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Das Blut der LilieDas Blut der Lilie

Das Blut der Lilie

Jennifer Donnelly
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Roman

„Spannend zu lesen wie Jennifer Donnelly in ›Das Blut der Lilie‹ die Gegenwart mit den Ereignissen aus dem 18. Jahrhundert verquickt.“ - Ruhr Nachrichten

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Das Blut der Lilie — Inhalt

Seit ihr kleiner Bruder auf tragische Weise ums Leben kam, ist Andis Herz fest verschlossen. Bis sie das faszinierende Tagebuch einer jungen Frau findet, die einst ebenfalls einen geliebten kleinen Jungen verlor – vor mehr als zweihundert Jahren, in der Französischen Revolution. Andi folgt ihrer Spur bis in die Tiefen der Pariser Katakomben und findet dort schließlich den Schlüssel zu Liebe und Vergebung.

€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 12.11.2012
Übersetzt von: Angelika Felenda
448 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-27449-4
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€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 12.11.2012
Übersetzt von: Angelika Felenda
448 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-95315-3
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Leseprobe zu „Das Blut der Lilie“

Für Daisy,
die mein Herz weit geöffnet hat


Ich fand mich in einen finstren Wald verschlagen,
Weil ich vom geraden Weg mich abgewandt.
Wie schwer ist’s doch von diesem Wald zu sagen,
Wie wild, wie rau und dicht er war, voll Angst und Not,
Schon der Gedanke nur erneuert noch mein Zagen;
Nur wenig bitterer ist selbst der Tod.


Dante
Die Göttliche Komödie
Hölle



Und zu einem Ort ich komme, wo nichts glänzt


Dante



Wer’s kann, der kann’s.
Wer’s nicht kann, legt Platten auf.
Wie Cooper van Epp. Er steht in seinem Zimmer – das den gesamten fünften Stock eines schönen [...]

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Für Daisy,
die mein Herz weit geöffnet hat


Ich fand mich in einen finstren Wald verschlagen,
Weil ich vom geraden Weg mich abgewandt.
Wie schwer ist’s doch von diesem Wald zu sagen,
Wie wild, wie rau und dicht er war, voll Angst und Not,
Schon der Gedanke nur erneuert noch mein Zagen;
Nur wenig bitterer ist selbst der Tod.


Dante
Die Göttliche Komödie
Hölle



Und zu einem Ort ich komme, wo nichts glänzt


Dante



Wer’s kann, der kann’s.
Wer’s nicht kann, legt Platten auf.
Wie Cooper van Epp. Er steht in seinem Zimmer – das den gesamten fünften Stock eines schönen alten Hauses in der Hicks Street einnimmt – und versucht, die Beats von John Lee Hooker an irgendeinen Hip-Hop-Horror anzugleichen. Er hat Equipment für zwanzigtausend Dollar, aber keinen Schimmer, wie man es benutzt.
„Das ist der Blues, Mann“, kräht er. „Das ist Memphis-Stil.“ Er hält inne, um sich den zweiten Scotch an diesem Morgen einzugießen. „Das ist früher und heute zusammen. Brooklyn und Bale Street gleichzeitig. Kents rauchen und zum Frühstück Bourbon trinken. Das alles fehlt uns jetzt. Alles, was wir brauchen …“
„… ist Hunger, Krankheit und keine Aussicht nach oben zu kommen“, sage ich.
Cooper schiebt seinen Filzhut zurück und lacht wiehernd. Er trägt ein Muskelshirt und eine alte Anzugweste. Er ist siebzehn, weiß wie Schnee, stinkreich, und versucht, wie ein Blues-Man aus dem Mississippi-Delta auszusehen. Was ziemlich daneben geht. Er sieht eher aus wie Ed Norton aus der Fünfziger-Jahre-Comedyshow Honeymooners.
„Armut, Coop“, füge ich hinzu. „Die brauchst du. Das ist der Ursprung des Blues. Aber das wird schwierig für dich. Ich meine, du als Sohn eines Top-Bankers und so.“
Sein blödes Grinsen verblasst. „Mann, Andi, wieso machst du mich immer so an? Warum bist du immer so …“
Simone Canovas, die Tochter eines Diplomaten, unterbricht ihn. „Ach, lass gut sein, Cooper. Du weißt, warum.“
„Wir alle wissen das. Es wird langsam langweilig“, sagt Arden Tode, Kind eines Filmstars.
„Und noch was“, sage ich, ohne auf sie einzugehen, „Talent. Du brauchst Talent. Weil John Lee Hooker ganze Wagenladungen davon hatte. Schreibst du überhaupt Musik, Coop? Spielst du selber welche? Ider stöpselst du bloß das Zeug von anderen Leuten zusammen und reklamierst den Mist, der dabei rauskommt, als eigenes Werk?“
Coopers Blick wird eisig. Sein Mund zuckt. „Du bist wirklich ätzend. Weißt du das?“
„Weiß ich.“
Das bin ich. Ganz zweifellos. Es gefällt mir, Cooper zu demütigen. Ich würge ihm gern eins rein. Es fühlt sich gut an. Besser als der Whiskey seines Dads, besser als das Gras seiner Mom. Weil ein paar Sekunden lang auch ein anderer leidet. Ein paar Sekunden lang bin ich nicht allein.
Ich nehme meine Gitarre und spiele die ersten Akkorde von Hookers Boom Boom. Schlecht, aber es funktioniert. Cooper flucht und stürmt hinaus.
Simone funkelt mich böse an. „Das war gemein, Andi. Er hat doch so eine empfindsame Seele“, sagt sie und rennt ihm nach. Arden hinter ihr her.
Simone schert sich einen Dreck um Cooper oder seine Seele. Sie sorgt sich bloß, er könnte unsere freitagmorgendliche Frühstücksparty kippen. Sie geht nie in die Schule ohne Dröhnung. Keiner tut das. Wir alle brauchen was, irgendein drogengesättigtes Kraftfeld, um die harte Hand der Erwartung abzuwehren, die uns wie Bierdosen zu zerquetschen droht, sobald wir einen Fuß an diesen Irt setzen.
Ich höre mit Boom Boom auf und gleite langsam zu Tupelo über. Keiner schenkt mir die geringste Beachtung. Weder Coopers Eltern, die in Cabo in den Ferien sind, noch das Dienstmädchen, das rumrennt und die Fenster aufreißt, um den Rauch abziehen zu lassen. Auch meine Klassenkameraden nicht, die iPods tauschen und sich einen Song nach dem anderen reinziehen. Wir laden keine Hits aus den Charts runter. Dafür sind wir uns zu schade. Solche Songs sind für Kids in der staatlichen Schule. Aber egal. Wir sind auf der St. Anselm, der angesehensten Privatschule von Brooklyn. Wir sind was Besonderes. Was Außergewöhnliches. Wir sind wie eine Supernova, jeder Einzelne von uns. Das sagen jedenfalls unsere Lehrer, und das kriegen unsere Eltern eingebleut, die 30 000 Dollar im Jahr dafür zahlen.
In diesem Jahr, unserem letzten, geht’s um den Blues. Und um William Burroughs, Balkan Soul, deutsche Counter-Tenöre, japanische Girlbands und New Wave. Diese Mischung ist wohl überlegt. Wie alles andere, was wir tun. Je abwegiger unsere Interessen, desto mehr zeugen sie von unserem Genie.
Während ich hier sitze und Tupelo klimpere, schnappe ich ein paar Gesprächsfetzen auf.
„Also wirklich, man kann sich A Flock If Seagulls nicht mal annähern, ohne sich in metafiktive Paradigmen zu verheddern“, sagt jemand.
Und: „Plastic Bertrand kann meiner Meinung nach am besten als postironischer nihilistischer Referentialist verstanden werden.“
Und: „Aber, vergiss nicht, New Wave hat seine Bedeutung aus der eigenen Bedeutungslosigkeit bezogen. Mann, die Tautologie war absolut beabsichtigt.“
Und dann: „Wasn’t that a mighty time, wasn’t that a mighty time …“
Ich blicke auf. Der Junge, der die Strophe aus Tupelo singt, ein berüchtigter Aufreißer aus der Slater, einer weiteren Schule in den Heights, sitzt plötzlich am anderen Ende des Sofas. Grinsend rutscht er immer näher, bis sich unsere Knie berühren.
„Du bist gut“, sagt er.
„Danke.“
„Bist du in einer Band?“
Ich spiele mit gesenktem Kopf weiter, also schlägt er eine forschere Gangart an.
„Was ist das?“, fragt er und beugt sich vor, um an dem roten Band um meinen Hals zu ziehen, an dem ein silberner Schlüssel hängt. „Der Schlüssel zu deinem Herzen?“
Ich könnte ihn umbringen, weil er ihn berührt hat. Ich würde gern etwas sagen, das ihn zu Staub zermalmt, aber ich kriege nichts raus. Die Worte bleiben mir im Hals stecken. Ich kann nicht sprechen, also hebe ich die Hand – die mit den vielen Totenkopfringen – und balle sie zur Faust.
Er lässt den Schlüssel los. „Hey, tut mir leid.“
„Lass das“, sage ich und schiebe den Schlüssel unter mein Hemd. „Mach das nie wieder.“
„Ikay, okay. Bleib locker, du Irre“, sagt er und geht auf Abstand.
Ich lege die Gitarre in den Koffer und mache mich auf den Weg zu einem Ausgang. Vordertür. Hintertür. Fenster. Egal. Als ich das Wohnzimmer halb durchquert habe, spüre ich eine Hand auf meinem Arm.
„Jetzt komm. Es ist Viertel nach acht.“
Es ist Vijay Gupta. Präsident der Ehrengesellschaft, des Debattierclubs, des Schachclubs und der Nachbildung der Vereinten Nationen. Diakon seiner Kirche. Freiwilliger in einer Suppenküche, Mitglied in einem Literaturzirkel und beim Tierschutzverein. Fellow des Davidson-Instituts, Stipendiat der nationalen Hochbegabtenstiftung, Gewinner des Poesie-Preises der Universität Princeton, aber leider kein Krebsüberlebender.
Irla McBride ist eine Krebsüberlebende, sie hat in ihren College-Apps darüber geschrieben und bekam eine vorzeitige Zulassung für Harvard. Chemotherapie, Haarausfall und heftiges Erbrechen schlagen außergewöhnliche Zusatzleistungen um Längen. Vijay kam bloß auf die Warteliste, also ist er immer noch in unserer Klasse.
„Ich gehe nicht“, sage ich zu ihm.
„Warum nicht?“
Ich schüttle den Kopf.
„Was ist denn?“
Vijay ist mein bester Freund. Mein einziger Freund im Moment. Ich habe keine Ahnung, warum er noch zu mir hält. Wahrscheinlich bin ich eine Art Resozialisierungsprojekt für ihn, wie die Loser-Typen, um die er sich im Ibdachlosenasyl kümmert.
„Andi, jetzt komm“, sagt er. „Du musst den Entwurf für deine Abschlussarbeit abgeben. Beezie schmeißt dich raus, wenn du’s nicht tust. Letztes Jahr hat sie zwei Schüler aus der Abschlussklasse rausgeschmissen, weil sie keinen Entwurf abgegeben haben.“
„Ich weiß. Aber ich mach’s nicht.“
Vijay sieht mich besorgt an. „Hast du heute schon deine Medikamente genommen?“, fragt er.
„Ja.“
Er seufzt. „Wir sehen uns später.“
„Ja, V. Bis später.“
Ich verlasse das Château van Epp und gehe die Promenade hinunter. Es schneit. Hoch über dem Brooklyn-Queens-Expressway setze ich mich hin, starre eine Weile auf Manhattan hinüber und spiele dann. Stundenlang. Ich spiele, bis meine Finger wund sind. Bis mir ein Nagel einreißt und das Blut auf die Saiten tropft. Bis meine Hände so wehtun, dass ich vergesse, wie sehr mein Herz schmerzt.




„Als Kind hab ich alles geglaubt, was man mir erzählt hat“, sagt Jimmy Shoes, während wir einen kleinen Jungen vorbeitapsen sehen, der eine Grinch-Figur an sich drückt. „Jeden Mist. Ich hab an den Nikolaus geglaubt, den Isterhasen, den Schwarzen Mann. Und an Eisenhower.“ Er nimmt einen Schluck aus der Bierflasche, die in einer Papiertüte steckt. „Und du?“
„Ich bin immer noch ein Kind, Jimmy.“
Jimmy ist ein alter Italiener. Manchmal sitzt er mit mir auf der Promenade. Er ist nicht ganz dicht im Kopf. Er glaubt, LaGuardia sei noch immer Bürgermeister und die Dodgers hätten Brooklyn nie verlassen. Er trägt diese alten Schuhe. Daher sein Nachname. Es sind Schuhe aus den Fünfzigern, wie die Hipster sie damals trugen, rot lackiert.
„Wie sieht’s aus mit Gott? Glaubst du an Gott?“, fragt er.
„Wessen Gott?“
„Sei nicht so oberschlau.“
„Tut mir leid. Zu spät.“
„Du gehst doch auf die St. Anselm, oder? Bringt man euch dort denn keine Religion bei?“
„Die Schule heißt bloß so. Den heiligen Anselm haben sie in die Wüste geschickt, aber seinen Namen behalten.“
„Mit Betty Crocker haben sie’s auch so gemacht, die Mistkerle. Also, was bringt man euch dort bei?“
Ich lehne mich auf der Bank zurück und denke einen Moment lang nach. „Sie fangen mit griechischer Mythologie an – mit Zeus, Poseidon, Hades, mit diesen Typen eben“, antworte ich. „Ich hab noch den ersten Aufsatz, den ich je geschrieben habe. In der Vorschule. Mit vier. Er ging über Polyphem. Der war Schafhirte. Und Zyklop. Und Kannibale. Er wollte Idysseus fressen, aber Idysseus ist entkommen. Er hat ihm mit einen Stock das Auge aus gestochen.“
Jimmy schenkt mir einen Blick, der höchsten Unglauben ausdrückt. „Solchen Mist bringen sie euch im Kindergarten bei? Du nimmst mich wohl auf den Arm?“
„Ich schwör’s. Danach haben wir die römische Mythologie durchgenommen. Dann die Nordischen Sagen. Die Gottheiten der amerikanischen Eingeborenen. Heidnische pantheistische Überlieferungen. Keltische Gottheiten. Buddhismus. Jüdischchristliche Traditionen. Und islamische Studien.“
„Wozu das denn, zum Teufel?“
„Weil sie wollen, dass man die Welt durchschaut. Für sie ist es wichtig, dass man Bescheid weiß.“
»Worüber Bescheid weiß?
„Dass es ein Mythos ist.“
„Was ist ein Mythos?“
„Alles, Jimmy. Das Ganze.“
Jimmy schweigt eine Weile, dann sagt er: „Dann kommst du also aus dieser noblen Schule raus und hast nichts? Rein gar nichts, woran du dich halten kannst? Nichts, woran du glauben kannst?“
„Na ja, vielleicht an eines …“
„Woran?“
„An die transformative Kraft der Kunst.“
Jimmy schüttelt den Kopf. „Das ist ein Verbrechen. Das sollten sie einem Kind nicht antun. Das ist Kindesmissbrauch. Möchtest du, dass ich sie anzeige?“
„Könntest du das?“
„Um so was kümmert man sich. Ich hab Freunde bei der Polizei“, sagt er und nickt vielsagend.
Ja, denke ich. Dick Tracy wird sich gleich an den Fall machen.
Ich packe meine Sachen ein. Meine Füße sind fast erfroren. Ich war stundenlang hier draußen. Jetzt ist es halb drei. Noch ein halbe Stunde bis zum Unterricht. Es gibt nur eine einzige Sache, die mich dazu bringt, in die Schule zu gehen: Nathan Goldfarb, der Leiter des Musikbereichs in St. Anselm.
„Hey, Kleine“, sagt Jimmy, als ich aufstehe, um zu gehen.
„Was?“
Er fischt einen Vierteldollar aus seiner Tasche. „Kauf dir eine Eiersahne. Eine für dich und eine für deinen Schatz.“
„Ach komm, Jimmy. Das kann ich nicht annehmen.“
Jimmy hat nicht viel. Er lebt in einem Asyl auf der Hicks Street und kriegt bloß ein paar Dollar Taschengeld die Woche.
„Nimm es. Ich will, dass du es nimmst. Du bist ein Kind. Du solltest mit deinem Liebsten in einer Milchbar sitzen, nicht in der Kälte rumhängen, als hättest du kein Zuhause, und mit Pennern wie mir reden.“
„Also gut. Danke“, sage ich und versuche zu lächeln. Es bringt mich um, sein Geld zu nehmen, aber es nicht zu nehmen, würde ihn umbringen.
Jimmy erwidert mein Lächeln. „Lass dir einen Kuss geben von ihm. An meiner Stelle.“ Er hebt den Finger. „Aber bloß einen. Auf die Wange.“
„Das mach ich“, antworte ich. Ich habe nicht den Mut, ihm zu gestehen, dass ich schon ein Dutzend Typen hatte. Ider dass es so was wie Wangenküsse nicht mehr gibt. Wir sind im einundzwanzigsten Jahrhundert, und da heißt es mitmachen oder du bist weg vom Fenster.
Ich strecke die Hand aus, um den Vierteldollar zu nehmen. Jimmy stößt einen leisen Pfiff aus.
„Was?“
„Deine Hand.“
Ich sehe sie an. Mein eingerissener Nagel blutet immer noch.
Ich wische das Blut an meiner Hose ab.
„Das solltest du behandeln lassen. Es sieht schlimm aus“, sagt er.
„Ja, wahrscheinlich schon.“
„Du musst doch Schmerzen haben, Kleine. Tut’s weh?“
Ich nicke. „Ja, Jimmy. Die ganze Zeit.“




„Miss Alpers?“
Erwischt. Ich bleibe stehen. Dann drehe ich mich langsam um. Ich kenne diese Stimme. Jeder in St. Anselm kennt sie. Es ist Adelaide Beezemeyer, die Direktorin.
„Haben Sie einen Moment Zeit?“
„Nicht wirklich, Miss Beezemeyer. Ich bin auf dem Weg zum Musikunterricht.“
„Ich rufe Mr. Goldfarb an und lasse ihn wissen, dass Sie sich verspäten. In mein Büro bitte.“
Sie winkt mich nach drinnen und ruft Nathan an. Ich stelle meinen Gitarrenkoffer ab und setze mich. Die Uhr an der Wand zeigt 15.01. Eine kostbare Minute meines Unterrichts einfach vergeudet. Sechzig Sekunden Musik, die unwiederbringlich verloren sind für mich. Meine Beine beginnen zu zittern. Ich drücke auf die Knie, damit es aufhört.
„Kamillentee?“, fragt Beezie beim Auflegen. „Ich habe gerade eine Kanne gemacht.“
„Nein, vielen Dank.“
Ich sehe einen Irdner auf ihrem Schreibtisch. Mein Name steht darauf – Diandra Xenia Alpers. Nach meinen beiden Großmüttern. Ich habe ihn in Andi abgeändert, sobald ich sprechen konnte.
Ich wende den Blick von dem Irdner ab – er kann nichts Gutes heißen – und beobachte Beezie, die geschäftig umhergeht. Sie sieht aus wie ein Hobbit – klein und struppig. Sie trägt immer Birkenstocksandalen, egal zu welcher Jahreszeit, und lila Wechseljahre-Klamotten. Unerwartet dreht sie sich um und sieht, dass ich sie beobachte, also lasse ich den Blick durch den Raum schweifen. Auf dem Fensterbrett stehen Vasen, von der Decke hängen Pflanzgefäße, auf einem Sideboard stehen Schalen – alle in verschiedenen Erdtönen lasiert.
„Gefallen sie Ihnen?“, fragt sie und macht mit dem Kopf ein Zeichen in Richtung der irdenen Schalen.
„Ziemlich beeindruckend.“
„Sie sind von mir. Ich töpfere.“
Wie meine Mom. Sie wirft das Zeug allerdings an die Wand.
„Sie sind das Ventil für meine Kreativität“, fügt sie hinzu. „Meine Kunst.“
„Wow.“ Ich deute auf ein Pflanzgefäß. „Das erinnert mich an Guernica.“
Beezie lächelt. „Wirklich?“
„Natürlich nicht.“
Das Lächeln rutscht von ihrem Gesicht, fällt auf den Boden und zerbricht.
Jetzt schmeißt sie mich sicher raus. Ich würde es tun. Aber sie tut es nicht. Sie stellt einen Teebecher auf den Schreibtisch und setzt sich. Ich sehe wieder auf die Uhr. 15.04. Mein Bein zittert stärker.
„Andi, ich komme gleich zur Sache. Ich mache mir Sorgen“, beginnt sie und öffnet den Irdner. „Morgen fangen die Winterferien an und Ihr Berater sagt, Sie hätten noch keine Collegebewerbung eingereicht. Keine einzige. Sie haben auch noch keinen Entwurf zu Ihrer Abschlussarbeit abgegeben. Hier sehe ich, dass Sie ein Thema gewählt haben … einen französischen Komponisten aus dem achtzehnten Jahrhundert, Amadé Malherbeau … einer der ersten Komponisten, der Gitarrenstücke verfasst hat.“
„Für die sechssaitige Gitarre“, antworte ich. „Andere haben für Lauten, Mandolinen, Vihuelas und Barockflöten komponiert.“
„Interessant“, sagt Beezie. „Mir gefällt der Titel der Arbeit … Wer ist dein Daddy? Auf der Suche nach der musikalischen DNA von Malherbeau bis Jonny Greenwood.“
„Danke. Er stammt von Vijay. Er meinte, mein früherer Titel – Amadé Malherbeaus muskikalisches Vermächtnis – sei nicht ansatzweise anspruchsvoll genug.“
Beezie geht darüber hinweg. Sie legt den Irdner beiseite und sieht mich an. „Warum gibt es keinerlei Fortschritte?“
Weil ich kein Interesse mehr daran habe, Miss Beezemeyer, möchte ich sagen. Weder an Amadé Malherbeau, der Schule, dem College noch an sonst einer Sache. Weil die graue Welt, in der ich die letzten zwei Jahre mühsam überlebt habe, an den Rändern schwarz zu werden beginnt. Aber das kann ich nicht sagen. Weil ich mir damit nur eine Überweisung in Dr. Beckers Praxis für die nächste Runde geistabtötender Medikamente einhandeln würde. Ich wische mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, um Zeit zu schinden, und versuche, mir eine Antwort einfallen zu lassen.
„Mein Gott, Andi. Deine Hand“, sagt sie. „Was ist passiert?“
„Bach.“
Sie schüttelt den Kopf. „Es geht in erster Linie um den Schmerz, nicht wahr? Das Schulschwänzen, die schlechten Noten, und jetzt hast du auch noch eine Möglichkeit gefunden, deine wundervolle Musik zu benutzen, um dir selbst Schmerz zuzufügen. Es ist, als wolltest du ewig Buße tun. Du musst damit aufhören, Andi. Du musst Vergebung finden für das, was passiert ist. Vergebung für dich selbst.“
Erneut steigt Wut in mir auf, eine rasende und mörderische Wut. Genau wie in dem Moment, als der Typ aus der Slater-Schule den Schlüssel berührt hatte. Ich wende den Blick ab, versuche, diese Wut niederzukämpfen, wünschte, Beezie würde einfach mitsamt ihren grässlichen Töpfen aus dem Fenster springen und ich könnte Noten und Akkorde hören statt ihre Stimme. Bachs Suite Nr. 1, für Cello komponiert und für Gitarre transskribiert. Die sollte ich eigentlich mit Nathan spielen. Genau jetzt.
„Wie geht’s meinem Crazy Diamond?“, fragt er immer, wenn ich ins Klassenzimmer komme. Seine Lieblingsmusiker sind Bach, Mozart und die Jungs von Pink Floyd.
Nathan ist alt. Er ist fünfundsiebzig. Als Kind hat er seine Familie in Auschwitz verloren. Seine Mutter und Schwester wurden gleich nach ihrer Ankunft vergast, weil sie nicht stark genug zum Arbeiten waren. Nathan überlebte, weil er ein Wunderkind war, ein Achtjähriger, der wie ein Engel geigen konnte. Die Iffiziere mochten seine Musik, also durfte er essen, was an ihrem Tisch übrig blieb. Spät in der Nacht ging er in seine Baracke zurück und erbrach sein Essen, damit sein Vater auch etwas hatte. Das versuchte er leise zu tun, aber eines Nachts erwischten ihn die Wachen. Sie schlugen ihn blutig und nahmen seinen Vater mit.
Ich wusste, was Nathan zu meiner Hand sagen würde. Er würde sagen, dass Bluten für Bach keine große Sache sei. Er würde sagen, dass Leute wie Beethoven, Billie Holiday und Syd Barrett alles für ihre Musik gegeben hätten, also was sei da schon ein Fingernagel? Er würde keine Tragödie daraus machen. Er wusste es besser. Er wusste, was eine Tragödie ist. Er kannte sich aus mit Verlusten. Und er wusste, dass es so etwas wie Vergebung nicht gibt.
„Andi? Andi, hören Sie mir überhaupt zu?“
Beezie ist immer noch beim selben Thema.
„Ja, Miss Beezemeyer“, antworte ich ernst und hoffe, genügend zerknirscht auszusehen, um noch vor Mitternacht hier rauszukommen.
„Ich habe Briefe zu Ihnen nach Hause geschickt. Weil sie noch keinen Entwurf für Ihre Abschlussarbeit eingereicht haben. Vermutlich wissen Sie davon. Einen habe ich an Ihre Mutter und einen an Ihren Vater geschickt.“
Von dem an meine Mutter wusste ich. Der Postbote hatte ihn durch den Briefkastenschlitz geworfen. Eine Woche lag er auf dem Dielenboden, bis ich ihn beiseite kickte. Dass Beezie auch an meinen Vater geschrieben hatte, wusste ich nicht, aber das macht nichts. Er öffnet seine Post sowieso nicht. Post ist etwas für Normalsterbliche.
„Haben Sie etwas dazu zu sagen, Andi? Irgendetwas?“
„Nun, ich glaube … ich meine, ich sehe nicht, wie ich das schaffen soll, Miss Beezemeyer. Die Abschlussarbeit. Nicht wirklich. Kann ich im Juni nicht einfach mein Diplom kriegen und gehen?“
„Die Abgabe der Abschlussarbeit in zumindest zufriedenstellender Form ist die Voraussetzung für den Erhalt des Diploms. Das wissen Sie. Ihne die kann ich Sie nicht erfolgreich entlassen. Das wäre unfair gegenüber ihren Klassenkameraden.“
Ich nicke. Es interessiert mich nicht. Nicht im Geringsten. Ich will bloß unbedingt zu meinem Unterricht.
„Und wie sieht es mit Ihren Collegebewerbungen aus? Für Juilliard? Crane? Die Eastman School?“, fragt Beezie. „Haben Sie die notwendigen Aufsätze schon geschrieben? Irgendwelche Vorstellungstermine vereinbart?“
Ich schüttle den Kopf und schneide ihr so das Wort ab. Inzwischen zittern meine beiden Beine. Ich schwitze. Bibbere. Ich brauche mein Klassenzimmer. Meinen Lehrer. Ich brauche meine Musik. Dringend. Sehr dringend. Jetzt.
Beezie seufzt tief. „Sie brauchen einen Abschluss, Andi“, sagt sie. „Ich weiß, es ist immer noch schwierig. Ich weiß, wie Sie sich fühlen. Wegen Truman. Wegen dem, was passiert ist. Aber hier geht es nicht um Truman. Hier geht es um Sie. Um Ihr bemerkenswertes Talent. Ihre Zukunft.“
„Nein. Nein, das stimmt nicht, Miss Beezemeyer.“
Ich möchte die Worte zurückhalten, kann es aber nicht. Beezie meint es gut. Sie ist nett auf ihre Art. Sie kümmert sich. Das weiß ich. Aber ich kann mich nicht mehr beherrschen. Sie hätte Truman nicht erwähnen sollen. Seinen Namen nicht aussprechen. Erneut steigt Wut in mir auf, schwillt immer mehr an, und ich kann sie nicht stoppen.
„Es geht nicht um mich. Es geht um Sie“, sage ich. „Es geht um Zahlen. Wenn es letztes Jahr zwei Absolventen nach Princeton geschafft haben, möchten Sie dieses Jahr vier dort unterbekommen. Darum geht’s hier, und wir alle wissen das. Niemand zahlt Ausbildungskosten in Höhe des durchschnittlichen Jahresgehalts in New Hampshire, damit sein Kind am Ende auf einer miesen Uni landet. Die Eltern wollen Harvard, das MIT, die Brown.
Die Juilliard macht sich gut für Sie. Für Sie, Miss Beezemeyer, nicht für mich. Darum geht’s hier.“
Beezie sieht aus, als hätte sie eine Ihrfeige bekommen. „Mein Gott, Andi“, sagt sie. „Sie hätten nicht verletzender sein können, wenn Sie es darauf angelegt hätten.“
„Ich habe es darauf angelegt.“
Sie schweigt ein paar Sekunden. Ihre Augen werden wässrig. Sie räuspert sich und sagt: „Die Skizzen für die Abschlussarbeit sind fällig, wenn die Schule wieder beginnt – am 5. Januar. Ich hoffe wirklich, dass die Ihre darunter sein wird. Wenn nicht, werden Sie die Schule verlassen müssen, fürchte ich.“
Ich höre sie jetzt kaum mehr. Ich löse mich auf. In meinem Kopf, in meinen Händen ist Musik, und ich habe das Gefühl zu explodieren, wenn ich sie nicht rauslassen kann.
Ich packe den Gitarrenkoffer. 15.21 sagt die Uhr. Mir bleiben nur noch neununddreißig Minuten. Glücklicherweise sind die Gänge fast leer. Wie eine Verrückte fange ich an zu rennen. Ihne aufzupassen, rase ich los, als mein Fuß plötzlich an etwas hängen bleibt und ich durch die Luft wirble. Hart schlage ich auf dem Boden auf, spüre, wie meine Knie, meine Brust, mein Kinn aufknallen. Mein Gitarrenkoffer donnert auf den Boden und schlittert davon.
Mein rechtes Knie brennt. Ich schmecke Blut im Mund, aber das kümmert mich nicht. Mich interessiert bloß die Gitarre. Es ist eine Hauser aus dem Jahre 1920. Aus brasilianischem Rosenholz. Sie gehört Nathan. Er hat sie mir geliehen. Ich krieche zu dem Koffer. Brauche eine Weile, um den Verschluss zu öffnen, weil meine Hände so stark zittern. Als ich den Deckel schließlich hebe, sehe ich, dass alles in Irdnung ist. Nichts gebrochen. Ganz kraftlos vor Erleichterung mache ich den Koffer wieder zu.
„Hoppla.“
Ich blicke auf. Es ist Cooper. Grinsend geht er rückwärts den Gang hinunter. Arden Tode ist bei ihm. Ich hab’s kapiert. Er hat mir ein Bein gestellt. Als Rache für heute Morgen.
„Pass auf, Andi. Du könntest dir auch den Hals brechen“, sagt er.

Jennifer Donnelly

Über Jennifer Donnelly

Biografie

Jennifer Donnelly wuchs im Staat New York auf. Mit ihrer „Rosentrilogie“ begeisterte sie in Deutschland unzählige Leserinnen. Auch ihre anderen Romane „Das Licht des Nordens“, „Das Blut der Lilie“ und „Straße der Schatten“ wurden preisgekrönt und ernteten bei Presse und Lesern großen Beifall....

Pressestimmen
Ruhr Nachrichten

„Spannend zu lesen wie Jennifer Donnelly in ›Das Blut der Lilie‹ die Gegenwart mit den Ereignissen aus dem 18. Jahrhundert verquickt.“

Südhessen Woche

„Jennifer Donnelly erzählt eine von der ersten bis zur letzten Zeile hochspannende Geschichte voll großer Gefühle, Dramatik und Abenteuer, in der sich Vergangenheit und Gegenwart kunstvoll vermischen. Beste Unterhaltung mit literarischem Niveau.“

Neue Westfälische

„Skurril und spannend.“

Kölner Illustrierte

„Das neue Buch der amerikanischen Erfolgsautorin (…) bietet beste Unterhaltung, Dramatik und große Gefühle.“

Münchner Merkur

„Vergangenheit und Gegenwart mischen sich in Jennifer Donnellys intelligent gemachten Jugendroman.“

Lea

„Gefühlvoll.“

Dolomiten Tagblatt

„Beste Unterhaltung, Dramatik und große Gefühle von der amerikanischer Erfolgsautorin Jennifer Donnelly.“

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