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Bärenspeck mit Pfeffer

Bärenspeck mit Pfeffer

Karin Haß
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Mein kleines Stück Sibirien

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Bärenspeck mit Pfeffer — Inhalt

In einem kleinen Dorf in Ostsibirien lebt Karin Haß mit ihrem Mann, dem Jäger Slawa vom Volk der Ewenken. Nachdem ihr erstes Buch „Fremde Heimat Sibirien“ ein großer Erfolg wurde, erlaubt sie uns nun tiefe Einblicke in ihren Alltag inmitten der Taiga, wo sie vor Jahren eine neue Heimat fand. Sie berichtet vom Verzicht auf zivilisatorische Bequemlichkeiten, schildert die Bärenjagd sowie ihren Tagesablauf im Rhythmus der Jahreszeiten und erzählt heitere wie auch tragische Episoden über die kleine Dorfgemeinschaft. Ein leidenschaftliches Buch über das Leben am Oljokmafluss, das geprägt ist von extremem Klima, der Selbstversorgung aus der Natur und der ungewöhnlichen Liebe eines ungleichen Paars.

€ 15,00 [D], € 15,50 [A]
Erschienen am 01.06.2016
384 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-40604-8
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Leseprobe zu „Bärenspeck mit Pfeffer“

Prolog

Als ich das Buch Fremde Heimat Sibirien – Leben an der Seite eines Taigajägers beendete, schien mir, alles sei gesagt. Doch Stillstand gibt es nicht. Neue Erlebnisse, Eindrücke und Gedanken bewegten mich dazu, sie niederzuschreiben und andere Menschen daran teilhaben zu lassen.

Ich wurde in Deutschland oft gefragt, ob ich beim Länderwechsel einen Kulturschock erlebe, und ich konnte immer mit einem „ Nein “ antworten. Der Grund war wohl – wie mir jetzt klar wird –, dass mich während meiner Paddeltouren in Sibirien und der ersten Aufenthalte im Dorf [...]

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Prolog

Als ich das Buch Fremde Heimat Sibirien – Leben an der Seite eines Taigajägers beendete, schien mir, alles sei gesagt. Doch Stillstand gibt es nicht. Neue Erlebnisse, Eindrücke und Gedanken bewegten mich dazu, sie niederzuschreiben und andere Menschen daran teilhaben zu lassen.

Ich wurde in Deutschland oft gefragt, ob ich beim Länderwechsel einen Kulturschock erlebe, und ich konnte immer mit einem „ Nein “ antworten. Der Grund war wohl – wie mir jetzt klar wird –, dass mich während meiner Paddeltouren in Sibirien und der ersten Aufenthalte im Dorf Srednjaja Oljokma die Schönheit der Natur und die ungewöhnlichen Erlebnisse gefangen nahmen und ich unangenehme Seiten der russischen Lebensweise nur am Rande und eher amüsiert zur Kenntnis nahm. Ich war verhältnismäßig unabhängig, denn alles, was ich unbedingt brauchte, hatte ich aus Deutschland mitgebracht, auf viele gewohnte Annehmlichkeiten verzichtete ich ohne Bedauern, und wenn mir jemand unvorhergesehen etwas schenkte oder lieh, betrachtete ich es als besonderen Glücksfall.

In den ersten beiden Jahren des Zusammenlebens mit Slawa waren wir intensiv damit beschäftigt, einen Hausstand einzurichten und uns aufeinander einzustellen, sodass wir stark auf uns selbst konzentriert waren. Doch je länger ich in Russland lebe, desto mehr gewinnen auch andere Dinge an Gewicht.

Nach wie vor bereitet es mir keine Probleme, im Dorf in der Taiga ein Leben ohne zivilisatorische Bequemlichkeiten zu führen, was unter anderem bedeutet, höchstens zehn Stunden am Tag Strom zu haben, ohne fließendes Wasser und dadurch ohne automatisch arbeitende Waschmaschine auszukommen, Kartoffeln und Gemüse selbst anzubauen und zu konservieren, auch bei minus 50 Grad das Plumpsklo im Garten aufzusuchen. Schwierig wird es für mich erst dann, wenn ich mit der sogenannten russischen Zivilisation in Berührung komme. Um nur ein Beispiel zu nennen : Wir wollten für unser Gästehaus Möbel aus Holz kaufen und unternahmen deshalb die langwierige Reise nach Tschita, der Hauptstadt unseres Verwaltungsbezirks Sabaikalskij Kraj, der wesentlich größer ist als Deutschland. Und obwohl der Rohstoff Holz reich vorhanden ist und in schier unübersehbaren Mengen auf langen Zügen abtransportiert wird, fanden wir nur Möbel aus Pressspanplatten und auch die nur in minimaler Auswahl. In den kleinen Geschäften gab es entweder nur Polstermöbel – voluminöse Ungetüme, obwohl die Zimmer in den vielen Plattenbauten sehr klein sind –, nur Küchen, nur Betten oder nur Schränke.

Endlich entdeckten wir ein Geschäft, in dem es zueinander passende Betten, Schränke und sogar auch Tische gab. Von jeder Möbelart zwar nur zwei, höchstens drei verschiedene Ausführungen, aber nach der langen vergeblichen Suche mutete es dennoch geradezu märchenhaft an. Man konnte sich die Ware allerdings nicht ansehen, sondern sie nur nach Abbildungen in Prospekten aussuchen. Nach der Bezahlung erhielten wir einen Beleg, mit dem wir zum Lager fuhren und die verpackten Teile abholten. Im Lastwagen transportierten wir die Einkäufe 700 Kilometer nach Tupik. Der Ortsname bedeutet übersetzt „ Sackgasse “, die Autotrasse endet hier. Weiter ging es auf abenteuerlicher Piste etwa 230 Kilometer durch verschneite Taiga und über zugefrorene Flüsse bis in unser Dorf.

Dort öffneten wir die Möbelpakete und erlebten eine böse Überraschung. Wir hatten zwar nicht damit gerechnet, einwandfreie Ware zu erhalten, waren aber doch erschüttert über die miserable Qualität. Die Seitenteile eines Bettes hatten ein anderes Furnier als Kopf- und Fußteil, und die Hälfte aller Einlagebretter der Betten war zu kurz, sodass wir die Matratzen nicht auflegen konnten. Statt der bestellten 2 m langen Betten erhielten wir 1,90 m lange. Auf dem Karton befand sich ein großer Stempel mit drei angegebenen Längen : 180, 190 und 200 Zentimeter, die im Werk je nach Inhalt angekreuzt werden sollten, was aber nicht geschehen war. Kein Wunder, dass es hinterher niemand wusste. Bei Schränken und Betten waren viele Löcher an falscher Stelle vorgebohrt und mussten mit der glücklicherweise ebenfalls gekauften Elektrobohrmaschine neu angebracht werden. Für den Tisch fehlte alles Material, das zum Zusammenbau benötigt wurde. Wir mussten mit dem Aufbau warten, bis ich ein Jahr später Material aus Deutschland mitgebracht hatte. Das war einfacher, als sich in Russland auf die Jagd nach den erforderlichen Einzelteilen zu begeben.

Nach vier Jahren des Lebens in Russland fällt es mir zunehmend schwerer, über Missstände wie fehlende Dienstleistungsbereitschaft, Schlamperei, Trunksucht, krassen Nationalismus, Korruption, Unfähigkeit und deren Folgen hinwegzusehen. Slawa warnt davor, mich allzu offen dazu zu äußern. Er befürchtet, ich könne ausgewiesen werden. Dass jeder in Russland um die Lage weiß, ist egal – Hauptsache, man spricht nicht darüber. Es scheint mehr Mühe darauf verwandt zu werden, den äußeren Schein zu wahren, als die Zustände zu ändern. Eher wird der bestraft, der über das Übel berichtet, als der, der es verursacht.

Ich wünsche meinem Gastland nichts Schlechtes nachzusagen, doch gibt es für mich nur zwei Möglichkeiten : unbeschönigt über das zu schreiben, was ich sehe und erlebe, oder zu schweigen.

Komme ich nach langem Auslandsaufenthalt nach Deutschland zurück, nehme ich es ganz neu wahr – Sauberkeit, Fleiß, Akkuratesse, Ordnung und Höflichkeit fallen mir ins Auge. Und ich erlebe mein Heimatland als Serviceparadies. Ich begebe mich ins Berliner Reisezentrum der Deutschen Bahn und will eine Bahncard beantragen, habe aber kein Foto dabei. Die Mitarbeiterin sagt freundlich : „ Einen Moment bitte, ich hole den Fotoapparat und mache gleich die Aufnahme. “

Das Angebot verblüfft mich mehr, als wenn ein Vögelchen aus dem Apparat geflogen wäre. Noch wochenlang liege ich meinen deutschen Freunden mit diesem unglaublichen Erlebnis in den Ohren. Geradezu beglückt vernehme ich im Supermarkt an der Kasse die Worte „ Guten Tag “ und „ Auf Wiedersehen, einen schönen Tag noch “, während mich mein Mann in Russland rügt, wenn ich beim Verlassen des Geschäfts „ Auf Wiedersehen “ sage, weil ihm meine oft unbeantwortete oder mit Verwunderung erwiderte Höflichkeit peinlich ist.

Beseligt streife ich durch das Wunderland der Baumärkte. Schrauben – dicke, dünne, lange, kurze ! Winkeleisen, verschiedenste Ausführungen ! Holzbretter, Leisten, Kanthölzer – man kann sie in der gewünschten Länge sogar zuschneiden lassen, unfassbar ! Man erhält qualifizierte Auskünfte ; die Verkäufer haben eine Ausbildung durchlaufen und wissen etwas über ihre Ware ! Das sind nur einige wenige Beispiele.

Und trotzdem – ich ertappe mich in Hamburg dabei, wie ich, geradezu magisch angezogen von den russischen Buchstaben, einen Laden mit ausschließlich russischen Produkten betrete und mit seltsamer Rührung und Heimweh die Dosen mit kondensierter süßer Milch und vielen anderen typischen Landesprodukten betrachte. Und im deutschen Fernsehen verpasse ich kaum eine der erstaunlich zahlreichen Dokumentationen über Sibirien. ( In Russland dagegen scheint man sich kaum für das eigene Land mit den so vielfältigen Landschaftsformen und Nationalitäten zu interessieren, denn Fernsehsendungen darüber sind selten. )

Ich las viele, auch preisgekrönte Reiseberichte über Russland, und dabei fiel mir auf, wie vorwiegend distanziert und negativ die Wahrnehmungen waren. Die Schilderungen entsprachen auch meinem Eindruck, aber nur einem Teil davon. Ein anderer Teil erschließt sich, wenn man kein Vorüberreisender ist, sondern das Glück hat, sich fern der Zivilisation in den Weiten der Taiga und auf den klaren Wassern der Flüsse bewegen zu können, vor allem jedoch, wenn man die Menschen näher kennenlernt : Wie die Sibirjaken ohne jedes Gejammere mit den widrigsten Bedingungen umgehen. Wie unverstellt, hilfsbereit, herzlich und gastfreundlich sie sind und wie liebenswert trotz mancher nicht übersehbarer Mängel.

Die Widersprüchlichkeit, der man in Russland überall begegnet – ich möchte sie begreifen, suche nach einer Erklärung, die mir russische Verhaltens- und Lebensweisen verständlich macht. Russland geistig wirklich zu erfassen, ist wahrscheinlich unlösbar, schon ob der Größe und der Verschiedenartigkeit der Landesteile und Menschen. Aber es gibt doch augenfällige Gemeinsamkeiten, die eine sehr lange Tradition zu haben scheinen und nicht allein aus der kommunistischen Ära erklärbar sind, wie es oft versucht wird. Lange vergessene Romane und Erzählungen von Tschechow, Tolstoi, Dostojewski, Gogol, Puschkin, Turgenjew dämmern aus meiner Erinnerung herauf. Ich nehme mir vor, mich damit noch einmal zu beschäftigen.


Zwischen zwei Welten

Nun habe ich sie wieder verlassen, die Welt, in der ich schweren Herzens meine Tochter und die Enkelkinder zurücklasse und in der liebe Freunde leben, mit denen ich vielfältige Interessen teile und interessante Gespräche führe. Eine Welt der glatten, sauberen Straßen, der gepflegten Grünanlagen in den Städten, der angenehmen Restaurants, Einkaufsmöglichkeiten und vielfältigen Dienstleistungen.

Auf dem Moskauer Flughafen Domodedovo ist noch kaum ein Unterschied zum Westen zu erkennen. Er ist großzügig und modern ausgebaut. Glas, Stein und Metall blitzen. Geschäfte und Restaurants sind einladend geöffnet, aber die Preise sind exorbitant. Eine Tasse Kaffee kostet 190 Rubel, das sind umgerechnet 4,30 € trotz des momentan sehr hohen Eurokurses. Bis zum Anschlussflug nach Irkutsk habe ich viel Zeit und durchforste alle Buch- und Zeitungsstände. Obwohl allein innerhalb der Russischen Förderation über 100 Sprachen gesprochen werden, gibt es außer einer einsamen Times ausschließlich russischsprachige Zeitungen. Befremdlich für mich, denn selbst am Hamburger Hauptbahnhof findet man zahlreiche tagesaktuelle fremdsprachige Zeitungen.

Der Flug nach Irkutsk verläuft ohne Probleme. Als ich dort das Ankunftsgebäude betrete, erblicke ich sofort Slawa in der Gruppe der Wartenden. Er umfängt mich. „ Moja Nemotschka, Sladkaja “, flüstert er an meinem Ohr. Seine Arme, seine Stimme, sein Duft, seine Wärme – ich fühle mich an seinem Körper geborgen und vollkommen daheim, obwohl ich während meines dreimonatigen Deutschlandaufenthalts nicht so oft an ihn und an unser Leben im Dorf gedacht hatte. Bis zu meiner Abreise hatten mich Verwandtenbesuche, Treffen mit Freunden, Arztbesuche, Verlagskontakte und letzte Arbeiten am Buch, Vorführungen der in Russland gedrehten Videofilme und andere Aktivitäten voll in Anspruch genommen.

Daheim sind wir aber noch lange nicht, sondern in einer Zwischenwelt, in der sich weder Slawa noch ich wohlfühlen. Wir steigen in eines der vielen Privattaxis, die ihre Dienste anbieten. Es bringt uns zu unserer Unterkunft bei Natascha in Irkutsk. Der Fahrer verlangt 500 Rubel, obwohl die Fahrt normalerweise maximal 250 Rubel kostet. „ Das ist wohl ein Spaß  ? “, frage ich.

„ Nein, kein Spaß. Es kostet 500 Rubel “, antwortet er ganz ernst.

„ Mein Lieber, ich weiß, welcher Preis normal ist. Ich gebe Ihnen 300 Rubel, also etwas mehr als üblich, und keine Kopeke darüber “, beende ich das Gespräch. Er nimmt das Geld und schweigt.

Natascha und ihr Sohn Schenja empfangen uns wieder herzlich und gastfreundlich. Ich kenne sie schon mehrere Jahre und freue mich immer, sie zu sehen. Es ist jedes Mal wie ein kleines Nachhausekommen. Natascha weiß um meine Vorliebe für Quark und Slawas Vorliebe für „ Smetana “, dicke frische Sahne. Sie hat vorgesorgt und tischt auf, unter anderem Selbstgemachtes von ihrer Datscha. Mir scheint, dass die meisten russischen Familien eine Datscha haben, die der Erholung, aber in hohem Maße auch der Selbstversorgung mit Gemüse und Obst dient, obwohl daran auf Märkten und in Geschäften kein Mangel herrscht.

Von Irkutsk aus müssen wir mit der Transsibirischen Eisenbahn anderthalb Tage bis zur Bahnstation Mogotscha fahren. Wie gewöhnlich sind die Abteile völlig überheizt, aber kalt wäre noch schlimmer und normal temperiert eine unrealistische Wunschvorstellung. Also ziehen wir die vorausschauend mitgebrachten dünnen Hosen und T-Shirts an und machen es uns auf den Liegeplätzen bequem. Jetzt, Ende März, ist die Landschaft wenig reizvoll. Der Baikalsee und die Flüsse sind gefroren, aber es liegt kaum Schnee. Kahle Bäume und Sträucher, weite Flächen, dazwischen immer wieder Dörfer mit den typischen russischen hölzernen Bauernhäuschen – es gibt nicht viel zu sehen.

Auch im Abteil schaut man sich besser nicht zu genau um, der Boden ist unglaublich dreckig. Unsere beiden männlichen Zugbegleiter, die ausschließlich für unseren Waggon zuständig sind, sind offensichtlich große Faulpelze. Irgendwann taucht dann doch einer auf und staubsaugt den Läufer, allerdings nicht den Dreck, der daneben liegt. Wie die Waggons aussehen, hängt von der persönlichen Einstellung der Zugbegleiter / innen ab. Manchmal ist es so sauber wie in der guten Stube, es hängen Grünpflanzen an den Fenstern und im Gang liegt ein langer bunter Läufer. Trotzdem sind die langen Zugfahrten für mich wegen der fehlenden Waschmöglichkeiten – sieht man einmal von dem sehr kleinen Handwaschbecken in der Toilette ab – eher unangenehm.

Am Abend steigt in letzter Minute, schwitzend vom Laufen, ein sauber gekleideter, schlanker junger Mann zu und bezieht eines der oberen Betten in unserem Viererabteil, Kupee genannt. Er sieht aus, als käme er eben von seiner Mama, die ihn gut ausgerüstet und mit besten Wünschen auf die Reise geschickt hat. Höflich stellt er sich mit seinem Vornamen, Andrej, vor und erzählt, er sei auf dem Wege nach Norden, um dort eine Arbeit als Fahrer anzutreten. Der Mitreisende wirkt in der Sprache etwas gehemmt und sehr unruhig. Ich schreibe es der Aufregung über die Reise zu. Spät am Abend wird auch die verbliebene vierte Liege durch einen Fahrgast belegt, und nun könnten wir uns eigentlich unter dem Singsang der Schienen dem Schlaf hingeben. Das ist aber nicht im Sinne von Andrej. Er redet ständig vor sich hin, greift in seine am Boden stehende Tasche, in der sich zahlreiche Dosen Bier befinden, turnt zwischen Bett und Gang herum und wird mit zunehmendem Bierkonsum immer unruhiger. Unsere mehrfachen Ermahnungen stoßen auf taube Ohren. Er wirkt wie unter Drogen oder zumindest psychisch gestört, was sich durch den Alkoholkonsum zu verstärken scheint. Als Andrej gerade wieder einmal im Abteil zwischen den Betten steht, richtet sich Slawa blitzschnell auf und versetzt ihm aus seinem oberen Bett mit dem Fuß einen solchen Tritt, dass er durch die offene Tür auf den Gang fliegt und ich vor Schreck beinahe aus dem Bett kullere.

„ Was ist los  ? “, stottere ich bestürzt.

„ Er wollte eben dein Klappmesser vom Tisch nehmen, dieser Hund “, schimpft Slawa aufgebracht.

Slawa hatte Andrej offenbar die ganze Zeit scharf im Auge behalten. Inzwischen ist es fast vier Uhr nachts, und keiner von uns konnte bisher schlafen. Dem anderen Fahrgast reicht es nun. Er geht zum Zugbegleiter und meldet die Vorfälle. Zwei Stunden später, beim Halt in einer größeren Ortschaft, kommt die Miliz und holt Andrej, dessen Reise damit beendet ist, aus dem Abteil. Es tut uns leid, aber bei seinem Zustand wäre aus einer Arbeitsaufnahme sowieso nichts geworden. Arme Mama ! Sie hat bestimmt gehofft, dass er eine Arbeit aufnimmt und vernünftig lebt. Stattdessen wird er aller Voraussicht nach wieder bei ihr abgeliefert.

Karin  Haß

Über Karin Haß

Biografie

Karin Haß arbeitete als Buchhändlerin, Industriekauffrau, Betriebswirtin und Programmiererin in Hamburg, bevor sie das Leben in der Großstadt gegen das in der sibirischen Taiga eintauschte. Von ihr liegen bei Malik National Geographic die Bände „Fremde Heimat Sibirien“ und »Bärenspeck mit Pfeffer....

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