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Das Haus der leeren Zimmer

Das Haus der leeren Zimmer

Lesley Turney
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Roman

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Das Haus der leeren Zimmer — Inhalt

Als Amy von ihrer Freundin Julia und deren kleiner Tochter um Hilfe gebeten wird, packt sie umgehend ihre Koffer und reist nach Somerset. Doch in dem düsteren Haus am See ist nichts so, wie es sein soll. Julia ist schwermütig, und die kleine Viviane hat kaum Spielgefährten. Bald beginnt das kleine Mädchen von einer unsichtbaren Freundin zu erzählen, Caroline. Doch Caroline ist auch der Name von Julias älterer Schwester, die im Haus der Familie unter mysteriösen Umständen zu Tode kam. Keiner der Dorfbewohner scheint über sie sprechen zu wollen – selbst der hilfsbereite Nachbar Daniel schottet sich ab …

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 01.02.2017
Übersetzt von: Monika Köpfer
480 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-97490-5
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Leseprobe zu „Das Haus der leeren Zimmer “

Prolog

Blackwater, Somerset, Juli 1931


Es war ein wunderschönes Schmuckstück, eine zierliche Goldkette mit einem Anhänger in Gestalt zweier Hände, die zu einem Herzen geformt waren, und darin eingefasst ein von winzigen Diamanten umgebener Rubin.

„Er ist über hundert Jahre alt“, hatte Madam ein paar Wochen zuvor erklärt, „und äußerst wertvoll. Das Schmuckstück befindet sich schon seit vielen Generationen im Besitz meiner Familie.“ Madams Schmuck, normalerweise sicher in einem Safe verschlossen, hatte ausgebreitet auf einem Samttuch auf dem Esszimmertisch [...]

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Prolog

Blackwater, Somerset, Juli 1931


Es war ein wunderschönes Schmuckstück, eine zierliche Goldkette mit einem Anhänger in Gestalt zweier Hände, die zu einem Herzen geformt waren, und darin eingefasst ein von winzigen Diamanten umgebener Rubin.

„Er ist über hundert Jahre alt“, hatte Madam ein paar Wochen zuvor erklärt, „und äußerst wertvoll. Das Schmuckstück befindet sich schon seit vielen Generationen im Besitz meiner Familie.“ Madams Schmuck, normalerweise sicher in einem Safe verschlossen, hatte ausgebreitet auf einem Samttuch auf dem Esszimmertisch gelegen, daneben ihre silbernen Kerzenhalter, ihr viktorianisches Teeservice und andere wertvolle Gegenstände. Sie erstellten eine Inventurliste – „für die Versicherung“, hatte sie gesagt, wenngleich das nicht der wahre Grund war. In Wahrheit wollte sie ihren jungen Gatten daran erinnern, wer hier das Sagen hatte.

Das Hausmädchen hielt Notizblock und Stift in Händen. Rubinanhänger, notierte sie in der Spalte mit der Überschrift: Beschreibung des Gegenstands.

„Ungefährer Wert?“, fragte sie die ältere Frau.

„Mindestens hundert Guineen.“

100 Guineen, schrieb das Mädchen. Der Anhänger lag auf dem tintenblauen Tuch neben der dazugehörigen Schatulle. Da sie die Farbe des Steins nicht genau erkennen konnte, streckte das Mädchen die Hand danach aus, aber Madam stieß sie beiseite.

„Nein, nein, du fasst ihn mir nicht an, er ist ungeheuer empfindlich“, sagte sie barsch.

Es gab jede Menge Dinge in diesem großen Haus namens Fairlawn, die das Hausmädchen nicht berühren durfte, weil sie angeblich zu unbeholfen war.

Dieses Mädchen saß nun auf dem Stamm einer riesigen Eiche, die bis vor Kurzem am Ufer des Sees gestanden hatte und nun in der grasbewachsenen Senke lag. Vor ihr breitete sich ruhig der große See aus, auf dem sich der Himmel spiegelte. Das Wasser kräuselte sich in der sanften Brise, und hin und wieder tauchte ein Fisch hervor, um nach den unzähligen Mücken zu schnappen, die über der Oberfläche schwebten. Schilfrohrsänger tappten durch das den See säumende Uferschilf, und die Trauerweiden ließen ihre schmalen, länglichen Blätter zwischen die gelben Schwertlilien herabhängen und begegneten auf dem Wasser ihrem eigenen Spiegelbild. Wiesenkerbel und Brennnesseln wuchsen neben den Ästen der umgestürzten Eiche, durchzogen von duftenden rosa und blauen Wildblumen. Abermillionen Mücken tanzten in der Luft.

Das Mädchen liebte diesen kühlen, von Licht und Schatten gesprenkelten Flecken – er erschien ihr fast wie ein geheiligter Ort.

Die Sonne erleuchtete die Wolken, die über dem Horizont hingen. Es war schon später Nachmittag. Sie wartete auf ihren Liebsten. Sie sah sich um, erblickte aber nur den See und die Bäume. Immer wieder lauschte sie, aber nur Vogelgezwitscher und das Hufgetrappel eines Pferdes waren zu hören, das auf dem Staudamm am Ende des Speichersees entlangtrabte. Vielleicht hatte er sich noch nicht freimachen können. Wie so oft.

Sie tauchte ihre Hand in die Tasche des hässlichen braunen Kleids, das sie auf Madams Geheiß bei der Arbeit tragen musste, nahm den kleinen Gegenstand heraus, blickte sich nochmals verstohlen um und öffnete die Faust: Auf ihrer Handfläche lag der Rubinanhänger auf der zusammengeringelten feinen Goldkette. Sie hielt die Halskette hoch, sodass das Sonnenlicht die Diamanten funkeln ließ und sie in winzige Splitter zerteilte. Dann schloss sie ein Auge und hielt den Rubin nah an das andere, sodass sie nur noch die reine Farbe sah und wie das Licht durch das blutrote Innere des Steins schnitt. Es war, als wäre sie selbst darin, gefangen im Edelstein.

Rechter Hand war ein Geräusch zu hören, Schritte und das Brechen eines Zweigs. Sie machte eine Faust um den Anhänger und blickte über die Schulter hinweg zurück. Er konnte es nicht sein, denn er pfiff immer leise, um sein Nahen anzukündigen. Sie kauerte sich zwischen die Äste der umgestürzten Eiche, versteckte sich im Schatten des Blattwerks. Als sie durch das Grün spähte und sah, wer es war, begann ihr Herz panisch zu pochen. Der Mann kam den Pfad entlang, der hinter der Senke vorbeiführte. Auf der Lichtung blieb er stehen und schirmte mit der Hand die Augen ab, während er auf den See hinausschaute. Er hatte sein Jackett ausgezogen und trug es über dem Arm. Das Mädchen sah seine Hosenträger, die straff über die Schultern gezogen waren, die Röte seines sehnigen Nackens, den glänzenden Schweiß auf seiner Stirn und sein dickes, schwarzes Haar.

Sie hielt den Atem an. Bewegte sich nicht. Das Herz trommelte in ihrer Brust. Er war so nah, dass sie das schwarze Muttermal auf seinem Hals erkennen konnte, die einzelnen Barthaare; sie konnte ihn trotz des scharfen Schlammgeruchs am Ufer riechen. Nur noch einen Schritt, und er würde auf sie treten. Sie wappnete sich, machte sich auf das Schlimmste gefasst, doch dann hörte sie aus der Ferne eine Stimme, die nach ihm rief. Er zögerte, doch der Ruf ertönte erneut, und diesmal drehte er sich um und kehrte auf dem Weg zurück, auf dem er gekommen war. Sie atmete langsam aus und lehnte sich an den Stamm.

Er musste gesehen haben, wie sie in Richtung See ging, und ihr gefolgt sein. Was, wenn er sie schon die ganze Zeit beobachtet hatte? Was, wenn er beobachtet hatte, wie sie den Anhänger betrachtete? War das möglich? Konnte er erraten haben, was sie da bewunderte?

Nein, dachte sie. Nein, selbst wenn er sie auf dem Baumstamm sitzen gesehen hatte, wäre er zu weit entfernt gewesen, um zu erkennen, was sie in der Hand hielt. Er konnte den Anhänger unmöglich erblickt haben.

Das konnte er nicht.

Oh, aber falls doch?


Eins

Les Aubépines, Frankreich, April 1961


Es war ein herrlicher Frühling, bereits im April war es warm genug zum Schwimmen gewesen, und die feuchten Badetücher hingen an der Wäscheleine im Garten hinter dem reizenden alten Bauernhaus der Familie Laurent, wo ich die letzten zehn Sommer verbracht hatte. Unsere Fahrräder lehnten gegen die rückwärtige Mauer, und Tennisschläger und Tennisbälle lagen auf einem Haufen neben der Tür. Die Luft roch nach dem sich herabsenkenden Tau, nach Lavendel und Liebstöckel, die wild zwischen den Kiefern auf den Dünen wuchsen, nach dem nahenden Sommer. Der Strand lag blass da, die silbrig gekräuselten Wellen liefen mal sich überschlagend, mal sanft rollend auf dem Sand aus, und weiter draußen furchte und verlagerte sich unablässig das Meer, während das Mondlicht über die Oberfläche glitt wie Öl in einer Pfanne.

Unsere Strickwesten eng um den Körper gezogen, saßen Viviane und ich in einer Dünensenke. Der Sand, der zuvor noch warm gewesen war, fühlte sich jetzt kalt an unter unseren nackten Füßen. Das Mädchen war ungewöhnlich still. Sie schrieb ihren Namen mit dem Finger in den Sand und nahm dann eine Handvoll und ließ ihn auf die Buchstaben rieseln, bis sie verschwanden.

Sie rückte näher und schmiegte den Kopf an meine Schulter. Ich legte den Arm um sie, zog sie näher zu mir heran, und so genossen wir unsere gegenseitige Wärme, wie schon immer, seit Viviane geboren wurde. Noch nie hatte ich jemanden so geliebt, und noch nie hatte ich eine so tiefe Traurigkeit empfunden. Ich hatte geglaubt, ich würde sie nie verlassen müssen. Dachte, wir würden für immer beisammen sein.

„Um wie viel Uhr fährst du morgen?“, fragte sie.

„Nach dem Frühstück.“

„Ich möchte nicht, dass du weggehst.“

„Oh, Vivi, ich auch nicht.“

Ich konnte Viviane nicht sagen, wie sehr es mir davor graute, mich von ihr und ihren Eltern, Julia und Alain, zu trennen. Ich konnte ihr nicht erklären, dass ich selbst nicht wusste, wie ich die Kraft aufbringen sollte, mich von dieser Familie loszureißen, die ich seit Vivis Geburt vor zehn Jahren so sehr liebte. Stattdessen ließ ich meine Wange auf ihrem Kopf ruhen und atmete den salzigen Duft ihres Haars ein, prägte diesen Moment tief in mein Gedächtnis ein, damit ich ihn später, wenn ich allein war und Trost brauchte, wieder abrufen könnte.

„Warum musst du gehen?“, wisperte Viviane.

„Das habe ich dir doch gesagt, mein Schatz. Meine Großmutter ist krank, und mein Vater braucht mich zu Hause. Es gibt sonst niemanden, der ihm hilft.“

„Und was ist mit mir? Was wird aus mir?“

„Oh, mein Liebling, du wirst einfach weiter heranwachsen, wirst klüger und reifer und stärker werden. Deine liebe Mutter und dein lieber Vater werden sich um dich kümmern. Und ich werde dir schreiben, und du wirst mir schreiben, und es wird fast so sein, als wären wir noch zusammen – du wirst sehen, es wird fast so sein wie immer.“

„O nein, es wird überhaupt nicht so sein.“ Viviane griff nach einem Kiefernzweig und schlug dessen Spitze in den Sand. Einen Moment lang konzentrierte sie sich darauf, dann fügte sie hinzu: „Wenigstens habe ich noch Emily. Emily wird mich nicht verlassen.“

Ich lächelte, während ich ihr über den Rücken strich. „Ich dachte, du hättest sie verlassen“, sagte ich. „Ich dachte, du hättest beschlossen, du bist jetzt zu groß für Fantasiefreunde, jetzt, wo du fast zehn bist.“

Viviane zuckte mit den Schultern. Mit der Spitze ihres Zweigs schnippte sie Sand in die Luft.

Es hatte eine Zeit gegeben, noch gar nicht so lange her, als ich auf dem Esszimmertisch ein zusätzliches Gedeck für Emily auflegen musste, als Julia, Alain und ich achtgeben mussten, ja nicht auf Emilys Zehen zu treten, als ich zur Schlafengehenszeit nicht nur Viviane, sondern auch Emily eine Geschichte vorlesen und einen Gutenachtkuss geben musste. In den letzten Wochen war ihr Name aber kaum mehr gefallen. Offenbar machte es Viviane keinen Spaß mehr, an der Hand einer unsichtbaren Person umherzustreifen und unablässig die Lippen zu bewegen, während sie beide Parts eines Gesprächs bestritt. Ein-, zweimal ertappte ich mich amüsiert dabei, wie ich es beinahe bedauerte, dass diese Fantasiefreundin in Vivianes Gunst allmählich von Tennisstunden, neuen Freundschaften und der Leidenschaft für Musik verdrängt wurde. An diesem Abend war ich sogar ein wenig erleichtert, als ich hörte, dass Emily noch immer Teil von Vivianes Leben war. Wenigstens würde sie nach meiner Abreise immer noch Emilys Gesellschaft genießen können.

Ich küsste die Kleine auf den Scheitel.

„Es ist schon spät, Liebling, und es wird allmählich kalt. Wir sollten reingehen. Deine Mami wundert sich bestimmt schon, wo wir bleiben.“

Ich stand auf und zog Viviane an den Händen hoch, ehe ich mir den Sand von den Shorts klopfte. Viviane schlang die Arme um meine Hüften.

„Ach, Amy, bitte geh nicht!“, sagte sie.

Es war eine stille, wunderschöne Nacht. Der Himmel voller Sterne, das Band der Milchstraße so breit und hell am Firmament, dass es mehr Licht als Dunkelheit zu geben schien. Der Mond warf lange Schatten auf den Sand, der Wind säuselte in den Kiefern, ließ die Nadeln wispern. Ich warf einen letzten Blick aufs Meer, ergriff Vivianes Hand und hatte das Gefühl, als würde mein Herz entzweibrechen.


Zwei

Zwei Tage später traf ich im Haus meiner Familie in Sheffield ein. Es war ein kleines einstöckiges Stahlarbeiterhaus mit jeweils zwei Räumen auf jeder Ebene, das von meiner Großmutter und ihrem Sohn, meinem Vater, bewohnt wurde, sowie ihrem schwarzen Labrador Bess. Während all der Jahre meiner Abwesenheit hatte sich kaum etwas verändert. Ich bemühte mich zu verdrängen, wie dunkel, beengt und ungemütlich alles war, und stürzte mich in meine neue Aufgabe, mich um Granny zu kümmern.

Wir hatten nie ein inniges Verhältnis gehabt, dennoch empfand ich aufrichtiges, tief empfundenes Mitgefühl für sie, das allerdings getrübt wurde durch den Gedanken, was ich aufgegeben hatte, um nach Hause zurückzukehren und sie zu pflegen. Als ich noch ein Kind war, hatte sie mir fast nie Zuneigung geschenkt, auch nicht, als ich sie dringend gebraucht hätte. Und nun, da sie mich brauchte, hatte ich die Familie verlassen müssen, die ich von ganzem Herzen liebte, um an ihr Krankenbett zu eilen.

Ich war neun, und der Krieg wütete noch, als meine wunderschöne, von mir angebetete Mutter mich zum letzten Mal küsste und mir sagte, sie gehe nur schnell Zigaretten holen, bevor sie sich das Kopftuch unter dem Kinn band, ihren Fuchskragen an den Mantel knöpfte, das Haus verließ und nie mehr zurückkam. In jener Nacht weinte ich mir schier die Augen aus dem Kopf. Am nächsten Tag kniete ich mich aufs Bett und sah hinaus, wartete darauf, dass sie um die Ecke bog und die Straße auf ihren klappernden Absätzen und mit schwingendem Rocksaum herunterkam, aber sie erschien nicht. Ich fragte die Nachbarn nach ihr, aber niemand hatte sie gesehen. Es war mir schleierhaft, warum weder mein Vater noch meine Großmutter sich um ihren Verbleib sorgte. Was, wenn sie von einer Bombe getroffen worden war? Was, wenn sie irgendwo unter Trümmern begraben lag und niemand nach ihr suchte? Ich verstand einfach nicht, warum sie sie nicht ebenso sehr vermissten wie ich.

Dad ignorierte meine Tränen und meine Fragen. Granny war aus noch härterem Holz geschnitzt.

„Sei still“, sagte sie, wenn ich schluchzend am Teetisch saß, „oder ich gebe dir einen wirklichen Grund zum Heulen.“

„Oh, bitte, Granny“, flehte ich, „bitte mach, dass Mami wieder nach Hause kommt.“

„Es wäre besser, wenn du nicht mehr an sie denkst“, antwortete meine Großmutter – was vermutlich eine für ihre Verhältnisse sanfte Art war, mir zu verstehen zu geben, dass meine Mutter für immer fortgegangen war.

Ein paar Tage, vielleicht zwei Wochen nachdem meine Mutter uns verlassen hatte, zogen Dad und ich zu Granny, und in unser Haus zog eine andere Familie ein. Dad weigerte sich weiterhin, über meine Mutter zu reden, und Granny machte ein finsteres Gesicht, wann immer ihr Name fiel. Von nun an nannte sie ihre Schwiegertochter nur noch „dieses Ding“. Meine Mutter wurde aus dem Zentrum meines Universums verbannt, sie war jemand, die nicht einmal mehr einen Namen hatte. Ich malte Daisy, ihren Namen, in den Staub auf den Dielenbrettern, ritzte ihn in den Fenstersims, pflückte hundert Gänseblümchen und schrieb ihren Namen mit diesen Blumen, denen sie ihn verdankte – daisy. Mit all meiner Willenskraft versuchte ich sie zurückzuholen. Aber es gelang mir nicht.

Mein Vater überließ es seiner Mutter, mich großzuziehen, so wie er es zuvor seiner Frau überlassen hatte. Die Nächte verbrachte er in der Gießerei, wo sie Kriegsgerät herstellten, und seine Tage, wenn er nicht schlafen konnte, widmete er der Pflege seiner Tauben oder nahm mit ihnen an Taubenrennen teil. Stets hatte er einen Ausdruck im Gesicht, der besagte, er habe wenig vom Leben erwartet und sei darin nicht enttäuscht worden.

Früh lernte ich, meine Liebe zu meiner Mutter und meine Ängste und Sorgen für mich zu behalten. Ich glaube nicht, dass ich ein besonders schwieriges Kind war. Ich gab mir Mühe, es meiner Großmutter recht zu machen, bis mir eines Tages dämmerte, dass das gar nicht möglich war. Von da an ging ich ihr, so gut es ging, aus dem Weg. Mit fünfzehn verließ ich die Schule und mein Zuhause und besuchte die Erzieherinnenschule, das Geld dafür verdiente ich mir abends und am Wochenende mit Putzen und Kellnern. Kaum hatte ich mein Diplom in der Tasche, zog ich nach Frankreich und trat meine Stelle bei den Laurents an – bei Viviane, Julia und Alain. Julia war Balletttänzerin gewesen, hatte sich aber bei einem Sturz eine schlimme Hüftverletzung zugezogen. Schwangerschaft und Geburt hatten sie zusätzlich geschwächt. Daher brauchte sie jemanden, der ihr bei der Betreuung ihres Säuglings half, und zum Glück fiel ihre Wahl von allen Bewerberinnen für diese Stelle auf mich. Offiziell war ich zwar eine Angestellte, aber ich fühlte mich vom ersten Tag an wie ein Familienmitglied. Ich lernte, was es hieß, Zuneigung und Vertrauen zu erfahren. Ich lernte, was es hieß, jemandem etwas zu bedeuten und geschätzt zu werden. Und zum ersten Mal seit dem Verschwinden meiner Mutter hatte ich das Gefühl der Zugehörigkeit. Im Gegenzug widmete ich mich den Laurents mit Herz und Seele. Ich hätte alles für sie getan – alles.

Doch dann lag meine Großmutter im Sterben, und ich war die Einzige, die sich um sie kümmern konnte. Also hatte ich keine andere Wahl, als im Frühling 1961 nach Sheffield zurückzukehren, und es fiel mir unsäglich schwer. Zwölf Jahre war es her, seit ich von zu Hause weggegangen war. Es war nicht einfach, mich wieder daran zu gewöhnen, in dem alten, beengten Haus zu wohnen, mit dem Hund durch die Straßen meiner Kindheit zu spazieren und die früheren Nachbarn wiederzusehen, aber ich gab mir redlich Mühe. Je mehr Mühe ich mir gab, desto weniger Zeit hatte ich nachzugrübeln, was ich zurückgelassen hatte. Und so versuchte ich, nicht an Frankreich und die Laurents zu denken, ich versuchte es wirklich, ganz einfach, weil ich diese schmerzliche Sehnsucht nicht ertragen konnte, sobald ich an sie dachte.

Ich pflegte Nanny so liebevoll und geduldig, wie ich es vermochte, und während ich ihr löffelweise warme Brühe einflößte und ihre Stirn mit einem feuchten Tuch kühlte, schlossen wir beide eine Art Frieden. Ich sorgte dafür, dass sie es möglichst bequem hatte, und bemühte mich, ihre Einsamkeit und Ängste zu mildern. Ich redete mit ihr. Wollte eine Beziehung zu ihr aufbauen, aber da sie so schwach war, vermied ich es, sie mit tiefer gehenden Gesprächen zu belasten. Die Vergangenheit war für uns beide schmerzhaft gewesen, und ich wollte in ihren letzten Tagen keine schmerzlichen Erinnerungen heraufbeschwören. Stattdessen plapperte ich über banale Dinge: das Wetter, die Gebäude in der Innenstadt, die niedergerissen wurden, die Blumen, die ich im Schrebergarten gepflückt und in einer Vase auf den Fenstersims gestellt hatte. Granny sah mich blinzelnd aus ihren wässrigen, blassblauen Augen an. Ich wusste nicht, ob sie mich hörte und verstand, was ich sagte. Oft schlief sie ein, während ich redete. Nur selten sagte sie etwas zu mir – wenn sie wollte, dass ich ihr etwas brachte, deutete sie einfach nur darauf. Aber sie sah mir bei meinen Verrichtungen zu, und ich hatte das Gefühl, dass sie glücklich über meine Anwesenheit war.

Eines Nachmittags bat sie mich um ein Glas Ingwerwein.

„Es ist leider keiner da“, sagte ich. „Ich wusste gar nicht, dass du Ingwerwein magst. Soll ich dir stattdessen ein Glas Sherry bringen?“

„Bitte“, sagte sie im Flüsterton. „Ich habe solche Lust auf Ingwerwein.“

„Na gut. Kein Problem, Granny. Ich gehe welchen holen.“

Ich klingelte bei der Nachbarin, Mrs Botham, und fragte sie, ob sie sich solange zu meiner Großmutter setzen könne. Die Nachbarin trocknete sich die Hände an ihrer Schürze und meinte, natürlich, es mache ihr überhaupt nichts aus.

Ich lief zum Black Horse hinunter. Der Wirt des Pubs kannte meinen Vater, daher plauderte ich ein bisschen mit ihm, und bis ich wieder zu Hause war, war meine Großmutter gestorben.

„Sie ist ganz friedlich eingeschlafen“, sagte Mrs Botham. Sie hatte verquollene Augen und eine gerötete Nase. „Gerade hat sie mir noch erzählt, wie lieb du zu ihr bist, und im nächsten Moment ist sie friedlich eingeschlafen.“

„Ich hätte bei ihr sein sollen“, sagte ich.

„Ich nehme an, sie hat dich absichtlich hinausgeschickt, weil sie wusste, dass ihre Stunde geschlagen hatte, sie wollte dich schonen“, sagte Mrs Botham. Sie ergriff meine Hand und drückte sie aufmunternd. „Deine Großmutter war sehr stolz auf dich, Amy. Sie hat es dir vielleicht nie gesagt, aber sie war es, glaub mir.“

Wie nett von ihr, mir das zu versichern, dachte ich, aber ich konnte es ihr nicht glauben.


Nach Großmutters Beerdigung fühlte ich mich einsamer denn je und ließ mich treiben. Mein Vater sprach kaum mit mir. In all den Jahren, in denen ich weg gewesen war, hatte sich sein Alltagstrott so gut wie nicht verändert: Er arbeitete, schlief, kümmerte sich um seine Tauben. Und wie eh und je gurrten die Tauben in ihrem Schlag hinter dem Haus und riefen nach ihm. Als ich eines Tages an der Spüle stand und das Geschirr abspülte, blickte ich zum Küchenfenster hinaus und beobachtete, wie er sein Lieblingstier an die Wange schmiegte und mit den Fingerknöcheln über die weichen Rückenfedern strich, sah, wie sich seine Lippen im blauen Zigarettendunst bewegten, während er liebevoll auf die Taube einredete. Ich biss mir auf die Lippen, um den Schmerz zu verdrängen, der in mir aufstieg. Wie so oft schon fragte ich mich, was es wohl war, das es meinem Vater unmöglich machte, mir auch nur einen Bruchteil der Zuneigung zu geben, die er seinen Tauben schenkte. Das Gleiche, vermutete ich, das meine Mutter dazu gebracht hatte, mich ohne ein Wort und ohne einen Blick zurückzulassen. Ich holte die Ingwerweinflasche aus dem Vorratsraum und schenkte mir ein Glas ein.

Ich schrieb Alain und Julia und fragte, ob ich wieder zurückkommen könne. In ihrer Antwort teilte Julia mir mit, dass inzwischen Alains alte Tante Audrine zu ihnen gezogen sei und sich um Viviane kümmere. „Sie war offenbar furchtbar einsam, bevor sie zu uns kam, deswegen bringe ich es nicht übers Herz, sie zu bitten, wieder zu gehen“, schrieb Julia. „Es tut mir so leid, meine liebe Amy, aber wir werden dir helfen, eine andere Stelle zu finden.“ Und das taten sie auch. Sie stellten den Kontakt zu einer alten Freundin von Julia her, der Leiterin von St Theresa’s, einem Kinderheim am anderen Ende von Sheffield. Bridget Adams suchte eine besonnene junge Erzieherin als Hausmutter für die kleineren Kinder. Die Stelle erforderte, dass man dort wohnte. Ich schrieb einen Bewerbungsbrief, legte das von Alain verfasste Empfehlungsschreiben bei und erhielt postwendend eine Zusage. Es wäre gut, wenn ich die Stelle so bald wie möglich antreten könne, teilte man mir in dem Antwortschreiben mit.

An diesem Abend kochte ich für meinen Vater gebratene Leber mit Zwiebeln und reichte ihm Tee dazu, bevor er seine Nachtschicht in der Gießerei antrat. Als er fertig gegessen hatte, räumte ich den Tisch ab und erklärte ihm, dass ich ausziehen würde. Nie hätte ich mit seiner überraschten Reaktion gerechnet.

„Ich dachte, du würdest noch eine Zeit lang bleiben“, sagte er. Er fischte seine Zigarettenpackung aus der Westentasche und klopfte sich eine heraus, während er es vermied, mich anzusehen.

„Wenn du mich brauchst, Dad, wenn du willst, dass ich noch bleibe, dann tue ich es“, sagte ich.

Er steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen, und ich reichte ihm die Streichhölzer. Eine Erinnerung überkam mich: wie er und ich Zigarettenbilder auf einem Brett anordneten, das Dad später einrahmte und an die Wand des Schlafzimmers hängte, das wir uns teilten: Ich schlief nachts in dem Bett, er tagsüber. Ich erinnerte mich, wie wir Seite an Seite am Küchentisch saßen, in der Nähe des Herds, wo es am wärmsten war. Ich erinnerte mich an den Geruch seines Haaröls und an die Wärme, die sein Körper ausstrahlte, an die unzähligen winzigen Brandnarben auf seinem Unterarm, die durch die schwarzen Haare zu sehen waren, daran, wie steif sich die Karten anfühlten, jede von ihnen ein Miniaturmeisterwerk.

„Welche magst du am liebsten, Birdie?“, fragte er. Er nannte mich immer Birdie.

„Die da!“ Ich deutete auf Loretta Young. Grinsend ließ ich die Beine unter dem Stuhl baumeln.

„Das ist auch meine Lieblingskarte“, erwiderte mein Vater und stupste mich kumpelhaft mit der Schulter an, und ich war so stolz, dass wir den gleichen Geschmack hatten.

Jetzt riss er das Streichholz an und kniff die Augen zusammen, während er die Flamme an das Zigarettenende hielt.

„Und der Hund?“, fragte er, ohne mich anzusehen. „Ich habe keine Zeit, mich um Bess zu kümmern. Was soll aus ihr werden?“

„Ich nehme sie mit“, sagte ich, „sie haben es mir erlaubt.“

„Na gut.“

Unter dem Eindruck der Erinnerung, die mich zuvor überkommen hatte, versuchte ich, erneut eine Beziehung zwischen uns herzustellen. „Ich hoffe, du wirst nicht einsam sein, allein hier im Haus, wenn ich weg bin, Dad. Aber an den Wochenenden kann ich bestimmt vorbeischauen. Wenn du möchtest, kümmere ich mich auch weiter um deine Wäsche und den Einkauf.“

„Das ist nicht nötig“, sagte mein Vater. „Ich komme schon zurecht.“ Er schnippte das Streichholz in die Spüle, stand auf und ging durch die Hintertür in den Hof hinaus. Ich hörte, wie er seine Tauben rief: „Kommt, ihr Hübschen, wo seid ihr? Wo seid ihr, hm?“

Einen Moment lang beobachtete ich ihn, aber dann spürte ich, wie mir die Tränen in die Augen traten. Ich ging nach oben, um zu packen.


Drei

Seit drei Monaten war ich in dem Kinderheim, und der Sommer 1961 ging allmählich in den Herbst über. Meine Arbeit war oftmals ermüdend, mein Tag lang. Die Belegschaft war unterbesetzt, das Kinderheim unterfinanziert. Abgesehen von der absolut notwendigen Grundversorgung, war es von Spenden abhängig, und die Kinder liefen in gebrauchten, abgetragenen Sachen herum, hatten nur wenig Spielzeug und keine Bücher. Wir Angestellten machten das Beste aus dem wenigen, was vorhanden war. Ich hing sehr an den Kindern in meiner Obhut, denn einige von ihnen hatten schon viel durchgemacht in ihrem kurzen Leben, die armen Kleinen. Trotz unserer bescheidenen Mittel sorgten wir dafür, dass sie Spaß hatten. Unermüdlich organisierten wir Schlagball- oder French-Kricket-Spiele, eine abgespeckte Kricketversion für Kinder, und nie schienen sie dieser Freizeitaktivitäten müde zu werden. Mein neues Leben hätte sich nicht stärker unterscheiden können von meinem alten bei den Laurents – nie hatte ich es dort mit Läusen, Würmern oder Krätze zu tun gehabt, geschweige denn mit unterernährten Kindern, solchen, die Kinderlähmung oder Rachitis gehabt hatten, oder Kindern, die nie mit Messer und Gabel zu essen gelernt hatten. Es war ganz anders und manchmal sehr schwer für mich, aber ich liebte meine Arbeit dennoch. Die kleinen Fortschritte, die wir Tag für Tag erlebten, wogen alle Mühen auf. Nichts war befriedigender, als zu erleben, wenn ein traumatisiertes Kind endlich die Hand nach mir ausstreckte, oder wenn ein Teenager, der von seinem Stiefvater grün und blau geschlagen worden war, zum ersten Mal von Herzen lachte.

Noch immer vermisste ich die Laurents, aber ich tauschte mit Julia einmal wöchentlich Briefe aus, und auch Viviane schrieb mir jedes Mal ein paar Zeilen, während Alain hin und wieder eine Ansichtskarte beilegte. Die drei waren mittlerweile aus ihrem Strandhaus in Aubépines in ihre Pariser Wohnung zurückgezogen, wo sie, wie jedes Jahr, die Wintermonate verbrachten. Ich kannte die Familie, ihre beiden Domizile und ihre Gepflogenheiten so gut, dass ich mir mühelos vorstellen konnte, was sie gerade taten, welche Restaurants sie besuchten, wie sie ihre Tage verbrachten. Sie hatten mich für Weihnachten zu sich eingeladen, aber ich wollte dazu beitragen, den Heimkindern ein möglichst schönes Weihnachtsfest zu bereiten, sodass wir uns darauf verständigt hatten, dass ich im neuen Jahr nach Paris fliegen würde, sobald ich ein paar Tage freinehmen konnte.

Ich freute mich sehr auf meinen Urlaub, sparte für mein Flugticket, überlegte mir Geschenke für Julia und Alain und was ich mit Viviane unternehmen könnte – mit ihr in die Parks und Museen gehen, die Marktstände an den Seineufern und ihre Lieblingscafés besuchen. Ich stellte mir vor, wie wir beide händeschwingend durch die Straßen spazierten, so wie wir es immer taten, ihre kleine Hand in meiner großen, wie unser Atem in der kalten Luft Wölkchen bildete. Ich rief mir Paris ins Gedächtnis mit seinen langen, vornehmen Avenues, den hellen Prachtbauten, sah uns auf unserer Lieblingsbrücke stehen, wo unter uns die Boote auf der Seine entlangtuckerten, hinter uns Notre-Dame, ich roch den Duft von Kaffee und Crêpes, stellte mir die hohen Häuser mit ihren verschnörkelten Balkonen vor, die hübschen Lichter in den Geschäften, die Musik und die je nach Jahreszeit wechselnde Dekoration: Ich konnte es kaum erwarten, wieder dort zu sein.

Dann kam der Brief.

Ich erkannte zwar Julias Handschrift, war an diesem Morgen jedoch mit den Gedanken woanders, weil sich ein Inspektor der Schulaufsicht für einen Besuch im St Theresa’s angekündigt hatte und ich sicherstellen wollte, dass alles glattlief. Daher fiel mir zunächst nicht auf, dass der Brief in einem weiteren Umschlag steckte und im Gegensatz zu Julias früheren Briefen nicht auf blauem Luftpostpapier geschrieben war. Auch die britische Briefmarke bemerkte ich zunächst nicht. Ich riss das Kuvert einfach auf, zog den Briefbogen heraus, entfaltete ihn. Julias Handschrift, normalerweise schwungvoll und selbstsicher, war krakelig und blass. Ich atmete tief durch und begann zu lesen:


Liebe Amy,

ich weiß nicht, wie ich diesen Brief beginnen soll, weil Dir das, was ich Dir mitzuteilen habe, wehtun wird. Es widerstrebt mir, aber ich muss es Dir leider sagen, weil kein Weg daran vorbeiführt.

Alain ist tot.

Wie kann das sein? Wie kann Alain gegangen sein, und die Erde dreht sich noch immer? Du weißt, er war meine große Liebe, mein Leben, der Sinn meines Daseins. Er war mein Ein und Alles.

Aber er ist nicht mehr, Amy.

Ich stehe nun ohne meinen geliebten Mann da. Und Viviane ohne Vater. Es ist auch kein Geld mehr da, und so blieb uns nichts anderes übrig, als nach England zurückzukehren, in das alte Cottage meiner Eltern in Blackwater, wo ich aufgewachsen bin. Und hier sind wir nun gestrandet, Amy, in Somerset, in der Vorhölle. Wir sind völlig verzweifelt. Ich brauche Dich, Viviane braucht Dich. Ich kämpfe mit meiner eigenen Trauer, wie soll ich da ihre lindern?

Niemand kennt uns so gut wie Du. Bitte komm zu uns. Bitte komm und hilf uns. Wir schaffen es ohne Dich nicht.

Für immer Dein, in Liebe und in großer Trauer,

Julia


Bridget, die Heimleiterin, nahm die Nachricht von Alains Tod schockiert auf. Mir gegenüber hätte sie nicht verständnisvoller sein können. Natürlich müsse ich zu Julia und Viviane fahren, sagte sie spontan. Sie nahm mich in den Arm und versicherte mir, dass sie im Gegensatz zu Julia auch ohne mich zurechtkommen würde. Ich versicherte ihr, irgendwann zurückzukehren. Ich sagte den Kindern Auf Wiedersehen, auch wenn es mir unendlich schwerfiel, und erklärte ihnen, warum ich gehen musste. Die Kleinen weinten, als sie hörten, dass Bess, der liebe Hund, mich begleiten würde, und ich musste ihnen versprechen, dafür zu sorgen, dass sie sie nicht vergaß. Dann packte ich meine Sachen und machte mich erneut auf die Reise. Ich fühlte mich wie ein Blatt im Wind, unfähig, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, und stattdessen dazu verdammt, immer nur auf gewisse Umstände zu reagieren, von einer Krise zur nächsten zu hetzen.

Nach einer nicht enden wollenden Reise stieg ich als einziger Fahrgast in Blackwater, einer abgelegenen Haltestelle, der letzten auf dieser Strecke, aus dem Zug. Ich war mit Bess fast schon den ganzen Tag unterwegs und schrecklich müde. Gleichzeitig spürte ich das überwältigende Bedürfnis, endlich bei Julia und Viviane zu sein, mich um sie zu kümmern und ihnen zu helfen, gepaart mit der Angst davor, in welcher Verfassung ich sie wohl vorfinden würde.

Hinzu kam meine eigene Trauer. Ich hatte Alain geliebt. Er war ein so großartiger Mensch gewesen, ein Enthüllungsjournalist mit großem Herzen, ganz und gar integer und getrieben von der Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Angst und Sorge lasteten auf mir und gesellten sich zu dem Gefühl des Bedauerns, das ich seit dem Tod meiner Großmutter empfunden hatte.

Ich stieg aus dem Zug und wuchtete meine Reisetasche auf den Bahnsteig. Der Lokführer ging an mir vorbei, wünschte mir einen schönen Abend und verschwand in der Dunkelheit. Ich folgte ihm den Bahnsteig entlang, der lediglich von einer einzigen gelben Lampe beleuchtet wurde, und durch ein Tor hinaus auf ein Sträßchen, das nur in eine Richtung verlief. Es war gespenstisch still, ein beunruhigend abgelegener Ort. Er hatte etwas an sich, wovon ich zuerst nicht wusste, was es war – vollkommene Stille und ein kühler Lufthauch umgaben mich. Ich folgte der schmalen Straße, und der Ruf einer Eule, die in dem bewaldeten Gelände jenseits der Straße jagte, machte mir Angst, ebenso der Klang meiner eigenen Schritte, während Bess dicht neben mir herging.

Nach einer Weile stieg das Sträßchen scharf an und mündete in eine weitere Straße, wo die Temperatur plötzlich um einige Grad fiel. Erst da erkannte ich, was diese seltsame Kälte und die sämtliche Geräusche dämpfende Stille hervorrief. Ich fand mich auf einem Damm wieder, der das schmale Ende eines langen, breiten Sees begrenzte – eines Stausees. Er lag ausgestreckt vor mir, dunkel und gewaltig, und Nebel trieb wie Dampf über seine Oberfläche. Der Mond war zwar von Wolken verdeckt, aber silbrige Helligkeit durchdrang den Nebel und das Wasser darunter, und all das zusammen – das Licht in der nächtlichen Dunkelheit und der Geruch des Wassers, die weite spiegelnde Oberfläche – verursachte ein befremdliches Gefühl, als befände ich mich in einem Traum. Als wäre ich nicht ich selbst, sondern jemand anderes.


Vier

Julias Wegbeschreibung folgend, ging ich vorbei an einem großen, von einer Mauer mit einem Tor umgebenen Haus und weiter die ansteigende Straße entlang, die zu dem Dorf hinaufführte. Schließlich bog ich in die Nebenstraße ab, in der Julia aufgewachsen und in die sie nun zurückgekehrt war. Die Wolken hatten den Mond freigegeben, und ich konnte das Reservoir Cottage klar erkennen, die Hälfte eines Doppelhauses, das frei stehend auf einem erhöhten Grundstück stand. In dem dahintergelegenen Tal schimmerte das Mondlicht auf dem Wasser und darüber der gespenstische Nebel, und mir war, als würde der See nach mir rufen. Mein Blick wurde unwiderstehlich von ihm angezogen, und ich musste mich zwingen, ihn abzuwenden. Schließlich betrachtete ich wieder das Cottage.

Es war das exakte Spiegelbild des Nachbarhauses, mit einem Giebeldach über dem Erkerfenster und einer Garage auf einer Seite. Der Vorgarten war verwildert und ungepflegt. Ich stieß das hölzerne Gartentor auf, das unter den schwarzen Zweigen einer Eibe kaum zu erkennen war, und ging den Pfad zum Eingang entlang. Neben der Garage waren Holzscheite unordentlich aufeinandergestapelt, und Efeu überwucherte den Pfad, die Mauern und die Baumstämme. Bess zögerte, als widerstrebte es ihr, sich dem Haus zu nähern. Sie stieß ein ängstliches Knurren aus.

„Du Dummerchen“, sagte ich zu ihr, „es gibt keinen Grund, sich zu fürchten.“

Ich klingelte. Als sich nichts rührte, öffnete ich die unverschlossene Tür. Eine lange Hängelampe mit gelblichem Lampenschirm und einer schwachen Glühbirne beleuchtete spärlich eine schmale Holztreppe. An den Rändern war sie angestrichen, während sich in der Mitte der Stufen ein farbloser Streifen emporzog, wo einmal ein Läufer gelegen haben musste. Irgendwo im Haus tickte eine Uhr, aber abgesehen davon war es still.

„Hallo!“, rief ich. „Ist jemand da?“

Im Zimmer zu meiner Linken waren Geräusche zu hören. Eine Tür ging knarrend auf, und Viviane tauchte aus dem Schatten auf. Sie war dünn und blass, keine Spur von ihrer einstigen Lebhaftigkeit, aber im selben Moment, da ich ihr liebes Gesicht erblickte, machte mein Herz einen Sprung. Sie rannte mit ausgestreckten Armen auf mich zu, als wäre sie ein kleines Kind, und Tränen rollten ihr über die Wangen.

„O Vivi!“, wisperte ich. „Mein Liebling!“

Ich drückte sie an mich und wiegte sie hin und her. Sie war ein Stück gewachsen, seit ich sie zuletzt gesehen hatte, und ihr Haar war zu einem Bob geschnitten, was sie älter wirken ließ, aber sie war noch immer dieselbe, noch immer meine Viviane, mein geliebtes Mädchen. Eine Zeit lang verharrten wir eng umschlungen.

„Du bist wirklich gekommen“, sagte sie schluchzend.

„Ach, meine Süße, natürlich bin ich gekommen! Ich bin sofort losgefahren, als ich erfahren habe, was passiert ist. Mein armes Mädchen, mein armes, liebes Ding.“

Noch immer drückte ich Viviane an mich, strich ihr übers Haar, atmete ihren Duft ein, während ihre Tränen meinen Mantel nässten. „Schsch“, sagte ich und redete beruhigend auf sie ein: „Ist schon gut, jetzt bin ich ja hier. Ich bin hier, mein Schatz“, bis ihr Weinen nachließ. Dann trocknete ich mit meinem Taschentuch ihre Tränen und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. Schließlich hatte sie sich so weit gefangen, dass sie mir ein tapferes Lächeln schenkte. Es wurde breiter, als ich ihr sagte, dass Bess von nun an ebenfalls zur Familie gehören würde. Julia hatte sich immer noch nicht blicken lassen. Inzwischen war ich schon mindestens fünf Minuten im Haus, und Viviane hatte die ganze Zeit geweint, und trotzdem war ihre Mutter nicht gekommen, um nach ihr zu sehen.

„Wo ist deine Mami, Süße?“, fragte ich. „Schläft sie?“

Viviane zwirbelte das Taschentuch um ihre Finger. „Nein, sie ist im hinteren Zimmer.“

„Und deine Großtante Audrine?“, fragte ich. „Wo ist sie?“

„Sie wollte nicht mit nach England kommen. Sie ist in Frankreich geblieben.“

„Ach so. Bringst du mich jetzt zu deiner Mami?“

Viviane nickte.

Ich folgte ihr den Flur entlang und in einen schmalen, düsteren Raum, der nur vom trüben Schein einer altmodischen Stehlampe erhellt wurde. Julia saß mitten im Zimmer in einem Schaukelstuhl und wippte langsam vor und zurück, wobei die gebogenen Kufen ein knirschendes, wehmütiges Geräusch auf dem Dielenboden erzeugten. Sie hatte eine Decke über die Knie gebreitet und trug einen Schal um die Schultern. Ihr Gesicht war mit Schatten überzogen und ohne jeden Ausdruck – so reglos, als wäre es aus Stein. In ihrem Schoß lag Alains Lieblingspullover, der cremefarbene Fair-Isle-Baumwollsweater, den er immer über den Schultern getragen hatte.

Viviane blieb in der Tür stehen und hielt sich an Bess’ Halsband fest. Ich ging langsam auf Julia zu. Sie sah weder zu mir hoch, noch hörte sie zu schaukeln auf. Nichts deutete darauf hin, dass sie mich wahrgenommen hatte. Ich hockte mich vor sie hin, damit ich auf gleicher Augenhöhe mit ihr war. Endlich sah sie mich an, und die Traurigkeit, die ich in ihrem Gesicht erkannte, war so tief gehend, dass ich nur mit Mühe meine Tränen zurückdrängen konnte.

Ich ergriff ihre Hand.

„Julia, meine liebe Julia“, sagte ich sanft. „Ich bin ja jetzt hier, um euch zu helfen. Ich werde bei euch bleiben, solange du mich hierhaben willst.“

Julia hielt meine Hand fest, als gäbe es sonst nichts mehr auf der Welt, an das sie sich klammern könnte, als hätte jede andere Hand, die sie festhalten hatte wollen, sie losgelassen.

„Er ist tot“, sagte sie im Flüsterton.

„Es tut mir so leid.“

„Weißt du, wie er gestorben ist?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Die Polizei hat ihn erschossen.“

„Die Polizei?“

„Er hat mit einer Gruppe Algerier in einem Café gesessen und ist in einen Aufruhr geraten. Dann haben sie ihn erschossen und sein ganzes Vermögen eingefroren, solange die Untersuchungen andauern. Wir sind völlig mittellos, Amy.“

„Wir werden schon irgendwie zurechtkommen, keine Sorge.“

„Die Pariser Wohnung und das Haus am Meer sind bereits weg. Das hier ist alles, was wir noch haben. Wenn ich dieses Cottage nicht geerbt hätte, wüsste ich nicht, was wir tun würden.“

„Ich dachte, das Cottage wäre vermietet?“

„Das hätte es eigentlich sein sollen“, erwiderte Julia. „Der Immobilienmakler gibt sich wirklich Mühe, aber die Mieter sind nie lange geblieben. Ich nehme an, wir hatten Glück, dass es leer stand, als wir es brauchten.“

Ich gab Julia einen Kuss auf die Wange. Ihre Haut fühlte sich kalt an.

„Wir werden es irgendwie schaffen, versprochen.“

„Ich kann dir keinen Lohn geben“, sagte sie. „Ich kann dir gar nichts geben.“

„Das macht nichts. Das spielt jetzt keine Rolle. Ich bin nicht gekommen, um für dich zu arbeiten, sondern weil ich euch beide von Herzen gernhab.“

„Ach, Amy!“

Ich streichelte Julias Wange.

„Wenn es dir ein bisschen besser geht, sagst du mir, was ich für dich tun kann. Bis dahin kümmere ich mich um den Haushalt und um das, was sonst zu erledigen ist. Du brauchst dich um nichts zu sorgen. Das Wichtigste ist, dass wir drei beisammen sind. Und wir werden es schaffen“, sagte ich tapfer, doch meine eigenen Worte klangen hohl in meinen Ohren.


Fünf

Während Julia in ihrem Schaukelstuhl blieb, ließ ich mich von Vivi, die fest meine Hand umfasste, durchs Haus führen. Es war ein viktorianisches Cottage, und wenngleich es recht groß war, waren die Flure schmal und seltsam verwinkelt, mit vielen Kranzleisten und dunklem Anstrich. Die Zimmer waren verhältnismäßig geräumig und hatten hohe Decken, aber heimelig waren sie nicht, denn das viele Holz wirkte erdrückend, die Einrichtung veraltet. Die Läufer, die einmal die Treppen und Flure bedeckt hatten, waren entfernt worden, nur im Wohnzimmer lag noch ein alter Teppich, der nicht so recht zu den Wänden passte. Er musste einmal von guter Qualität gewesen sein, aber jetzt wirkte das überladene Muster morbid und störend. An der Wand gegenüber der Tür hingen ein großer Spiegel und ein Bild von Jesus am Kreuz in einem selbst gebastelten Rahmen. Es gab ein weiteres Bild, eine gerahmte Kreuzstich-Handarbeit, ein Mustertuch mit einem gestickten Spruch darauf, der lautete: Denn die Lebenden wissen, dass sie sterben werden, die Toten aber wissen nichts, und sie haben auch keinen Lohn mehr, denn ihr Name ist vergessen. Prediger 9:5. Die Handarbeit war von 1928 datiert.

Noch immer Vivianes Hand haltend, stand ich davor. Es war ein stümperhaftes Stück Arbeit, die Stiche unsauber und nachlässig ausgeführt.

„Hat deine Mami das gemacht?“, fragte ich.

Viviane schüttelte den Kopf. „Nein, Mamis Schwester. Es war eine Strafarbeit.“

„Ich wusste gar nicht, dass deine Mami eine Schwester hat.“

„Sie ist schon vor Langem gestorben.“

„Oh, wie traurig!“ Ich sah Viviane verstohlen an. Sie betrachtete Bess, die neben uns lag, das Kinn auf den Pfoten, und mit ihrem treuherzigen Hundeblick zu uns aufschaute.

„Zeigst du mir jetzt das Zimmer, wo ich schlafen kann?“, fragte ich in einem bemüht heiteren Tonfall.

Viviane nickte und führte mich in den oberen Stock. Die Dielenbretter im Flur knarrten unter unseren Schritten. Im Fenster auf dem Treppenabsatz hing ein Weberknecht, der vor der schmutzigen Scheibe auf- und abwippte, die alten Vorhänge waren verblichen, und auf dem Fenstersims lag eine dicke Staubschicht. Im Vorübergehen erhaschte ich einen Blick auf den See weiter unten, und die saubere, silbrige Stille, mit der er dalag, raubte mir schier den Atem.

Schnell sah ich mich im oberen Stockwerk um. Das größte, vormals eheliche Schlafzimmer lag am Ende des Flurs. Auf dem Bett lagen Julias Kleider verstreut, der Frisiertisch war übersät mit ihren Kosmetikutensilien und Cremes, aber die hübschen zierlichen Tiegel und Fläschchen vermochten die Trübsal des Raums nicht zu mildern, hervorgerufen durch die düsteren Ecken und den Kleiderschrank, der an der Wand gegenüber dem Bett bedrohlich groß wirkte.

Vivianes Zimmer gleich nebenan war viel kleiner, aber gefälliger proportioniert, das Einzelbett und der Schrank füllten es fast ganz aus.

„Das war Mamis Zimmer, als sie noch klein war. Weiter vorne auf dem Flur gibt es ein größeres“, sagte sie. „Aber ich wollte neben Mami schlafen.“

„Natürlich, das ist doch klar!“

Erneut zog mich das Fenster magisch an. Der Mond stand jetzt höher am Himmel, und Wolkenfetzen trieben vorüber. Der Garten hinter dem Haus war abschüssig. Ein ziemlich großes Nebengebäude, eine Art Schuppen, hob sich als schwarze Silhouette vor dem Grundstückszaun ab. Jenseits des Zauns erstreckte sich eine große, zum Stausee abfallende und von Bäumen gesäumte Weide. Vage konnte ich die Lichter des großen Hauses ausmachen, an dem ich zuvor vorbeigekommen war, und die Straße, die auf dem Staudamm verlief. Am jenseitigen Seeufer war eine Ansammlung dicht an dicht stehender ebenerdiger Häuser zu erkennen, deren Fenster teilweise hell erleuchtet waren.

„Was ist das für ein Ort?“, fragte ich Viviane.

„Mami hat gesagt, es war einmal ein Irrenhaus, aber jetzt ist es ein Altenheim. Unser Nachbar wohnt jetzt auch dort.“

„Hast du ihn schon mal gesehen?“

„Nein, seine Frau hat es uns gesagt. Sie hat ein paarmal bei uns vorbeigeschaut. Komm, wir sind noch nicht fertig.“

Das Bad befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs, an dessen Ende es zwei weitere Türen gab. Die erste führte zu einer Abstellkammer, die bis auf ein hässliches Bett mit Metallgestell und eine kleine Kommode leer war. Viviane sah zu mir herauf.

„Hier kannst du schlafen“, sagte sie in entschuldigendem Tonfall. Bestimmt dachte sie jetzt so wie ich an das wunderschöne Zimmer, das wir uns in der Pariser Wohnung geteilt hatten, mit den bodentiefen Fenstern, den Leinenvorhängen, den herrlich hohen, weichen Matratzen, dem Kristalllüster, den Wollteppichen, die so dick waren, dass man mit den Füßen darin versank, und wo es nach dem Zitronenwachs duftete, mit dem die Zugehfrau die Holzmöbel polierte, und nach den stets frischen Blumen in den Silbervasen.

„Das ist doch prima“, sagte ich so zuversichtlich, wie ich es vermochte, und ich lächelte, um ihr zu zeigen, dass ich es auch wirklich so meinte. Dann hievte ich meine Reisetasche auf das schmale Bett, bevor wir wieder auf den Flur hinausgingen.

Die Tür nebenan war zu, aber im Schloss steckte ein Schlüssel. Eine kleine Holztafel war in die Tür eingelassen. Ein schlichtes Oval mit acht in schwarzer Farbe geschriebenen Buchstaben darauf: Caroline. Um die Tafel herum waren Kratzspuren, als hätte jemand vergeblich versucht, sie zu entfernen.

Ich sah von dem Namensschild zu Viviane. Sie knabberte an den Nägeln.

„War das das Zimmer deiner Tante?“, fragte ich.

Vivi nickte.

„Sollen wir mal einen Blick hineinwerfen?“

Das Mädchen zuckte mit den Schultern.

Ich drehte den Schlüssel und wollte die Hand auf den Türknauf legen, aber plötzlich spürte ich einen Widerwillen, als widerstrebte es mir, etwas anzufassen, was schon lange tot war. Viviane beobachtete mich, und mir war, als verstünde sie genau, was ich fühlte, als erginge es ihr genauso.

„Mami und ich glauben, dass da drinnen Mäuse sind“, sagte sie leise. „Manchmal können wir sie hören.“

„Vor Mäusen braucht man sich nicht zu fürchten“, sagte ich. Ich drehte den Knauf und schob die Tür auf, die ächzend über den Boden schabte.

Ich betätigte den Lichtschalter, und die Glühbirne, die von der Mitte der Decke baumelte, flackerte auf. Es war eiskalt im Zimmer.

Oberflächlich betrachtet, unterschied sich der reizlose, rechteckige Raum kaum von den anderen Zimmern des Cottage. Die Tür war vertäfelt und hatte einen dunklen Bakelitknauf, die Sockelleisten waren tief und abgeschrägt. Aber im Unterschied zu den Wänden der anderen Zimmer waren diese nicht angestrichen, sondern bis zur Höhe der Bildschiene tapeziert. Die Tapete hatte einen unschönen gelblichen Farbton und war mit schmalen vertikalen Streifen bedruckt, zwischen denen sich ein gelbbraunes Muster emporwand. In den Ecken hingen Spinnweben. Carolines Zimmer wirkte vernachlässigt. Es musste schon seit vielen Jahren leer stehen.

„Lass uns wieder runtergehen“, wisperte Vivi und zog mich am Arm.

„Ja, lass uns gehen.“


An diesem ersten Abend kochte ich uns aus den Zutaten, die ich in der Speisekammer fand, ein improvisiertes Abendessen. Während wir am Küchentisch saßen, starrte Julia in ihre erkaltende Suppe, die sie, soweit ich es mitbekommen hatte, noch nicht einmal angerührt hatte. Schweigend saßen wir da, und die einzigen Geräusche waren das Ticken der Uhr und das gelegentliche leise Klappern von Besteck gegen Geschirr. Als die Uhr zur nächsten halben Stunde einmal schlug, zuckten wir alle zusammen.

Anschließend machten Vivi und ich mit dem Hund einen kurzen Spaziergang. Hinter den geschlossenen Vorhängen des Erkerfensters im Nachbarhaus brannte Licht. Ich nahm eine Bewegung wahr, offenbar beobachtete uns jemand.

„Wer wohnt dort?“, fragte ich Vivi.

„Mrs Croucher. Die Frau vom Arzt.“

„Dann war der alte Mann, der jetzt im Altenheim ist, also Arzt?“

Vivi nickte.

„Und seine Frau, magst du sie?“

„Sie hat uns Marmeladenplätzchen gebracht und Lebensmittel für uns eingekauft.“

„Wie nett von ihr.“

„Mhm.“

Wir folgten der schmalen Straße. Bess blieb immer wieder stehen und schnüffelte an der Erde unter den Hecken. Der Mond warf ein helles Licht, aber im Schatten der Bäume war es sehr dunkel. Unverwandt blickte ich nach links zum See – der jetzt fast gänzlich von dichtem Nebel verhüllt wurde. Ich schlug den Mantelkragen hoch. Viviane suchte tastend nach meiner Hand. Ihre Finger waren kalt.

„Ich habe dich so vermisst“, sagte sie.

„Ach, mein liebes Mädchen, und ich dich.“

„Ich bin so froh, dass du gekommen bist.“ Viviane hielt einen Moment lang inne, dann fügte sie hinzu: „Und Caroline sagt, sie freut sich auch.“

„Caroline?“

Vivi deutete auf die leere Seite neben sich. „Emily ist in Paris geblieben. Caroline ist meine neue Freundin.“

Lesley Turney

Über Lesley Turney

Biografie

Lesley Turney arbeitet als Texterin und lebt mit ihren drei Söhnen und ihrem Partner in Bath, einer historischen Stadt in der Grafschaft Somerset, deren heiße Quellen bereits zur Römerzeit genutzt wurden. Nach „Die fremde Frau“, „Das Dornenhaus“ und „Das Flüsterhaus“ ist „Das Haus der leeren Zimmer“...

Kommentare zum Buch
Gutes Buch!
Powermama5 am 05.03.2017

Ein spannender Roman,welcher sich nur schwer ablegen lässt.Das Ende lässt sich während des Lesens nicht erahnen. Ein Blick auf die grausame, vielleicht auch noch heutige Zeit. Verständlich, spannend und aufschlussreich! Sehr zu empfehlen!

Ein schreckliches Geheimnis
leseratte1310 am 14.02.2017

Amy muss die Familie Laurent, bei der sie tätig ist, verlassen, weil ihre Granny sterbenskrank ist und ihre Hilfe benötigt. Sie verlässt Viviane, Julia und Alain nur ungerne. Einige Monate später erhält sie einen verzweifelten Brief von Julia. Alain ist tot und Julia mit ihrer Tochter nach Somerset gereist. Sie benötigt dringend Amys Hilfe. Aber es ist etwas seltsam in dem alten, düsteren Haus und das hat Einfluss auf die Bewohner. Julia ist schwermütig und Viviane fehlt der Kontakt zu anderen Kindern. Sie schafft sich eine unsichtbare Freundin, die Caroline heißt - Caroline wie Julias ältere, verstorbene Schwester. Niemand will über Caroline reden. Was ist in der Vergangenheit wirklich passiert? Warum hält sich der hilfsbereite Daniel zurück? Der Schreibstil ist einfach und gut zu lesen. Die Geschichte spielt im Jahr 1961. Doch diese geheimnisvolle Geschichte um Caroline reicht weit in die Vergangenheit. Das Schicksal meint es nicht gut mit Julia Laurent, denn der unverhoffte Tot ihres Mannes wirft sie aus der Bahn, und dann steht sie mit ihrem Kind auch noch mittellos da. Zum Glück gehört ihr das Haus in Somerset, wo sie unterkommen können. Aber auch dort sind sie vom Wohlwollen der Dorfbewohner abhängig. Mir tut Viviane leid, da ihre Mutter sich zurückzieht, statt sich um ihr Kind zu kümmern. Alles hängt an Amy, die es auch nicht leicht hatte. Amys Mutter ist irgendwann einfach verschwunden und weder der Vater nur die Großmutter hatten eine liebevolle Beziehung zu dem Mädchen. Der Vater schenkte seinen Tauben mehr Zuneigung als seiner Tochter. Eigentlich habe ich mich zu keiner der Personen hingezogen gefühlt. Erst als das Geheimnis aufgedeckt wird, hatten einige Personen mein Mitgefühl. Es ist einfach nur erschreckend, was Menschen anderen Menschen antun können. Aber genauso erschreckend ist es, dass es Menschen gibt, die solche Taten hätten verhindern können und einfach nur weggesehen haben. Obwohl die Geschichte am Anfang etwas zähflüssig verlief, wollte ich doch wissen wie es weitergeht. Als dann klar wurde, worum es bei dem Geheimnis geht, über das niemand reden wollte, wurde es interessanter aber auch bedrückender. Wirklich gepackt hat mich das Buch nicht.

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