht auf die Sicherheitsinteressen des Staates wie auf das gute Verhältnis zu einer fremden Macht unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden. Und vor Gericht würde man den Vertrag zwischen Verfassungsschutz und dem schwedischen Operateur mühelos erläutern können, wofür der Verfassungsschutz jederzeit zur Verfügung stehe. Unter diesen Umständen werde das Gericht ohne weitere Verzögerung die Niederschlagung des Verfahrens beschließen.

Um noch einmal zusammenzufassen: Die Zusammenarbeit mit einem schwedischen Staatsbürger sei wünschenswert. Für eine solche Lösung gebe es sowohl juristische wie operative Gründe. Sollte der Unterwanderungsversuch mißlingen, was realistischerweise zu erwarten sei, wäre die Angelegenheit damit erledigt. Sollte die Operation aber gelingen, würde sie wahrscheinlich zu beiderseits höchst begrüßenswerten Ergebnissen führen. Die von der RAF geplante Aktion in Schweden, worum es sich dabei auch handeln möge, würde dadurch natürlich gestoppt werden. Überdies werde man endgültig die letzten funktionstauglichen Überreste der vierten Generation des harten Kerns der RAF dingfest machen, möglicherweise auch die Verbindungen zu ähnlichen Organisationen in Frankreich und Belgien offenlegen können.

Es stehe also eine Menge auf dem Spiel, und es müsse jetzt schnell gehandelt werden. Es sei eine außerordentlich günstige Gelegenheit für die schwedischen Stellen, sich für einige der früher von den Deutschen geleisteten Dienste zu revanchieren.

Der letzte Satz schien eher eine Drohung als ein einfacher Hinweis zu sein, was Hecht auch beabsichtigt hatte. Danach schwieg er, um die Reaktion seiner schwedischen Gesprächspartner abzuwarten.

Jetzt war offenkundig Näslund an der Reihe, etwas zu sagen. Er widerstand dem Impuls, sich mit dem Kamm durchs Haar zu fahren, da alle Anwesenden ihn gespannt beobachteten.

„Sie wünschen also, daß wir einen Beamten des schwedischen Sicherheitsdienstes mit entsprechender Ausbildung und Erfahrung für eine Under-Cover-Operation in Hamburg zur Verfügung stellen? Und Sie meinen auch, für eventuelle Komplikationen auf deutschem Boden die volle juristische Verantwortung übernehmen zu können?“ fragte Näslund, mehr um Zeit zu gewinnen.

Von Zeitgewinn konnte jedoch keine Rede sein.

„Jawohl, völlig richtig“, erwiderte der ältere der beiden Deutschen mit Nachdruck und einem langsamen Kopfnicken, während er mit einer Handbewegung den Dolmetscher unterbrach, der gerade begann, eine überflüssige Übersetzung nachzuliefern.

Zu Näslunds Karriere-Hintergrund gehörte zwar, daß er einmal im nördlichen Norrland als Staatsanwalt gearbeitet hatte; obwohl er ein Mann des Sicherheitsdienstes war, fiel es ihm folglich leicht, sich in juristische Probleme hineinzudenken, das heißt in die Technik der Umgehung solcher Probleme. Hinsichtlich des schwedischen Rechts aber sowie der Frage, ob das schwedische Recht für einen schwedischen Beamten unter westdeutscher Jurisdiktion und unter offiziellem westdeutschem Befehl überhaupt gelten konnte, war er mit seinen gedanklichen Mühen noch längst nicht fertig. Er versuchte erneut, Zeit zu gewinnen.

„Das scheint mir ein äußerst interessanter Ansatz zu sein“, begann er behutsam und legte dann einen völlig überflüssigen Satz nach, bevor ihm aufging, was er eigentlich hätte einwenden müssen: „Und es ist ja ganz offenkundig, daß es bei dieser Operation auch um genuine schwedische Interessen gehen könnte. Sie werden sicher verstehen, daß auch wir gewisse Schwierigkeiten haben, einen solchen weißen Raben zu finden, sonst würde ich keinen Augenblick zögern und mein Bestes tun, um Ihrem Verlangen zu entsprechen.“

Dieser letzte Satz war ein entscheidender Verhandlungsfehler. Wenn man sich auf praktische Schwierigkeiten beruft, müssen sie stichhaltig sein, sonst sitzt man in der Falle und hat eine Zusage gemacht. Und so wie sich Näslund später an die Besprechung erinnerte, glaubte er, im Gesicht des ranghöheren Deutschen gerade in diesem Moment ein schmales, hastiges Lächeln zu bemerken, das sofort wieder verschwand, etwa wie bei einem Filmvampir, der schnell die Eckzähne einzieht. Die Entscheidung folgte in Form eines Fernschreibens, das der Deutsche langsam über die gemaserte Tischplatte aus Birkenholz zu Näslund hinüberschob.

»Dies sind Angaben, die wir von unserem Nachrichtendienst erhalten haben. Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was hier über diesen Coq Rouge gesagt wird, sieht es so aus, als hätten wir unseren Mann gefunden, nicht wahr, Herr Näslund.

Er brauchte nur einen kurzen Blick auf das Papier zu werfen, um einzusehen, daß die Deutschen recht hatten. Carl Gustaf Gilbert Hamilton war in Näslunds Augen zwar ein außerordentlich unsympathischer und unzuverlässiger Zeitgenosse, aber es ließ sich kaum leugnen, daß eben dieser Hamilton die Erwartungen der Deutschen in jeder Hinsicht erfüllte.

„Ja, das stimmt“, sagte Näslund resigniert, „dieser Mann besitzt einzigartige Qualifikationen, das muß ich zugeben. Gleichzeitig tauchen hier ein paar bürokratische Probleme auf, die sich wohl nur schwer werden lösen lassen.“

„Und die wären?“ fragte der ranghöhere Deutsche kalt.

„Nun ja … diese Person befindet sich im Augenblick in einer bestimmten militärischen Ausbildung und ist von uns beurlaubt. Das heißt, wir müssen uns der Mitarbeit der Streitkräfte versichern.“

Näslund spürte, daß er plötzlich anfing, in Rätseln zu sprechen. Er hielt inne, um dem Dolmetscher zuzuhören, der seinen Einwand etwas präziser auszudrücken schien. Die beiden Deutschen schienen sein Argument aber dennoch als so gut wie bedeutungslos anzusehen. Wenn sowohl nationale Interessen als auch bewährte Formen der Zusammenarbeit zweier befreundeter Staaten berührt seien, könnten die schwedischen Streitkräfte wohl kaum Einwände erheben?

Nein, das mußte Näslund widerwillig eingestehen. Nein, die Streitkräfte würden wohl keine Einwände erheben. Fünf Minuten später hatte Näslund endgültig versprochen, sich nach Kräften dafür einzusetzen, daß der schwedische Geheimdienstmann in die Bundesrepublik kam, um persönlich zu dem Vorschlag Stellung zu nehmen. Weitere zehn Minuten später hielt er einen Umschlag mit den notwendigen Anweisungen für das erste Zusammentreffen in Bonn – wer, wann, wo – in der Hand, den er Hamilton persönlich übergeben sollte.

Die beiden Deutschen verabschiedeten sich, sichtlich zufrieden. Damit war Henrik P. Näslund allein mit dem Chef der Terrorismus-Abteilung. Er fuhr sich mit dem Kamm ein paarmal energisch über die Schläfen.

„Dieser Hamilton, von dem sie sprachen, ist das dieser bewußte …?“ wollte Christian Kallen wissen, der die Telex-Kopie der Deutschen noch nicht gesehen hatte. Kallen war der Nachfolger von Axel Folkesson, der etwa vor einem Jahr ermordet worden war.

„Allerdings“, seufzte Näslund, „natürlich ist er das, wer denn sonst.“

„Wenn ich aber richtig informiert bin, hat er vier israelische Operateure ganz allein getötet, ich meine, dieses ganze Gewäsch von unserer neuen Sondereinheit und all der andere Scheiß, der in den Zeitungen stand, das war doch wohl nichts weiter als ein Nebelvorhang. Er hat es doch allein getan, oder?“

Christian Kalléns Unsicherheit rührte davon her, daß die ganze Angelegenheit mit dem grünen Stempel Streng geheim versehen worden war. Das hatte natürlich zu zahlreichen Gerüchten geführt, aber Gerüchte sind nun mal Gerüchte, und jetzt bekam Kallen plötzlich die Chance, Genaueres zu erfahren.

„Schon richtig“, seufzte Näslund erneut, „und wenn wir ihn damals nicht gestoppt hätten, fürchte ich, wäre alles nur noch schlimmer geworden. Ein verteufelt unangenehmer Typ, dieser Hamilton.“

„Das hört sich aber nicht so an, als würdest du seine Qualifikation anzweifeln?“

Näslund betrachtete seinen Untergebenen. Er war sich nicht sicher, ob er da eine ironische Untertreibung herausgehört hatte. Der neue Chef der Terrorismus-Abteilung hielt ihm jedoch ein vollkommen ausdrucksloses, fragendes Gesicht entgegen.

„Nein, ganz und gar nicht“, erwiderte Näslund, trat ans Fenster und blickte auf den düsteren Dezembermorgen hinaus. Draußen fiel schwerer, dicker Schnee.

Näslund zufolge war Hamilton nichts weiter als eine elende Erfindung der Militärs, ein beim schwedischen Sicherheitsdienst total überflüssiges Phänomen. Und der militärische Nachrichtendienst, auf dessen Rechnung Hamilton erschaffen worden war – oder wie immer man es nennen sollte –, wollte ihn ja offensichtlich auch nicht haben, aus welchem Grund auch immer, möglicherweise sogar wegen seiner politischen Vergangenheit. Waren die beim Verteidigungsstab wirklich so dämlich?

„Wenn er aber die Qualifikation besitzt“, fuhr Kallén fort, „brauchen wir ihn den Deutschen doch nur als Weihnachtsgeschenk zu geben. Denn es läßt sich doch wirklich nicht leugnen, daß diesmal sie es sind, die uns um etwas bitten.“

Die Bemerkung stand einen Moment im Raum. Kallén konnte das Unbehagen seines Chefs nicht verstehen. Kalléns Vorgänger war ermordet worden. Und offensichtlich war es dieser Hamilton gewesen, der die Mörder mehr oder weniger auf eigene Faust aufgespürt und sie danach bei einer bewaffneten Konfrontation getötet hatte.

„Es ist einfach nur so, daß ich den Kerl nicht mag“, knurrte Näslund, der noch immer am Fenster stand und in den Schneeregen hinausblickte. „Er ist eine Mordmaschine. Irgendwo in den USA ausgebildet, ich kenne nicht mal die Details. Das war so ein verfluchter Einfall des Alten.“

„Des Alten, welcher Alte?“

„Das ist der Mann, der früher die operative Seite des militärischen Nachrichtendienstes unter sich hatte. Er hatte vor, auf der militärischen Seite so etwas wie eine neue Garde von Agenten aufzubauen. Irgend etwas ging schief, warum weiß ich nicht, und dann hatten wir Hamilton plötzlich am Hals.“

„Offengestanden, ich verstehe nicht, was du meinst.“

Kallen zögerte, bevor er fortfuhr. Näslund war nicht gerade als toleranter Chef bekannt, der Einwendungen zu schätzen wußte. Kallen hatte sich aber von seiner Neugier überrumpeln lassen, und wer A sagt, muß auch B sagen. Er holte tief Luft, bevor er wieder ansetzte:

„Ich meine … wenn Hamilton nicht eingegriffen hätte … hätten wir dann überhaupt diese Israelis erwischt, die Folkesson erschossen haben?“

„Nein“, erwiderte Näslund ruhig, während er sich umdrehte und Kallen offen in die Augen blickte, „das hätten wir nicht geschafft, und wenn es uns wider Erwarten gelungen wäre, hätte das bei uns vermutlich zu weiteren Verlusten geführt. Das ist jedoch nicht das Problem. Es ist einfach nur so, daß solche Figuren bei den Militärs vielleicht ganz in Ordnung sind, aber nicht bei uns, denn hier machen sie nur Ärger. Ich will damit sagen, daß es nicht so ganz leicht sein wird, diesen Werwolf zu stoppen, wie unsere geschätzten deutschen Kollegen vielleicht glauben.“

Es wurde wieder still im Raum, und Näslund blickte wieder unentschlossen zum Fenster hinaus. Er erwartete keinen weiteren Kommentar seines obersten Terroristenbekämpfers. Allerdings konnte er die Besprechung auch nicht beenden, ohne zu irgendeinem konkreten Beschluß zu kommen. Zu welcher Entscheidung er in dieser Lage auch kam, sie würde garantiert unangenehme Folgen haben. Aber dann – zunächst glaubte er, sich verhört zu haben, doch als er herumwirbelte, stand der stellvertretende Polizeipräsident Christian Kallen tatsächlich mitten im Zimmer und lachte. Es war ein ersticktes Lachen, das aber gleichwohl klar und deutlich zu hören war.

„Was ist so verteufelt lustig daran?“ fragte Näslund mit merklich verhaltener Kälte in der Stimme.

„Denk doch mal nach. Wir haben uns anderthalb Stunden lang eine gelinde gesagt komplizierte Darlegung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland angehört, dazu noch etwas über demokratische Garantien und komplizierte Gesetze und weiß der Himmel was sonst noch. Und dann? Nach einem Wust von Juristerei und Paragraphen, nachdem wir eine Woche in den Gesetzbüchern hin und her geblättert haben, endet das Ganze damit, daß ein Staat in gut demokratischer Manier einen Killer mietet. Du mußt zugeben, daß Don Corleone schneller zum Schuß kommen würde.“

„Don Corleone? Welcher Corleone, zum Teufel?“

„C-o-r-l-e-o-n-e. Du weißt doch, der Pate, Mafia. Wir drehen hier zwar ein paar juristische Pirouetten, aber es läuft auf das gleiche hinaus. We have put a contract an those guys, nicht wahr?“

Näslund war durchaus nicht amüsiert. Er verstand die Pointe nicht, wollte aber nicht um weitere Erklärungen bitten. Er verfluchte seine Situation. Es war unausweichlich, daß er jetzt diesen Hamilton um etwas bitten mußte, und das war eine Vorstellung, die ihm ganz und gar nicht behagte. Es blieb ihm aber keine Wahl. Die Deutschen hatten recht. Es stand tatsächlich viel auf dem Spiel.

Wenn die Deutschen ihre Zusammenarbeit nicht bekämen, würde der Informationsfluß aus Köln künftig wohl etwas dürftiger ausfallen. Immerhin war der Verfassungsschutz eine ihrer allerwichtigsten Informationsquellen.

Näslund ging plötzlich auf, was mit Corleone gemeint gewesen war. Sein Gesicht hellte sich ein wenig auf.

„Also gut“, sagte er, „they gave us an offer we couldn’t refuse. So ist es tatsächlich.“

Er drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage und stellte fest, daß seine Sekretärin an ihrem Platz saß.

„Verbinde mich mal mit diesem Hamilton, du weißt doch, Carl Gustav Gilbert Hamilton, irgendwo in Gamla Stan.“

Es gab nur einen Mann, den Carl verabscheute. Und die Sekretärin dieses Mannes hatte jetzt drei dringende Mitteilungen auf seinen Anrufbeantworter gesprochen. Sie sagte, es gehe um eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit. Das hörte sich aus ihrem Mund unnatürlich an. Natürlich mußte es sich um etwas Dringendes handeln, aber wenn Näslund dahintersteckte, konnte die Angelegenheit nur unangenehm sein.

Carl lag mit einem Badelaken um die Hüften auf seinem Bett. Er hatte in seiner eigenhändig eingerichteten Mischung aus Fitness-Studio und Schießstand soeben eine Trainingsrunde hinter sich gebracht; der Trainingsraum lag auf der Hofseite der Wohnung hinter einer Stahltür. Er hatte in den letzten Monaten sehr hart trainiert, weil er den Eindruck gewonnen hatte, daß er allmählich zu altern und fett zu werden begann, und wohl auch, weil er ein Ventil für seine Aggressionen und seine Verzweiflung gebraucht hatte, falls Verzweiflung das richtige Wort dafür war. Kein Tag seines bisherigen Lebens, soweit er sich erinnern konnte, war mit dem Fiasko dieses 2. Dezember vergleichbar.

Am Morgen war die Post ungewöhnlich früh gekommen, noch bevor er zur Militärhochschule gegangen war, um die theoretische Schlußprüfung des Hauptmannskurses abzulegen. Zunächst sah es aus, als wären nur ein paar Rechnungen gekommen, aber dann entdeckte er die Ansichtskarte aus Kalifornien. Die Karte war von Tessie. Man hatte sie ihm von seiner alten Adresse nachgeschickt. Die sachliche Mitteilung war kristallklar, aber dennoch völlig unbegreiflich:

Lieber Charlie,

habe heute geheiratet. Rechne damit, glücklich zu werden. Wollte nur, daß Du es weißt.

Tessie

Das Motiv auf der Vorderseite der Karte war trivial: Surfbretter im Sonnenschein auf einer schön geschwungenen Woge. So war es aber gewesen. Das Foto hätte genausogut aus der Zeit stammen können, als sie noch zusammen waren, und das hatte sie natürlich auch gewußt, als sie die Karte aussuchte.

Warum wollte sie, daß er es erfuhr? Wollte sie ihm weh tun, oder wollte sie ihm zu verstehen geben, daß eigentlich sie ein Paar hätten werden sollen? Hatte sie je begriffen, warum er nie erzählen konnte, aus welchem Grund er in diesen zweieinhalb gemeinsamen Jahren so gut wie jede Woche einmal aus der Stadt verschwunden war?

Und warum hatte er ihr nichts erzählt? In dem Fall hätte ja alles anders kommen können. Nein, in der Kernfrage hätte auch das nichts geändert. Der zivile Teil seiner kalifornischen Ausbildung war nichts Besonderes, abgesehen vielleicht von den Computerkursen. Da sie Jura studierte, würde sie mit ihrer Ausbildung in Schweden nichts anfangen können. Und da seine Ausbildung hauptsächlich militärischer Natur war und geheim dazu, konnte er sich kaum in die USA absetzen; nein, es hätte wohl nie geklappt.

Am Ende waren sie im Unfrieden auseinandergegangen, weil er nicht erzählen konnte, warum er regelmäßig von der University of California in San Diego verschwand und mit dem Wagen nach Norden fuhr.

In den fünf Jahren in den USA war er zunächst ausgebildet worden und hatte dann auf der Californian Sunset Farm, wie jemand scherzhaft das Gegenstück der amerikanischen Navy und des FBI zur Farm der CIA in Maryland an der Ostküste getauft hatte, als Ausbilder-Assistent gearbeitet. Er hätte es ihr sagen können. Ein paar Sätze hätten genügt. Vielleicht wäre es dann aber so gekommen, daß er nach diesen Sätzen gezwungen gewesen wäre, deren Wahrheitsgehalt gegen ihre nicht ganz unverständlichen Zweifel zu verteidigen. Dann hätte er sich verheddert: Er hätte beschreiben müssen, mit welcher Technik er zu töten gelernt hatte, mit Messer, Pistole oder Sprengstoff, mit Granatwerfern oder RPG oder Funkwellen bis hin zu TNT und Sprengladungen im Auspuff eines Autos; vielleicht hätte er sich sogar dazu hinreißen lassen, ihr ein paar kleine Vorstellungen zu geben. Vielleicht hätte er ihre sämtlichen Schlösser mit einem der kleinen Instrumente geöffnet, die er in Gestalt eines harmlos aussehenden roten Schweizer Armee-Taschenmessers in der Hosentasche trug, eines Messers, bei dem Korkenzieher, Lupe und einige andere Kleinigkeiten gegen Instrumente ganz anderer Art ausgewechselt worden waren.

Nein, das wäre nicht gegangen. Es wäre unmöglich gewesen. Es war richtig gewesen, ihr nichts zu sagen. Und wenn er sich ihr offenbart hätte, hätte das ihre Beziehung ebenfalls beendet. In den letzten Jahren war es ihm beinahe gelungen, sich das einzureden; ihm kam es vor, als wäre die Wunde verheilt. Und jetzt hatte sie wieder zu bluten begonnen – das Ergebnis einer einzigen Ansichtskarte. Ihm war rätselhaft, warum Tessie sie geschrieben hatte. Sie hatte ihm mehr bedeutet als jeder andere Mensch, sagte er sich jetzt. Mehr als jeder andere, flüsterte er vor sich hin, um sich den Wahrheitsgehalt seiner Worte von der Stille im Raum bestätigen zu lassen.

Er stand mit einem Ruck auf und ging mit langen Schritten zur Rückseite der Wohnung und durch die Eichentür, hinter der sich die Stahltür mit dem Sicherheitsschloß befand. Er schloß auf, betrat seinen Übungsraum und ging zum Waffenschrank. Er entnahm ihm einen Revolver des Kalibers .22, für dessen Lärmpegel seine selbstgemachte Schallisolierung wohl genügte, denn bis jetzt hatte sich noch kein Nachbar beschwert.

Er schoß eine halbe Stunde lang. Das war seine Methode, jede Gedankentätigkeit abzuschalten; mit einer Waffe in der Hand versank er in absolute Konzentration, in welcher Gemütsverfassung auch immer er sich noch eine Minute zuvor als Unbewaffneter befunden haben mochte oder in dem Augenblick, bevor sich die rechte Hand in einem exakt kalkulierten, nicht zu harten Griff um den Kolben schloß. Zorn, Verzweiflung, Müdigkeit, Angst – solche Stimmungen beeinträchtigen die Präzision im rechten Zeigefinger. Die Bewegung muß entschlossen, zugleich aber sehr leicht sein, sonst landet der Treffer am unteren linken Rand der Zielscheibe.

Es war nicht nur Tessie O’Connor mit dem breiten, weißen, amerikanischen Lächeln, die er aus dem Kopf haben wollte. Die schriftliche Prüfung am Valhallavägen würde ihn jetzt noch tiefer in eine unklare Existenz zwischen Sicherheitspolizei, bei der er offiziell immer noch angestellt war, und dem Nachrichtendienst der Streitkräfte hineinziehen, so wie es aus ihm unbekannten Gründen hieß, im Augenblick sei für seinen vorgesehenen Dienst keine Planstelle frei. Und nach dieser Abschlußprüfung seines Kurses, mit der er das Patent als Korvettenkapitän der Reserve schon fast in der Tasche hatte – der Unterschied zu seinem bisherigen Rang als Marineleutnant der Reserve war ein einziger Streifen auf den Schulterstücken –, war er zu einer Besprechung in der Wertpapierabteilung seiner Bank gegangen. Es ging um einige Verfügungen zum Jahreswechsel, die seine Steuererklärung für das nächste Jahr erheblich beeinflussen würden. Er redete sich ein, nichts zu begreifen, vielleicht tat er auch nur so, möglicherweise weigerte er sich sogar zu begreifen. Seine Gesprächspartner hatten erklärt, daß sein Vermögen irgendwo zwischen 15 und 25 Millionen Kronen liege, je nachdem, wie er die Steuererklärung ausfallen lassen wolle.

Die Bank schlug ihm vor, er solle ein Vermögen von null Kronen sowie ein Einkommen angeben, das einem Jahresgehalt bei der Sicherheitsabteilung der Reichspolizeiführung entspräche, im Vergleich zu seinen tatsächlichen Einkünften eher so etwas wie ein Taschengeld. Es ging einfach darum, nur über den Jahreswechsel ein so großes Darlehen aufzunehmen, daß die Schulden seine Aktiva übertrafen. Die Zinsen für dieses kurzfristige Darlehen könnte er später dazu verwenden, Kapitaleinkünfte aus Immobilien und Wertpapieren zu verringern. Hinzu kämen dann noch beträchtliche Instandsetzungskosten für seinen Immobilienbestand, und so werde sich herausstellen, daß er zwar ein Vermögen zwischen 15 und 25 Millionen Kronen besaß – eine exakte Zahl hatte man ihm noch nicht genannt –, seine Steuererklärung aber null Millionen ausweisen werde, was angeblich vollkommen legal war. Er sah keinen Anlaß, das zu bezweifeln.

Er hätte nur ein paar Papiere unterschreiben müssen. Warum hatte er sich geweigert und um einen Tag Bedenkzeit gebeten?

Noch vor wenigen Jahren war er Marxist-Leninist gewesen, jedenfalls hatte er sich so gesehen. Möglicherweise kam ihm diese Einschätzung heute fremd und übertrieben vor, als wäre sie etwas aus einer anderen Zeit, nämlich aus seinen Jahren bei der Studentenvereinigung Clarté. Er redete sich aber ein, trotzdem noch eine Art Sozialist zu sein.

Er hatte sich nicht darum gerissen, an der großen Vermögensumschichtung vom arbeitenden schwedischen Volk auf eine kleine Gruppe von Aktien-Matadoren und Börsenrittern teilzuhaben; es kam ihm vor, als wäre es aus Versehen geschehen oder auf Grund eines teuflischen Zufalls, wenn er daran dachte, wie es dazu gekommen war, was er immer wieder tat, um sich vor sich selbst zu rechtfertigen.

Sein Vater hatte ihn wegen seiner politischen Linkslastigkeit verachtet. In den letzten vier Lebensjahren des Vaters hatten sie sich nicht gesehen, und das Testament beließ Carl nichts außer dem Pflichtteil, was ihn weder erstaunt noch verbittert hatte. Wie dem auch sei: Diese 300 000 bis 400 000 Kronen nach Abzug der Erbschaftssteuer hatte er einem Studienfreund bei der Börsenmaklerfirma Jacobson & Ponsbach übergeben und sich anschließend fünf Jahre in den USA aufgehalten. Die Kosten hatte der schwedische Staat, die Armee, getragen, und Carl hatte an sein Aktiendepot nicht einen Gedanken verschwendet. In diesen orgiastischsten Jahren der schwedischen Börse stiegen die Kurse wie nirgendwo sonst auf der Welt, während sich gleichzeitig die komplette volkswirtschaftliche Professorengilde sowie die Politikerclique darin einig waren, die Bürger müßten ihren Konsum drosseln und ihre Gehaltsansprüche zurückschrauben und den Riemen enger schnallen und die Lasten solidarisch tragen, um die schwedische Volkswirtschaft wieder auf die Beine zu bekommen – und so weiter. In diesen Jahren war Carl zum Millionär geworden, ohne es zu wissen, ohne daran schuld zu sein, wie er es sich selbst einredete.

Als er aus den USA zurückkehrte und zu seiner Bestürzung entdeckte, was geschehen war, verkaufte er die Aktien sofort – steuertechnisch kein Problem, da er sie seit mehr als zwei Jahren besaß – und kaufte Immobilien. Was gar nicht so dumm war, da die Börse nachzulassen begann und Immobiliengeschäfte bei der neuen schwedischen Klasse der Multimillionäre und Milliardäre zum letzten Schrei wurden.

Es sah ganz einfach so aus: Falls er weiterhin noch an dem festhalten wollte, was er sein ganzes bewußtes Leben lang als geheiligte Grundsätze der Gerechtigkeit angesehen hatte, durfte es mit dieser Heuchelei nicht so weitergehen. Dann mußte er sich das Geld allerdings wegsteuern lassen, was sich nach Aussage der Bankexperten innerhalb von drei Jahren mühelos erreichen ließ, indem er sich einfach weigerte, diese ihm vorgelegten Papiere über dubiose Darlehen zu unterschreiben.

Das Problem bestand offenbar darin, daß man nicht nur mäßig reich sein konnte. Es war unmöglich, sich auf ein Niveau von etwa fünf Millionen festzulegen. Es hieß entweder – oder. Entweder mußte er den schmalen legalen Weg gehen und sich das Geld insgesamt wegsteuern lassen. Oder er mußte den breiten legalen Weg einschlagen, was konkret bedeutete, daß er die jetzigen 15 bis 25 Millionen im Lauf weniger Jahre verdoppelt haben würde. Es war ein völlig absurdes Problem.

In diesem Moment, in dem er mit dem kleinkalibrigen Revolver Serie auf Serie schoß, waren alle diese Gedanken wie weggefegt. Wenn er aber mit dem Schießen aufhörte, würde das Chaos sofort explodieren.

Da war noch etwas, was ihn beinahe noch mehr quälte als die Frage, wie man im Umgang mit so eigenartig zusammengerafften Millionen in der Praxis Sozialist bleiben konnte.

Er hatte sich in seiner Handballmannschaft unmöglich gemacht, und das auf eine Weise, für die er sich nicht nur brennend schämte, sondern die ihn auch zutiefst erschreckt hatte.

Vor der Abreise in die USA war er ein annehmbarer Handballspieler von etwas über dem Durchschnitt liegenden Erstliga-Format gewesen. Das war inzwischen zwar einige Jahre her, und natürlich hatte er seitdem so gut wie ausschließlich American Football gespielt. Er war Quarterback der Universitätsmannschaft von San Diego gewesen.

Er hatte sich vorgestellt, über den Handball neue Menschen kennenlernen und seine Isolation durchbrechen zu können. Den alten Freunden ging er aus dem Weg. Sie würden zu viele Fragen stellen, zu denen er sich nicht äußern durfte. Bei neuen Freunden allerdings wäre es ohne weiteres möglich, ein halbradikaler adliger Reserveoffizier und Freizeit-Handballer zu sein, ohne daß dies merkwürdig wirkte. So hatte er gedacht.

An den ersten beiden Trainingsabenden war alles gutgegangen. Es war nur natürlich, daß ihm manches ungewohnt vorkam. Kein Wunder, daß er zunächst nicht schnell genug war. Verständlich auch, daß das Spiel in den Jahren seiner Abwesenheit härter geworden war. An jenem Abend aber, der sich als der letzte erweisen würde, wurde er immer wieder von einem Abwehrspieler zu Boden gerissen, der die Torjäger der Gegenseite fast mit Ringergriffen attackierte.

Carl lauerte als Kreisläufer immer gerade dort, wo der Abwehrspieler mit den Ringergriffen stand. Carl wurde viermal zu Boden gerissen, als er zum Torwurf kommen wollte, beim dritten und vierten Mal mit Griffen von hinten, als er schon meinte, durchgebrochen zu sein. Das waren Regelverstöße, die normalerweise sofort hätten gepfiffen werden müssen. Dies war jedoch kein reguläres Spiel, und um so unbegreiflicher kam es Carl vor, daß jemand die Absicht haben konnte, einen Vereinskameraden beim Training zu verletzen.

Als die beiden Kontrahenten ein fünftes Mal zusammenstießen, hakte bei Carl etwas aus. Er wirbelte herum, so daß er dem Gegenspieler den Rücken zukehrte, und stieß ihm mit voller Kraft den Ellbogen in die Magengegend.

Das war eine Bewegung, die Carl mehr als zehntausendmal trainiert hatte; sie gehörte zu seinem Standardrepertoire. Normalerweise führte dieser Schlag zum Bruch einer oder mehrerer Rippen sowie zu sofortiger Bewußtlosigkeit.

Noch während der andere zusammenbrach, bemerkte Carl zu seinem Entsetzen, daß er schon die Hände hob, um den tödlichen Nackenschlag anzubringen. Und in dieser Körperhaltung erstarrte er. Wie ein soeben enthülltes Denkmal stand er über seinem bewußtlosen Vereinskameraden. Und allen Anwesenden ging natürlich ein Licht auf. Nur im ersten Moment hätte es noch so aussehen können, als wäre alles im Übereifer passiert.

Als Carl das Feld verließ, war ihm klar, daß er nicht mehr zurückkommen konnte. Am meisten quälte ihn seltsamerweise das unsportliche Verhalten. Sein ganzes Sportlerleben war von englischen Idealen geprägt gewesen. Er hatte nie geschummelt, nie behauptet, ein Ball sei im Aus, der es nicht war, er hatte sich nie hingeworfen, geächzt, gejammert, gestöhnt und sich gewunden, wie es manche Fußballspieler gern tun, hatte einen Gegenspieler nie bewußt angerempelt oder verletzt. Derlei hatte er bei sich für vollkommen unmöglich gehalten.

Was ihn womöglich noch mehr hätte bekümmern sollen als die Frage des Fair play, war die einfache Tatsache, daß er hier zum erstenmal seine körpereigenen Gewaltinstrumente für einen privaten Zweck eingesetzt hatte. Das hätte ihm nie passieren dürfen. Er war immer zurückgewichen, hatte jeden Streit vermieden, hatte sich nie von der Versuchung hinreißen lassen, so schnell und hart und vernichtend zuzuschlagen, wie er es ohne jeden Zweifel konnte, etwa wenn irgendein angetrunkener Kurskamerad in Kalifornien an Tessie herumgefummelt hatte, um ihn herauszufordern. Er hatte sich immer in der Gewalt gehabt.

Er hatte acht Serien geschossen. In der Schachtel waren noch zwei Schuß. Die Treffer wichen nicht auffällig voneinander ab. Gegen Ende war das Ergebnis wie gewöhnlich schlechter geworden. Er wog den Revolver eine Weile in der Hand und spürte, wie das Elend ihn wieder niederzudrücken begann. Da klingelte das Telefon des Nebenanschlusses, den er unerlaubterweise im Trainingsraum installiert hatte. Es war Näslunds Sekretärin. Er erklärte sich damit einverstanden, in einer halben Stunde bei Näslund zu sein – wenn es schon dicke kommt, dann lieber alles auf einmal –, legte den Revolver in den Waffenschrank zurück, ohne ihn zu reinigen, schloß ab, löschte das Licht und ging in die Wohnung, um sich anzuziehen.

Als er auf die Straße trat, war es schon dunkel geworden. Es war ein typisch trister, schwedischer, dunkler Nachmittag im Dezember. Auf dem Standbild St. Georgs mit dem Drachen vor seiner Haustür lagen fünf Zentimeter nasser Pappschnee. Er überlegte kurz, ob er ein Taxi rufen sollte, aber bei diesem Wetter würde ihm die Zentrale nur die übliche Auskunft geben: Im Augenblick sei kein Wagen frei, man werde ihn aber gern vormerken, vielleicht werde es nicht sehr lange dauern, leider gehe es nicht ohne Wartezeit, und so weiter.

Carls Wagen stand ein paar Häuserblocks weiter. Wie immer hatte er keinen Eiskratzer und mußte wieder einmal die Plastikkarte mit dem kleinen Reichswappen benutzen. Der Wagen sprang sofort an. Das hätte sein früherer amerikanischer Wagen wohl kaum geschafft; er hatte sich nie von dem Umzug von Kalifornien nach Schweden erholt. Außerdem war er für einen Geheimdienstmann etwas zu auffällig gewesen. Und auf glatten Straßen war er nicht zu gebrauchen. Den neuen Wagen hatte er ausschließlich des konventionellen Aussehens sowie des dramatischen Namens wegen gewählt, der ihm zusagte: Ford Scorpio. Er hatte den Kauf nie bereut. Der Scorpio war ein ausgezeichneter Verfolgungswagen, schnell, aber unauffällig. Im Rückspiegel ließ er sich von anderen, weniger leistungsfähigen europäischen Autos der gleichen Klasse nicht unterscheiden.

Carl glaubte zu wissen, daß Näslund jetzt eine Möglichkeit gefunden hatte, ihn vom Posten eines Sektionschefs in der Reichspolizeiführung mit besonderer Verantwortung für Registerbearbeitung in der Sicherheitsabteilung, wie es in seinem Anstellungsvertrag hieß, zu entlassen. Diese Tätigkeit war ohnehin nur als vorübergehende Lösung gedacht gewesen. Inzwischen aber währte das Provisorium schon mehrere Jahre.

Hinzu kam, daß beide einander verabscheuten. Und an diesem schrecklichen Tag würde seine Entlassung aus der Sicherheitspolizei immerhin eine der leichtesten Bürden sein. Vielleicht würde er schon in einer Stunde ein völlig neues Leben beginnen. Bis jetzt war alles eine Sackgasse gewesen, und jetzt hatte er die Mauer an ihrem Ende erreicht. Schon am nächsten Tag würde er vielleicht in einer Maschine nach San Diego sitzen. Als ob das noch etwas ändern könnte. Es war ohnehin zu spät, ihr alles zu erzählen.

Näslund war ein abscheulicher Typ. Er log, betrog, intrigierte und zwang seiner Umgebung eine Fehlentscheidung nach der anderen auf. Die Feindschaft der beiden rührte vor allem daher, daß Carl Näslund im Verdacht hatte, im vergangenen Jahr mit den Israelis zusammengearbeitet zu haben, und daß Näslund sich bemüht hatte, alle Spuren zu verwischen. Es hatte so aussehen sollen, als wären Palästinenser am Werk gewesen. Carls Konfrontation mit den vier Israelis war im Grunde zu spät gekommen, weil diese bis auf einen schon alle PLO-Leute getötet hatten, auf die sie angesetzt waren.

Als Carl wenige Stunden nach dem Feuergefecht Näslund und einigen anderen Vorgesetzten Bericht erstattete und unter anderem sagte, vier Israelis seien tot und einer vorläufig festgenommen, glaubte er an Näslunds Reaktion ablesen zu können, daß dies genau das Ergebnis war, auf das Näslund nicht gehofft hatte. Und er spürte ganz intensiv, daß Näslund seine, Carls, Einstellung kannte. Aus diesem Grund war Näslunds Verbot, Jagd auf die anderen Beteiligten zu machen, eine vollkommen logische Konsequenz. Näslund hatte damals sogar Carls Waffe an sich genommen. Näslund war ein falscher Fünfziger und in Carls Augen eher ein Landesverräter als ein Sicherheitsbeamter.

Carl parkte direkt vor dem Haupteingang der Reichspolizeiführung, wobei ihm die selbstverständliche Folge in Form eines Strafzettels völlig gleichgültig war. Die Politessen waren in der Umgebung der großen Polizeizentrale auf Kungsholmen aus unerfindlichen Gründen besonders diensteifrig. Fünf Minuten später hatte er sich durch mehrmaliges Vorzeigen seines Ausweises über mehrere Stockwerke bis zur letzten Sekretärin vorgearbeitet und stand nun Näslund gegenüber.

„Setz dich hin und lies das mal. Vom deutschen Verfassungsschutz“, begrüßte ihn Näslund ohne weitere Präliminarien.

Carl nickte stumm, nahm die Papiere an sich und setzte sich in einen der Besuchersessel. Er machte die Leselampe an und las eine halbe Stunde lang alles ruhig durch, während Näslund sich, ohne seine Ungeduld zu zeigen, mit Korrespondenz und anderer Routinearbeit zu beschäftigen schien.

Als Carl zu Ende gelesen hatte, legte er die Unterlagen sorgfältig und in der Reihenfolge, in der er sie bekommen hatte, zusammen und steckte sie in den grauen Umschlag. Dann schaute er Näslund an.

„Du willst, daß man mich in Deutschland umbringt, ist das die Idee?“ fragte er in einem Tonfall, als wollte er um ein Streichholz bitten.

Näslund musterte den Mann, den er in der Firma am meisten verabscheute, während er sich überlegte, wie er diese Unverschämtheit kontern sollte. Es stand immerhin viel auf dem Spiel.

„Für Heuchelei bist du wohl nicht sehr zu haben, was, Hamilton?“ begann er langsam. „Aber wenn ich mal den Versuch mache, mich auf dein Niveau von Aufrichtigkeit hinunterzubegeben: Let’s cut out all the bullshit. Ich vermute, daß du es so ausdrücken würdest. Also erstens: Du kannst die Risiken einer solchen Operation viel besser beurteilen als ich. Zweitens: Die Westdeutschen sollen dich unterstützen und dir Rückendeckung geben. Drittens: Diese Angelegenheit ist für unsere Zusammenarbeit verdammt wichtig, womit ich nicht deine und meine im Auge habe, sondern die der Bundesrepublik Deutschland mit Schweden. Und viertens: Du mußt die Lage schon selbst beurteilen und einschätzen, wenn du hinuntergefahren bist und mit denen geredet hast. Ich überlasse die Entscheidung also ganz und gar dir.“

„Den Teufel tust du, Näslund, du denkst nicht daran, mir auch nur eine Entscheidung zu überlassen. Ich weiß nicht, ob du dir überhaupt vorstellen kannst, wie schwierig schon der erste Schritt einer solchen Operation ist, nämlich die Einschleusung. Und dann soll ich noch wer weiß wie lange buchstäblich mit einer Pistole im Nacken unter diesen Wahnsinnigen leben? Also, was bringt dich dazu zu glauben, ich könnte mich damit einverstanden erklären? Die sportliche Seite der Angelegenheit? Die Freude, russisches Roulette zu spielen? Die Freude, meinem hochgeschätzten alten Freund Näslund einen Dienst zu erweisen, damit er sich einen weiteren Erfolg an den Hut heften kann? O nein, ich will den wahren Grund hören, und jetzt raus damit.“

Näslund wühlte in einigen Papieren auf dem Schreibtisch, bevor er antwortete. Seine Stimme hörte sich immer noch ruhig und gelassen an.

„Es sind zwei Dinge, Hamilton. Erstens haben wir ja ein eigenes polizeiliches Interesse an der Angelegenheit, da diese Scheißkerle offenbar vorhaben, in Schweden zuzuschlagen. Die Konsequenzen brauche ich dir nicht näher auszumalen. Wenn du ein edles nationales Motiv suchst, hier hast du es. Ich gehe aber davon aus, daß dir das nicht genügt?“

„Nein, es hört sich an wie ein Vorwand. Es ist zwar möglich, daß diese Banditen aus irgendeinem Grund einen Schweden anwerben wollen, aber ich kann für die Baader-Meinhof-Gruppe in Schweden kein natürliches Ziel sehen. Das reicht nicht.“

„Das habe ich schon geahnt. Um mich also einer Art Gangsterlogik zu bedienen, von der ich überzeugt bin, daß sie dir einleuchtet: I’ll give you an offer you can’t refuse.“

„Ich glaube nicht, daß du das kannst.“

„O doch. Es gibt nämlich einen Punkt, in dem wir beide völlig einer Meinung sind. Du bist doch sicher der Ansicht, beim Militär besser aufgehoben zu sein? Du wärst doch von Anfang an lieber dort gewesen?“

„Ja, stimmt genau. Grundsätzlich habe ich nichts gegen den zivilen Sicherheitsdienst, aber ich kann mich mit der Unkorrektheit, für die du stehst, nicht anfreunden.“

„Ausgezeichnet. Und in diesem Punkt sind wir uns einig. Ich will dich auch auf der militärischen Seite des Ladens haben. Leute deines Schlages, die alles nur in Schwarz und Weiß sehen, passen dort ausgezeichnet hin. Die Guten und die Bösen, peng, dann gibt’s eins auf die Rübe.“

„Ich passe also nicht recht in deine A-Mannschaft.“

„Versuch doch mal, realistisch zu sein, Hamilton, sei doch nicht immer gleich so gereizt. Bei dieser Operation, die sich die Deutschen wünschen, bist du in der Firma der einzige, der das bewältigen kann. Kein anderer kommt auch nur in die Nähe deiner Qualifikation, und das weißt du selbst am besten. Wir haben also nur einen Onkel hier in der Firma, der für so etwas in Frage kommt, und der bist du.“

„Du erweist den Deutschen einen Dienst, bezahlst alte Schulden, ich helfe dir dabei und werde im besten Fall abgeknallt und später in einem schwarzen Müllsack gefunden. Damit hättest du sozusagen alle Fliegen mit einer Klappe geschlagen.“

„Nein, du hast vergessen, daß ich dich bei den Streitkräften sehen will. Und außerdem hoffe ich, daß die Operation erfolgreich verläuft.“

„Warum willst du mich eigentlich zum Nachrichtendienst abschieben? Fällt dir das jetzt nicht reichlich spät ein, nach vier Jahren hier in der Firma?“

Carl begann, sich unsicher zu fühlen. Er konnte Näslunds Gesicht hinter der Schreibtischlampe nicht sehen, und dessen Tonfall blieb die ganze Zeit unverändert ruhig. Das stimmte nicht mit Carls Bild von Näslund überein, den er als einen intriganten Hysteriker kannte, der beim geringsten Streß die Selbstkontrolle verlor.

Auf der anderen Seite des Raums saß Näslund und war allmählich davon überzeugt, daß das Ganze funktionieren würde. Näslund war sich seiner Sache absolut sicher, als er die entscheidende Karte ausspielte.

„Weißt du, wer Oberstleutnant Lennart Borgström ist?“ fragte Näslund im gleichen Tonfall wie zuvor.

„Ich glaube, ein nervöser Typ in der Sicherheitsabteilung des Verteidigungsstabes. Brille, oft unbeherrscht, Schweißperlen auf der Oberlippe.“

„Gar nicht so dumm, Hamilton, aber es ist sogar so, daß er der Chef des militärischen Abschirmdienstes ist. Sieh dir mal diese Papiere an, dann kannst du das Genie näher kennenlernen, das in meiner Position beim Militär sitzt. Weiß der Teufel – vielleicht würdest du am Ende nicht doch mir den Vorzug geben.“

Näslund hielt Carl etwa zwanzig mit „Geheim“-Stempeln versehene Din-A4-Blätter hin.

Zehn Minuten später hatte Näslund eine Position gewonnen, aus der heraus es ihm ohne jeden Zweifel gelingen würde, Carl ein überzeugendes Angebot zu machen.

Die Dokumente waren ein knappes Jahr alt. Ausgangspunkt war ein Brief des Alten an den Oberbefehlshaber der Streitkräfte, in dem der Alte unter Hinweis auf den Orden, den Carl auf Beschluß des früheren Ministerpräsidenten für „Tapferkeit im Felde“ erhalten hatte, jetzt die Frage nach der Einrichtung einer neuen Planstelle in der Operationsabteilung 5 des Stabes aufwarf, genauer der Abteilung SSI, wie man das frühere IB des Alten umgetauft hatte. Der Oberbefehlshaber hatte dem Alten seine Zustimmung gegeben, die Angelegenheit zur weiteren Prüfung, aber routinemäßig der Sicherheitsabteilung des Stabes zur Kenntnis gegeben. Und dort war der Oberstleutnant des Abschirmdienstes in den Papierstapel geraten. Er hatte ein vier Seiten langes Memorandum über Carl zu Papier gebracht, in dem dieser als fanatischer Kommunist der schlimmsten Sorte beschrieben wurde, nämlich als Marxist-Leninist, der entweder bei der Clarté oder der KPMLr zu Hause sei. (Hier fuhr Carl sichtlich zusammen, denn die beiden Organisationen waren tief verfeindet und lagen ideologisch so weit auseinander, wie man bei der Linken überhaupt auseinanderliegen kann; ein Sicherheitschef, der nicht einmal das wußte, konnte von Feindaufklärung nicht viel halten.)

Dem Memorandum zufolge hatte Carl vor seinem Wehrdienst einer Extremistengruppe angehört, die es sich in den Kopf gesetzt hätte, die Streitkräfte zu unterwandern. Der Umstand, daß Carl beim zivilen Sicherheitsdienst in operativer Hinsicht erfolgreich gewesen sei, spreche vor dem Hintergrund des oben Genannten dafür, daß er dort auch bleiben solle, daß man ihm bei den Streitkräften aber keine Planstelle mit qualifizierten Aufgaben anbieten dürfe, und zwar aus Sicherheitsgründen.

Damit hatte man die Angelegenheit vertagt. Der Oberbefehlshaber hatte bis auf weiteres darauf verzichtet, eine Entscheidung zu fällen, aber dieses „bis auf weiteres“ dauerte jetzt schon mehr als ein Jahr.

„Ja, ja“, seufzte Carl, als er aufstand, quer durch den Raum ging, Näslund die Papiere auf den Schreibtisch legte, sich umdrehte und mit der gleichen Bewegung zu seinem Stuhl zurückging. „Der Chef des Abschirmdienstes ist ein Idiot, und das ist der Grund dafür, daß du mich nicht loswirst und ich dich auch nicht, ist es etwa so?“

Näslund, der spürte, daß er schon gewonnen hatte, zögerte noch eine Weile mit der Antwort.

„Ja, er ist offenkundig ein Idiot. Also, Hamilton. Flieg zu den Deutschen runter und hör dir an, was sie zu sagen haben. Wenn dir der Vorschlag idiotisch vorkommt, brauchst du nicht mitzumachen, aber dann erwarte ich von dir, daß du nach Hause kommst und mir erklärst, warum das Ganze idiotisch ist. Wenn es sich vernünftig anhört, solltest du den Versuch machen. Du hast noch weitere drei Monate mit fünfundzwanzigprozentigem Gehaltsabzug dienstfrei. Wenn du nach Hause kommst, richtet die Firma ein Schreiben an den Oberbefehlshaber, in dem wir diesen Idioten überfahren und deinen Übertritt zum Militär empfehlen.“

„Kann ich dir morgen Bescheid geben?“

„Ja.“

„Können wir uns um 8.30 Uhr hier sehen?“

„Sagen wir lieber 8.15 Uhr.“

„Kannst du vorher mit den Deutschen Kontakt aufnehmen?“

„Ja.“

„Ich muß noch etwas über die Ausrüstung wissen, über das, was ich aus Schweden mitnehmen darf. Kleidung und technische Ausrüstung, kannst du das klären?“

„Ja. Wir sehen uns morgen.“

Er flüchtete sich wieder für mehrere Stunden zu seinen Waffen, um alles andere verdrängen zu können. Das vermittelte ihm das etwas unechte Gefühl, die Situation zu beherrschen. Gleichgültig, ob er mit seinem amerikanischen Revolver schoß, um langsam und kontrolliert mit Einzelschüssen zu treffen, oder seine italienische Pistole abfeuerte, um in sehr schnellen Serien mit zwei von drei Schüssen Treffer zu landen, immer war etwas da, was offenkundig richtig oder falsch war und sich sofort deuten ließ. In jeder Situation, in der er eine Waffe in der Hand hielt, gab es etwas vollkommen Richtiges und zugleich etwas völlig Falsches. Er hatte dieses Gefühl des Trostes noch nie so klar und unverfälscht erlebt wie gerade an diesem frühen Dezemberabend.

Vom Schießstand in Djursholm fuhr er in die Stadt zurück und beschäftigte sich eine Zeitlang mit Waffenpflege. Er packte seine als Pilotenkoffer getarnte Waffentasche, in der ein ausgeklügeltes System von Plexiglasplatten in den Wänden jeden Flughafenkontrolleur bei der Durchleuchtung nur eine Kameratasche sehen ließ. Aber vermutlich würde Carl seine eigenen Waffen gar nicht mitnehmen können, da sowohl Revolver als auch die Pistole auf dem Kolben sein eingraviertes Familienwappen trugen, im schwarzen Schild drei rote Rosen und eine goldene Grafenkrone; das würde sich kaum mit der Identität in Einklang bringen lassen, die die Deutschen ihm geben wollten.

Der Alte hatte ihn wie gewöhnlich in der Wohnung an der Grevgatan empfangen wollen. Carl hatte jedoch den alten Hausmannskost-Fanatiker zum Ausgehen überreden können und ihn durch den Dezembermatsch und die undurchdringliche Dunkelheit zum Ulriksdals Värdshus gefahren. Das Lokal erfreute sich seit ein paar Jahren eines Sterns im Guide Michelin, und die Preise waren doppelt so hoch wie in anderen Lokalen, so daß die Plastikkarten-Esser, die auf Kosten anderer aßen, sich hier eigentlich wie Pinguinschwärme auf einer arktischen Eisscholle hätten drängen müssen. Sie drängten sich jedoch durchaus nicht; das Restaurant wirkte leer.

Sie saßen unten auf der Veranda in einer Ecke nahe der verschneiten Eingangstür. Carl hatte Elchfilet und einen 1981er Burgunder aus Chambertin bestellt, und dem Alten war es gelungen, sich zum Fleisch statt Gelee eingemachte Preiselbeeren zu bestellen. Die Kellner hatten sich Mühe gegeben, keine Miene zu verziehen. Der Alte hatte sich besorgt geäußert, Carl könne zuviel Wein trinken und so über der 0,5-Promille-Grenze landen. Das war komisch und sehr schwedisch. Meist hatte der Alte für die Gesetze nichts als souveräne Verachtung übrig; sie waren in seinen Augen entweder unpraktische Hindernisse für die nachrichtendienstliche Tätigkeit oder unwichtige Bestimmungen, die nur für andere Instanzen der Gesellschaft galten. Er zitierte immer eine Weisheit seiner Großmutter aus Småland – „Es gibt einen Unterschied zwischen den Gesetzen Gottes und den Verordnungen der Menschen“ –, und diese freikirchlich geprägte småländische Weisheit hatte der gesamten operativen Seite des militärischen Nachrichtendienstes in Schweden fünfundzwanzig Jahre lang den Stempel aufgedrückt; so lange war der Alte dessen Chef gewesen.

Die beiden Männer besprachen alle Aspekte und Voraussetzungen der geplanten Aktion. Der Alte war von Anfang an und ohne zu zögern dafür, daß Carl nach Deutschland reiste, nicht so sehr, weil die Erfolgsaussichten glänzend zu sein schienen, sondern weil es gute Gründe für die Annahme gab, daß dieser verfluchte Näsberg (oder wie immer er heiße) dann endlich sein Versprechen einer Art security clearance halten werde, was Carls sofortige Übernahme durch das Militär ermöglichen werde, damit dieses peinlich lange Zwischenspiel bei den „Schupos“ (der Sicherheitsdienst des Reiches wurde von dem Alten ausschließlich mit diesem verächtlichen Wort belegt) endlich ein Ende nehmen könne.

In San Diego befanden sich nämlich zwei neue Agenten in Ausbildung. Das bedeutete, daß der Alte seinem Ziel, beim Nachrichtendienst eine Abteilung aus qualifizierten Operateuren aufzubauen, ein weiteres Stück nähergekommen war. Carl war sozusagen der Prototyp dieser Waffengattung gewesen, und nach dem erfolgreichen Einsatz gegen die Israelis im Vorjahr war die Ausgangslage für die Anwerbung neuer Rekruten hervorragend gewesen. Der Alte hatte so lange gequengelt, bis er seinen Willen bekam. Der Ministerpräsident hatte höchstpersönlich grünes Licht gegeben, nur zwei Wochen vor seiner Ermordung. Der Beschluß war jetzt also heilig, und der Alte glaubte zu wissen, daß der künftige Oberbefehlshaber der Streitkräfte sich über die Entwicklung des Nachrichtendienstes in den letzten Jahren die gleichen Sorgen machte wie er selbst. Das war möglicherweise etwas reichlich optimistisch gedacht, und das wußte Carl.

Die Militärs glaubten blind an ihre Technik und waren der Meinung, die Funk-, Radar- und Abhöreinrichtungen seien die stärkste Karte des schwedischen Nachrichtendienstes, da man in Friedenszeiten so gut wie den gesamten militärischen Funkverkehr der Sowjets im Ostseegebiet mithören konnte.

„Aber das ist doch so verteufelt phantasielos“, bemerkte der Alte, der sonst fast nie fluchte, „zu glauben, daß das in einer Krisensituation irgendwelche Bedeutung hätte. Was würdest du an der Stelle der Russen tun, wenn es tatsächlich zu einer Konfrontation mit Schweden käme?“

„Das hast du mich schon mal gefragt, ich würde natürlich …“

„… mit totaler Funkstille beginnen, genau. Und dann tauschen sie alle Codes aus, dann knallt es, und dann hilft es nicht mehr, daß die Funktechniker glauben, sie könnten die neuen Codes innerhalb von zwei Tagen knacken oder sonst-was tun, womit sie immer so prahlen. Zwei Tage später sind wir gar nicht mehr da, nicht wahr?“

„Nun ja, das sagst du immer.“

Der Alte bremste sich. Das hatte er tatsächlich schon früher gesagt. Sie gingen dazu über, sich über die Voraussetzungen des deutschen Unternehmens zu unterhalten.

Im Grunde gab es nicht sehr viel zu sagen. Eine Operation under deep cover hängt natürlich ausschließlich davon ab, wie man seine Tarnung herstellt. Schweden ist ein kleines Land. Man kann daher keinen völlig neuen und unbekannten Terroristen namens Andersson aus Trollhättan aus dem Hut zaubern. Es hatte den Anschein, als hätten die Deutschen diese Schwierigkeiten unterschätzt, aber das blieb zunächst abzuwarten. Dagegen, fuhr der Alte fort, sei es jetzt viel wichtiger, diesem, hm, Näsberg ein paar Dokumente abzupressen. Erstens brauche Carl ein Papier, das er in einem Bankschließfach oder bei ihm, dem Alten, deponieren müsse, aus dem klar hervorging, daß er schwedischer Sicherheitsbeamter und Offizier sei. Ferner müsse festgehalten werden, daß er an den deutschen Verfassungsschutz ausgeliehen sei, und zwar für eine Operation, um die die Deutschen gebeten hätten, ein Unternehmen, das zu Konflikten mit deutschen oder schwedischen Gesetzen führen könne, und außerdem müsse unmißverständlich gesagt werden, daß Carl dabei auf Befehl gehandelt habe. Außerdem müsse er auch von den Deutschen ein ähnliches Dokument verlangen. Näslund werde sich vermutlich sperren, vielleicht auch die Deutschen. Obwohl es nicht sehr wahrscheinlich sei, daß Carl sich mit solchen Papieren bei den Terroristen oder bei der Skandalpresse ausweisen würde. Diese Urkunden ließen sich nur dann verwenden, wenn das Unternehmen danebengehe und er in den Krallen von Polizei und Gerichten lande. Man werde Carl solche Versicherungspolicen nicht verweigern können. Dann werde es auch nicht mehr möglich sein, ihn im Stich zu lassen, dann wären sie im Fall eines polizeilichen Eingreifens gezwungen, ein Verfahren hinter verschlossenen Türen abzuhalten, wie sie es in ihren Memoranden beschrieben hätten – der Alte hatte noch nie von diesem System gehört, obwohl er über die Deutschen einiges wußte, aber das schloß nicht aus, daß man unter bestimmten Voraussetzungen so vorgehen konnte. Und da gebe es noch etwas: Carl solle versuchen, diesen Näsberg oder wie der Kerl heiße schon im voraus dazu zu bringen, sein Empfehlungsschreiben an den Oberbefehlshaber abzuschicken, damit man den Idioten beim Abschirmdienst überfahren könne.

Sonst gebe es keine Probleme. Carl brauche nur nach Deutschland zu fliegen und sich anzuhören, was die Kollegen zu sagen hätten, und nein danke zu sagen, wenn deren vorgeschlagene Tarnung nicht gut genug sei, wovon man fast ausgehen könne.

Sie hatten sich den Nachtisch geschenkt und saßen jetzt vor ihrem Kaffee. Carl hatte dem Alten einen Cognac aufgedrängt.

Carl hatte noch etwas auf dem Herzen: Die Frage, wie man eine bestimmte Zahl von Millionen an persönlichem Vermögen versteuen solle. „Du bist zwar alter Sozialist, aber was würdest du an meiner Stelle tun?“

Während Carl unter Mühen versuchte, sein moralisches Problem darzulegen, blickte er in seine Kaffeetasse, in die er nur ein Stück Zucker gelegt hatte, das von dem rotierenden Löffel schon längst zermahlen sein mußte. Hätte er dem Alten ins Gesicht geblickt, hätte er zu seinem Erstaunen gesehen, wie es in den Augen des alten Spionagechefs vor Vergnügen fast zu glitzern begann.

„Also“, sagte der Alte, nachdem Carl sich seine Skrupel von der Seele gemurmelt hatte, „was willst du als erstes hören? Die formelle Entschuldigung sowie die Erklärung, was dir die Amtspflicht abverlangt? Oder meine Meinung über die moralische Seite der Angelegenheit?“

„Bitte erst die Entschuldigung.“

„Nun, da liegen die Dinge so: Es ist doch hervorragend, daß jeder Versuch, sich im nächsten Jahr über deine Vermögensverhältnisse zu erkundigen, zu der Information führen wird, daß du keinerlei Vermögen hast. Solltest du dich etwa in einem halben Jahr in Gestalt eines abgesprungenen schwedischen Studenten mit Surfing-Vergangenheit in Kalifornien bei den Terroristen aufhalten oder unter irgendeinem anderen Vorwand, und es stellt sich heraus, daß du Millionär bist … nein, das wäre nicht so gut.“

Carl tat den Einwand mit dem Hinweis ab, das setze voraus, daß aus dem deutschen Unternehmen etwas werde, was vermutlich nicht der Fall sei. Darin gab der Alte ihm recht.

Was das moralische Problem aber angehe, unter uns Sozialisten, hatte der Alte einige Überraschungen parat. Bei der Auflösung des alten IB seien eine ganze Reihe der Grundstücke und Gebäude auf ihn, den Alten, persönlich überschrieben worden. Als wäre es eine Gratifikation des Staates, wurde daran auch später nichts geändert; der Alte hatte also ein steuerfreies Geschenk im Wert von gut drei Millionen Kronen erhalten. „Das Besteuerungsproblem bei Immobilien ist mir daher ziemlich vertraut. In manchen Jahren ist die Steuer beschämend niedrig ausgefallen, das muß ich zugeben, aber ich habe das in anderen Jahren durch Zahlung höherer Steuern auszugleichen versucht. Was hätte es aber für einen Sinn gehabt, mir alles wegsteuern zu lassen? Wäre die Welt davon gerechter und besser geworden?“

Man müsse versuchen, die Dinge auch rein praktisch zu sehen, nicht nur moralisch, wozu Carl gelegentlich neige, gelinde gesagt sogar etwas übertrieben. Da sei beispielsweise die Frage der Gewerkschaft: „Wenn man wie ich sein ganzes Leben lang Sozi gewesen ist, ist man ja selbstverständlich auch für die Gewerkschaftsbewegung. Was meinst du wohl, welche Erfahrung ich mit der Gewerkschaft machen mußte? Wir haben es uns doch nicht so gedacht, daß es zu solchen Absurditäten wie etwa einer Offiziersgewerkschaft kommt, zu einem Recht auf feste Anstellung etwa beim Nachrichtendienst, etwas, was gerade bei unserem Thema peinlich naheliegen könnte. Ich erzähle dir lieber die Geschichte, die ich mit dem alten, ehrlichen Landarbeiterverband erlebt habe.“

Unten in Kivik in Schonen wisse ja jeder, daß er, der Alte, vor seiner Pensionierung Spionagechef gewesen sei. Und jetzt hatte er, wie alle anderen Eigentümer von Apfelplantagen in der Gegend, teuflische Probleme mit der Gewerkschaft. Zur Erntezeit kamen wie immer die polnischen Studenten nach Schonen, um schwarz zu arbeiten. Das war die einzige Methode, die Äpfel aus den Bäumen zu bekommen. Angesichts der schwedischen Löhne und Anstellungsgarantien auf Lebenszeit und der Krankenversicherungen und des Urlaubsanspruchs mit Lohnfortzahlung würden die Äpfel ganz einfach nicht von den Ästen herunterkommen, höchstens verfault.

Folglich wurden die Äpfel von polnischen Studenten gepflückt, die man schwarz bezahlte. Das war ein glänzendes Geschäft für die Studenten, die das ersparte kleine Geldscheinbündel anschließend nach Hause schmuggelten, es auf dem Schwarzmarkt umtauschten und sich ihr Studium für mindestens ein weiteres Jahr damit sicherten, bis zur nächsten Apfelernte in Schonen.

Alle waren also zufrieden. Überdies waren diese polnischen Studenten, die in jedem Herbst erschienen, ein hervorragendes Rekrutierungspotential für jeden Nachrichtendienst, in dem halbwegs vernünftige Leute saßen. „Nun ja“, unterbrach sich der Alte, „das gehört ja strenggenommen nicht hierher.“

Aber dann hätten sich Gewerkschaftsangehörige auf die Lauer gelegt und Schwarzarbeiter erwischt. Mancher der polnischen Apfelpflücker sei festgenommen, der Polizei übergeben und des Landes verwiesen worden.

Und jetzt wüßten sämtliche Apfelpflanzer Kiviks, daß er, der Alte, einmal Spionagechef gewesen sei. Eines Tages erschienen sie vollzählig vor seiner Haustür, um eine Anfrage an ihn zu richten, die jeden Sozialdemokraten, ob er ehemaliger Spionagechef war oder nicht, in Schwierigkeiten bringen mußte. Sie wollten, daß der Alte eine Art Alarmsystem entwickelte, ein gegen Gewerkschaftsspione gerichtetes Sicherheitssystem.

Nach einigem Zögern erklärte sich der Alte mit dem Vorschlag einverstanden. „Und dieses System funktioniert jetzt schon seit zwei Jahren. Es klappt perfekt. Sobald sich einer der Gewerkschaftsspione nähert, verschwindet wie durch Zauberei jeder polnische Student aus der gesamten Region Kivik. Wenn die Brüder wieder abgezogen sind, wird die Arbeit wiederaufgenommen Aus diesem Grund können wir in Schweden immer noch schwedischen Apfelsaft trinken.“

„Du meinst also, es gebe einen Unterschied zwischen den Gesetzen Gottes und den Verordnungen der Menschen, in diesem Fall der Sozis?“ wollte Carl wissen, den die Geschichte zwar amüsierte, der aber noch keine richtige Parallele zu seinem Problem sah.

Der Kellner erschien mit Carls Kreditkarte und der Rechnung, und der Alte beantwortete die Frage erst, als sie wieder im Wagen saßen und durch den Schneematsch in die Stadt zurückfuhren.

„Verschiebe das Ganze. Du kannst bis zum nächsten Jahr warten, und wenn es nur darum geht, daß du Steuern bezahlen willst, dann mach es wie ich. Nimm ein Jahr, in dem dir besonders großzügig zumute ist oder in dem du ein besonders schlechtes Gewissen hast, aber es gibt keinerlei Grund, sich alles wegsteuern zu lassen. Und im Augenblick darfst du es nicht einmal – aus Sicherheitsgründen. Das ist ein Befehl, verstanden? In diesem Jahr mußt du mit Rücksicht auf die Sicherheit des Reiches ein Vermögen von null Kronen angeben, hehe.“

Als Carl am nächsten Nachmittag die Papiere in der Bank unterzeichnete, die ihm ein paar weitere Millionen einbringen würden, saß er an einem Fenster hoch oben in dem Bankgebäude, das nicht nur eine Aussicht auf die größte Hurenstraße Stockholms bot, jenseits des alten Reichstagsgebäudes, sondern auch auf den Ort in der Stadt, an dem die meisten Drogen umgeschlagen wurden. Die Aussicht machte Carl depressiv und machte ihm die ganze Transaktion noch widerwärtiger.

Den Akten im Bankschließfach wurden einige Umschläge von der Sicherheitsabteilung der Reichspolizeiführung beigefügt, nämlich die Garantien von Ministerialdirektor Näslund, die er ohne Diskussionen gegeben hatte, sowie ein Testament, in dem Carl im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und so weiter erklärte, im Fall seines Todes vermache er seine sämtlichen Vermögenswerte dem Palästina-Komitee in Schweden, Konto Nummer soundso.

Zwei bestürzte Bankangestellte hatten seine Unterschrift bezeugt. Anschließend ging er zu Fuß durch die Hurenstraße zu seiner Wohnung in Gamla Stan, der Stockholmer Altstadt. Er packte eine Reisetasche, zog sich einfache, aber flotte Freizeitkleidung an und packte an Waffen nur sein präpariertes Schweizer Armeemesser und ein amerikanisches Kommando-Messer mit einem tarnfarbigen Kunststoffgriff ein.

Er sammelte die Topfpflanzen der Wohnung ein und stellte sie auf den Tisch in der Bibliothek, den er mit Zeitungspapier abgedeckt hatte. Dann gab er ihnen so viel Wasser, wie eben vertretbar war; einige der Pflanzen neigten dazu, auch an zuviel Wasser zu sterben, und überdies war er Anfänger, dem man kaum nachsagen konnte, daß er ein grünes Händchen besaß. Seine bisherige Verlustziffer reichte an hundert Prozent heran.

Carl spürte, daß auch diese Pflanzen sterben würden, und so kam es auch. Seine Reise nach Deutschland brachte es mit sich, daß die Pflanzen nach anderthalb Monaten starben, und in den folgenden Monaten würden wegen dieser Deutschlandreise insgesamt sechzehn Menschen sterben. Einer davon würde ein junger Offizier sein, Angehöriger eines ausländischen Nachrichtendienstes, mit dem die Bundesrepublik zusammenarbeitete; ein junger Offizier, der den Auftrag erhalten hatte, under deep cover unter westdeutschen Terroristen zu arbeiten.

Carl saß in dem englischen Lesesessel und hörte sich über die Kopfhörer der Stereoanlage ein schwermütiges Streichquartett von Brahms an. Die winterliche Abenddämmerung hüllte die konservative, in Leder und Mahagoni gehaltene Wohnungseinrichtung ein. Eigentlich hatte er seine Wohnung nicht so einrichten wollen, aber dies war eben ein Stil, den er in der Kindheit zu tolerieren gelernt hatte, und jetzt hatten Mahagoni und Leder fast die Funktion einer passenden Tarnung; alles sah so aus, wie es zu einem jungen, adligen Millionär aus der Börsenjobber-Truppe paßte, alles mit Ausnahme des verschlossenen Raums hinter der Stahltür mit dem Sicherheitsschloß.

Carl betrachtete die immer dunkler werdenden Umrisse der Topfpflanzen. Er hatte das Gefühl, als sei er dabei, sich auf ähnliche Weise aufzulösen. Hatte er sich nur als Couponschneider verkleidet, oder war er im Grunde eigentlich nicht mehr als das?

Er trank langsam ein Glas Whisky, während seine Gedanken zu der Hurenstraße abschweiften, durch die er auf dem Heimweg gegangen war. Das war ein eigenartiger letzter Eindruck von Schweden. Seine Lufthansa-Maschine ging früh am nächsten Morgen.

5

Er erwachte von dem urzeitlichen Ächzen im Innern der Maschine, als sich die Hydraulik in Bewegung setzte, um das Landegestell auszufahren. Noch nie hatte er in einem Flugzeug so lange und so unbeschwert geschlafen, und als er munter wurde, entdeckte er, daß er ausgeschlafen, sorgenfrei und sogar guter Laune war, und all das nur, weil er unterwegs war, wobei es überhaupt nicht darauf ankam, wohin. Er hatte immerhin eine Aufgabe vor sich, was etwas völlig anderes war als das langweilige Drücken der Schulbank wie in den letzten Monaten – und das nur, um einen weiteren Streifen an einer Uniform zu erobern, die er sowieso nicht trug.

Als die Maschine mit quietschenden Reifen die Landebahn berührte, entdeckte er einige Flugzeuge mit den Hoheitszeichen der U.S. Air Force. Genau, Frankfurt am Main ist nicht nur einer der größten Flughäfen Europas, sondern auch eine Militärbasis, folglich ein Terroristenziel.

Im Bus von der Maschine zur Ankunfthalle betrachtete er die Umgebung mit den Augen eines Terroristen. Falls man hier zuschlagen wollte, wie, wo und womit sollte es geschehen?

Das Gelände wurde intensiv bewacht. Es gab zwei oder drei Wachstationen mit jederzeit einsatzbereiten Panzerkampfwagen, und auf dem Dach der Ankunfthalle entdeckte Carl zwei Wachen mit automatischen Waffen; ein Angriff hier drinnen wäre ein selbstmörderisches Unternehmen, und zum Selbstmord neigten europäische Terroristen nicht, soweit er sich erinnern konnte. Man konnte sich der Startbahn aber natürlich auch in Längsrichtung nähern. Man mußte nur auf einige hundert Meter herankommen, das würde genügen. Und mit einer Stinger oder schlimmstenfalls einer SAM-7, ja sogar einer SAM-7 würde man es auf diese kurze Entfernung schaffen, könnte man jede beliebige amerikanische Militärmaschine vom Himmel holen. Ein Treffer kurz nach dem Start hätte eine vernichtende Wirkung. Die vollgetankte Maschine würde auf dem Boden aufschlagen und sich in einen gigantischen Feuerball verwandeln. Das Durcheinander und die Verwirrung danach wären total, und es wären nicht mehr als drei Terroristen nötig, um eine solche Operation durchzuführen. Sie könnten sich sogar schon vor dem Einschlag der handlichen, tragbaren Rakete vom Tatort entfernen.

Warum hatten die Terroristen noch nie eine solche Aktion unternommen? Im Vergleich zu der Beschießung einer Warteschlange von Flugpassagieren, was in Terrorkreisen eine merkwürdig beliebte Methode war, hätte der Abschuß eines Flugzeugs entscheidende Vorteile: größerer Schaden, größere Sensation, größere Möglichkeit, sich die Opfer auszusuchen, dazu noch weitaus günstigere Möglichkeiten für die Terroristen, sich nach dem Angriff abzusetzen. Warum hatten sie es noch nie mit so etwas versucht?

War es vielleicht zu schwer, in ein Waffenlager der NATO einzudringen und eine Redeye oder eine Stinger zu stehlen?

Carl wurde jäh aus seinen Überlegungen gerissen, als der Bus kurz vor dem Erreichen der Ankunfthalle an einer Messerschmitt 109 aus dem Zweiten Weltkrieg vorbeirollte. Ja, es war tatsächlich ein deutsches Kampfflugzeug aus dem Dritten Reich, sogar mit den damaligen Hoheitszeichen auf den Tragflächen. War Frankfurt damals eine Luftwaffenbasis gewesen? Stand die Maschine dort als eine Art Denkmal, oder zu welchem Zweck sonst? Außer Carl schien niemand auf diesen bemerkenswerten Anblick auf dem Dach der Ankunfthalle zu reagieren; als der Bus nach dem Eintauchen in die überdachte Auffahrt zu ebener Erde vorfuhr, war die Maschine nicht mehr zu sehen. Die Fluggäste verließen den Bus und verloren sich bald in der gewaltigen Verästelung von Flughafengebäuden.

Carl machte eine Runde durch die große Ankunfthalle. Er vermutete, daß sich zur Hauptverkehrszeit am späten Morgen oder am frühen Abend sieben- oder achttausend Menschen hier aufhielten. Wenn es Terroristen gelänge, mit automatischen Waffen in dieses Gewimmel zwischen Läden und Ausgängen und Transportbändern einzudringen, könnte keine Sicherheitstruppe der Welt eine Katastrophe verhindern.

Unbewußt prüfte er den Fußboden: Seine Joggingschuhe paßten perfekt zu den Gumminoppen der Unterlage.

Er hatte nur eine kleine Reisetasche bei sich, die als erste auf dem Laufband landete. Bei der Paßkontrolle und beim Zoll widmete ihm niemand mehr als zerstreute Aufmerksamkeit; ein gepflegter, sportlicher junger Skandinavier in Freizeitkleidung, wie es in einer Fahndungsmitteilung geheißen hätte. Näslund zufolge hatten die Deutschen ihn etwa so haben wollen. Und wie erwartet hatten sie auch gesagt, sie selbst würden die Waffen stellen, falls und wenn es sich als nötig erweisen sollte.

Dagegen hatten sie nicht gesagt, wann und wo die Kontaktaufnahme stattfinden sollte. Von jetzt an bis zur Ankunft in Bonn mußte er damit rechnen. Aus irgendeinem Grund wollten sie, daß er nach Frankfurt flog, um anschließend mit dem Airport-Expreß nach Bonn zu fahren, statt gleich auf dem Flughafen Köln/Bonn zu landen. Warum, das spielte keine Rolle.

Er genoß es, in der Anonymität der gewaltigen Menschenmasse des fremden Landes zu verschwinden, in der ihn niemand erkennen würde, in der niemand etwas von ihm wußte, und in der es ihm gelingen würde, jede beliebige Identität zu vollständiger Glaubwürdigkeit aufzubauen. Er war auf dem Weg in den Auftrag, und das erfüllte ihn mit geheimnisvoller, fast berauschender Freude.

Der Airport-Expreß war ein außerordentlich eleganter Zug, in dem alles perfekt aufgeräumt und sauber war und in dessen Speisewagen es weiße Tichtücher und richtige Bestecke gab (im Gegensatz zu schwedischen Speisewagen) sowie gut-gekleidete Kellner, die ihm, ohne über seine Jeans zu grinsen, zur Begrüßung ein Glas Champagner anboten. Auf einem Tablett im Hintergrund entdeckte Carl eine Batterie des gewöhnlichen Luftlinien-Champagners Pommery in kleinen Flaschen. Carl fragte höflich, ob er nicht lieber irgendeine gute deutsche Entsprechung bekommen könnte, da er sich nun in Deutschland befinde, worauf ihm der Kellner, nach wie vor lächelnd, eine halbe Flasche Deinhard Lila brachte.

Er aß lange und genoß die französische Küche. Er spürte, daß es einige Zeit dauern würde, bis er wieder an einem weißen Tischtuch saß. Nach der Heimkehr aus Kalifornien hatte er mehr als ein Jahr gebraucht, um die europäische Küche wieder schätzen zu lernen; in der ersten Zeit zu Hause hatte er sich ungebremst auch weiterhin von Cheeseburgern ernährt. Jetzt aber aß er mit Genuß Geflügel und trank Beaujoulais und zog die Mahlzeit in die Länge.

Als er aufstand und zu seinem Abteil zurückging, entdeckte er erst die Landschaft, die er bisher keines Blickes gewürdigt hatte, eine märchenhafte Szenerie. Das mußte das Rheintal sein.

Es war Dezember, der Himmel war bedeckt, die Erde schwarz oder braun, und die Rebstöcke oder vielmehr deren Stützen standen in weißen Reihen wie Kreuze auf einem Soldatenfriedhof; der Himmel war grau, das Wasser des Flusses braun, der entlaubte Wald schwarzgrau und braun. Es hätte ein sehr düsteres Bild sein können. Der Zug kam aber immer wieder an kleinen Dörfern vorbei, die so aussahen wie das farbenfrohe Zubehör zu der Märklin-Bahn seiner Kindheit. Märklin konnte nur aus diesem Land kommen, das war deutlich zu sehen. Und wenn man sich mit einiger Phantasie die Farben so vorstellte, wie sie im Sommer sein mußten, war dies eine der schönsten Landschaften Europas, die da draußen vor dem Fenster vorüberglitt. Von Rheinburg zu Rheinburg vergingen weniger als drei Minuten, und jede Burg lag da wie in einem Märchen, in dem man sich ohne weiteres Ritter, Drachen und die gefangene Jungfrau vorstellen konnte. Eine solche Inflation an Burgen kam Carl ein wenig eigenartig vor, da in diesen Burgen doch Adlige gelebt haben mußten, die einander auch bekämpft hatten, und dafür erschien ihm der Abstand zwischen den Rivalen zu klein.

Carl betrat sein Abteil und holte eine Karte, die er in der Maschine eingesteckt hatte, aus der Reisetasche. Der Zug näherte sich der Stelle, an der die Mosel als Nebenfluß in den Rhein fließt.

Carl grübelte eine Weile über sein Verhältnis zu Deutschland nach. Er sprach ein schlechtes Deutsch, und er mochte die Deutschen nicht; sein erster Gedanke beim Wort Deutschland war ohne Zweifel der Nazismus. Seine erste Vorstellung von einem Deutschen war ein Mann in Polizeiuniform mit einem angeleinten, bellenden Schäferhund an der Seite. Deutsche Autos waren schwer, gediegen, teuer und für ältere Herren gedacht. Die Deutschen waren so etwas wie schwerfälligere Amerikaner, wenn man sie von ihrer allerbesten Seite sehen wollte; von der anderen Seite aus betrachtet waren sie laut, aufdringlich, vulgär, fett und nationalistisch.

Carl gab sich Mühe umzudenken. Deutschland – das war auch das beste Bier der Welt, das waren Rhein- und Moselweine, das war tausendjährige Kultur, gerade hier, wo der Zug jetzt durchfuhr. Carls Musikgeschmack war zudem rein deutsch. Es gab nicht nur das Deutschland der Schäferhunde, sondern auch das Deutschland von Mozart und Beethoven.

Ein Schild auf der anderen Seite des braunen Flusses verkündete, daß sie soeben den Loreley-Felsen passierten. Der Felsen sah nach gar nichts aus; ganz oben eine Fahne, im übrigen hätte dies eine Flußbiegung wie jede andere sein können. Carl kramte im Gedächtnis, da gab es doch etwas Besonderes – das Rheingold? Also, das Rheingold lag unter dem Loreley-Felsen versteckt und wurde von den Nibelungen bewacht, und einer davon schmiedete einen Ring aus dem Rheingold, den Ring des Nibelungen, und …?

Von Wagner war Carl noch nie sonderlich entzückt gewesen, und es war lange her, seit er zum ersten- und bislang letztenmal die Opern durchlitten hatte. Es ärgerte ihn trotzdem, daß er sich nicht mehr genau erinnern konnte.

Zwei Meter weiter im Gang stand ein Deutscher in Carls Alter. Der Mann trug eine Brille und betrachtete dieselbe Aussicht wie Carl. Er fragte ihn, ob er englisch spreche und erhielt ein freundliches Kopfnicken zur Antwort. Carl zeigte auf den entschwindenden Loreley-Felsen und fragte, ob dort das Rheingold versteckt sei. Der andere lächelte jetzt noch breiter, kam näher und zog die Tür zu Carls leerem Abteil auf. Dann streckte er die Hand zum Gruß aus:

„Willkommen in der Bundesrepublik, Graf Hamilton, wollen wir uns setzen?“

Carl ging hinein und setzte sich, und der andere folgte ihm und zog die Tür zu. Er setzte sich Carl gegenüber ein wenig umständlich und langsam hin, bevor er fortfuhr:

„Mein Name ist Siegfried Maack, Verfassungsschutz. Nach Ihrer Frage nach dem Rheingold klingt mein Vorname Siegfried vielleicht wie ein Scherz, aber ich bin unschuldig. Ich heiße tatsächlich so. Und ich befürchte, es wird mindestens genauso komisch, wenn Sie meinen Chef kennenlernen, denn der heißt Loge. Wir sollten unser Unternehmen vielleicht Götterdämmerung nennen, um einigermaßen in der Metapher zu bleiben.“

Beide lachten zunächst spontan, dann ein wenig angestrengt, als sie begannen, einander mit den Augen abzuschätzen; Carl, weil er jetzt den ersten leibhaftigen Vertreter des Verfassungsschutzes vor sich hatte, und Siegfried Maack, weil er jetzt endlich den Mann zu Gesicht bekam, über den er und sein Chef in den letzten Tagen unaufhörlich nachgedacht hatten.

Carl gefiel, was er sah. Siegfried Maack war so weit von dem Bild eines deutschen Polizeiwachtmeisters mit dazugehörendem knurrendem Schäferhund entfernt, wie man es nur sein kann.

Siegfried Maack war etwas unschlüssiger. War dieser nett und ordentlich aussehende Schwede mit den Lachfalten und seinem breiten weißen Lächeln wirklich der Killer, den die Berichte schilderten? Konnte das Aussehen wirklich so trügerisch sein?

„Vielleicht sollten wir eine Weile mit den Scherzen aufhören“, begann Carl. Er spürte, daß es an der Zeit war, das angestrengte Lächeln abzustellen. „Ich würde gern wissen, was wir jetzt tun, wann, wo und wie?“

„In Bonn. Sie gehen ins Hotel Steigenberger. Wir haben unter Ihrem Namen ein Zimmer reserviert. Heute abend treffen wir uns im Hotel.“

„Welche wir, und welche Funktion haben Sie?“ fragte Carl rasch weiter.

„Sie und ich und der Chef. Meine Funktion? Während der Vorbereitungszeit bin ich Ihr Ausbilder und anschließend Ihr Kontaktmann, falls die Operation in Gang kommt, aber es wäre besser, wir würden uns erst heute abend darüber unterhalten. Im Augenblick wollte ich mich nur vergewissern, daß Sie ohne Komplikationen angekommen sind, daß sich niemand im Zug befindet, den wir hier nicht haben wollen. Wir sehen uns heute abend. Auf Wiedersehen.“

Siegfried Maack erhob sich, bevor er zu Ende gesprochen hatte. Carl stand ebenfalls auf und gab Maack die Hand. Beiden war ihr förmliches Benehmen gleichzeitig und sichtlich unangenehm. Siegfried Maack zog sich schnell aus der Abteiltür zurück, die er sorgfältig hinter sich schloß. Carl blieb einen Moment stehen und stellte fest, daß Siegfried Maack den Namen des Hotels nur einmal erwähnt hatte. Steigenberger. Das mußte ein bekannter Name sein, da Maack vorauszusetzen schien, daß Carl ihn sich sofort merkte. Carl war aber dennoch der Meinung, daß es nicht sonderlich professionell wirkte, den Treffpunkt nur ein einziges Mal zu nennen.

Kaum war er zu dieser Schlußfolgerung gekommen, ging die Abteiltür auf.

„Ach übrigens“, sagte ein sichtlich verlegen lächelnder Siegfried Maack, „das Hotel heißt also Steigenberger, ich hoffe, Sie haben das verstanden.“

„Ja, ist verstanden“, erwiderte Carl mit einem feinen Lächeln, und dann verschwand Siegfried Maack endgültig.

Nach ein paar Minuten ging Carl in den Gang hinaus, um sich weiter die vorüberziehende Revue der Rheinburgen anzuschauen. Von Siegfried Maack war nichts mehr zu sehen.

Der Bonner Bahnhof ist erstaunlich klein, so daß Carl nur einige Meter zu gehen brauchte, bis er in einem Taxi verschwand. Der Fahrer kannte den Namen des Hotels und fuhr sofort los. Die Fahrt ging zunächst durch eine Gegend, die den Eindruck einer idyllischen Kleinstadt machte, bis der Wagen plötzlich an einem Bahnübergang halten mußte. Falls Carl den fluchenden türkischen Fahrer richtig verstand, war Bonn die einzige Hauptstadt der Welt, in der der Bahnverkehr mitten durch die Innenstadt lief.

Das Steigenberger Hotel erwies sich als höchst triste Angelegenheit, ein Koloß von etwa fünfzehn Stockwerken mit einem großen Mercedes-Stern auf dem Dach, ein Neubau, der dennoch nicht modern war, sicher teuer, aber keineswegs luxuriös.

Die Zimmerreservierung hatte natürlich geklappt, und Carl entdeckte zu seinem Erstaunen und Entzücken, daß das Mädchen in der Rezeption ein Kärtchen in der Hand hielt, auf dem seine sämtlichen Vornamen korrekt aufgeführt waren.

Sein Zimmer lag im zwölften Stock. Es war ein recht großer Raum mit klotzigen braunen Sesseln und zwei Betten mit einem gelben, großgeblümten Überwurf. Die Wände waren hellgelb, und der einzige Wandschmuck des Zimmers war ein abstraktes Kreuz. Es war zweiundzwanzig Minuten vor sieben. Draußen war es schon völlig dunkel geworden. Carl vermutete, daß sein Besuch um sieben Uhr erscheinen würde, und nutzte die Zeit, um zu duschen, sich zu rasieren und umzuziehen.

Punkt sieben Uhr klopfte es diskret an der Tür. Es war Siegfried Maack. Hinter ihm stand ein kleiner, rundlicher Mann. Das mußte der Chef sein, der Mann mit dem Vornamen Loge.

Die Männer begrüßten sich herzlich und rückten die beiden Sessel und einen Stuhl vom Schreibtisch vor dem unbequem niedrigen Hoteltisch zusammen, auf dem Loge Hecht einen Stapel von Papieren deponierte. Carl holte zwei Flaschen Bier aus seiner Minibar und setzte sie seinen Gästen vor. Er war unschlüssig, ob er sich noch ein Bier bestellen sollte, da der Kühlschrank nur zwei Flaschen enthielt, aber dann schlug er doch lieber ein paar Eisstücke los, die er in ein Glas kippte. Dann holte er seinen dunklen, zwölf Jahre alten Whisky, den er vom Flughafen Arlanda mitgebracht hatte, goß sich ein und setzte sich zu den beiden Deutschen. Die Arbeit konnte beginnen.

Loge Hecht sprach deutsch, und Siegfried Maack übersetzte ins Englische. Die einleitende Begrüßung war rasch erledigt, und während Maack übersetzte, betrachtete Hecht den schwedischen Operateur. Ihm gefiel, was er da sah. Der junge Mann saß völlig entspannt in seinem Sessel und nippte vorsichtig an seinem Whisky, während er Maacks Begrüßung lauschte. Das war eine Haltung, die Hecht durch ihr Gleichgewicht und ihre Ruhe spüren ließ, daß ein solides Selbstvertrauen dahintersteckte. Hamilton war ein Mann, der nicht einmal bei einem Unternehmen von dieser Schwierigkeit an seinen Fähigkeiten zweifelte. Das war gut, sehr gut.

„Und damit sollten wir zur Sache kommen“, fuhr Hecht fort, nachdem Carl die Höflichkeiten erwidert hatte. „Fangen wir mit den Voraussetzungen des Unternehmens an, oder möchten Sie ein paar Fragen stellen? Was möchten Sie als erstes wissen, Herr Hamilton?“

Es war völlig klar, was Carl als erstes erfahren wollte. Eine Frage war wichtiger als alles andere, von ihr hing die gesamte Operation ab: Wie solle seine Tarnung aussehen, wie seine Identität und sein Hintergrund, abgesehen davon, daß er selbstverständlich Schwede sein müsse und für Terroristen Sympathien hege?

„Aha, das Wichtigste also zuerst, das freut mich“, begann Hecht und wartete die Übersetzung ab, bevor er fortfuhr.

Er erklärte, er wolle zunächst den Mann beschreiben, dem die Terroristen begegnen sollten. „Wir können mit dem Namen anfangen“, sagte er. „Carl Gustaf Gilbert Hamilton, wohnhaft Drakens gränd in Gamla Stan in Stockholm. Dieser Hamilton hat seinen Wehrdienst in einer Sondereinheit der schwedischen Marine abgeleistet. Er ist Angriffstaucher, beherrscht neben der Tauchtechnik eine ganze Reihe von Sabotage- und Nahkampftechniken. Das ist in etwa das, was ein Außenstehender in Erfahrung bringen kann. Im Verlauf der Ausbildung können wir das aber noch ein wenig ausschmücken, da sie ja geheim ist. Schlimmstenfalls könnte das sogar eine Erklärung dafür sein, daß Sie Offizier sind, falls jemand das herausfinden sollte. In manchen geheimen schwedischen Verbänden werden sogar die Wehrpflichtigen zu Offizieren gemacht, etwa Dolmetscher oder Funker, das ist also gar nichts Besonderes.

Ferner haben Sie fünf Jahre an der University of California in San Diego zugebracht, Graf Hamilton, und dort unter anderem Staatswissenschaft studiert, Computertechnik und Programmieren. Das genügt vielleicht. Sehen Sie den Grundgedanken, Graf Hamilton, wie gefällt er Ihnen?“

„Aha, ich verstehe“, sagte Carl langsam und ließ einen ungeduldigen Siegfried Maack übersetzen, bevor er fortfuhr: „Meine Tarnung ist also gar keine. Ich soll mich selbst spielen, von ein paar entscheidenden Details abgesehen. Ich bin kein Angestellter des schwedischen Sicherheitsdienstes und arbeite auch nicht für den Verfassungsschutz. Das ist wohl das einzige, was ich mir merken muß. Das ist ein sehr guter Gedanke, in seiner ganzen Einfachheit sogar glänzend.“

„Gut. Und wodurch könnte diese Identität auffliegen?“ bohrte Loge Hecht nach. Carl mußte eine Weile nachdenken. Seine richtige Identität könne ebenso wie seine falsche nur durch eigene Fehler im Einsatz auffliegen – etwa durch klassische Versprecher, durch Geständnisse gegenüber Frauen in schwachen Momenten und all die anderen Dinge aus dem Lehrbuch, vielleicht aber auch durch Verrat seitens der Auftraggeber.

Nichts davon sei sonderlich wahrscheinlich. Außerdem wünsche er vor Beginn der Operation einige schriftliche Garantien.

Carl nannte die Dokumente, die er von Hecht haben wollte, und dieser sagte sie ihm ohne weiteres zu, und damit konnte er zur nächsten großen Frage übergehen: Was genau sollte Carl Gustaf Gilbert Hamilton für die Terroristen so attraktiv machen, wenn man einmal von seinen waffentechnischen Qualifikationen absah, die man ja nicht gerade per Zeitungsinserat anpreisen konnte?

Loge Hecht kicherte fast übertrieben entzückt vor sich hin, als Maack ihm Carls ironische Bemerkung über das Zeitungsinserat übersetzte.

Das war nämlich genau der Plan, den man ins Auge gefaßt hatte. Der Verfassungsschutz habe, so Hecht, von einigen Banküberfällen erfahren, die in Südwestdeutschland von einem einzigen Mann begangen worden seien. Die Überfälle waren hochprofessionell durchgeführt worden, und der Täter war nur per Zufall gefaßt worden. Es stellte sich heraus, daß er Polizeibeamter war. Er beging Selbstmord, bevor Anklage erhoben werden konnte, und die Polizei hatte die Geschichte nicht an die Presse durchsickern lassen. Die insgesamt fünf Banküberfälle waren damit aufgeklärt, obwohl sie in der Statistik als unaufgeklärte Verbrechen geführt wurden. Der kriminelle Polizeibeamte war ohne Zweifel ein einsamer Wolf gewesen. Vor allem seine verzweifelten privaten Finanzen, Hypotheken- und andere Schulden, etwa für den Kauf eines Neuwagens, hatten ihn dazu getrieben.

Carl sollte einen Bankraub begehen und dabei gefilmt werden, natürlich mit einer geeigneten Maske, so daß man ihn trotz der Videoaufnahme in der Bank nicht würde erkennen können. Nach der Veröffentlichung dieser Bilder in Fernsehen und Presse würde die Polizei durchblicken lassen, daß dieser Täter erstens derselbe Mann sei, der in Südwestdeutschland sein Unwesen getrieben, sein Tätigkeitsfeld jetzt aber offenbar nach Hamburg verlegt habe. Zweitens, und dieser Hinweis würde viel interessanter sein, würde dieser Bankräuber als skandinavischer Kommunist und Terroristensympathisant dargestellt werden, der eventuell mit der Terroristenszene in Verbindung stand. Und drittens würde man vor ihm als vor einer besonders gefährlichen Person warnen, als hervorragend ausgebildeten Marinesoldaten aus einem Sabotageverband, sofern er tatsächlich der Mann war, den die Polizei in ihm vermutete.

Schon einen Tag später würde diese Version dementiert werden. So etwa, faßte Hecht zusammen, werde die PR-Kampagne aussehen. Die Terroristen würden an dem Köder kaum vorbeikommen. Noch Fragen oder Einwände bis hierher?

Oh, da gab es unleugbar einiges zu fragen. Ein Banküberfall war nach Carls Meinung ein Lotteriespiel, bei dem jeder x-beliebige Idiot mit etwas Glück durchkommen konnte. Versorgten sich die westdeutschen Terroristen nicht auf diesem Weg mit Geld? Es konnte aber auch passieren, daß man Pech hatte. Was sollte Carl etwa tun, wenn der Bankkassierer den Helden spielen wollte? Sollte er ihn weidwund schießen oder was? Es gab noch schlimmere Möglichkeiten – wie etwa, so Carl, solle er sich bei einer eventuellen Komplikation mit der Polizei verhalten? Wenn er in eine Lage käme, sich gegen bewaffnete deutsche Polizeibeamte verteidigen zu müssen, würde das bedeuten, daß er Gefahr liefe, sie zu töten. Und wenn er sich nicht verteidigte, würde das Unternehmen bestenfalls ein rasches Ende finden oder er im schlimmsten Fall selbst angeschossen werden, ohne zurückschießen zu können, und das sei keine sehr angenehme Vorstellung.

Loge Hecht genoß es, wie der junge Schwede die Komplikationen mit dieser bemerkenswerten Mischung aus leichtem Plauderton und totalem Selbstvertrauen beschrieb. Hecht kannte keinen Menschen, der es für eine Selbstverständlichkeit hielt, daß ein bewaffneter Zusammenstoß mit der Polizei dazu führen würde, daß die Polizeibeamten sofort kampfunfähig geschossen wurden. Hamilton schien sich nicht einmal bewußt zu sein, daß ein solches Szenario gelinde gesagt aufsehenerregend war.

„Nun“, erwiderte Hecht, „ich kann Ihre Fragen wie folgt beantworten. Sollte der Bankkassierer den Helden spielen wollen, sollte Ihnen ein Gegenmittel einfallen, um ihn nicht ernsthaft zu verletzen oder zu töten. Was die Polizei betrifft, müßten Sie das Unternehmen ganz einfach in dem Augenblick abbrechen, in dem sie auftaucht. Zu einer solchen Konfrontation darf es einfach nicht kommen. Allerdings haben Sie für einen Bankräuber ungewöhnlich gutinformierte Hilfskräfte. Sie können nämlich die Bank wie auch den Zeitpunkt des Überfalls wählen und Ihre Planung sogar mit den Einsatzplänen der Polizei abstimmen. Mit etwas Glück müßte es also gehen. Wir brauchen ja nur einen tatsächlichen Banküberfall auf Videoband, um die Legende mit einer ganzen Reihe von Banküberfällen zu verknüpfen.“

Und was sollte mit dem Geld geschehen, der Beute aus dem Überfall?

Wird gegen entsprechende Quittung dem Verfassungsschutz übergeben.

Welche Waffen sollte er verwenden und wohin mit ihnen, wenn es zu einem Schußwechsel kommt?

Die Waffen könnten nach Bestellung von Carl geliefert werden, je nach seiner Beurteilung und seinen Prioritäten. Nach dem Gebrauch müßten sie natürlich zurückgegeben und durch neue Waffen ersetzt werden, damit die Polizei keinerlei ballistische Beweise in die Hand bekommt.

Wo und wie zurückgegeben werden?

Auf demselben Weg wie das Geld, nämlich durch einen oder mehrere konspirative Briefkästen in Hamburg.

Sollte er seine Bewegungen mit Geld aus dem Bankraub finanzieren?

Nein, auf keinen Fall! Das Geld müßte bis zum letzten Pfennig zurückgegeben werden und im übrigen in der überfallenen Bank deponiert werden (was nach Ende des Unternehmens auch die offizielle Rückgabe erleichtere). Außerdem müßte Carls Quittung für das geraubte Geld genau mit der in der überfallenen Bank deponierten Summe übereinstimmen. Allerdings müßte Carl genügend Mittel zur Verfügung haben, um glaubhaft erscheinen zu lassen, daß er tatsächlich eine Reihe erfolgreicher Banküberfälle begangen hat. Diese Gelder würden allerdings vom Verfassungsschutz zur Verfügung gestellt, selbstverständlich gegen Quittung.

Wie sollte dieser Bankräuber aussehen? Habe das Bankpersonal ihn irgendwo identifiziert, könne es Proteste von irgend jemandem geben, der den tatsächlichen Täter gesehen habe?

Nein, er sei aus purem Zufall aufgeflogen. Man habe ihn weder fotografiert noch gestellt. Sein Aussehen sei unbekannt. Was die übrigen Beschreibungsmerkmale angehe, seien er und Carl einigermaßen vergleichbar.

„Die praktischen Arrangements scheinen Sie sehr gut durchdacht zu haben“, sagte Carl, während er aufstand und zum Telefon ging. Er legte die Hand auf die Sprechmuschel, bevor er fortfuhr: „Wenn wir die praktischen Fragen zunächst mal überspringen, kommen wir zur nächsten großen Frage, die von entscheidender Bedeutung ist. Der ideologischen Frage. Wie soll ich mich – wenn ich mich selbst spiele – dazu bringen zu glauben, daß es dem Sozialismus dient, wenn man Warenhäuser in Brand steckt und Fluggäste ermordet?“

Während Siegfried Maack übersetzte, rief Carl den Zimmerkellner an und bestellte sechs neue Flaschen Bier. Er streckte sich, hielt aber sofort in der Bewegung inne und setzte sich wieder, als er die Augen der beiden Männer sah. Sie waren Analytiker und Strategen, er dagegen field operator, und so war es nur natürlich, daß sie ihn für eine Art Raubtier hielten. Es machte ihn verlegen, wie ihre Blicke neugierig seinen Körper musterten.

„Ja, die Antwort auf diese Frage wird uns vielleicht etwas Zeit kosten“, stimmte Hecht zu. „Unseren Unterlagen zufolge haben Sie mal der studentischen Linken angehört und sind Marxist-Leninist gewesen. Der skandinavischen Terminologie zufolge muß das bedeuten, daß Sie Maoist sind und folglich ein entschiedener Gegner jedes individuellen Terrors. Stimmt das? Und wie sieht Ihre heutige politische Einstellung aus?“

Carl war verblüfft. Er staunte, wie ungezwungen und korrekt Loge Hecht mit Begriffen jonglierte, mit denen die Linken-Jäger des schwedischen Sicherheitsdienstes vermutlich nie hätten umgehen können. Ihm fiel kurz Lennart Borgström ein, der Oberstleutnant beim Sicherheitsdienst des Verteidigungsstabes in Stockholm, der geglaubt hatte, Carl könne gleichzeitig Mitglied der Clarté und der KPMLr sein, was ebenso wahrscheinlich war wie die Pilgerfahrt eines Anhängers der Pfingstbewegung nach Mekka.

Es klopfte an der Tür. Carl nahm die leeren Gläser und ging zur Tür, wo er das Bier in Empfang nahm und mit einem zu großen Geldschein bezahlte, ohne den Zimmerkellner hereinzulassen. Er goß seinen beiden Gästen nach, die schweigend abwarteten. Carl trank einige große Schlucke des kräftigen, schäumenden Biers, bevor er die Frage beantwortete. Er setzte sich nicht, sondern ging während seines Vortrags im Zimmer auf und ab:

„Nun, ich habe ein paar Jahre bei dem kommunistischen Teil der studentischen Linken mitgemacht, genauer in der Clane, die Ihnen offensichtlich bekannt ist, und bei den Palästina-Komitees. Diese Komitees leisten nur normale anti-imperialistische Solidaritätsarbeit – in Schweden ist in diesem Zusammenhang noch kein Mensch auf die Idee gekommen, daß es bei dieser Solidaritätsarbeit um etwas anderes geht als um reine Bewußtseinsbildung. So etwas wie Bombenlegen ist für uns nie in Frage gekommen. In diesem Punkt sieht es in Deutschland offenkundig anders aus. Selbstverständlich sind die Clane und die ihr nahestehenden Organisationen im Rahmen der KPS, der Kommunistischen Partei Schwedens, in der ich nie Mitglied war, traditionelle Gegner des individuellen Terrors. Wir brauchten in den siebziger Jahren doch nur zu verfolgen, was in der Bundesrepublik passierte, nicht wahr? Haben all diese Morde und Gangsterstücke, all diese Menschen- und Flugzeugentführungen irgend jemandem außer den Terroristenbekämpfern irgendwelche Fortschritte gebracht? Haben sich die deutschen Massen etwa im Gefolge des Terrorismus der sozialistischen Revolution angeschlossen? Nein, das genaue Gegenteil ist der Fall, und damit waren für Clarté-Kreise und ähnliche Marxisten-Leninisten die Argumente klar. Diese Frage ist in Schweden nicht mal ein Seminar-Thema gewesen, da sie zu schnell wieder vom Tisch war.

Und wo ich selbst stehe? Nun ja, in Fragen des Terrorismus fällt mir selbst bei angestrengtem Nachdenken nichts anderes ein, als daß ich die gleichen Auffassungen vertrete wie zu meiner Zeit bei der Clarté. Ich kann mir also nur sehr schwer vorstellen, wie ich mich einer solchen Organisation aus lauter Wahnsinnigen anschließen könnte, ohne so zu lügen und Theater zu spielen, daß es auffällt. Das ist in meinen Augen ein Problem, ein großes Problem.“

Er machte eine Pause, setzte sich wieder in seinen Sessel und trank einige tiefe Schlucke Bier, während Maack übersetzte. Von Zeit zu Zeit nickte Loge Hecht, während sein Blick zwischen Maack und Carl hin und her wanderte.

„Ich habe noch zwei Fragen, zwei kurze, aber wichtige Fragen“, schnarrte Hecht, als Maack geendet hatte. „Wo stehen Sie heute politisch? Wie ist Ihr Verhältnis zum Anti-Imperialismus? Könnte man von Ihnen behaupten, Sie seien ein Anti-Imperialist, oder könnten Sie einen spielen?“

Die Frage brauchte nicht übersetzt zu werden. Carl begann mit der Bestätigung, er sei Anti-Imperialist: „Das bedeutet beispielsweise, daß ich die Palästinenser im großen und ganzen genauso unterstütze wie zu meiner Zeit in den Palästina-Komitees – der Unterschied liegt vielleicht darin, daß ich mir heute ein geteiltes Palästina als die einzig mögliche Lösung vorstelle, während ich damals in der Frage eines einzigen demokratischen Palästina zu keinem Kompromiß bereit war.

Meine anti-imperialistische Einstellung bedeutet weiter, daß ich das Wüten der Sowjetunion in Afghanistan genauso verabscheue wie das der USA in Mittelamerika. In dieser Hinsicht brauche ich kein Theater zu spielen. Das Problem ist aber, daß ich um nichts in der Welt begreifen kann, wie man Baader-Meinhof-Gruppen und ähnliche Figuren anti-imperialistisch nennen kann. Ist es Anti-Imperialismus, Warenhäuser in Brand zu stecken und Flugreisende umzubringen?“

Loge Hecht lächelte, als er sein letztes Bier austrank. Er wußte die Aufrichtigkeit des Schweden zu schätzen. Wie viele Sicherheitsleute der Welt hätten sich so klar ausgedrückt?

Siegfried Maack hingegen konnte seine Bestürzung kaum verbergen. Für ihn war es vollkommen unbegreiflich, wie man einen Mann mit Carls extremistischen Neigungen in einen Sicherheitsdienst hatte aufnehmen können und ihm überdies Aufgaben übertragen hatte, die nach billigem Ermessen kaum anders als besonders delikat genannt werden konnten.

Carl zeigte auf die Biergläser. Die beiden Deutschen nickten, und Carl ging wieder zum Telefon, um eine neue Runde zu bestellen. Als er zurückkehrte und sich setzte, sah Loge Hecht sehr zufrieden aus.

„Sie sind fünf Jahre in den USA gewesen“, begann Hecht langsam, legte aber bald ein immer schnelleres Tempo vor, da er zunehmend eifriger wurde. „Und nach diesen fünf Jahren sind Sie zurückgekehrt und mußten feststellen, daß die linke Welle verebbt war. Die Marxisten-Leninisten gab es kaum noch, die meisten Genossen hatten sich dem Establishment angeschlossen, die anti-imperialistische Bewegung war in sich zusammengebrochen. Nirgendwo noch action. Aus diesem Grund haben Sie eine Ein-Mann-Solidaritätsbewegung für die Palästinenser begründet. Sie haben Banken überfallen und das Geld verschenkt. Auf diese Weise sollte das Kapital für den Imperialismus bezahlen. Das war für Sie zumindest eine moralisch angemessene Handlungsweise, nämlich selbst etwas zu tun und nicht nur zu quatschen. Was halten Sie von dieser Variante?“

Carl konnte sich nicht auf der Stelle entscheiden. Ein antiimperialistischer Bankräuber? Das kam ihm eher komisch als realistisch vor. Aber warum nicht? Es ging ja darum, sich vor Menschen zu rechtfertigen, die Banküberfälle unter allen Umständen für eine fortschrittliche Finanzierungsmethode des Anti-Imperialismus hielten.

„Nun ja“, sagte Carl zögernd, „auf den ersten Blick wirkt das ja ein wenig verrückt. Vielleicht geht es aber doch. Ich eine private anti-imperialistische Bewegung? Der kapitalistische Staat hat mich dazu ausgebildet, mit Waffen umzugehen, und dafür muß er jetzt büßen? Die Banken, die Symbole des Kapitals, sollen den Kampf gegen den Imperialismus finanzieren? Na ja, wenn wir noch ein paar Phrasen draufschmieren, sieht es vielleicht wie eine haltbare Argumentation aus. Obwohl ich zugeben muß, daß es mir schwerfällt, nicht rot zu werden …“

Loge Hechts nächste Frage lag ihm offenbar besonders am Herzen, denn er beugte sich beim Sprechen unbewußt vor:

„Nennen Sie mir die Tat des USA-Imperialismus, die Ihnen nach dem Vietnamkrieg am verabscheuungswürdigsten vorkommt!“

Carl braucht nicht lange nachzudenken.

Die amerikanische Aktion, die ihm abscheulicher vorkam als alle anderen in den letzten Jahren, war der Bombenangriff auf Libyen, den Reagan unter dem Vorwand angeordnet hatte, Ghadafi stehe hinter allem Terrorismus in der Welt. Das war natürlich nicht wahr. Libyen besaß weder die organisatorischen noch die personellen Voraussetzungen für avancierten Terrorismus, und außerdem waren die Libyer von allen Ländern und Organisationen des Nahen Ostens am besten überwacht und am meisten unterwandert. „Leute, die beim Sicherheits- und Nachrichtendienst arbeiten wie wir selbst“, meinte Carl, „haben besonders deutliche Einblicke in diesen Zirkus gewonnen; Franzosen und Engländer des DGSE bzw. des MI 6 drängeln sich in angeblich ›libyschen‹ Organisationen geradezu in hellen Scharen. Französische Agenten des Nachrichtendienstes haben ja sogar eine Reihe von ›libyschen‹ Sprengstoffattentaten gegen die Air France organisiert – bevor sie von einer Frau des britischen MI 6 unterwandert wurden und die ganze Sache aufflog.

Hat Reagan aber gewußt, daß alles unwahr war, was er sagte? Oder hatte ihn der amerikanische Nachrichtendienst belogen? Welche Alternative wäre denn die schlimmere? Eine Spionageorganisation, die ihren Staatschef belügt, so daß es zu Kriegshandlungen kommt, oder ein Staatspräsident, der das Volk belügt?

Wie dem auch sei: Das Ergebnis waren Bombenangriffe auf Libyen. Wenn sie wirklich den internationalen Terrorismus hätten treffen wollen, hätten sie nach Damaskus fliegen müssen, das weiß inzwischen jeder. Dort war ihnen aber wohl die Luftabwehr zu stark, und außerdem ist Damaskus mit Moskau verbündet.

Die Bombenangriffe auf Libyen waren Mord als politisches Theater. Das ist für mich das schlimmste Verbrechen des amerikanischen Imperialismus in den letzten Jahren.“

Carl trat an den Tisch und trank sein Glas fast auf einen Zug leer. Zum erstenmal an diesem Abend hatte er sich aufgeregt. Es stimmte, diesen Angriff verabscheute er mehr als alles andere, was ihm einfiel, sowohl in seiner Eigenschaft als Berufssoldat wie als Anti-Imperialist.

Loge Hecht sah höchst zufrieden aus. Er stellte eine kurze Frage, die nicht übersetzt zu werden brauchte.

„Nun, Herr Anti-Imperialist und Terrorist. Wie möchten Sie den US-Imperialismus für diese Gewalttat bestrafen? Was möchten Sie ganz konkret dagegen unternehmen?“

Carl brauchte nicht lange nachzudenken, um das Gedankenspiel fortzusetzen. Er antwortete fast im selben Moment, in dem Maack den Mund aufmachte, um zu übersetzen.

„Man könnte die Bomber abschießen, mindestens einen oder zwei. Die Basen liegen in England. Einen solchen Angriff erwarten sie nämlich nicht. Man setzt dabei eine Stinger oder eine SAM-7 ein und holt die Maschinen gleich nach dem Start herunter. Nachträglich dürfte es kaum schwerfallen, die Gründe zu erklären. Und wenn es in England nicht geht, wo die Bomber stationiert sind, kann man hier in der Bundesrepublik notfalls ein paar andere amerikanische Maschinen abschießen.“

„Phantastisch“, sagte Loge Hecht, „warum hat die RAF es noch nicht getan, wenn es so einfach ist?“

„Weil sie mit diesen Dingern nicht umgehen können, aber ich kann es, und außerdem haben Sie mich gefragt.“

„Sie haben also ein Rachemotiv, was den amerikanischen Imperialismus betrifft, und auch eine Vorstellung davon, wie und womit und wo. Das ist ja ganz vorzüglich. Genau an diesem Punkt müssen Sie beide in der Woche draußen in St. Augustin weiterdenken.“

Bei diesen Worten stand Loge Hecht auf, um anzudeuten, daß sich die Zusammenkunft dem Ende näherte. Carls fragender Gesichtsausdruck konnte ihm nicht entgangen sein, denn während er seinen Mantel holte und Siegfried Maack die Dokumente an sich nahm, von denen sie während des Gesprächs kaum Gebrauch gemacht hatten, entwickelte er seinen letzten Gedankengang des Abends.

„Sie müssen sich mit der Gedankenwelt der Terroristen vertraut machen, um herauszufinden, wo ihre Berührungspunkte liegen. Einen Anfang haben Sie schon gemacht, aber wenn Sie wissen, wie die Burschen denken, werden Sie ihnen auch gleich zu Beginn in der richtigen Form widersprechen können. Das wird den Gegensätzen sozusagen die Spitze nehmen. Wir haben dafür eine Woche angesetzt. In St. Augustin wird es außerdem einige rein praktische Arbeit geben, aber das ist in meinen Augen weniger wichtig. Und jetzt, lieber Freund, schlage ich vor, daß wir das förmliche Sie ablegen. Wir werden uns allerdings nicht wiedersehen, bevor das Unternehmen auf die eine oder andere Weise abgeschlossen ist. Maack wird dein Ausbilder. Auf Wiedersehen.“

Damit streckte ihm Loge Hecht zum Abschied die Hand hin und verschwand mit dem Mantel über dem Arm durch die Zimmertür, ohne sich noch einmal nach seinem jüngeren Mitarbeiter umzusehen.

„Wie gesagt“, bemerkte Siegfried Maack mit seinem weichen Akzent, der nur entfernt an das gebrochene Englisch deutscher Schurken in englischen und amerikanischen Filmen erinnerte, „wir sehen uns morgen in St. Augustin. Punkt zehn Uhr kommt ein Wagen und holt dich ab. Du bezahlst deine Rechnung und verläßt das Hotel. Wir werden die Kosten natürlich erstatten, aber wir sollten dabei nicht in Erscheinung treten.“

„Nichts dagegen. Was sollen wir beiden aber tun? Eine Woche lang Terroristen-Atmosphäre büffeln, ist das nicht die reine Zeitverschwendung? Die Spur wird ja mit jedem Tag kälter.“

„Schon möglich, aber dieses Unternehmen hat ohnehin nur geringe Erfolgsaussichten. Und eine Woche dürfte das mindeste an Vorbereitungszeit sein. Du mußt dich mit den Gewohnheiten dieser Wahnsinnigen vertraut machen, und das ist nicht ganz einfach. Na ja, nicht alle sind wahnsinnig. Wir sehen uns draußen. Der Wagen kommt Punkt zehn Uhr.“

Damit war Carl allein. Er stellte die Stühle zurück und räumte die Biergläser ab. Da niemand geraucht hatte und die Klimaanlage tadellos funktionierte, war von der Zusammenkunft nichts mehr zu sehen. Es war, als hätte das merkwürdige Gespräch nie stattgefunden.

Er betrachtete sein tristes, korrektes Hotelzimmer mit leichtem Abscheu. Es war kurz nach neun. Er schaltete das Fernsehgerät ein. In einem Kanal wurde irgendein Monsterfilm gezeigt, im nächsten eine Diskussion, aus der Carl nicht recht schlau wurde, im dritten ein Fußballspiel zweier deutscher Mannschaften und im vierten war ein Symphonieorchester im zweiten Satz von Beethovens Dritter Symphonie. Das ist die Ironie der Wirklichkeit, dachte Carl und zog einen der Sessel vor den Fernseher. Es kann ja gar nicht anders sein, daß ich hier in Bonn direkt nach diesem Gespräch Beethovens Eroica zu hören bekomme. Außerordentlich.

Während er zuhörte, blätterte er in den Broschüren des Hotels. Eine davon mit dem Bild Beethovens auf dem Umschlag würdigte Bonns Rolle als Bundeshauptstadt am Rhein, war aber trotzdem nur mit Bildern von Beethoven illustriert.

Das Beethovenhaus liegt in der Bonngasse 20 in der Stadtmitte. Carl las, daß es im Sommer um neun geöffnet wurde, jetzt im Winter aber erst um halb zehn. Wenn er sich am nächsten Morgen rechtzeitig einfand, würde er sich einen Eindruck von dem Museum verschaffen können, bevor ihn der Wagen nach St. Augustin brachte. St. Augustin – das hörte sich an wie San Quentin, das Gefängnis, in dem Chessman bis zu seiner Hinrichtung in der Todeszelle saß. Die beiden Deutschen hatten von St. Augustin gesprochen, als hielten sie es für selbstverständlich, daß er wußte, worum es sich dabei handelte.

Nach der Eroica kam Haydns Symphonie mit dem Paukenschlag. Carl lauschte dem ersten Satz, wurde dann aber ungeduldig. Es blieben ihm noch zwölf Stunden, bis der Wagen ihn abholen sollte, und er war alles andere als müde. Die beiden Deutschen hatten ihm nicht gesagt, daß er im Zimmer bleiben mußte. Es sprach also nichts dagegen, daß er sich ein wenig unter Menschen begab.

Der Stadtplan des Hotels versuchte den Eindruck zu erwecken, als ob das Steigenberger Hotel mitten in der Stadt läge. Eine komische Übertreibung. Der Prospekt zeigte auch einige der Bars des Hotels mit vereinzelten Besuchern in grünen Ledersesseln. Carl seufzte, verließ das Zimmer und nahm ein Taxi zum Hauptbahnhof. Er ging auf den nächsten Kirchturm zu. Irgendwo dort mußte die Stadtmitte ja zu finden sein.

Carl fand ein Gemisch aus Fußgängerstraßen, Einkaufszentren und alten Bauwerken. Nach einigen hundert Metern gelangte er zu einem Marktplatz, auf dem gerade Weihnachtsmarkt war. Es fiel ein leichter Nieselregen. Carl blieb an einem Stand stehen und kaufte ein Glas Glühwein, der anders als die schwedische Variante dieses Getränks aus Rotwein mit Wasser und Zucker zu bestehen schien. Am Stand nebenan wurden jetzt schon Weihnachtsbäume verkauft. Er warf einen Seitenblick auf die Tannen und inspizierte sie mit nordischem Sachverstand. Es schienen Edeltannen zu sein, jedenfalls keine richtigen Tannen, trotz der unglaublich hohen Preise. Ein Lautsprecher am anderen Ende des Platzes plärrte deutsche Weihnachtslieder. Carl nippte an seinem Glühwein, während die Gedanken hin und her flatterten. Seine Mutter hatte ihn eindringlich gebeten, nach Schonen zu kommen und mit den Verwandten Weihnachten zu feiern, die mit ihm auf Reh- und Hasenjagd gehen wollten. Er verdrängte die Überlegungen und versuchte sich auf Loge Hecht zu konzentrieren. In diesem Augenblick wurden die Stände geschlossen, und ein Weihnachtslied wurde urplötzlich und mit rabiater Pünktlichkeit abgestellt. Es war genau 23 Uhr. Ordnung muß sein.

Carl stellte sein halbleeres Glas ab und flanierte noch ein wenig durch die Stadt, bis er in einer Gasse zwischen zwei Gebäuden aus Glas und Beton ein Fachwerkhaus entdeckte. Es war ein Restaurant mit einem Schild voller Weintrauben. Es sah vielversprechend aus. Carl ging hinein und fand tatsächlich ein gemütliches deutsches Lokal mit dunklen Möbeln und dicken Kellnerinnen in Dirndlkleidern vor.

Er bestellte sich ein Wurstgericht und entdeckte auf der Karte, daß man die Weine auch schoppenweise bestellen konnte. Er begann, sich durch eine Reihe von Weinen hin-durchzuprobieren, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Zu der Wurst trank er einen erstaunlich guten deutschen Rotwein. Nachdem die Kellnerin abgedeckt hatte, machte er mit einem Weißwein vom Bodensee weiter, der von hellrötlichbrauner Farbe war und einen Geschmack hatte, der an nichts erinnerte, was Carl schon kannte.

Loge Hecht war unleugbar ein bemerkenswert intelligenter Mann. Es war fast unbegreiflich, wie gut er sich im Denken linker Gruppen auskannte. War er vielleicht selbst ein Links-Sozi wie der Alte? Oder beruhten seine Kenntnisse nur auf deutscher Gründlichkeit und Kompetenz?

Carl war gar nicht dazu gekommen, irgendwelche Zweifel an den Erfolgsaussichten des geplanten Unternehmens zu äußern. Erst jetzt fiel ihm ein, daß er eigentlich in die Bundesrepublik gekommen war, um den Vorschlag der Deutschen zu prüfen und dann zunächst wieder nach Hause zu fliegen. Aber alles, was Loge Hecht gesagt und gefragt hatte, hatte auf Carl einen so durchdachten und professionellen Eindruck gemacht, daß er gar nicht dazu gekommen war, Zweifel zu äußern. Als Hecht sich plötzlich verabschiedet hatte, hatte alles festgestanden. Das Unternehmen hatte also begonnen. Nach einer Woche Terroristen-Büffelei in San Quentin/St. Augustin würde Carl in Hamburg als Terrorist vom Stapel laufen.

Er spürte allmählich die Wirkung des Weins und entschloß sich, nur noch ein Glas zu trinken. Er hätte die beiden Deutschen noch etwas fragen sollen. Es gab ein wichtiges Problem, dessen Lösung man nicht einfach dem Zufall oder der Improvisation überlassen durfte: Welches Ziel hatte das Unternehmen? In welcher Phase sollte es beendet werden, falls es erfolgreich war?

Zunächst ging es, soweit er verstanden hatte, darum, ein neues Hauptquartier der Rote Armee Fraktion in Hamburg zu lokalisieren. Es würde nicht genügen, ein paar Mitglieder zu fassen. Die deutschen Behörden wollten die ganze Führungsgruppe fassen. Wenn alles gutging, würde Carl zu einem bestimmten Zeitpunkt genügend Namen und konspirative Wohnungen kennen, und dann würde es an der Zeit sein, den großen bösen Schäferhund herbeizupfeifen. Carls Auftrag bestand in der Hauptsache darin, bis zu diesem Zeitpunkt am Leben zu bleiben, vorausgesetzt, daß es ihm überhaupt gelang, mit dem Feind Kontakt aufzunehmen.

Carl zahlte, verließ das Lokal und spazierte ziellos durch ein stilles und verlassenes, kleinstädtisch wirkendes Viertel. Als ein grün-weißer Polizeiwagen vorbeifuhr, zuckte er zusammen, als hätte er ein schlechtes Gewissen, als wäre er schon ein auf der Fahndungsliste stehender Bankräuber. Das war ein völlig neues Gefühl.

Wie sollte das Unternehmen in rein taktischer Hinsicht beendet werden? Was war St. Augustin?

St. Augustin ist eine eher langweilige kleine Vorortgemeinde außerhalb Bonns; eine Hauptstraße mit Ladengeschäften, Villenviertel, die den eigentlichen Dorfkern umgeben, jenseits davon eine Ebene mit einigen Baumgruppen zwischen Äckern und Feldern. Das ist alles.

Außerhalb der Gemeinde jedoch liegt ein militärisches Sperrgebiet. Hinter den niedrigen Betonmauern und den Stacheldrahtzäunen erkennt man Baracken sowie einige hangarähnliche Gebäude. Hier ist die GSG 9 stationiert.

Nach westdeutscher Auffassung ist die GSG 9 die fähigste Anti-Terror-Truppe der Welt; in dieser Einschätzung schwingt etwas von Nationalstolz mit, aber man kann ihr kaum widersprechen. Die grünen Baskenmützen dieser Eliteeinheit genießen den gleichen Ruf wie beispielsweise die grünen Baskenmützen des amerikanischen marine corps oder die ebenfalls grünen Mützen der schwedischen Küstenwache. In den Begriffen eines schlichten männlichen Chauvinismus ist die GSG 9 folglich die härteste Kampfeinheit, die man in der Bundesrepublik finden kann.

GSG 9 bedeutet Grenzschutzgruppe Nr. 9. Sie ist ein Teil des Bundesgrenzschutzes, dessen ursprüngliche Aufgabe darin bestand, die Grenzen der Bundesrepublik zu schützen, wobei nie klar definiert worden ist, gegen wen, vermutlich aber gegen die DDR und die Russen. In jedem anderen anständigen demokratischen Staat obliegt es den Streitkräften, die nationalen Grenzen zu schützen, aber es gibt auch hier wieder (wie beim Verfassungsschutz) eine sehr deutsche und einfache historische Erklärung dafür, daß gerade die Bundesrepublik zu diesem Zweck eine paramilitärische Polizeieinheit gebildet hat. Der Bundesgrenzschutz entstand nämlich schon lange bevor es politisch möglich war, mit Einverständnis der Besatzungsmächte die neue Bundeswehr ins Leben zu rufen. In der Aufbauphase der Bundeswehr existierte der Grenzschutz folglich schon als paramilitärische Organisation, und als die Bundeswehr allmählich Gestalt annahm, übernahm der Bundesgrenzschutz immer mehr Aufgaben einer Sonderpolizei des Bundes, etwa wie die Nationalgarde in den USA. Er wurde zu einer Polizei-Streitmacht, die bei Straßenkrawallen oder allzu gewalttätigen Demonstrationen mit automatischen Karabinern und viel Tränengas anrückt und Ordnung schafft.

Bis zum September 1972. gab es acht GSG. Erst danach wurde die GSG 9 gegründet. Vorausgegangen war ein Ereignis, das von der ganzen Welt als Ausdruck einzigartiger arabischer Grausamkeit und arabischen Blutdurstes gedeutet wurde. Die GSG 9 sollte die dabei verlorene westdeutsche Ehre wiederherstellen.

Am 5. September 1972. griffen palästinensische Terroristen das Olympische Dorf in München an und nahmen mehrere israelische Sportler als Geiseln. Nach dem üblichen Verhandlungsritual sollten die Terroristen und ihre Geiseln die Bundesrepublik mit einem Flugzeug verlassen.

Auf einem Flugplatz außerhalb Münchens sollten sie von Hubschraubern in eine wartende Maschine umsteigen. Der Bundesgrenzschutz hatte das Gelände mit mehr als hundert übernervösen Beamten umstellt, die mit automatischen Handfeuerwaffen ausgerüstet waren. Man ging davon aus, daß die Terroristen in der Falle saßen. Es läßt sich nicht mehr exakt feststellen, wie es zur Katastrophe kam und warum einer der deutschen Beamten plötzlich durchdrehte und auf die Terroristen und ihre Geiseln zu schießen begann. Nachdem der eine begonnen hatte, taten es ihm alle anderen nach, und sowohl die israelischen Geiseln wie die palästinensischen Terroristen wurden in den folgenden Minuten in Stücke geschossen.

Der Öffentlichkeit gegenüber hieß es natürlich, die Palästinenser hätten die acht israelischen Sportler ermordet, worauf sie gerechterweise dem gezielten Feuer des Bundesgrenzschutzes zum Opfer gefallen seien. Der Bundesregierung war jedoch peinlich bewußt, wie es sich tatsächlich abgespielt hatte. Der damalige Bundesinnenminister Genscher gab drei Tage später, am 8. September, den Befehl, eine neue Bundespolizeieinheit ins Leben zu rufen, die eine Wiederholung solcher Ereignisse in der Bundesrepublik für alle Zukunft unmöglich machen sollte. Am 26. September, nach einer Konferenz mit den Innenministern der Bundesländer, bei der die Bundesregierung mit allen Beteiligten Einstimmigkeit erzielte, wurde die Gründung einer völlig neuen Grenzschutzeinheit bekanntgegeben, der GSG 9.

Fünf Jahre später gelang es der GSG 9, die deutsche Ehre wiederherzustellen: In einem glänzenden Einsatz gegen westdeutsche Terroristen, die eine Lufthansa-Maschine gekapert hatten und nach einem Irrflug im Nahen Osten in der somalischen Hauptstadt Mogadischu gelandet waren. Eine Einheit der GSG 9 stürmte die Maschine, tötete mit absoluter Präzision die vier Terroristen an Bord und befreite die Fluggäste, die alle unversehrt blieben. Nur eine Lufthansa-Stewardeß wurde leicht am Fuß verletzt. Der Einsatz in Mogadischu war noch effektiver als alles, was selbst die Israelis bei ihren erfolgreichsten Anti-Terror-Aktionen hatten leisten können.

Seitdem hatte sich die GSG 9 mehr oder weniger auf ihren Lorbeeren ausruhen dürfen. Gelegentlich waren ausländische Organisationen zu Gast, die in der Bundesrepublik eine Ausbildung durchliefen oder das phantasieanregende Waffenarsenal der GSG studieren wollten. Nach Mogadischu hatte die Einheit nur noch ein paar deutsche Terroristen ohne großen Schußwechsel festnehmen können. Das war alles.

Immerhin, es gab sie noch, diese Truppe in St. Augustin, und sie lebte in dem Bewußtsein, Weltmeister zu sein und härter und besser trainiert zu werden als alle anderen. Um das zu beweisen, hatte die GSG 9 sogar ähnliche Verbände aus verschiedenen befreundeten Ländern zu einem „Internationalen Wettbewerb“ eingeladen. Dabei kam es vor allem auf die Disziplinen an, in denen die GSG 9 brillierte, so daß sie einen glänzenden Sieg errang.

Sehr zum Ärger der rund 200 Angestellten hatten später auch die einzelnen Bundesländer ähnliche Einheiten mit grünen Baskenmützen und etwa den gleichen Waffen gegründet, die sogenannten Mobilen Einsatzkommandos, MEK. Trotz dem war man sich draußen in St. Augustin hinter den Betonmauern und den Stacheldrahtzäunen sicher, daß die Bundesregierung sich für die GSG 9 entscheiden würde, wenn es wirklich einmal brannte. Diese Vermutung war zweifellos richtig.

Als Carl in einem dunkelblauen Mercedes nach St. Augustin gebracht wurde, hatte er immer noch keine Ahnung, was ihn unter dieser Adresse erwartete, die sich wie der Name eines amerikanischen Gefängnisses anhörte.

Er fühlte sich etwas zerstreut und hatte sich schon den ganzen Morgen über nicht recht konzentrieren können. Er hatte das Beethovenhaus besucht, hatte sich eine Minute vor halb zehn dort eingefunden. Punkt halb zehn hatte eine ältere Dame aufgemacht und ihm für fünf Mark eine Eintrittskarte verkauft. Er war in dem dreistöckigen Haus allein umhergewandert und hatte mehr auf das Echo und das Knarren seiner Schritte auf den Fußbodendielen gelauscht als auf Klänge aus der Vergangenheit. In dem sogenannten Wiener Zimmer stand Beethovens letzter Flügel, ein erstaunlich kleines Instrument in hellem Mahagoni, einem handgeschriebenen kleinen Schild zufolge ein Geschenk des Wiener Klavierbauers Konrad Graf.

Carl konnte der Versuchung nicht widerstehen, einen Akkord anzuschlagen. Die Töne klangen wie erwartet schauerlich falsch. Nur Sekunden später stand ein älterer Mann in der nächsten Türöffnung und beschimpfte Carl, weil er seine Finger nicht hatte im Zaum halten können. Das Berühren der Exponate sei verboten. Carl hatte überhaupt nicht bemerkt, daß sich jemand in der Nähe befand, was ihn eher erstaunte als besorgt machte. Die Situation insgesamt war wirklich grotesk. Hier stand er wie ein Idiot mit einem Messer aus dunkelblauem Spezialstahl am Handgelenk, fingerte an dem verstimmten Flügel Beethovens herum, wurde von einem Rentner, der ihn beim nächsten Fehltritt mit deutscher Machtvollkommenheit aus dem Haus jagen würde, auf frischer Tat ertappt. Und zugleich war er auf eigenartigen Umwegen dabei, im Auftrag der Bundesrepublik Deutschland eine Bank zu überfallen. Und dieser Überfall sollte Bestandteil einer Verteidigung der Demokratie gegen einen Typus von Wahnsinnigen sein, die nur ein Land wie Deutschland hatte hervorbringen können. Das alles verschmolz zu einem einzigen falschen Akkord. Es war nicht nötig gewesen, sich das Messer umzubinden. Er hatte es nach der einfachen Überlegung, daß es der einzige aufsehenerregende Gegenstand in seinem Reisegepäck war, aus reiner Zerstreutheit getan. Überdies spielte es keine Rolle, denn es würde noch eine Weile dauern, bis die Polizei hinter ihm her war. Es kam ihm aber vor, als hätte er schon damit begonnen, sich selbst als Verbrecher zu sehen.

Noch als der Wagen die Sperren zum Militärgelände passierte, grübelte er über die seltsame Mischung von Erlebnissen an diesem Morgen nach. Der Wagen fuhr weiter, erreichte einen weiteren abgesperrten Bezirk und hielt auf einem auf drei Seiten umbauten Innenhof. Das Ganze sah aus wie eine Mischung aus Feuerwache und Kaserne. Der Haupteingang hatte einen kleinen Vorbau, davor standen einige leere Fahnenstangen. Das machte einen merkwürdigen Eindruck, als wäre Carl eben vor einem reklamefreien Hotel in Osteuropa vorgefahren.

In der Eingangshalle wartete Siegfried Maack mit einem Mann in grüner Uniform und den Rangabzeichen eines Gefreiten. Der Gefreite nahm Carls Tasche an sich und verschwand in einem der Flure des Erdgeschosses, während Maack mit Carl die Treppe zum ersten Stock hinaufging und ihm mitteilte, der Chef erwarte sie schon.

Das Charakteristische im Amtszimmer des Chefs waren die zahlreichen Wappenschilder und Embleme von Organisationen aus der ganzen Welt, die hier zu Besuch gewesen waren, angefangen von der Geheimpolizei Südkoreas bis hin zu einer nicht näher bezeichneten Abteilung der CIA, die wie üblich ein Emblem mit dem weißen Stern dagelassen hatte.

Dann standen sie vor dem Chef selbst, der es sich nicht hatte nehmen lassen, den Gast aus Schweden persönlich zu begrüßen. Hans May würde der einzige in St. Augustin sein, der die wahre Identität Carls kannte.

Ein durchtrainierter Soldat, Bundesadler auf dem rechten Uniformärmel, auf der linken Brusttasche Fallschirmjäger-Abzeichen und ein paar militärische Auszeichnungen sowie geflochtene silberne Rangabzeichen auf den Schulterklappen (Carl vermutete Oberstleutnant oder Oberst). Seine Stimme war laut und befehlsgewohnt, sein Lächeln optimistisch und sein Händedruck hart.

„Willkommen bei der GSG 9. Stehen Sie bequem, Hauptmann Charlie“, begüßte er Carl, der keinerlei Anstalten gemacht hatte, eine auch nur annähernd militärische Haltung anzunehmen. Sein Englisch war bei weitem nicht so akzentfrei wie das von Siegfried Maack, aber Hans May sprach es flüssig und ohne jeden Fehler.

Jetzt bin ich aber neugierig, dachte Carl, als er sich vorsichtig in einen der Besuchersessel setzte und die Beine übereinander-schlug. Der Oberst hielt ihm eine blaue Schachtel mit teuer aussehenden Zigaretten hin, wartete Carls „nein danke“ ab und zündete sich dann mit einem goldenen Feuerzeug selbst eine an.

„Nun“, fuhr der Oberst fort, nachdem er den ersten Zug seiner Zigarette genüßlich inhaliert hatte, „ich gehe davon aus, daß Sie die organisatorische Struktur der GSG 9 nicht näher kennen?“

„Nein, Sir, bedaure“, erwiderte Carl schnell und ohne den Anflug eines Lächelns.

Die GSG 9 sei in erster Linie zur aktiven Terrorismusbekämpfung geschaffen worden. Die taktische Struktur sei an die Vorstellungen des Gegners von einer Stadtguerilla angepaßt, vor allem an die Richtlinien des Brasilianers Carlos Marighella, denen zufolge eine Guerilla-Einheit nicht mehr als fünf bis acht Personen umfassen solle. Die GSG 9 bestand aus einer Reihe solcher Zellen, spezieller taktischer Einheiten mit der Bezeichnung SET (Spezialeinsatztrupp). 5 SET bildeten eine Kampfeinheit, und insgesamt besaß die GSG 9 drei solcher Einheiten. Hinzu kam Personal mit besonderen technischen Aufgaben wie etwa Taucher, Hubschrauberpiloten, Dechiffrier-Experten und so weiter.

Carl sollte der zweiten Kampfeinheit zugeteilt werden, genauer dem ersten und zweiten SET der zweiten Einheit, den Gruppen Gelb und Blau.

Hier hielt der Oberst mit einem Lächeln inne. Es sei ein reiner Zufall, bemerkte er, daß SET 1 und 2 die Bezeichnungen Gelb und Blau trügen, denn außer ihm selbst gebe es bei der GSG 9 niemanden, der Carls Identität und Nationalität kenne. Die würden auch geheim bleiben. Man werde ihn nur unter der Bezeichnung „Hauptmann Charlie“ führen. Die meisten Männer würden ihn wohl für einen Amerikaner halten. Das Ganze habe natürlich nicht den Zweck, Carl »auszubilden». Seinen Papieren nach dürfte derlei völlig überflüssig sein. Carl solle im Verlauf der kommenden Woche aber einen möglichst großen Teil der taktischen Kniffe kennenlernen, und überdies sollten die Männer der Gruppen Gelb und Blau mit Carl nähere Bekanntschaft schließen, was eines Tages eventuell von größter Bedeutung sein könne, nicht wahr?

Hier machte Oberst May eine Pause, weil er feststellen wollte, ob Carl die feine Anspielung begriffen hatte. Sie war ihm jedoch entgangen, und er zwang sich, das sofort zuzugeben.

„Ich bedaure sehr, Sir, aber da komme ich nicht recht mit. Ich weiß nicht, ob Sie meinen Auftrag kennen, Sir, aber… Ich soll ja under cover agieren, und unter diesen Umständen habe ich in einer Wachparade wohl kaum etwas zu suchen.“

Bei dem Wort Wachparade ließ Oberst May ein herzliches, wenngleich ein wenig lärmendes und hartes Lachen hören.

„Wachparade! Glänzend, Hauptmann Charlie, wirklich glänzend! Na schön, sollte das Unternehmen in Gang kommen und wir uns dem Finale nähern, hielte ich es doch für wünschenswert, daß Sie, Herr Hauptmann, und die Spezialeinsatztrupps Gelb und Blau einander kennen. Am Ende des Unternehmens dürften Sie sich ja mitten im Ziel befinden, nicht wahr, Herr Hauptmann? Da wäre es schon wünschenswert, Freund und Feind auseinanderhalten zu können, meinen Sie nicht auch?“

Das war zweifellos ein schlagendes Argument. Aber Carl geriet immer mehr ins Zweifeln darüber, ob sich seine Vorstellungen von einem effektiven Einsatz mit dem zur Deckung bringen ließen, was hier vertreten wurde. Wie auch immer: Es waren Zukunftsphantasien, die Lichtjahre von der derzeitigen Realität entfernt waren.

Es stand jedenfalls fest, daß Carl in der folgenden Woche an der praxisbezogenen Ausbildung der SET Gelb und Blau teilnehmen sollte. Nachmittags, wenn das Personal der GSG 9 entweder dienstfrei oder theoretischen Unterricht hatte (von Funktechnik bis hin zu lateinamerikanischer Stadtguerilla-Taktik, Psychologie und westdeutscher Terroristen-Ideologie), sollten sich Carl und Siegfried Maack einem theoretischen Vorhaben zuwenden, von dem der Oberst nichts wußte – das war eine Angelegenheit zwischen Carl und dem Verfassungsschutz. Damit war die Sitzung beendet.

Ein Major trat ein, begrüßte Carl und nahm ihn und Maack zu einem ersten Rundgang mit. Erstes Ziel war die Garage mit einer ganzen Reihe weißer Mercedes-Limousinen, dem wichtigsten Fortbewegungsmittel der GSG 9; bei Einsätzen saßen fünf Mann in jedem Wagen des Typs 280 SE. Äußerlich waren die Fahrzeuge von Serienwagen kaum zu unterscheiden. Aber sie hatten Funktelefon mit eingebautem Abhörschutz und die Scheiben waren selbstverständlich aus kugelsicherem Glas.

Der Major war ein kleiner, rundlicher, freundlicher Mann und Chef der zweiten Kampfgruppe, zu der auch Gelb und Blau gehörten. Er schien Carl wie selbstverständlich für einen Amerikaner zu halten. Sie gingen in die Kleiderkammer, in der Carl gegen Quittung einen Sack mit Kleidungsstücken und Ausrüstungsgegenständen erhielt, was ihm das Gefühl gab, ein frisch eingezogener Rekrut zu sein. Nach einigen weiteren Fluren betraten sie einen Turnsaal, in dem rund ein Dutzend Männer in Karate-Jacken aus grobem weißem Baumwollstoff Nahkampf-Übungen machten. Die Übungen wurden abgebrochen, und alle Beteiligten nahmen Haltung an, als die Besucher den Saal betraten.

Der Major stellte „Hauptmann Charlie“ vor, der beim morgendlichen Apell schon erwähnt worden sei und der einen eventuellen künftigen Einsatz der hier anwesenden Gruppen Gelb und Blau leiten und mindestens eine Woche als Gast der GSG 9 in St. Augustin bleiben werde. Dann gab der Major Befehl, mit den Übungen fortzufahren.

Nach Carls Urteil handelte es sich um eine Nahkampfübung typisch polizeilichen Charakters. Der Ausbilder entwaffnete einen Messerstecher, und dieser mußte natürlich mit hocherhobener Waffe angestürzt kommen, damit alles klappte: Zunächst landete der Ausbilder einen Abwehrschlag, während er gleichzeitig aufschrie, um den Messerstecher abzulenken. Der Schlag traf das Handgelenk und hatte wie geplant zur Folge, daß das Messer zur Seite geschlagen wurde. Darauf nahm der Ausbilder den Angreifer in einen festen Armgriff und zwang ihn, sich um die eigene Achse zu drehen; dann wurde der Arm des Angreifers auf den Rücken gepreßt und die freie Hand um seinen Nacken gelegt. Damit war der Angreifer unschädlich gemacht. Unverletzt und kniend teilte er dann laut mit, er ergebe sich.

Carl musterte vorsichtig die jungen Polizeibeamten. Sie waren von überdurchschnittlich kräftigem Körperbau und wirkten durchtrainiert. Ihr Durchschnittsalter schien um 25 Jahre zu liegen. Sie hatten kurzgeschnittenes Haar und machten ernste Gesichter. Sie versuchten so zu tun, als seien sie es gewohnt, Besuch zu haben, warfen Hauptmann Charlie aber trotzdem neugierige Seitenblicke zu.

Dann passierte genau das, was sich Carl am allerwenigsten gewünscht hatte. Der Ausbilder, der soeben einen weiteren freiwilligen „Messerstecher“ abgefertigt hatte, hielt das Messer jetzt Carl mit einer einladenden Handbewegung hin, was bei den Zuschauern offenkundiges Interesse und sogar so etwas wie Heiterkeit auslöste.

Die Situation war peinlich. Diese Übung hatte mit der Wirklichkeit nur sehr wenig zu tun; Carl hatte fünf Jahre lang das genaue Gegenteil gelernt und gelehrt, daß man nämlich für den Nahkampf unbedingt alles vergessen muß, was man beim normalen Wehrdienst oder in der Polizeischule gelernt hat.

Carl war nicht darauf trainiert, einen angeblichen Messerhelden unter lautem Hallo dazu zu bringen, vor ihm niederzuknien und laut und deutlich zu verkünden, er ergebe sich.

Carl war dazu ausgebildet, eine Konfrontation um fast jeden Preis zu vermeiden oder aber einen eventuellen Angreifer auszuschalten, im Zweifelsfall ohne Zögern zu töten.

Er blickte hilfesuchend zu Siegfried Maack, aber dieser warf ihm nur einen doppeldeutigen kurzen Blick zu. Es war unmöglich, sich aus der Klemme zu ziehen. Das neugierige Lächeln der jungen Beamten ließ Carl keine Wahl. Mit einem Seufzer stellte er seinen Kleidersack ab, warf seine Jacke auf den Fußboden und schlenderte zu dem Ausbilder hin, der in der Mitte der runden Ringermatte stand. Dann bückte sich Carl blitzschnell, zog sich ein Hosenbein hoch und löste mit der linken Hand sein eigenes an der Wade festgebundenes Messer. Er warf es in die rechte Hand und richtete es etwa in Hüfthöhe gegen den Ausbilder. Dann nickte er, er sei bereit.

Es wurde still im Saal. Der blaugeflammte japanische Spezialstahl in Carls Hand besaß die Schärfe moderner chirurgischer Instrumente; und die Haltung, in der Carl das Messer in der Rechten hielt und sich mit der Linken gegen einen Ausfall schützte, indem er sie in einem Winkel von etwa 45 Grad nach unten neigte, sagte den Zuschauern schon genug.

Der Ausbilder zögerte zunächst und warf dann seinem vorgesetzten Offizier einen fragenden Blick zu. Dann schüttelte er den Kopf und zeigte mit einer ablehnenden Geste, daß er auf den Kampf verzichtete.

Als Carl sich bückte und das Messer wieder an der Wade festschnallte, nahm der Major die Gelegenheit wahr, eine etwas mißglückte Erklärung abzugeben.

„Die Lehre aus Hauptmann Charlies Darbietung besteht darin, daß die Wirklichkeit nicht immer …“ begann er in einem Atemzug, bis er sich gezwungen sah, an der falschen Stelle im Satz Luft zu holen, „… mit Übungssituationen übereinstimmt. Nicht wahr, Hauptmann Charlie?“

Das war es ja gerade. Es war peinlich, für Situationen zu üben, die es in der Wirklichkeit nicht gab. Das konnte nur ein falsches Gefühl von Sicherheit mit sich bringen und im Einsatz zu Verwicklungen führen. Aber wie Carl das jetzt kommentieren sollte, dazu noch in seinem miserablen Deutsch, war etwas völlig anderes.

„Nun“, sagte er, trat wieder auf die Ringermatte und hob das Übungsmesser auf. „Sie sind Polizeibeamte, sie müssen bei solchen Leuten … vorsichtig umgehen. Ich bin Militär, das ist was anderes. Es ist schwer, Polizei und Militär gemeinsam trainieren zu lassen. Es sind verschiedene Ziele.“

Er war sich nicht sicher, ob er sich verständlich ausgedrückt hatte, und die Situation war auf jeden Fall äußerst peinlich. Außerdem bereute er sein Verhalten schon jetzt. Es wäre besser gewesen, den Übungstrottel zu spielen und sich entwaffnen zu lassen.

„In Wirklichkeit“, fuhr er zögernd fort, wobei er den vorschriftsmäßigen Messerhelden-Griff der Polizei um das Messer illustrierte, „kommt kein Feind so …“

Er drehte das Messer um, so daß es tiefer zeigte. „Ein Feind muß so das Messer in der Hand haben.“

Der Ausbilder gab ihm ein Zeichen, daß er das Messer zurückhaben wollte, und Carl warf es ihm hin. Er hatte zuvor die Schneide betastet und festgestellt, daß es sich um eine rundgeschliffene, ziemlich ungefährliche Übungswaffe handelte. Aber jetzt gab der Ausbilder deutlich zu verstehen, daß es nun einen Rollentausch geben würde. Wieder befand sich Carl in einer Lage, in der ihm jeder Rückzug versperrt war. Er nickte dem Ausbilder zu. Er war bereit.

Der Ausbilder holte entschlossen Luft und bewegte sich mit einem starren Lächeln auf Carl zu, der jetzt den Blick seines Gegners suchte, da er zum schätzungsweise zehntausendsten Mal eher spürte als sah, wo sich das Messer befand, und so suchte er statt dessen in den Augen des Gegners einen Hinweis darauf, wann der Angriff erfolgen würde. Die Fortsetzung des Handlungsverlaufs saß wie eine Reihe elektrischer Impulse in Carls Rückenmark, und er handelte, ohne zu denken, ohne besondere Erregung, ohne Wut oder Furcht, da er sich schon in einem psychischen Zustand befand, in dem sein innerer Autopilot das Kommando übernommen hatte.

Als sich der Ausfall in den Augen des anderen ankündigte, führte Carl beide Hände gleichzeitig in einer Bewegung nach vorn, die dem Messer-Arm schon nach zwanzig oder dreißig Zentimetern begegnen mußte. Carl umfaßte das Handgelenk seines Gegners mit der rechten Hand und dessen Oberarm mit der linken, schob das rechte Knie in die Bauchgegend des Angreifers und hob beide Arme zu einer Drehbewegung, während er sein Körpergewicht gleichzeitig nach hinten verlagerte. Dieses Manöver bewirkte sofort zweierlei:

Der Gegner verlor das Gleichgewicht und mußte hilflos miterleben, wie sein Messer-Arm durch die eigene Drehung in der Luft auf dem Rücken nach oben gebogen wurde. Der überraschende plötzliche Schmerz zwang ihn, das Messer loszulassen, das Carl schon fast übernommen hatte. In dem Augenblick, in dem die beiden Kämpfer gegen Ende des kurzen Sturzes auf die Matte fielen, zog Carl – oder richtiger sein Autopilot – das Messer in einer schnellen Bewegung über den Hals des anderen Mannes, über die Halsschlagader und die Luftröhre. Die Messerspitze hinterließ einen dünnen roten Strich.

Auf einem Videofilm wäre alles zu rekonstruieren gewesen. In der Realität auf der Ringermatte sah das Ganze unbegreiflich aus.

Das, woran sich die Polizeibeamten der GSG 9, die Angehörigen der Gruppen Gelb und Blau, hinterher am deutlichsten erinnerten, war der rote Strich auf dem Hals ihres Ausbilders. Er wäre schon vor dem Aufschlag auf der Matte ein sterbender Mann gewesen.

„Wie ich sagte“, fuhr Carl fort, als er sich erhoben und sein Gehirn den Autopiloten wieder abgelöst hatte, „ich bin Soldat, nicht Polizist. Gemeinsam können wir das nicht üben.“

Er gab dem unter Schock stehenden Ausbilder das Messer zurück, verbeugte sich höflich vor den Anwesenden und gab seinen beiden Begleitern ein Zeichen, daß er den Saal verlassen wollte. Es war fast mit Händen zu greifen, daß dies ein äußerst angemessener Vorschlag war.

Der freundliche Major hatte eine weniger freundliche Miene aufgesetzt. Beinahe mürrisch führte er seine Gäste in einen Büroraum, in dem er einen Stundenplan oder vielmehr den Vorschlag zu einem Stundenplan, wie er sich vorsichtig korrigierte, für Carls Woche als Gast in St. Augustin aus einer Schublade holte.

Die Nachmittage sollte Carl den besonderen Programmen des Verfassungsschutzes widmen, die der Führung der GSG 9 nicht näher bekannt waren. Dabei ging es um die theoretischen Studien, für die Siegfried Maack verantwortlich war.

An den Vormittagen sollten SET Gelb und SET Blau das taktische Repertoire der GSG 9 durchnehmen; das Programm sah verschiedene Methoden zur Erstürmung von Häusern und Wohnungen vor, von Hochhäusern oder Kanalisationsschächten, ferner den Umgang mit Handfeuerwaffen und besonderen Ausrüstungsgegenständen. Carl strich alle Stunden, die Nahkampfübungen vorsahen. Der Major erhob keine Einwände.

Kurze Zeit später waren Carl und Siegfried Maack allein. Sie befanden sich im ersten Stock in einer Flucht von drei hintereinanderliegenden Räumen, die mit einem Siegel und einem kleinen deutschen Bundesadler auf gelbem Grund plombiert worden waren. An der Tür machte ein Schild darauf aufmerksam, daß das Betreten der Räume verboten sei. Es handelte sich um zwei Schlafzimmer sowie um einen vorübergehend hergerichteten Vortragssaal mit der üblichen Konferenzausstattung. Dort begann Siegfried Maack, den Inhalt zweier klobiger Reisetaschen aus Stahl auf den Tisch zu wuchten. Es handelte sich um etwa hundert Kilogramm Papier, die den wesentlichsten Teil der Erkenntnisse von BKA und Verfassungsschutz über den europäischen Terrorismus enthielten. Der Hauptakzent lag dabei auf dem deutschen Terrorismus in geographischer und dem Linksterrorismus in politischer Hinsicht. Das Material über den Rechtsextremismus war eher spärlich, da er für die beiden Behörden als weitgehend eliminiert und daher als Kuriosum galt.

Carl machte den Vorschlag, zunächst den Teil des Materials zu sichten, der sich am leichtesten erschließen ließ, was die Papierstapel relativ schnell überschaubar machen würde. Er meinte die verschiedenen technischen Gutachten, in denen beschrieben wurde, wie sich die Praxis der Terroristen entwickelt hatte, angefangen bei den ersten Brandstiftungen bis zu den komplizierteren Anschlägen der späteren Zeit mit Sprengladungen und Schnellfeuerwaffen.

Die Dokumentation war mit Farbfotos der Ermittlungsbehörden reich illustriert. Leichenfotos, auf denen Einschüsse mit roter Tusche markiert worden waren, zeigten Männer, an deren Namen er sich von früherer Zeitungslektüre her schwach erinnerte: Schleyer, Buback, Pimental. Soweit Carl es beurteilen konnte, handelte es sich um ganz gewöhnliche Morde mit Pistole oder Maschinenpistole aus nächster Nähe. Man hatte den Opfern meist durch den Kopf geschossen.

Die Sprengstoffanschläge dagegen waren im Lauf der Jahre perfekter geworden, daran war nicht zu zweifeln. Neuerdings beherrschten die Terroristen immerhin schon die Technik von Zeitzündern. Ihre Versuche aber, Sprengladungen fernzuzünden, mal mit zu langem Zündkabel, mal mit einem Funksender, der nicht funktioniert hatte, waren vergleichsweise unbeholfen.

Nach ein paar Stunden hatten die beiden Männer fast ein Viertel des Inhalts der Stahltaschen bewältigt. Von Zeit zu Zeit hatte Carl brummelnd etwas kommentiert, was vor ihm auf der glatten Tischplatte Revue passierte. Siegfried Maack hatte ihm die Akten in gleichmäßigem Tempo vorgelegt, ohne viel dazu zu sagen. Nur manchmal gab er geographische Erklärungen und äußerte sich über bekannte Täter, die immer noch auf freiem Fuß waren, über ihre Biographien und Besonderheiten. Die meisten Terroristen, die hier aktenkundig waren, da war sich Carl sicher, saßen wohl schon in dem weißen Hochsicherheitsbunker von Stammheim hinter Schloß und Riegel.

Die beiden Männer unterbrachen ihre Arbeit und gingen in die Kantine. Sie brachten das Essen schnell hinter sich und sprachen kaum miteinander, da sie sich der neugierigen Ohren und der verstohlenen, fragenden Blicke um sie herum bewußt waren. Sie gingen wieder nach oben, und nach einer Stunde konnten sie schon den ersten Teil des Materials in den grünen Stahltaschen verstauen und den Tisch für die etwas komplizierteren Akten freimachen, in denen es um theoretische Fragen ging.

Jan Guillou

Über Jan Guillou

Biografie

Jan Guillou, Jahrgang 1944, ist einer der meistgelesenen Autoren Schwedens. Bislang verfasste er knapp vierzig Bücher, darunter auch die erfolgreich verfilmte Bestseller-Saga um den Tempelritter Arn Magnusson. Seine elfteilige Thriller-Serie um den Agenten Carl Hamilton alias „Coq Rouge“ ist ein...

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