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Brennender Hibiskus (Ein Fall für Rei Shimura 10)

Brennender Hibiskus (Ein Fall für Rei Shimura 10)

Sujata Massey
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Kriminalroman

Sujata Massey fesselt durch eine spannende Geschichte und eine geniale Heldin. - Kirkus Review

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Brennender Hibiskus (Ein Fall für Rei Shimura 10) — Inhalt

Hawaii ist die Hölle – stellt Rei Shimura fest, die auf die paradiesische Insel zu einer Geburtstagsfeier ihres japanischen Familienclans eingeladen ist. Als nach dem Fest ein verheerendes Feuer ausbricht, scheint der Brandstifter aus Reis Verwandtschaft zu kommen. Aber auch ihr Herz steht in Flammen: Vor der Küste legt ihr ehemaliger Chef Michael mit einem Segelboot an. Verwirrt versucht die Hobbydetektivin ihre Gefühle zu ordnen und mit Michaels Hilfe Licht in die dunklen Familienangelegenheiten zu bringen – ein brandgefährliches Unterfangen!

€ 5,99 [D], € 5,99 [A]
Erschienen am 01.02.2017
Übersetzt von: Sonja Hauser
272 Seiten, WMePub
EAN 978-3-492-98333-4
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Leseprobe zu „Brennender Hibiskus (Ein Fall für Rei Shimura 10)“

Eins

Als mein Vater fast starb, machte ich einen Deal mit Gott: Wenn er genas, würde ich mich bessern.

Mit Deals kenne ich mich aus; anfangs handelte ich nur mit japanischen Antiquitäten, seit einiger Zeit beschäftige ich mich auch mit internationalen Geheimnissen, allerdings nur nebenbei. Der erwähnte Deal hatte nicht allzu viel Aussicht auf Erfolg angesichts der Prognose der Ärzte und meiner eigenen Vorgeschichte als gescheiterte Buddhistin/Episkopalistin. Trotzdem wollte ich mein Bestes geben.

Falls mein Vater sich erholte, würde ich ruhiger werden, [...]

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Eins

Als mein Vater fast starb, machte ich einen Deal mit Gott: Wenn er genas, würde ich mich bessern.

Mit Deals kenne ich mich aus; anfangs handelte ich nur mit japanischen Antiquitäten, seit einiger Zeit beschäftige ich mich auch mit internationalen Geheimnissen, allerdings nur nebenbei. Der erwähnte Deal hatte nicht allzu viel Aussicht auf Erfolg angesichts der Prognose der Ärzte und meiner eigenen Vorgeschichte als gescheiterte Buddhistin/Episkopalistin. Trotzdem wollte ich mein Bestes geben.

Falls mein Vater sich erholte, würde ich ruhiger werden, nicht mehr so viel trinken, mich bei Klamottenkäufen einschränken und meine Sehnsucht nach Männern aufgeben, die ich nicht haben konnte, denn es gab ja bereits einen Mann in meinem Leben, Otoosan, meinen ehrenwerten Herrn Vater.


Mein Vater war erst ein paar Tage zuvor aus dem General Hospital in San Francisco nach Hause gekommen, als der Brief eintraf. Trotz der traurigen Umstände freute es mich, wieder in meinem Elternhaus in der Octavia Street zu sein, jenem edwardianischen Gebäude, in dem immer ein Geruch nach Möbelpolitur und Narzissen in der Luft lag. Jedoch fehlte der nach Sojasoße, weil mein Vater die ihres hohen Natriumgehalts wegen nicht mehr zu sich nehmen durfte.

Über solche und andere Dinge unterhielten mein Psychiater-Vater und ich uns während unseres nachmittäglichen Spaziergangs durch Pacific Heights. Da er sich nicht zu sehr anstrengen durfte, mieden wir die Hügel. Als wir nach Hause kamen, lag ein Stapel Post auf dem tibetischen Läufer im Eingangsbereich. Mein Vater wollte sie aufheben.

„Du sollst dich doch nicht bücken!“, ermahnte ich ihn und tat es selbst. Mein Vater hatte eine Hirnblutung erlitten, weshalb er den Rest seines Lebens Einschränkungen würde hinnehmen müssen. Leise vor sich hinbrummelnd setzte er sich auf eine mit chinesischen Schnitzereien verzierte Ulmenholzbank, um aus den Straßen- in die Hausschuhe zu schlüpfen, während ich die Post durchging. Eine Rechnung vom Designerkaufhaus Neiman Marcus: die würde ich ihm nicht zeigen. Weniger problematisch gestalteten sich die von Pacific Gas and Electric sowie der Rundbrief der San Francisco Opera. Beim Entsorgen der Werbung fiel ein schmaler Brief auf den Boden.

Die Schrift kannte ich genauso wenig wie den fremd anmutenden Namen der Straße – Laaloa – und des Orts – Kapolei. Doch auf dem Umschlag klebte eine amerikanische Briefmarke. Ich sah sie mir genauer an: Sie war in Honolulu auf Hawaii abgestempelt.

Ich kannte Hawaii von einem Botanikkurs am Ende meiner Highschool-Zeit. Jener Sommer in den Parks, Gärten und Bars von Waikiki war einer meiner schönsten überhaupt gewesen, obwohl mein Vater sich darüber beklagt hatte, dass ich auch danach noch nicht zwischen Frangipani und Tiaré-Blume unterscheiden konnte.

„Otoosan, hier ist ein Brief aus Hawaii für dich.“ Ich reichte ihm das Schreiben mit großer Geste.

Honto? Tatsächlich?“, fragte mein Vater. Er lebte seit mehr als dreißig Jahren in den Staaten und sprach fließend Englisch, auch wenn er sich mit mir lieber auf Japanisch unterhielt. Ich spielte mit dem Gedanken, auf Japanisch zu antworten, entschied mich dann aber fürs Englische, weil ich das als weniger anstrengend empfand.

„Wahrscheinlich ein Haustauschangebot für die Ferien oder so was Ähnliches.“

„Auf dem Umschlag steht ›Shimura‹…“

„Setz dich doch an den Tisch und sieh dir den Brief genauer an. Ich mach dir inzwischen eine Tasse grünen Tee.“

Während ich wartete, bis das Wasser kochte, und die Teekanne wärmte, dachte ich darüber nach, wie ruhig mein Leben geworden war. Ich hätte nie gedacht, dass das Eintreffen eines Briefs einmal das aufregendste Ereignis meines Tages werden könnte. Wenige Monate zuvor hatte ich noch im Rahmen meiner Tätigkeit für die Organization for Cultural Intelligence, einen Ableger des amerikanischen Geheimdiensts, in einer feuchten Tokioter Garage um mein eigenes und das Leben meines Chefs gekämpft. Die Frau mit dem winterweißen Trenchcoat von Yves Saint Laurent und den Lacklederstiefeln von damals unterschied sich deutlich von meinem heutigen Ich in dem T-Shirt der Japan-America Society und der Jogginghose. Jetzt hatte ich genug Zeit für Sport, Schlafen und Lesen, langweilte mich aber.

Ich stellte das Wasser, ein Sieb und mein Lieblings-cha-wan, eine grobe Teeschale von einem bekannten japanischen Töpfer, auf ein Tablett. Als ich das Esszimmer betrat, hatte mein Vater den Brief bereits gelesen und auf meinen Platz gelegt.

„Erstaunlich. Zum ersten Mal seit meiner Operation fühle ich mich richtig gut“, sagte mein Vater mit einem lebhaften Blick. „Sieh dir den Brief mal an.“

Als ich die erste Zeile des Schreibens las, wurde mir klar, warum der Umschlag so fremdartig wirkte: Toshiro, der Name meines Vaters, war mit einer kurzen Linie über dem ersten „o“ versehen, ein Zeichen, mit dem man einen langen Doppelvokal markiert. Mein Vater schrieb seinen Namen nicht so, weil es in „Toshiro“ kein solches Dop-pel-o gibt.


Aloha, Toshiro!

Darf ich mich vorstellen? Ich bin der Sohn von Yoshitsune Shimura, der vor 88 Jahren das Licht der Welt erblickte und sich glücklich schätzen kann, am 6. Juli dieses Jahres beiju zu feiern. Unsere Familien sind durch die Mutter meines Vaters, die verstorbene Harue Shimura, verbunden, die 1918 nach Oahu kam, um zu heiraten.

Nach fast einem Jahrhundert der Trennung wird es Zeit, dass unsere Familien sich wieder annähern. Die meisten Leute freuen sich ja, Verwandte auf Hawaii zu haben! Wenn Du möchtest, helfe ich Dir, eine passende Unterkunft zu finden. Ich würde Dir raten, mindestens einen Monat zu bleiben, weil es jede Menge Familienfeierlichkeiten rund um den Geburtstag herum geben wird. Bitte bring, wenn es geht, Deinen ältesten Sohn mit, und ruf mich an, sobald Du diesen Brief erhalten hast, damit wir etwas ausmachen können.

Dein Cousin

Edwin Shimura

Ich hob fragend die Augenbrauen. „Was für eine Überraschung.“

„Wie schön, dass ich das noch erleben darf!“

„Ja, aber…“

Ich wusste nicht so recht, wie ich meine Bedenken in Worte fassen sollte. „Vor ein paar Jahren habe ich mich doch mit unserer Familiengeschichte befasst, und soweit ich mich erinnere, hatte dein Großvater keine anderen Geschwister als seinen Bruder Koizumi, der nach Kioto ins Kloster gegangen ist.“

„Es gab immer Gerüchte über eine jüngere Schwester in der Familie meines Großvaters, die schon in den Kindertagen meines Vaters nicht mehr zur Familie gehörte.“

„Gerüchte?“, fragte ich interessiert.

„Einmal habe ich meinen Großvater darauf angesprochen, ihn dadurch aber so aus der Fassung gebracht, dass ich es später nie wieder gewagt habe, etwas davon zu erwähnen.“

„Warum sollte diese Großtante von dir, falls es sie tatsächlich gibt, ausgerechnet nach Hawaii gegangen sein?“

„Ich könnte mir vorstellen, dass sie eine Fotobraut war. Tausende japanischer Frauen mussten im ersten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts japanische Auswanderer heiraten, die auf den Zuckerplantagen arbeiteten. Ich glaube, es gab auch koreanische Fotobräute.“

„Stimmt. Darüber habe ich mal einen Film gesehen.“

„Harue Shimura, meine mittlerweile verstorbene Großtante“, sagte mein Vater nüchtern. „Jetzt wissen wir, dass ein weiterer Zweig unserer kleinen Familie auf Hawaii existiert.“

„Wie kann der Familienname immer noch Shimura lauten, wenn sie geheiratet und einen Sohn bekommen hat?“

„Wie du weißt, nehmen japanische Männer bei der Heirat den Namen der Frau an, wenn dies die einzige Möglichkeit ist, die Familienlinie fortzuführen.“

„Es gab aber doch zwei Brüder, die den Namen hätten weiterführen können – deinen Großvater und deinen Großonkel Koizumi, obwohl der natürlich keine Kinder hatte. Vielleicht ist Harue eine Shimura geblieben, weil sie nicht wirklich geheiratet hat.“

„Warum so negativ? Das wird sich klären, sobald wir dort sind.“

„Du spielst ernsthaft mit dem Gedanken hinzufahren?“, rief ich entsetzt aus. „Wir hören heute zum ersten Mal von diesen Leuten, und du bist noch in der Rekonvaleszenz.“ Ich fügte lieber nicht hinzu, dass die Wahrscheinlichkeit eines Schlaganfalls im folgenden Monat bei dreißig Prozent lag.

„Es geht um beiju, einen sehr wichtigen Geburtstag. Kennst du seine Bedeutung?“

„Doppelglück“, antwortete ich. „Wenn man das kanji-Zeichen für die Zahl Acht auf den Kopf stellt, sieht es genauso aus wie das für Glück. Zwei umgedrehte Achten bedeuten folglich doppeltes Glück.“

Mein Vater nickte.

„Der Achtundachtzigste ist ein wunderbarer Geburtstag – ich kann meinen eigenen kaum erwarten – und Hawaii ein wundervoller Ort zum Feiern. Ich sehe, dass du den Kopf schüttelst, aber bitte vergiss nicht, Dr. Chin hat gesagt, du sollst dich entspannen.“

Der Neurologe hatte meinem Vater tatsächlich Ruhe angeraten. Doch ich interpretierte das eher als gesunde Ernährung, Spaziergänge und leichte körperliche Übungen. „Der Flug nach Hawaii dauert sechs Stunden. Was ist, wenn du unterwegs gesundheitliche Probleme bekommst?“

„Fast immer befindet sich unter den Passagieren ein Arzt, der in einer solchen Situation helfen kann.“

„Der bist üblicherweise du, das weißt du doch.“ In Notfällen war mein Vater meist der Einzige, der sich als Mediziner zu erkennen gab.

„Na schön, ich frage Dr. Chin, bevor ich entscheide, wann es losgehen soll.“


Zwei

Meine Eltern ahnten nicht, dass ich ein Agententraining absolviert hatte. Und diese Ausbildung nutzte ich jetzt, um mehr über Yoshitsune und Edwin Shimura, unsere angeblichen Verwandten, herauszufinden.

Am Abend brachte ich meinem Vater eine Tasse dampfenden Kamillentee ans Bett, goss auch mir selbst einen auf und ging online.

Zu Yoshitsune Shimura förderte meine Recherche nichts zutage, doch das war bei einem Mann von achtundachtzig Jahren auch nicht weiter verwunderlich. Zu Edwin Shimura, dem Verfasser des Briefs, gab es allerdings mehr als genug Treffer bei Google. Besagter Edwin Shimura war fünfundfünfzig Jahre alt und wohnte in der Laaloa Street.

Das ist mein Cousin zweiten Grades, dachte ich, als ich das Bild eines Mannes betrachtete, der ein Schild mit der Aufschrift GEBT UNS UNSER LAND ZURÜCK! in der Hand hielt. Seine Augenpartie erinnerte an die meines Vaters, aber er hatte ein längeres Gesicht, offenbar das Ergebnis von Genen, die während der fast einhundert Jahre auf Hawaii diesen Zweig unserer Familie erreicht hatten.

Dann fand ich ein weiteres Foto von Edwin Shimura bei einer Demonstration mit polynesisch anmutenden Männern, wie er ein Schild mit der Aufschrift AUCH MEIN LAND WURDE GESTOHLEN hochhielt.

Edwin setzte sich also für die Rückgabe von Grund auf Hawaii ein. Während meines bereits erwähnten Botanikkurses hatte ich in einer Vorlesung über hawaiische Geschichte erfahren, dass König Kamehameha III. im neunzehnten Jahrhundert von ausländischen Missionaren und ihren auf Hawaii lebenden Nachfahren zu einer Landreform gezwungen worden war, die es ihnen erlaubte, ohne Einschränkungen Grund zu erwerben. Das führte letztendlich zum Sturz der hawaiischen Monarchie und der amerikanischen Annektierung der Inseln.

Bei meiner weiteren Beschäftigung mit den Online-Einträgen über Edwin Shimura stellte sich allerdings heraus, dass dessen Interesse an der Landrückgabe nichts mit einer Wiedergutmachung früheren Unrechts zu tun hatte. Ich las Artikel aus zwei in Honolulu erscheinenden Zeitungen, Star-Bulletin und Advertiser, in denen beschrieben wurde, wie Edwin Shimura wegen der Rechte an einem Grundstück in bester Uferlage auf der Leeseite von Oahu vor Gericht zog. Das Land gehörte Pierce Holdings, einem von frühen Zuckeranbauern gegründeten Unternehmen, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aus den Neuenglandstaaten nach Hawaii gekommen waren. Edwin argumentierte, seine Großmutter, die einmal auf einer Zuckerrohrplantage von Pierce Holdings gearbeitet habe, hätte besagten Grund kurz vor dem Zweiten Weltkrieg von Josiah Pierce, dem Patriarchen von Pierce Estate, erhalten. Da jedoch kein offizielles Dokument über eine solche Transaktion existierte, verurteilte Richter David Namioka Edwin am Ende dazu, die Verhandlungskosten von zwanzigtausend Dollar zu tragen.

Ende der Neunzigerjahre tauchte Edwin dann wieder in den Medien auf, weil er mit seinem Reisebüro bankrott ging, was er auf die rückläufigen Zahlen japanischer Touristen zurückführte. Dabei verloren fünfundachtzig Kunden, die bei ihm Reisen gebucht hatten, ihr Geld.

2005 schließlich war es Edwin erneut gelungen, sich eine Existenz aufzubauen. Nun leitete er ein Versandunternehmen, das Reinigungsprodukte auf der Basis von grünem Tee anbot. Dazu gab es keine Berichte in den Zeitungen, dafür jedoch diverse Werbeanzeigen im Internet, die alle zu derselben Seite ohne jegliche Kundensicherheit führten.

Allmählich begann dieser Edwin mich zu interessieren. Inzwischen war es in Northern Virginia früher Morgen geworden, die beste Zeit, Michael Hendricks, meinen guten Freund und früheren Chef, zu Hause zu erreichen.

„Sis“, begrüßte Michael, der bereits nach dem zweiten Klingeln ranging, mich automatisch mit meinem alten Codenamen. „Wie geht’s deinem Vater?“

Ich stellte mir vor, wie Michael sich beim Sprechen den letzten Rest Schlaf aus den eisblauen Augen rieb, und sah ihn dann ganz vor mir: sein kantiges Kinn und die dunkelbraunen, von grauen Strähnen durchzogenen Haare, die trotz seines Ausscheidens aus der Navy noch immer superkurz geschnitten waren, seinen schlanken, durchtrainierten Körper, der eher einem Zwanzigjährigen als einem Enddreißiger zu gehören schien – was ich von ein paar platonischen und ziemlich frustrierenden gemeinsamen Abenden wusste.

„Bis auf die Tatsache, dass er unbedingt verreisen will, gut“, antwortete ich.

„Das möchte ich auch. Die Straßen von San Francisco locken, doch im Moment scheint das Schicksal keine Reisen für mich bereitzuhalten.“

Zwischen Michael und mir hatte sich während unseres letzten gemeinsamen Auftrags in Tokio eine so enge Beziehung entwickelt, dass Michael sich verpflichtet fühlte, unsere Vorgesetzten in Langley darüber zu informieren. Daraufhin bat man uns zu Gesprächen mit einem CIA-Psychologen. Der stellte fest, dass Michael und ich auf fast telepathische Weise verbunden seien, ein instinktives Verstehen, das aus unserer Zusammenarbeit resultiere. Solche Beziehungen seien bei Angehörigen des Militärs und der Polizei, die sich in gefährlichen Situationen aufeinander verlassen können müssen, weit verbreitet. Folglich erachtete der Psychologe uns weder als Gefahr für andere noch füreinander.

„Was ist los?“, fragte Michael. „So früh rufst du doch sonst nicht an.“

„Stimmt. Ich bin die ganze Nacht auf gewesen. Mein Dad wurde erst vor ein paar Tagen aus dem Krankenhaus entlassen und will jetzt plötzlich nach Hawaii fliegen.“

„Nach einem Problem klingt mir das nicht gerade“, meinte Michael. „Ich würde ihn sofort begleiten. Weißt du, dass ich eine Weile dort gelebt habe, als mein Vater in Pearl stationiert war?“

„Nein. Aber lass mich bitte ausreden.“ Ich erzählte ihm von dem Brief, dem neu aufgetauchten Zweig der Familie, dem achtundachtzigsten Geburtstag und Edwins finanzieller und juristischer Vorgeschichte.

„Ich könnte seinen Namen für dich in unterschiedlichen Datenbanken abfragen. Allerdings finde ich, dass seine geschäftlichen Misserfolge dich nicht von vornherein negativ stimmen sollten. Hawaii im Juli ist einfach toll. Und in allen anderen Monaten des Jahres ebenfalls…“

„Mir gefällt Hawaii auch. Aber ich will nicht hin, wenn ich es dort mit einem zwielichtigen Menschen zu tun habe.“

„Es geht um die Geburtstagsfeier eines alten Mannes“, sagte Michael. „Besuch die Party, triff dich ein paarmal mit deinen Verwandten, und genieß ansonsten den Aufenthalt dort. Du hast dir diese Reise nach Hawaii und ein bisschen Entspannung genauso verdient wie dein Vater.“

„Ich tue die ganze Zeit nichts anderes als entspannen. Ich langweile mich zu Tode.“

„Du hast doch gerade behauptet, der Brief hätte die Laune deines Vaters deutlich gehoben! Angeblich besteht ein Zusammenhang zwischen der allgemeinen Stimmung und dem Genesungsprozess. Wenn du mehr darüber erfahren möchtest, maile ich dir eine Studie dazu.“

„Mehr interessieren mich Belege dafür, dass Edwin Shimuras Vorfahrin, diese Fotobraut namens Harue Shimura, tatsächlich aus meiner Familie stammte. Wir wissen doch nicht mal, ob wir überhaupt verwandt sind, Michael.“

„Das kannst du selber recherchieren, wenn dir so langweilig ist“, meinte Michael amüsiert.

„Ich hab schon eine Mail an eine historische Gesellschaft in Honolulu geschickt, bei der Aufzeichnungen über japanische Einwanderer lagern könnten. Und ich werde noch meinen Onkel Hiroshi in Japan anrufen. Vielleicht weiß der mehr.“

„Vergiss nicht, die Geburtenregister von Hawaii zu überprüfen.“

„Aber sie ist doch in Japan zur Welt gekommen…“ Als mir klar wurde, was er meinte, fügte ich hinzu: „Ich soll den Eintrag für Yoshitsune Shimura einsehen, um die Namen seiner Eltern herauszubekommen?“

„Genau. Erledige du das, dann versuche ich hier, mehr herauszufinden. Das kann allerdings dauern, weil ich diese Woche sehr viel zu tun habe.“

„Was ist los?“

„Wenn ich dir das verraten würde, müsste ich dich umbringen.“

„Sehr originell. Du fehlst mir wirklich, Brooks.“ Ich verwendete seinen Codenamen, um ein Gefühl der Nähe wachzurufen.

„Das will ich hoffen.“

„Wie bitte?“, fragte ich verblüfft, und noch verwirrter war ich, als Michael sich mit einem Kussgeräusch verabschiedete. Ich hatte das deutliche Gefühl, dass dem CIA diese Art der Kommunikation nicht recht wäre.


Onkel Hiroshi wusste nichts von einer Großtante Harue, hatte aber ebenfalls einen Brief von Edwin Shimura erhalten, weswegen er und sein Sohn, mein Cousin Tom, bereits nach einer Unterkunft auf Hawaii suchten.

„Es wäre doch schön, wenn wir dich und deinen Vater dort treffen könnten. Dass wir uns alle das letzte Mal gesehen haben, ist Ewigkeiten her.“

Ich hätte mich gefreut, wenn meine geliebte Tante Norie mitgekommen wäre, doch die musste offenbar gerade zur Zeit des beiju Ikebana-Kurse an der Kayama-Schule geben. Chika, meine jüngere Cousine, hatte ihre erste richtige Anstellung gefunden und war genauso beschäftigt wie meine Mutter, die uns nicht begleiten konnte, weil die feierliche Eröffnung des Designerhotels, das sie gerade ausstattete, Mitte Juni stattfinden sollte.

Auch ich hatte zu tun. Ich stand in regem E-Mail-Kontakt mit Angestellten des Japanese Cultural Center in Honolulu, die die Existenz einer Harue Shimura bestätigten, welche 1919 im Alter von zwanzig Jahren von Yokohama eingewandert und von einem Richter getraut worden sei, der auch die Namensänderung ihres Ehemannes Keijin Watanabe in Ken Shimura vorgenommen habe. Außerdem existierte ein Eintrag im Geburtenregister von Hawaii für Yoshitsune Shimura, der noch im selben Jahr zur Welt gekommen war.

Die Vermutung meines Vaters, dass Harues Mann ihren Namen angenommen hatte, bestätigte sich also. Doch den Unterlagen zufolge war Yoshitsune älter als achtundachtzig. Als ich meinem Vater das mitteilte, klärte er mich auf, dass im alten Japan die Schwangerschaft zum Lebensalter hinzugerechnet wurde. Nach dieser Rechnung sei er selbst bereits vierundsechzig und nicht erst dreiundsechzig Jahre alt und ich einunddreißig – besonders schmeichelhaft fand ich das nicht.

„Trotzdem ist etwas faul an der Sache“, widersprach ich. „Selbst wenn du der japanischen Tradition gemäß ein Lebensjahr dazuzählst, hätte Yoshitsune Shimura sein beiju schon vor zwei Jahren gefeiert.“

„Wir finden sicher mehr über die Gepflogenheiten der Familie heraus, wenn wir sie erst einmal persönlich kennenlernen“, meinte mein Vater.


„Ich hab die Schlacht verloren“, berichtete ich Michael bei unserem nächsten Telefonat. „Wir fliegen tatsächlich.“

„Mach dir darüber mal keine Sorgen. Die Datenbanken des FBI bestätigen, dass dein Onkel Edwin, seine Frau Margaret und der Großonkel keine Bank ausgeraubt und auch niemanden umgebracht haben.“

„Wie beruhigend.“

„Ich habe sogar noch bessere Nachrichten für dich, eine Überraschung.“

„Was?“, fragte ich argwöhnisch.

„Wir treffen uns auf Hawaii – vorausgesetzt, der Wind ist günstig.“

„Was soll das denn heißen? Muss ich das decodieren?“

Michael lachte. „Ich spreche vom Transpac.“

„Und was zum Teufel ist das? Klingt nach Militärübung.“

„Die längste Segelregatta der Welt – zweitausendfünfhundertzehn Meilen, um genau zu sein. Einer meiner alten Kameraden aus der Naval Academy braucht noch jemanden für seine Crew, und Langley hat mir grünes Licht gegeben.“

„Super. Ihr segelt von Annapolis?“

„Nein, es gibt einen gestaffelten Start in Südkalifornien für die unterschiedlichen Jachtklassen. Mein Kumpel Parker Drummond aus LA hat sich vor ein paar Jahren einen Vier-Fuß-Schoner geleistet, mit dem wir die Strecke in weniger als zwei Wochen bewältigen können, wenn der Wind günstig ist und wir uns anstrengen.“

„Wo auf Hawaii endet die Regatta?“

„Die Ziellinie passiert man an diesem riesigen alten Vulkan, dem Diamond Head. Wir werden am Waikiki Yacht Club anlegen; mein Freund Kurt, der auch mit von der Partie ist, hat im Hale Koa, einer Militärunterkunft mitten im Zentrum, Zimmer für uns reserviert.“

„Du wirst also ungefähr eine Woche auf Hawaii bleiben“, überlegte ich laut. „Was bedeutet, dass du länger auf See als an Land bist.“

„Ja, so ist das nun mal. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit an Land bei dir, Rei, aber dass ich diese drei Wochen überhaupt kriege, grenzt an ein Wunder. Ich hab auf die Tränendrüsen gedrückt, Kurts drei Einsätze in Afghanistan und im Irak erwähnt und gesagt, dass es für uns alle – Erik, Parker, Kurt und mich – ein Traum wäre, noch einmal miteinander zu segeln wie damals in Annapolis.“

„Ein Hoch auf die Männerfreundschaft“, spottete ich neidisch, weil Michael den größten Teil seines Urlaubs mit seinen Freunden – nicht mit mir – verbringen würde. „Ich wünsche dir eine schöne Zeit in den Weiten des Pazifiks.“

„Das darfst du dir nicht als zweiwöchige Party vorstellen“, meinte Michael. „Wahrscheinlich werden wir nicht mehr als vier Stunden Schlaf pro Tag kriegen.“

„Melde dich per Handy, sobald ihr in Sichtweite des Hafens seid“, bat ich ihn. „Ich würde dich gern begrüßen.“

„Ich hoffe, über das Satellitentelefon des Boots schon früher mit dir Kontakt aufnehmen zu können. Eine Begrüßung würde mich sehr freuen – hab ich lange nicht mehr erlebt.“ Michael klang wehmütig, und ich wusste, an wen er dachte, an Jennifer, seine Frau, die Ende der Neunziger in jungen Jahren bei einem Flugzeugattentat umgekommen war. Deshalb hatte Michael noch immer keine Freundin, und ihretwegen musste ich mich beherrschen, wenn Michael und ich zusammen waren. Wer konnte schon gegen einen Geist ankommen?

Bemüht, mir meine Niedergeschlagenheit nicht anmerken zu lassen, fragte ich: „Und wann beginnt die Regatta?“

„In drei Wochen. Wir starten vor euch.“

„Merkwürdig, nicht? Dann fliege ich möglicherweise über euch weg.“

„Ich finde das toll. Schick mir doch euren Reiseplan, sobald du mehr weißt, dann halte ich nach Flugzeugen mit der lilafarbenen Heckflosse der Hawaiian Airlines Ausschau.“


Drei

Für Michaels Organization for Cultural Intelligence (OCI) fliege ich gewöhnlich in der Businessclass, weswegen ich Gratisgetränke, halbwegs ordentliches Essen und freundliche Gesichter der Flugbegleiter gewöhnt bin. Doch diesmal zahlte mein Vater für die Tickets, was Economyclass bedeutete, wo wir froren wie die Schneider. Ich bat um Decken und bekam nur eine, die ich meinem Vater gab. Das einzige Positive war der Gratisguavensaft in der Dose.

„Auf Hawaii können wir uns den Guavensaft selber pressen“, sagte ich zu meinem Vater. „Und die Passionsfrüchte und Mangos sind auch gerade reif.“

„Du hast eine Saftpresse eingepackt?“, fragte mein Vater erstaunt.

„Die Küche in unserem Ferienhaus ist voll eingerichtet. Falls es dort wirklich keine Saftpresse gibt, besorge ich uns eben eine altmodische aus Holz.“

„Du brauchst mich nicht so zu verwöhnen“, meinte mein Vater. „Soweit ich weiß, ist frisches Obst auf Hawaii ziemlich teuer. Ich bin auch mit Saft aus der Dose zufrieden.“

„Aber der ist längst nicht so reich an Ballaststoffen, aber voller Antioxidantien“, erinnerte ich ihn.

„Willst du die ganze Reise über die Gesundheit reden?“, brummelte mein Vater. „Wenn ja, hätte ich gern deine Kopfhörer. Angeblich gibt es hier einen Kanal für traditionelle japanische Musik.“

Ich reichte ihm meine Kopfhörer und zeigte ihm, wie man sie einsteckte. Ein verzückter Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Schön“, seufzte mein Vater, schloss die Augen und lehnte den Kopf ans Fenster.

Die Bose-Kopfhörer waren ein Geschenk von Michael, vor meinem letzten Japan-Aufenthalt. Ich zahlte fünf Dollar Leihgebühr für das deutlich billigere Modell von der Fluglinie und wählte denselben japanischen Kanal wie mein Vater. Dann schlug ich einen Krimi mit dem Titel The Mamo Murders auf, der in den Vierzigerjahren auf Hawaii spielte, und las darin, bis wir landeten.


Mein Vater überstand den Flug unbeschadet, dafür traf mich bei unserer Ankunft in Honolulu fast der Schlag. Ich hatte Onkel Hiroshi und meinen Cousin Tom, die vier Stunden vor uns landeten, gebeten, ihr Gepäck zu holen, etwas zu essen und am Gate auf uns zu warten. Doch dort war niemand, und als ich die Nummer von Toms Handy wählte, meldete sich keiner. Erst nach einer Weile fand ich heraus, dass es für Flüge von und nach Japan einen eigenen Terminal gab. Und um das Ganze noch verwirrender zu gestalten, mussten alle Passagiere, egal ob Japaner oder Nichtjapaner, ihre Koffer in einem nur mit einem Shuttlebus zu erreichenden weiteren Terminal abholen.

„Onkel Hiroshi und Tom finden uns nie“, jammerte ich, als mein Vater und ich in dem stickigen kleinen Bus eingezwängt saßen. „Ich hatte keine Ahnung, dass es hier so viele Terminals gibt! Das letzte Mal war das noch nicht so.“

„Keine Sorge, die werden sich schon melden.“ Mein Vater wirkte vollkommen entspannt, als wir den Bus verließen, mit den anderen Passagieren ein Gebäude betraten und mit der Rolltreppe zur Gepäckausgabe fuhren. Da begann mein Vater zu winken und zu rufen, und wenig später entdeckte auch ich Onkel Hiroshi, der klein und kompakt gebaut war wie mein Vater und ein grünes Polohemd und eine khakifarbene Hose trug, sowie meinen größer gewachsenen Cousin Tom, der ziemlich attraktiv aussah mit seiner Jeans und dem gelben Polohemd. Um den Hals trugen sie leis aus tropischen Blumen. Zur Begrüßung verbeugten mein Vater, mein Onkel und mein Cousin sich voreinander – eine ziemlich beherrschte, allerdings der Familientradition entsprechende Reaktion der Brüder, die sich drei Jahre lang nicht gesehen hatten. Ich hielt unterdessen Ausschau nach Edwin Shimura. Offenbar hatte er Hiroshi und Tom bereits getroffen und ihnen die leis umgehängt, aber wo steckte er jetzt?

„Ihr seid wahrscheinlich müde, weil ihr so lange auf uns warten musstet“, sagte ich auf Japanisch zu meinem Onkel, der nicht besonders gut Englisch konnte.

„Aber nein“, winkte Hiroshi ab. „Edwin-san hat uns Gesellschaft geleistet. Er ist nur kurz zum Mietwagenschalter gegangen.“

„Wie nett von ihm“, sagte ich. „Spricht er Japanisch?“

„Ja“, antwortete Tom. „Aber seltsames.“

„Er klingt ein wenig nach einem Bauern“, erklärte Hiroshi. „Inaka-Japanisch, wie es im neunzehnten Jahrhundert auf dem Land gesprochen wurde. Als er den Mund aufgemacht hat, dachte ich, ich bin in einem Film.“

„Die meisten Japaner, die ursprünglich nach Hawaii auswanderten, stammten vom Land“, erläuterte ich. „Vielleicht hat sich das alte Japanisch hier erhalten.“

Allerdings nicht der japanische Stil, dachte ich fünf Minuten später, als Edwin Shimura in den Terminal hastete und uns zwei weitere leis entgegenstreckte – der eine aus roten, weißen, pink- und lilafarbenen Blumen, der andere aus gelben Nelken und schwarzen Schoten.

Aloha, irasshaimase! Willkommen! Schön, dass ihr da seid!“ Er legte mir den lei um den Hals und umarmte mich so fest, dass mir sein Geruch aus Orchideen, Schweiß und Eau de Cologne in die Nase stieg. Vor meinem Vater verbeugte er sich, bevor er ihn mit dem lei schmückte und sagte: „Endlich. Mein Cousin. Es freut mich, dich kennenzulernen.“

Cousin Edwin sprach das hawaiische Englisch, das ich von meinem Botanikkurs kannte. Es klang weicher als das amerikanische vom Festland, zog die Vokale in die Länge, verhärtete die „Ds“ zu „Ts“ und sparte sich viele Präpositionen. Ich hatte kein Problem, ihn zu verstehen, wusste aber nicht, wie es den anderen erging.

„Wie war der Flug?“, fragte Edwin grinsend, als erwartete er eine begeisterte Antwort.

„In Ordnung“, antwortete ich. „Danke fürs Abholen. Du hast sicher eine ganze Weile warten müssen.“

„Kein Problem“, meinte Edwin, dessen Miene etwas anderes verriet. „Bin in der Zwischenzeit zum Mietwagenschalter, einen besseren Wagen für euch organisieren.“

„Die gebuchte Limousine mit GPS steht leider nicht zur Verfügung“, bemerkte Tom in seinem einwandfreien Englisch. „Aber Edwin-san hat herausgefunden, dass es in dem Mietwagenunternehmen eines Freundes noch ein Fahrzeug für uns gibt.“

„Ich habe früher in der Touristikbranche gearbeitet und noch jede Menge Bekannte im und am Flughafen. Für euch steht ein Minivan mit mobilem GPS bereit! Darin ist viel mehr Platz fürs Gepäck als in einer Limousine. Du hast ja deine Tochter mitgebracht“, meinte er mit einem Blick auf mich.

Um nicht unhöflich zu werden, ging ich in Richtung Gepäckband, das sich gerade knarrend in Bewegung setzte.

„Ojisan, bleib du bei den andern. Ich helfe Rei-chan“, wies Tom meinen Vater an. Am Gepäckband fragte er mich: „Was hältst du von ihm?“

„Ich kenne ihn noch nicht lange genug, um mir ein Urteil über ihn erlauben zu können“, antwortete ich vorsichtig. „Aber du hattest schon ein paar Stunden das Vergnügen seiner Gesellschaft. Wie findest du ihn?“

„Mir macht die Sache mit dem Mietwagen Kopfzerbrechen“, gestand Tom. „Meiner Ansicht nach hätten wir mit ein bisschen Verhandlungsgeschick ein besseres Auto bekommen können, weil das ursprünglich reservierte nicht zur Verfügung steht, aber Onkel Edwin wollte unbedingt zur Agentur seines Freundes. Der Minivan ist fünf Dollar teurer als der Wagen von Hertz.“

„Fünf Dollar sind doch nicht so schlimm bei einer so kurzfristigen Buchung. Ich fürchte eher, dass ich nun nicht mehr als dritte Fahrerin eingetragen werden kann…“

„Fünf Dollar mehr pro Tag“, erklärte Tom. „Wir sind einen Monat da, das macht 150 Dollar. Was deine Eintragung als dritte Fahrerin anbelangt: Der Mann von der Agentur hat gesagt, das wäre kein Problem, wenn er deine Führerscheindaten kriegt. Allerdings kostet das noch mal drei Dollar pro Tag extra.“

„Gott sei Dank hat der Arzt Dad keine Fahrerlaubnis gegeben“, sagte ich. „Wenn er auch noch auf der Liste stünde, könnten wir uns vermutlich gleich einen Wagen kaufen, statt ihn zu mieten.“

„Und erwarte dir nicht zu viel Komfort“, warnte Tom mich. „Der Minivan ist nicht sonderlich sauber und ziemlich laut. Ich will ja nicht unhöflich sein, aber…“

Ich sah zu Edwin hinüber, der sich angeregt mit meinem Vater unterhielt. Das grellbunte rot-lilafarbene Hawaii-Hemd passte hervorragend zu seiner Persönlichkeit.

Edwin bemerkte meinen Blick. Obwohl er lächelte, hatte ich das Gefühl, dass er meine Gedanken erriet.


Vier

Niemand widersprach, als ich mich ans Steuer setzte. Vielleicht lag es daran, dass alle müde waren, möglicherweise jedoch auch an dem Schmutz im Wagen. Die Vordersitze bedeckten Taco- und Crackerkrümel, und in dem Getränkehalter auf der Fahrerseite befand sich etwas Klebriges. Dazu kamen fleckige Polster, eine Klimaanlage, die heiße statt kühler Luft ins Innere pustete, und ein ziemlich lauter Motor.

„Rei, fahr einfach mir nach. Margaret muss heute arbeiten und kann nicht kochen, aber wir besorgen uns unterwegs einen leckeren pupu-Teller“, sagte Edwin, als wir im Minivan saßen.

Im Rückspiegel sah ich, wie Hiroshi und Tom entsetzte Blicke wechselten. Meinen Vater auf dem Beifahrersitz brauchte ich gar nicht anzuschauen, um zu wissen, dass er zu erschöpft war, um hawaiische Vorspeisen bei Edwin zu essen. „Könnten wir euch auch morgen besuchen? Im Moment sind wir alle ein bisschen müde.“

„Ja, ich würde wirklich gern auspacken und mich ein wenig ausruhen“, pflichtete mein Vater mir bei.

„Aus gesundheitlichen Gründen“, fügte Onkel Hiroshi hinzu.

„Was für gesundheitliche Gründe?“, erkundigte sich Edwin mit einem neugierigen Blick auf meinen Vater. Offenbar wusste er nichts von dessen Erkrankung.

„Mein Vater erholt sich gerade von einer Operation“, erklärte ich.

Edwin blinzelte. „Was für eine Operation?“

„Nichts Ernstes“, antwortete mein Vater, und Edwin nickte.

„Kein Problem. Ihr kommt einfach vorbei, wenn ihr so weit seid. Allerdings muss ich euch sagen, dass ihr da, wo ihr wohnt, in Kainani, nicht das richtige hawaiische Leben kennenlernt. Dort seid ihr mit jeder Menge Amerikanern vom Festland zusammengesperrt. Mein Kumpel Irwin vermietet oben an der Küste am Makaha Point Cottages; es wär sogar noch eins frei…“

„Danke, Cousin Edwin. Wir haben bereits eine Kaution gezahlt, die wir verlieren, wenn wir uns anders entscheiden“, erwiderte ich. „Außerdem befindet sich unser Häuschen keine zwei Kilometer von deinem entfernt.“

„Sag doch Onkel zu mir. Das Kainani-Resort liegt sogar noch näher bei mir, ungefähr so.“ Er legte linken Daumen und Mittelfinger zusammen. „Ich zeig euch den Weg. Möglicherweise lassen sie jemanden aus der Gegend wie mich aber nicht rein, weil es sich um eine bewachte Anlage handelt.“

„O je. Wenn du uns zum Freeway vorausfahren könntest, wäre uns das eine große Hilfe“, sagte ich, weil ich es mir nicht mit Edwin verderben wollte. Schließlich würden wir den ganzen folgenden Monat mit ihm zu tun haben. Und meinem Vater würden Spannungen nur schaden, so viel stand fest.

„Gut, dann folgt mir also.“ Edwin schlug die Tür des Minivans zu und stieg in seinen silberfarbenen, mit rotem Schlamm verschmierten Toyota-Tacoma-Truck, der nur ein paar Schritte entfernt stand. Er lenkte ihn aus dem Parkplatz heraus, und ich fuhr ihm nach.

„Gut gemacht, Rei-chan“, lobte Onkel Hiroshi mich.

„Sag das erst, wenn Rei uns sicher zu unserer Unterkunft gebracht hat“, entgegnete mein Vater.

„Ich meine nicht ihren Fahrstil, sondern die Art und Weise, wie sie das Problem mit Edwin-san gelöst hat“, erklärte Onkel Hiroshi. „Gott sei Dank hat sie ihn daran gehindert, uns zu den Cottages zu bringen.“

„Was haltet ihr von Edwin?“, erkundigte ich mich.

„Was hältst du von ihm?“, gab Onkel Hiroshi die Frage im japanischen Stil an mich zurück.

„Er will alles für uns organisieren“, murmelte mein Vater. „Das ist doch nur natürlich bei so weit gereisten Gästen.“

„Gott sei Dank hast du dich nicht auf einen Unterkunftswechsel eingelassen“, sagte ich zu meinem Vater. Inzwischen waren wir am Parkwächterhäuschen angelangt, wo ich merkte, dass ich eine Gebühr zahlen musste. Ich drehte mich zu Tom und Onkel Hiroshi um und bat sie, mir den Parkschein zu geben.

„O nein! Den hat Edwin“, stöhnte Tom.

Mir sank der Mut. Ich hatte keine Möglichkeit, Edwin zu erreichen, der bereits aus dem Parkplatz heraus war.

„Tut mir leid“, entschuldigte ich mich bei der Wächterin. „Ich habe keinen Parkschein.“

„Nein, nein, der Mann im Wagen vor Ihnen hat alles bezahlt. Ich soll Ihnen aloha von ihm sagen und herzlich willkommen auf Hawaii“, erklärte die Frau, eine Hawaiianerin mittleren Alters mit einer kleinen weißen Blume hinterm Ohr.

Vielleicht hatte ich Edwin doch vorschnell verurteilt. Kurze Zeit später fuhren wir durch die alles andere als tropisch anmutende Landschaft: karge Hügel, dazwischen Wohnsiedlungen und Großmärkte wie Old Navy oder OfficeMax. Plötzlich hatte die H-1 sehr viel Ähnlichkeit mit den Freeways in Südkalifornien. Lediglich die grauen und weißen Wolken, die hoch aufragenden Berge und die gelegentlichen Blicke aufs blaue Meer ließen mich hoffen, dass uns noch etwas anderes erwartete.

Bei der Ausfahrt nach Pearl City befand sich Edwins silberfarbener Truck bereits drei Autos vor uns, und ich hatte Mühe, ihn nicht aus den Augen zu verlieren in dem dichten Verkehr, in dem sich Vans japanischer Fabrikate, Stadtbusse und Abschleppwagen dahinquälten. Beim Anblick junger Männer auf der offenen Ladefläche von Pick-ups gab mein Vater ein missbilligendes Geräusch von sich.

„Überhol mal lieber, bevor einer von denen runterfällt und vor unserem Wagen landet“, riet er mir. „Können wir nicht auf die HOV-Spur wechseln?“

Das konnten wir, stellte ich fest, nachdem ich ein Schild gelesen hatte, auf dem HOVs, „high occupancy vehicles“, also gut ausgelastete Fahrzeuge, als Wagen mit zwei oder mehr Insassen definiert wurden. Das unterschied sich genauso von Kalifornien wie die Tatsache, dass die anderen Fahrer uns bereitwillig Platz machten, damit wir auf diese Spur wechseln konnten. Mich erstaunte ihre Höflichkeit. Vielleicht war dies ein Beispiel für den Slogan „Drive with Aloha“, den ich ein paar Kilometer zuvor auf einer elektronischen Tafel gesehen hatte.

Hinter Waipahu ging es etwas schneller voran, weil die meisten Autos inzwischen auf den Freeway in nördlicher Richtung abgefahren waren. Hier standen auch weniger Supermärkte und Häuser; wir bewegten uns durch ausgedörrtes, braunes Land mit vereinzelten Bäumen und Felsen sowie gelegentlichen von Buschfeuern verwüsteten Abschnitten. Ich begann mich nach dem üppig-grünen Nordosten Oahus zu sehnen, den ich von meinem Botanikkurs kannte. Onkel Hiroshi hatte freundlicherweise die Unterkunft für uns gebucht, allerdings ohne zu wissen, dass sie sich auf der nichttropischen Seite befand.

Nach einer Weile erreichten wir das Ende der H-1 West und fuhren auf einer einspurigen Straße, dem Farrington Highway, weiter. Farrington ist ein für die Insel wichtiger Name; so hieß einer der einflussreichsten Gouverneure von Oahu, der Gründer des Honolulu Star-Bulletin, einer örtlichen Zeitung. Ich bemerkte ein mit der Hand beschriftetes Schild an der rechten Straßenseite, auf dem stand: FRISCHE KALTE LITSCHIS. Ein paar Meter dahinter befanden sich weitere mit Aufschriften wie NA, WIE WÄR’S? und SO SÜSS! Ich drosselte das Tempo, um einen Blick auf einen Mann zu werfen, der auf der Ladefläche seines staubigen Trucks Früchte sortierte.

Das nächste Schild sagte mir, dass es noch zwölf Kilometer bis Kainani waren, und links wies eines in die Laaloa Street, die durch ein winziges Viertel mit älteren Häusern führte, der Gegenpol zu den großen, sterilen Siedlungen, an denen wir zwischen Honolulu und Waipahu vorbeigekommen waren. Edwin bog dort ab, streckte die Hand zum Fenster hinaus und winkte mit abgespreiztem Daumen und kleinem Finger.

„Was bedeutet das denn?“, fragte Hiroshi. „Haben wir etwas falsch gemacht?“

„Nein, nein, Ojisan.“ Ich erklärte ihm, dass der shaka-Gruß angeblich auf einen Plantagenarbeiter zurückging, der bei der Arbeit mehrere Finger verloren hatte. Irgendwann begannen die Leute, diesen Gruß zu erwidern, der inzwischen auf ganz Hawaii üblich war.

Die Ausfahrt nach Kainani konnte man mit ihrer hibiskusgesäumten Bogenbrücke im japanischen Stil kaum übersehen. Hier verwandelte sich die gelbbraune Landschaft in einen Technicolor-Golfplatz. Zu meiner Linken lag ein großer Teich, auf dem schwarze Schwäne träge dahinglitten, zu meiner Rechten eine umzäunte Siedlung mit prächtigen, orangensorbetfarbenen Villen im Stil der Zwanzigerjahre.

Wir hatten wegen der defekten Klimaanlage schon seit einer Weile alle Fenster heruntergekurbelt, sodass der Wind durch den Minivan blies.

„Die Anlage wurde von einem japanischen Bauunternehmer errichtet“, erläuterte Onkel Hiroshi. „Ich finde, sie sieht in Wirklichkeit genauso hübsch aus wie auf der Internet-Seite. Ist euch diese Unterkunft recht?“

„Ja, wunderschön“, sagte ich. Obwohl mir normalerweise naturbelassene Landschaften lieber sind, war ich insgeheim erleichtert, dass wir nicht inmitten eines ausgedörrten Felds nächtigen mussten. „Dem Internet kann man nicht immer trauen, aber das hier sieht perfekt aus.“

„Prima Golfplatz“, meinte Tom. „Achtzehn Löcher; angeblich gibt’s dort eines der besten japanischen Restaurants der Insel.“

„Gute japanische Lokale sind teuer“, warnte mein Vater. „Rei kocht gern für uns. Mit ihrer Hilfe habe ich innerhalb von vier Wochen schon fünf Pfund abgenommen.“

„Spricht nicht gerade für meine Kochkünste“, sagte ich. Das, was ich für meinen Vater als Liebesdienst erachtete, würde einen ganzen Monat lang für drei Männer kein Spaß sein. „Ich hoffe nur, dass die Küche mit Töpfen und Pfannen ausgestattet ist.“

„Soweit ich weiß, gibt es dort alles. Soll ich dir die Fotos zeigen?“ Tom begann in seiner Tasche zu kramen.

„Nicht jetzt, danke. Da vorne ist das Wachhäuschen.“

Nachdem ich unsere Namen und die Adresse des von uns gemieteten Hauses angegeben hatte, erhielten wir von einem gut aussehenden jungen Mann in grün-goldenem Hawaii-Hemd und adretten khakifarbenen Shorts die Wegbeschreibung sowie einen Umschlag mit den Schlüsseln zu unserer Unterkunft am Plumeria Place. Plumeria – Frangipani – hatte die Parkwächterin im Haar getragen.

Ich fuhr einen knappen Kilometer weiter, am Kainani Inn vorbei, einem weitläufigen modernen Hotel auf der dem Meer zugewandten Seite der Straße. Zu unserer Linken befand sich der bereits erwähnte Golfplatz, auf dem eine Spielerin gerade den Schläger schwang.

„Michelle Wei!“, rief Onkel Hiroshi aus und klopfte gegen das Fenster, als würde die junge Stargolferin ihn hören. Da sie nicht reagierte, musste ich den Wagen anhalten, damit Tom und Onkel Hiroshi mit ihrer Digitalkamera auf den Platz laufen konnten.

Zehn Minuten später kehrten Hiroshi und Tom mit verzückten Gesichtern zurück. Danach bogen wir endlich nach links in die schmale Straße ein, die den Golfplatz durchschnitt und zu einem Metalltor mit üppigen Ananas-Ornamenten und der Aufschrift „Pineapple Plantation“, dem Namen unseres Wohnbereichs, führte. Ich zog die Schlüsselkarte, wie der Mann vom Aloha-Team es mir erklärt hatte, über einen Sensor, und das Tor öffnete sich. Dahinter befand sich eine Gruppe einfacher grauer Schindelhäuser mit weißen Holzveranden, die man hier lanai nannte.

„Gut gemacht, Rei-chan“, lobte Tom mich, der sofort aus dem Wagen sprang, als ich anhielt. Ich folgte ihm und betrachtete unser wie die anderen im schlichten amerikanischen Stil erbautes Haus. Das einzig Polynesische hier waren die Pflanzen: robuste Gewächse wie Ingwer oder Brotfrucht und unterschiedliche Palmenarten. Dichte orangefarben gefleckte lauae-Farne flankierten den Weg zum Haus, zwischen denen im Boden eingelassene Sprinkler hervorlugten. In der Luft lag der Duft von Frangipani, und die Büsche, die aussahen, als wären sie erst kurz zuvor gepflanzt worden, waren übersät mit zarten weißen Blüten.

Im Innern war das Haus modern eingerichtet. Im Zentrum befand sich eine Küche mit hohen Wänden, Granitarbeitsflächen und Edelstahlarmaturen sowie einem Profi-Entsafter. Während mein Vater einen Entzückensschrei darüber ausstieß, blickte ich an den an Haken aufgehängten Töpfen und Pfannen aus Aluminium vorbei durch den neutral eingerichteten Wohnraum auf die riesigen Fenster, durch die der wunderbar grüne Rasen zu sehen war. Das also konnte man auf der Leeseite von Oahu für viertausend Dollar monatlich bekommen – nicht schlecht, wenn man bedachte, wie viel vier Wochen in einem Hotelzimmer gekostet hätten.

Oben befanden sich zwei Zimmer und zwei Bäder, die Hiroshi und meinem Vater einerseits und Tom andererseits gehören würden. Ich bekam den Raum im Erdgeschoss, was mich wegen des lanai besonders freute. Dort brauchte ich nicht die Klimaanlage einzuschalten, sondern konnte einfach den Ventilator über dem Bett in Gang setzen und die Schiebetür zum lanai öffnen, um den Passatwind hereinzulassen.

Ich legte mich aufs Bett, um kurz die Augen zu schließen. Über mir surrte der Ventilator, ein laues Lüftchen wehte durch die offene Verandatür, und aus dem Garten drangen Vogelgezwitscher und Kinderlachen herein.

Vor meiner Tür hörte ich meinen Vater auf Japanisch telefonieren, vermutlich mit dem japanischen Lokal. Ja, er bestellte Sashimi, Reis und natürlich Misosuppe. Eigentlich wollte ich ihm zurufen, dass er die wegen ihres hohen Natriumgehalts nicht essen dürfe, doch müde, wie ich war, schlief ich in dem sanften Dämmerlicht ein.

Über Sujata Massey

Biografie

Sujata Massey, geboren 1964 als Tochter einer Deutschen und eines Inders in Sussex, verbrachte ihre Kindheit und Jugend in den USA und lebte dann mehrere Jahre in Hayama, Japan. Ihr Krimi-Debüt „Die Tote im Badehaus“ wurde mit dem renommierten Agatha-Award ausgezeichnet. Dem folgten weitere Romane...

Pressestimmen
Kirkus Review

Sujata Massey fesselt durch eine spannende Geschichte und eine geniale Heldin.

Publishers Weekly

Ein Roman, der auch neue Leser für die Serie begeistern wird.

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