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Das vergessene Mädchen (Alexander-Gerlach-Reihe 9)Das vergessene Mädchen (Alexander-Gerlach-Reihe 9)

Das vergessene Mädchen (Alexander-Gerlach-Reihe 9)

Wolfgang Burger
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Ein Fall für Alexander Gerlach

„Eine der besten Krimireihen Deutschlands (...) Man möchte Wolfgang Burgers neuen Roman am liebsten nicht mehr aus der Hand legen.“ - Rhein-Neckar-Zeitung

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Das vergessene Mädchen (Alexander-Gerlach-Reihe 9) — Inhalt

Der neunte Fall für Alexander Gerlach

Auf einer Klassenfahrt verschwindet die junge Lea spurlos. Erst kürzlich wurde ein Mädchen entführt und umgebracht, der Täter ist noch immer auf freiem Fuß. Steckt hinter Leas Verschwinden der ältere Mann, mit dem sie eine Affäre hatte? Was ist mit dem unglücklich verliebten Mitschüler, der wie vom Erdboden verschluckt ist? Dann überschlagen sich die Ereignisse: Ein Mitarbeiter von Kripochef Gerlach wird angeschossen. Der verliebte Mitschüler liegt bewusstlos auf der Intensivstation. Und von Lea keine Spur …

„Gerlach ist der sympathischste Beamte, den je ein Autor erfunden hat!“ Rhein-Neckar-Zeitung

Preisgekrönte Spannung in Krimiserie! 

Mit „Heidelberger Requiem“ legte Wolfgang Burger 2005 ein fulminantes Krimi-Debüt vor, das sich aus dem Stand zur neuen Obsession der Fans des Ermittlerkrimis mauserte. Seine Bücher waren bereits mehrfach für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert und stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, so auch der achtzehnte Band „Am Ende des Zorns“.

€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 15.09.2014
320 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-30477-1
Download Cover
€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 12.03.2013
320 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-95923-0
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Leseprobe zu „Das vergessene Mädchen (Alexander-Gerlach-Reihe 9)“

1

Anfangs dachten wir alle, Lea sei einfach vergessen worden. Sie war neu in der Schule, wohnte erst seit wenigen Monaten in Heidelberg und – all das erfuhr ich natürlich erst später und in kleinen Häppchen – hatte sich noch nicht so recht eingelebt in ihrer neuen Heimat.

Die beiden zehnten Klassen des Helmholtz-Gymnasiums hatten einen Bildungsausflug nach Straßburg gemacht, um das Europaparlament zu besuchen und anschließend eine Führung durch das berühmte gotische Münster über sich ergehen zu lassen. Im Parlament hatten die mäßig beglückten Jugendlichen [...]

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1

Anfangs dachten wir alle, Lea sei einfach vergessen worden. Sie war neu in der Schule, wohnte erst seit wenigen Monaten in Heidelberg und – all das erfuhr ich natürlich erst später und in kleinen Häppchen – hatte sich noch nicht so recht eingelebt in ihrer neuen Heimat.

Die beiden zehnten Klassen des Helmholtz-Gymnasiums hatten einen Bildungsausflug nach Straßburg gemacht, um das Europaparlament zu besuchen und anschließend eine Führung durch das berühmte gotische Münster über sich ergehen zu lassen. Im Parlament hatten die mäßig beglückten Jugendlichen die Ehre gehabt, einer Diskussion über die EU-weite Normung von Rostschutzlacken beizuwohnen. Das Münster fanden manche cool, andere irgendwie groß, die meisten einfach nur furchtbar alt und langweilig.

Im Lauf des Tages war die Veranstaltung mehr und mehr aus dem Ruder gelaufen. Eine Gruppe von Mädchen hatte sich schon früh verflüchtigt, um anstelle altertümlicher Kirchen lieber­ mo­­derne Boutiquen zu besichtigen. Andere waren ein­zeln ihren je­­weiligen Interessen nachgegangen. Der Rest ließ sich von den begleitenden Lehrkräften noch durch das pittoreske Viertel Petit France scheuchen, und am Ende waren auch die beiden Lehrer erleichtert gewesen, als sie ihren gähnenden und nörgelnden Schützlingen einige Stunden freigeben konnten, um auf eigene Faust die Straßburger Weihnachtsmärkte zu er­­kunden.

Vereinbarter und mehrfach verkündeter Abfahrttermin war einundzwanzig Uhr. Und zwar pünktlich.

Um einundzwanzig Uhr sechsunddreißig waren auch die Letzten eingetrudelt, eine glühweinselig singende gemischtgeschlechtliche Rasselbande. Die Lehrer zählten durch, und als die Summe nicht stimmte, zählten sie ein zweites und ein drittes Mal durch. Aber immer war das Ergebnis entweder zu niedrig oder zu hoch, da ständig jemand den Platz wechselte, irgendwer gerade auf der bordeigenen Toilette saß oder für eine letzte Zigarette noch einmal kurz an die frische Luft musste. Der Fahrer maulte, man sei zu spät, und wenn er nach Mitternacht nach Hause komme, müsse er einen Aufschlag berechnen. Schließlich gaben die Lehrer das Signal zur Abfahrt, da alle Anwesenden lautstark versicherten, ihre Sitznachbarn vom Morgen seien anwesend.

Erst unterwegs, auf halbem Weg nach Heidelberg, fiel jemandem auf, dass Lea fehlte. Man versuchte, sie auf dem Handy an­­zurufen, wo sich jedoch immer nur die Mailbox meldete. Die Lehrer überlegten hin und her, was zu tun sei, und beschlossen schließlich, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen und nach der Heimkehr Leas Eltern zu benachrichtigen. Schließlich war das Mädchen kein Kind mehr, sondern würde in wenigen Wochen volljährig werden. Außerdem war man erschöpft vom turbulenten und überlangen Tag.

Was die Lehrer nicht wussten, nicht wissen konnten: Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als der Bus voller inzwischen größtenteils schlafender Zehntklässler das romantische Heidelberg erreichte, wurde am Rand einer einsamen Landstraße nur zwanzig Kilo­meter vom Straßburger Stadtzentrum entfernt die unbekleidete Leiche einer jungen Frau gefunden.

Am Tag ihres Verschwindens, dem zweiten Dezember, war Lea Lassalle siebzehn Jahre, elf Monate und drei Tage alt. Sie war ein hübsches, schlankes Mädchen mit sehr eigenwilligem Charakter. Und hätte ich geahnt, wie sehr ihr Schicksal in den folgenden Wochen mein Leben durcheinanderwürfeln würde, so hätte ich schleunigst Urlaub beantragt und den nächsten Zug in Richtung Süden bestiegen.




2

„Also, die Kirche war ja schon irgendwie krass“, hörte ich Sarah zu ihrer eine halbe Stunde jüngeren Zwillingsschwester sagen, als ich am Samstagmorgen noch etwas benommen die Küche betrat. Ich hatte mir den Luxus gegönnt, endlich einmal wieder richtig auszuschlafen, und war trotzdem oder gerade deswegen noch nicht ganz wach. „Wenn man überlegt, dass die damals noch nicht mal Kräne hatten und Bagger und so.“

Meine Töchter saßen beim kalorienreichen Frühstück und diskutierten den vorangegangenen Tag. Wie üblich gab es Toast mit Nutella zu Kakao mit Sahne. Ein Wunder, dass die beiden nicht längst kugelrund waren. Die grün leuchtende Digitaluhr am Herd zeigte Viertel nach zehn, und ich war überrascht, die Zwillinge um diese Uhrzeit schon in der Küche anzutreffen. Durch die hohen Altbaufenster schien eine lustlose Wintersonne herein.

Ich setzte mich gähnend zu ihnen. Gestern war es nicht nur für meine Töchter spät geworden. Ich hatte mit Theresa zusammen ihren Geburtstag nachgefeiert und außerdem die Fertigstellung ihres neuen Buchs. Seit Mitte November war es nun in der Druckerei, und in der kommenden Woche würde die Auslieferung beginnen. Wir hatten viel gelacht, echten Champagner getrunken und uns geliebt und das Leben schön und aufregend gefunden.

„Kirchen sind langweilig“, fand Louise und ließ sich von meinem Gähnen anstecken. „Die einen sind klein, die anderen sind groß, und innen ist es immer scheißkalt.“

„Du hast ja überhaupt nicht richtig hingeguckt“, fauchte Sarah. »Denkst du auch mal an was anderes als an deinen blöden­ …«

„Der ist überhaupt nicht blöd!“, fiel Louise ihr böse ins Wort. „Du bist selber …“

Erst in dieser Sekunde wurde den beiden bewusst, dass sie nicht mehr allein waren. Ich fragte mich, an wen meine kleine, gerade erst sechzehn Jahre alt gewordene Louise wohl die meiste Zeit denken mochte. Aber ich fragte nicht, denn ich hätte ohnehin nur ausweichende Antworten erhalten. Es gab Dinge, die gingen Väter nichts an.

„Und, wie war’s sonst gestern?“, fragte ich leutselig, um die peinliche Situation zu überspielen.

„Ganz okay“, erwiderte Sarah finster. »Das Münster war echt stark. Auch wenn’s bloß einen Turm hat. Aber im Parlament war’s ätzend. Bloß Gequatsche, die ganze Zeit. Und die Kopf­hörer haben auch nicht richtig funktioniert. Auf meinem hat man die deutsche Übersetzung gar nicht verstanden. Und zweimal bin ich eingepennt.«

Louise wandte sich ihrer klebrigen Fettbombe zu und grummelte: „Immerhin haben wir’s überlebt.“

Mit Menschen im Alter meiner Zwillinge konnte man vermutlich eine achtwöchige Rundreise durch China machen, und das Einzige, woran sie sich am Ende erinnern würden, wären die unmöglichen Toiletten, das komische Essen und dieser ulkige Typ mit dem schwarzen Schwein an der Leine.

Leise Musik dudelte aus dem kleinen Radio, das neben der Spüle stand. Chris Rea, „On the Beach“. Die Sonne spiegelte sich auf der blanken Holzplatte unseres Küchentischs. Richtig, Urlaub sollte man mal wieder machen, dachte ich, zur Not auch ohne Strand. Faulenzen. Schlafen, bis man nicht mehr konnte. Lesen, bis es keinen Spaß mehr machte. Ich hatte noch über drei Wochen Resturlaub aus dem vergangenen Jahr. Vielleicht sollte ich nach Weihnachten ein paar Tage davon nehmen? Der Gedanke war sehr verlockend.

Während Sarah Anekdoten von ihrem Ausflug in eine der schönsten Städte Europas erzählte, hörte ich nur mit halbem Ohr zu. In mir klang immer noch der wohlige Nachhall meines liebevollen Abends mit Theresa. Louise murmelte hin und wieder zustimmend oder ablehnend. Ihre Laune war schon seit Wochen selbst für einen Teenager ungewohnt wechselhaft, wurde mir bewusst. Da schien jemand Beziehungsprobleme zu haben. Seit Monaten nahmen die beiden die Pille, und noch immer war es mir nicht gelungen, herauszufinden, zu wessen Vergnügen meine Töchter ihre unschuldigen Körper vergifteten.

Ich erhob mich, um mir einen Cappuccino zu machen. Im Radio kamen jetzt Nachrichten. Die Börsen waren wieder einmal auf Talfahrt. Griechenland kam und kam auf keinen grünen Zweig. In den USA waren die Republikaner gegen Steuererhöhungen. In der vergangenen Nacht war am Rand der Landstraße zwischen Molsheim und Soultz-les-Bains eine unbekleidete Tote gefunden worden. Ich drehte das Radio lauter. Eine Autofahrerin hatte spätnachts eine Reifenpanne gehabt, das Reserverad montiert und sich anschließend – es war eine mondhelle Nacht gewesen – in einem nahen Bach die Hände waschen wollen. Dabei war sie auf die Leiche gestoßen. Was man bisher über die Tote sagen konnte: Die Frau war jung gewesen, als sie noch lebte, schlank und schwarzhaarig. Und vermutlich war sie Opfer eines Sexualverbrechens geworden.

In diesem Moment trillerte das Telefon im Flur.

„Marchow hier“, meldete sich eine aufgeregte Frauenstimme. „Spreche ich mit Herrn Gerlach?“

„Ja“, sagte ich zögernd. Schon ihr erster Satz klang nach Ärger. Und das Letzte, wonach mir heute der Sinn stand, war Ärger.

„Ich …“ Sie schluckte hörbar und fuhr atemlos fort: „Ich bin eine Lehrerin Ihrer Töchter. Ich unterrichte Politik und Geschichte, und ich … Wir waren ja gestern in Straßburg, wie Sie natürlich wissen, und …“

„Was haben die beiden ausgefressen?“, fragte ich. Den zweiten Teil der Frage, nämlich was mich der Spaß wohl kosten werde, behielt ich für mich.

„Es geht nicht um Louise und Sarah. Es geht um eine andere Schülerin, Lea Lassalle. Eben habe ich im Radio die Nachricht von dem toten Mädchen und … Wir haben sie gestern Abend leider vergessen in dem ganzen Tohuwabohu. Lea, meine ich. Ihre Töchter haben Ihnen vermutlich schon davon berichtet?“

„Nein.“

„Sie war nicht im Bus. Aber sie ist fast volljährig, und wir waren alle ein wenig kaputt und außerdem schon halb in Heidelberg, als endlich jemandem aufgefallen ist, dass sie fehlte. Ihr Handy war aus. Ich habe später noch versucht, die Eltern zu erreichen, aber da war es schon kurz vor Mitternacht und … ich … ach …“

Ich zupfte am Ärmel meines Trenchcoats herum, den ich gestern Abend sehr achtlos an die Garderobe gehängt hatte, und betrachtete mein verschlafenes und unrasiertes Gesicht im Spiegel.

„Sie haben niemanden erreicht?“

„Ich habe es gestern Abend x-mal auf Leas Handy versucht und heute Morgen schon wieder. Und jetzt hat man diese tote junge Frau gefunden. Sie sei vergewaltigt worden, heißt es. Mein Gott, ich mag mir gar nicht vorstellen, was … Sie sind doch Polizist? Ich erinnere mich doch richtig, oder? Ich dachte, ich rufe lieber nicht gleich die Polizei an, offiziell, meine ich. Sie sind ja auch die Polizei, sozusagen. Chef der Kriminalpolizei sogar, nicht wahr?“

„Das ist richtig.“

„Ich mache mir solche Vorwürfe. Jugendliche in diesem Alter, das ist wie Flöhehüten und … Und man kann doch nicht ständig und immer …“

„Sagten Sie nicht gerade, Lea ist fast volljährig?“

„Ich glaube, sie hat mal eine Klassenstufe wiederholen müssen, genau weiß ich es nicht. Sie ist ja erst seit Beginn des Schuljahrs bei uns. Und sie ist … nun ja, nicht unkompliziert. Einen richtigen Anschluss an die Klasse hat sie noch nicht gefunden. Deshalb ist es wohl nicht gleich aufgefallen, dass sie nicht dabei war. Ich erinnere mich noch, wie ich sie gesehen habe im Bus. Sie muss später noch einmal ausgestiegen sein, und in dem Tumult hat es niemand bemerkt. Und so haben wir sie dann … vergessen eben. Ich mache mir solche Vorwürfe, Herr Gerlach. Aber Sie machen sich keine Vorstellung. Es ist wirklich, als wollte man Flöhe …“ Sie lachte schrill, verstummte sofort wieder.

„Ich denke, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Lea ist wirklich kein Kind mehr. Ich bin überzeugt, dass sie bald gesund und munter wiederauftauchen wird.“

„Aber das Handy …?“

„Vielleicht ist es kaputt?“

„Die Eltern. Man muss wenigstens die Eltern informieren. Aber sie gehen nicht ans Telefon. Ich war sogar dort, vorhin. Ich bin extra hingefahren. Aber es scheint niemand zu Hause zu sein. Jetzt weiß ich nicht, was ich noch tun soll …“

„Vorläufig nichts. Jetzt können wir nur abwarten. Aber ich werde sicherheitshalber bei meinen Kollegen nachfragen, ob man etwas von einem Unfall in Straßburg weiß oder von einer jungen Frau, die in ein Krankenhaus eingeliefert worden ist. Und wenn die Eltern das Telefon nicht abnehmen, dann schicke ich eine Streife vorbei. Irgendjemand in der Nachbarschaft wird hoffentlich wissen, wo die Leute stecken.“

Ich notierte mir Adresse und Telefonnummern der Eltern. Fichtestraße, Südstadt.

Die Oberstudienrätin bedankte sich zugleich erleichtert und völlig aufgelöst vor Sorge und Selbstvorwürfen. „Sie geben mir bitte gleich Bescheid, wenn Sie etwas erfahren, ja? Ich habe keine ruhige Minute, solange ich nicht weiß, was mit Lea ist.“

Ich drückte den roten Knopf und wählte die Nummer der Polizeidirektion. Nein, niemand hatte in den vergangenen Stunden eine Lea als vermisst gemeldet. In den letzten drei Wochen hatte es in Heidelberg überhaupt keine Vermisstenmeldungen gegeben. Nur um ganz sicher zu sein, bat ich die aufgeweckte Kollegin, mit der ich sprach, Kontakt mit der Straßburger Polizei aufzunehmen. Sie versprach, sich sofort darum zu kümmern, notierte den Namen des vergessenen Mädchens und stellte keine Fragen.

Versuchsweise tippte ich die Nummer ein, die Frau Marchow mir genannt hatte. Es tutete und tutete, aber niemand nahm ab. Einen Anrufbeantworter schien es nicht zu geben. So rief ich noch ein zweites Mal in der Direktion an und bat, eine Streife in die Fichtestraße zu schicken.

„Was ist mit Lea?“, wollte Sarah wissen. Natürlich hatten die beiden die Telefongespräche mitgehört.

„Sie war bei der Rückfahrt nicht im Bus. Habt ihr das nicht mitgekriegt?“

„Nö.“ Sarah zuckte die Achseln und verzog den Mund.

Louise murmelte etwas wie: „Doofe Tusse.“

„Da ist die ganze Zeit so ein Chaos gewesen“, erklärte Sarah. „Ein Geschrei wie bei den Erstklässlern. Wir haben ganz hinten gesessen mit ein paar Jungs. Und später haben wir gepennt.“

„Irgendwer hat irgendwann gesagt: ›Lea fehlt‹“, fiel Louise plötzlich ein. „Chip, glaube ich.“

„Blödsinn!“, widersprach Sarah im Oberlehrerton. „Der ist doch gar nicht dabei gewesen. Der ist doch krank.“

„Jedenfalls ist die Marchow total ausgeflippt“, meckerte Louise zurück. „Aber das hast du natürlich nicht mitgekriegt, weil du mit dem Richy …“

Sarah rollte die Augen. „Wann flippt die Marchow mal nicht aus?“

„Schade, dass der Plako nicht dabei gewesen ist. Die Marchow nervt echt.“

„Plako ist unser Mathelehrer.“ Sarah war mein verständnis­loser Blick nicht entgangen. „Voll der coole Typ.“

„Der coolste von allen Lehrern“, ergänzte Louise.

„Eure Lehrerin sagt, Lea sei schon im Bus gewesen, aber kurz vor der Abfahrt wieder ausgestiegen.“

„Also, ich hab sie nicht gesehen“, sagte Louise gelangweilt. „War ja auch so ein Durcheinander. Die meisten von den Jungs waren besoffen. Die hatten Schnaps gekauft und Red Bull und im Bus Party gemacht. Ein paar haben später gekotzt. Und die Marchow hat fast ’nen Herzkasper gekriegt.“

„Den Tag über ist Lea die meiste Zeit für sich gewesen“, erinnerte sich Sarah mit hochgezogenen Brauen.

„Wann ist die mal nicht für sich?“ Louise leerte entschlossen ihren Kakao. „Hält sich für supercool, weil sie schon fast achtzehn ist und nicht aus Heidelberg stammt.“

„Jedes Mal, wenn ich sie gesehen habe, hat sie das Handy am Ohr gehabt. Kein Wunder, dass ihr Akku leer ist.“

Das wäre immerhin eine Erklärung dafür, dass sie nicht erreichbar war, überlegte ich.

Meine Töchter erhoben sich und stellten zu meiner Überraschung unaufgefordert ihre Teller in die Spülmaschine.

„Wir gehen jetzt duschen und später in die Stadt“, wurde ich gnädig aufgeklärt. „Zum Essen sind wir wahrscheinlich nicht da.“

Die Kaffeemaschine erinnerte mich mit einem gurgelnden Ge­­räusch daran, dass ich mir einen Cappuccino hatte machen wollen. Ich stellte meine Tasse unter den Auslass und drückte den Knopf. Es begann nach Kaffee zu duften.

Die Badezimmertür fiel lautstark ins Schloss.

Sekunden später stand Sarah wieder in der Küche.

„Paps“, begann sie unbehaglich und wich meinem Blick aus. „Ich glaub, Lea hat was mit ’nem älteren Typ am Laufen. Vielleicht ist das ja wichtig, hab ich gedacht.“

„Ihr mögt sie nicht besonders, was?“

„Sie ist … weiß auch nicht … irgendwie komisch. Man kommt nicht an sie ran. Nur die Jungs, die fahren natürlich alle auf sie ab, weil sie echt gut aussieht und gern auf unnahbar macht. Ich hab mir überlegt, vielleicht hat sie die ganze Zeit mit ihrem Typ telefoniert, und er hat sie später abgeholt, und sie ist mit ihm durchgebrannt? Könnte doch sein, oder nicht?“

Mein Cappuccino war fertig. Mit der großen Tasse in der Hand setzte ich mich an den Tisch und hielt das Gesicht in die Morgensonne. Im Radio lief John Lennon, „Imagine there’s no heaven … No hell below us …“

„Was weißt du über den Mann?“, fragte ich.

„Nichts eigentlich“, gab Sarah verlegen zu. „Er soll einen Mercedes haben. Und schicke Klamotten und so. Kann auch sein, dass es bloß ein Gerücht ist. Wird so viel gequatscht.“

„Wie alt soll er denn sein, der alte Mann?“

»Fünfundzwanzig? Vielleicht sogar noch älter. Aber wie ge­­sagt …«

„Seid ihr wenigstens zum Abendessen da?“

„Weiß nicht. Wir rufen dich an. Ich geh dann jetzt duschen. Paps?“ Noch einmal wandte sie sich um. „Es wird ihr doch nichts … passiert sein?“

„Neunundneunzig Komma neun Prozent aller ausgebüxten Teenager tauchen spätestens wieder auf, wenn ihnen das Geld ausgeht. Macht euch keine Sorgen.“

„Und die tote Frau in Straßburg?“

„Sicher nur ein Zufall. Aber ich werde mich trotzdem um die Sache kümmern.“

Augenblicke später knallte die Badezimmertür ein zweites Mal.

Als ich meine Tasse zur Hälfte geleert hatte, meldete sich erneut das Telefon. Diesmal war es die Kollegin, mit der ich vor einer Viertelstunde gesprochen hatte.

„Mir ist da grad was aufgefallen“, begann sie ohne Umschweife. „Wir haben hier einen Justus Lassalle in der Ausnüchterung. Zwei Kollegen haben ihn heute Morgen von der Straße aufgelesen. In seinem Ausweis steht, er wohnt in der Fichtestraße.“

„Ist er ansprechbar?“

„Können Sie vergessen.“ Sie lachte leise. „Wird ein Weilchen dauern, bis der seinen Rausch ausgeschlafen hat. Was komisch ist: An seinem Ärmel ist Blut. Er hat aber gar keine Verletzung, hat der Arzt vorhin festgestellt. Scheint nicht sein Blut zu sein.“

„Hat die Streife sich schon gemeldet, die Sie in die Südstadt geschickt haben?“

„Da macht keiner auf. Das Haus ist dunkel. Und die Nachbarn wissen nichts.“

Ich beschloss, das Frühstück ausfallen zu lassen und mir Leas Vater anzusehen. Gegen Mittag würde ich mich mit Theresa treffen­. Ihr Mann war das Wochenende über unterwegs, und so hatten wir gestern Abend spontan beschlossen, ihr Strohwitwendasein für einen gemütlichen Adventsausflug nach Mannheim zu nutzen.

Die Zwillinge lärmten fröhlich im Bad. Ich leerte meine Tasse und ließ sie auf dem Tisch stehen.


Justus Lassalle schnarchte wie ein Sägewerk, stank wie eine Schnapsbrennerei und machte zwischendurch schmatzende Ge­­räusche. Ich rüttelte an der Schulter des in eine grobe, graue Decke gewickelten Mannes, der etwa fünfundvierzig Jahre alt sein mochte. Sein Körperbau war knochig, und er war so groß gewachsen, dass die in braunen Socken steckenden Füße über die abwaschbare Matratze hinausragten. Das rötliche Haar stand borstig vom kantigen Kopf ab. Auch die Handrücken waren dicht behaart. Leas Vater gab ein unwilliges Geräusch von sich, ungefähr wie ein großer Hund, den man versehentlich getreten hat, und drehte den Kopf zur anderen Seite.

„Hab ich’s Ihnen nicht gesagt? Der braucht noch ein paar Stunden.“ Die Kollegin, die mich informiert hatte, weigerte sich strikt, die nach Alkohol und Erbrochenem stinkende Zelle zu betreten, und beobachtete meinen sinnlosen Weckversuch durch die Tür. Sie war klein und muskulös. Ihr sandfarbenes Haar trug sie knabenhaft kurz geschnitten. Im runden Gesicht saß eine Nickelbrille auf einem leicht nach oben gebogenen Näschen.

„Wo hat man ihn aufgelesen?“

Sie warf einen Blick in das Protokoll, das sie in der Hand hielt. „Fünf Uhr achtunddreißig, in der Nähe vom Karlstor. Wenn Sie Genaueres wissen wollen, müssten Sie die Kollegen fragen, denen er den Wagen vollgekotzt hat. Ich habe schon lange keinen Kerl mehr gesehen, der so dermaßen besoffen war wie der da.“

„Nich b’soff’n!“, quengelte eine heisere Männerstimme. „Nur bichen müde. Bichen müde. Noch ssu früh.“

Leas Vater war aufgewacht. Aber die Augenlider bekam er noch nicht auseinander.

„Es geht um Ihre Tochter“, erklärte ich laut und in amtlichem Ton. „Verstehen Sie mich? Sie ist verschwunden.“

„Rotzkröte“, murmelte er, schmatzte befriedigt und schlief wieder ein.

„Was ist mit dem Blut an seinem Hemd?“, fragte ich die kleine Kollegin, als sie die Zellentür von außen verschloss.

„Am linken Ärmel. Und nicht nur ein paar Tropfen. Das Hemd habe ich vorsichtshalber sicherstellen lassen. Möchten Sie es haben?“

Mein Handy brummte in der Brusttasche des Jacketts. „Theresa“, stand auf dem Display.

„Alexander, wo steckst du?“, fragte sie verwundert. „Ich stehe am Bismarckplatz und warte auf dich!“

Unsere Bahn nach Mannheim ging in fünf Minuten, wurde mir siedend heiß klar. Meine Liebste wollte shoppen, war auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken für ihren Mann und diverse Freundinnen, und ich konnte das eine oder andere neue Kleidungsstück zur Komplettierung meiner Wintergarderobe gebrauchen.

„Ich hatte noch kurz in der Direktion zu tun“, erklärte ich eilig. „Ich steige bei der Stadtbücherei zu. Hältst du mir einen Platz frei?“




3

Obwohl wir nun schon seit über zwei Jahren ein Paar waren, war ein gemeinsamer Stadtbummel eine neue Erfahrung für Theresa und mich. Da sie nicht nur meine Geliebte, sondern zugleich die Ehefrau meines Chefs war, hatten wir uns lange nicht als Paar in der Öffentlichkeit zeigen können. Und auch heute, nachdem sich manches verändert hatte, wollten wir in Heidelberg nicht zusammen gesehen werden.

Mannheim dagegen schien uns ideal. Weil Theresa es romantisch fand und ich die samstäglichen Staus fürchtete, hatten wir beschlossen, die Straßenbahn zu nehmen. In weniger als drei Wochen war Heiligabend, und für den Einzelhandel war heute der erste Großkampftag im Advent.

Als ich die Haltestelle erreichte, bremste die Bahn schon. Sie war vorweihnachtlich überfüllt. Auch andere fürchteten offenbar Verkehrschaos und Parkplatznot. Die Linie fünf empfing mich mit muffiger, nach feuchter Wolle riechender Wärme und stickiger Luft. Theresas dunkelblonde Lockenpracht entdeckte ich im hinteren Teil der Bahn. Sie hatte erfolgreich einen Platz für mich verteidigt.

Aufatmend sank ich in die gepolsterte Rückenlehne. Wir sahen uns an. Lächelten. Kamen ohne Worte überein, dass es nicht klug war, sich in aller Öffentlichkeit zu küssen, noch dazu beobachtet von neidischen Mitfahrern, die nur einen Stehplatz ergattert hatten. Theresa trug einen eleganten, anthrazitfarbenen Wollmantel mit Kunstpelzkragen zu Bluejeans und gefütterten Stiefeln. Nicht nur, weil die Bahn voll war, rückte ich eng an sie heran. Sie ergriff meine Hand so, dass niemand es sehen konnte, und wieder einmal fühlten wir uns wie Diebe. Die Bahn stoppte alle paar Hundert Meter. Immer mehr Fahrgäste stiegen ein.

Theresa erzählte mir von einem Telefonat mit ihrer Agentin, die hören wollte, ob sie schon eine Idee für ihr drittes Buch habe.

»Sie meint, solche populärwissenschaftlichen Sachen mit Hu­­mor wären vielleicht eine Marktlücke. Es muss natürlich fürs gemeine Volk lesbar sein.«

„Fürs gemeine Volk?“

Theresa lachte und drückte meine Hand fester. „Ihre Worte, nicht meine. Carmen meint, mein Terrorismusschinken passt perfekt in die Zeit. Könnte sogar ein Renner werden, meint sie. Und dann brauchen wir natürlich schleunigst Nachschub.“

Die Bahn hatte Heidelberg inzwischen hinter sich gelassen. Wir fuhren mit zügiger Geschwindigkeit durch dünn besiedeltes Ge­­biet. Dunkelbraune Felder flogen vorbei, kahle Bäume, zerzauste Hecken, ein Krähenschwarm. Inzwischen war die Sonne verschwunden, und es regnete ein wenig. Die feuchte Wärme und das Schaukeln der Bahn machten mich schläfrig. Draußen tauchten wieder Häuser auf. Friedrichsfeld, erklärte die freundliche Lautsprecherstimme. Immer noch wurde es von Haltestelle zu Haltestelle voller. Ein älterer Mann, der stehen musste, drückte mir als stummen Vorwurf sein rechtes Knie gegen die Hüfte. Ich rückte noch näher an Theresa heran. Aber er folgte hartnäckig.

Allmählich begann ich mich zu fragen, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, das Auto stehen zu lassen. Andererseits entdeckte ich an diesem Tag einen der wenigen Vorzüge des Älterwerdens: Ich brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben, weil viele andere stehen mussten, während ich saß. Ich brauchte nicht mehr angestrengt in ein Buch zu starren, als wäre es so fesselnd, dass ich Umwelt und Anstand vergaß. Die Sitte, älteren Menschen seinen Platz anzubieten, schien ohnehin aus der Mode ge­­kommen zu sein, fiel mir wieder einmal auf.

Mein Handy riss mich surrend aus dem Dämmerschlaf. Es dauerte ein Weilchen, bis ich es gefunden und aus der Innentasche meines Mantels gefummelt hatte. Wieder die eifrige Kollegin mit Stupsnase.

„Herr Gerlach, ich habe mir überlegt, der Herr Lassalle ist ja am Karlsplatz gefunden worden. Ganz in der Nähe vom Bahnhof Altstadt.“

„Sie denken, er ist mit dem Zug gefahren?“

„Um die Zeit gehen da keine Züge. Er ist mit dem Bus um fünf Uhr fünfundzwanzig gekommen. Ich habe eben mit dem Fahrer telefoniert. Lassalle ist in Mannheim am Hauptbahnhof eingestiegen. Da hat der Fahrer noch nicht den Eindruck gehabt, er wäre sternhagelvoll. Er hat sich hinten in die letzte Reihe gefläzt und ist praktisch sofort eingeschlafen.“

Als ich das Handy vom Ohr nahm, fiel mir noch etwas ein. „Haben Sie schon was aus Straßburg gehört?“

„In einem Krankenhaus liegt das Mädel jedenfalls nicht. Soll ich Ihnen sagen, was ich denke? Die hat da gestern wen kennengelernt und eine wilde Nacht gehabt. Und jetzt sitzen die zwei gerade beim gemütlichen Frühstück.“

„Die Straßburger Kollegen sollen trotzdem ein bisschen Augen und Ohren offen halten. Ich versuche, ein Foto von dem Mädchen aufzutreiben und eine brauchbare Beschreibung.“

Vor den inzwischen beschlagenen Fenstern sah es jetzt nach Großstadt aus. Links Industrie, rechts die SAP-Arena mit ihren Glasfronten und dem schwebenden Dach. In den Gängen der Bahn standen sich die Fahrgäste auf den Füßen. Die allgemeine Laune war eher unweihnachtlich.

Theresa wollte wissen, wer dieses Mädchen war, dessen Namen sie eben aufgeschnappt hatte. Ich erzählte im Telegrammstil von Lea Lassalle, die vermutlich gar nicht vergessen worden war, sondern eigene Pläne verfolgt hatte. Vielleicht lag die Kollegin gar nicht so falsch mit ihrer Theorie. Vielleicht saß Lea auch längst zu Hause und fragte sich, wo ihre Eltern geblieben sein mochten. Ich erzählte auch von ihrem Vater, der in einer der Ausnüchterungszellen des Reviers Mitte seinen rekordverdächtigen Rausch ausschlief und sich nicht im Geringsten für das Schicksal seiner Tochter interessierte.

„Der Arzt meint, von Rechts wegen dürfte der Mann gar nicht mehr am Leben sein. Drei Komma irgendwas. Er scheint eine gut trainierte Leber zu haben.“

„Und die Mutter?“

Ich zuckte die Achseln. „Von einer Mutter war bisher nicht die Rede.“

Die Bahn bremste. Mannheim Hauptbahnhof, verkündete die weibliche Tonbandstimme. Alles drängte zu den Türen, als wäre plötzlich Feuer ausgebrochen. Theresa und ich waren unter den Letzten, die ausstiegen. Wir hatten es nicht eilig. Wir waren zum Vergnügen hier.

Auf dem Weg zur Bahnhofshalle kam mir ein Gedanke. „Wäre es schlimm, wenn wir einen kleinen Umweg machen würden?“, fragte ich.

Theresa lächelte nachsichtig und zog mich fester an sich. „Vergiss nicht, ich bin seit zwanzig Jahren mit einem Polizisten verheiratet.“

Erfreulicherweise stand keine Schlange am Infopoint.

„Aus Straßburg?“, fragte eine müde Frau in schlecht gebügelter Uniform. „Augenblickchen … Der letzte kommt hier um ein Uhr achtundzwanzig in der Nacht an. Der nächste dann erst wieder am Morgen. Sechs Uhr zweiundzwanzig.“

„Denkst du etwa, der Vater hat seiner Tochter was angetan?“, wollte Theresa wissen, als wir in Richtung Innenstadt schlenderten. Ein kalter Wind ging, aber wir waren klug genug gewesen, uns warm anzuziehen. Theresa nutzte den Aufenthalt an der frischen Luft, um eine Zigarette zu rauchen. Nach einem kläglich gescheiterten Versuch, ihr Laster aufzugeben, versuchte sie inzwischen zumindest, ihren Tabakkonsum ein wenig einzuschränken.

„Momentan ist es zu früh, etwas zu denken.“ Ich küsste sie mitten auf den Mund. „Und außerdem ist jetzt Wochenende.“

Der Himmel war grau, aber doch nicht so unfreundlich, wie es durch die beschlagenen Fenster der Bahn gewirkt hatte. Die Sonne war als blasse Scheibe zu erahnen, der Regen hatte schon wieder aufgehört.

Die Straßenbahn war doch eine gute Idee gewesen, stellten wir fest. An jeder Ecke staute sich der Einkaufsverkehr. Vor jeder Tiefgarage wartete eine lange Schlange. Schon von ferne hörten wir das „White-Christmas“-Gedudel vom Weihnachtsmarkt rund um den historischen Wasserturm. Wir sahen uns an und merkten, dass wir beide hungrig waren.

Auch der gemeinsame Besuch eines Weihnachtsmarkts war eine neue Erfahrung für uns. Neue Erfahrungen seien gut, fand Theresa, weil mit der Zeit alte Erinnerungen daraus wurden. Wir bummelten über den um diese Uhrzeit nur mäßig besuchten Markt. Lichter glitzerten gegen die matte Sonne an. Gebrannte Mandeln dufteten um die Wette mit Glühwein und Punsch. Theresa hatte Appetit auf Fischbrötchen. Fischbrötchen gab es nicht.

„Du bist aber nicht schwanger oder so was?“

Sie knuffte mir ihren durch den Mantel gut gepolsterten Ellbogen in die Seite und disponierte um auf Thüringer Bratwurst. Zu groben Bratwürsten passte im Advent ein herzhafter Glühwein, beschlossen wir.

Leicht angesäuselt spazierten wir später die Heidelberger Straße entlang in Richtung Zentrum. Obwohl es erst kurz nach zwei war, schien es schon wieder zu dunkeln.

„Hast du eigentlich irgendwas mit deinen Haaren gemacht?“, fragte ich.

„Meine Haare?“ Theresa sah mich verständnislos an. „Was soll damit sein?“

„Sie kommen mir heller vor als sonst.“

Sie prustete los. „Ich habe sie aufhellen lassen, stimmt. Vor gut drei Monaten.“ Sie schmiegte den aufgehellten Kopf an meine Schulter. „Wenn es dich tröstet, Egonchen ist es auch noch nicht aufgefallen.“

Einige Meter gingen wir schweigend.

„Eigentlich kann ich dieses ganze Weihnachtsgedöns ja nicht ausstehen“, gestand Theresa schließlich. „Aber mit dir zusammen ist es doch irgendwie schön.“

„Das ist wahre Liebe“, verkündete ich pathetisch. „Mit dem Menschen, den man wirklich liebt, macht sogar Kloputzen Spaß.“

„Na ja.“ Sie klebte mir einen Kuss auf den Mund, der ein wenig nach mittelscharfem Senf und Gewürznelken schmeckte. „Das überlasse ich dann doch lieber meiner guten Tanja.“

Abwechselnd philosophierend und blödelnd zogen wir durch Kaufhäuser und ungezählte Boutiquen, und irgendwann erklärte Theresa, sie habe in der Aufregung des Stöberns leider vergessen, wonach sie eigentlich suchte. Außerdem machte ihr das Einkaufen plötzlich keinen Spaß mehr. Mir ging das Gedränge und Geschubse ohnehin auf die Nerven, und so tranken wir einen gepflegten Tee in einem heimeligen und gut geheizten Café in einer Seitenstraße. Theresa entdeckte auf der anderen Straßenseite ein kleines Hotel und betrachtete mich mit einem absolut unchristlichen Funkeln im Blick.

„Denkst du hin und wieder auch mal an was anderes als an Sex?“, fragte ich.

„Manchmal denke ich auch an Essen“, erwiderte sie ernst. „Aber gegessen haben wir ja schon.“

Ich winkte der breitestes Kurpfälzisch sprechenden Bedienung und verlangte die Rechnung.

Inzwischen war es später Nachmittag geworden. Draußen war es dunkel, und wir fanden, dass Weihnachtsshopping erstaunlich müde machte.

„Ich habe Ausgang bis zum Wecken“, schnurrte Theresa und kuschelte sich an mich. „Wie ist es bei dir?“

„Ich müsste erst eine SMS schreiben.“

„Dann tu das.“

Meine Töchter gaben sich nicht die geringste Mühe, ihre Freude über meine nächtliche Abwesenheit zu verbergen.

„Um zwölf seid ihr aber daheim, okay?“, schrieb ich sicherheitshalber zurück.

„Klar, Paps. Um zwölf. Spätestens.“

„Ist noch gar nicht sicher, dass wir übernachten.“

„Klar, Paps. Um zwölf.“

Kinder sind immer schlauer, als ihre Eltern denken. Natürlich wussten die Zwillinge, mit wem ich die Nacht verbringen würde. Sie hatten Theresa inzwischen kennengelernt. Im Oktober hatten wir sie ganz zufällig in der Stadt getroffen. Meine Töchter waren anfangs reserviert gewesen, hatten meine Liebste intensiv gemustert und ihre freundlichen Fragen artig, aber knapp beantwortet. Am Ende waren sie jedoch mit meiner Wahl zufrieden gewesen. Und Theresa hatte gestrahlt. Sie war so glücklich gewesen, wie ich sie lange nicht erlebt hatte.

Damals hatten wir beschlossen, uns einmal zu viert zum Abendessen zu treffen, weshalb die Gattin meines Chefs am kommen­den Dienstag ganz offiziell bei uns zu Gast sein würde.

Wolfgang Burger

Über Wolfgang Burger

Biografie

Wolfgang Burger, geboren 1952 im Südschwarzwald, ist promovierter Ingenieur und hat viele Jahre in leitenden Positionen am Karlsruher Institut für Technologie KIT gearbeitet. Seit 1995 ist er schriftstellerisch tätig und lebt heute in Karlsruhe und Regensburg. Seine Gerlach-Krimis wurden bereits...

Medien zu „Das vergessene Mädchen (Alexander-Gerlach-Reihe 9)“

Weitere Titel der Serie „Alexander-Gerlach-Reihe“

Ein Ermittler, der aus der heutigen Krimilandschaft nicht mehr wegzudenken ist: Alexander Gerlach löst seit vielen Jahren hochbrisante Fälle in Heidelberg.

Pressestimmen
ka-news.de

„320 Seiten bestes Lesefutter.“

SüdhessenWoche

„Ein hochspannender Krimi.“

Rhein-Neckar-Zeitung

„Eine der besten Krimireihen Deutschlands (...) Man möchte Wolfgang Burgers neuen Roman am liebsten nicht mehr aus der Hand legen.“

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